Die Stunde des Ruhms
Vorherige Erzählung: Festmahl
„Und als der Luxa, die Lebensader Naktamuns, sich in das verderbte Blut des großen Schattens Razaketh verwandelte, schlug die Stunde des Ruhms – die Zeit, zu der die Götter selbst sich vor dem Gott-Pharao als würdig erweisen sollten.“
Am Anfang war nichts als Dunkelheit: ein tosendes Meer der Ungewissheit.
Dann erwachte der Gott-Pharao und erhob sich, einer strahlenden goldenen Sonne gleich, und warf Licht auf die ungeborene Welt. Als er die Schwingen spreizte, teilte er den Himmel von der Erde; mit seinem ersten Atemzug schuf er Wasser und Luft; mit einem Schlag seines Schwanzes formte er Berge und zerschmetterte Fels zu Sand. Und so schied der Gott-Pharao Ordnung von Chaos, und die Welt nahm Gestalt an, roh und jung und neu.
Dann blickte der Gott-Pharao über die karge, stille Welt und brachte die Saat des Lebens aus. Und so wurden die Bewohner Amonkhets aus den Träumen des Drachenschöpfers geboren. Doch anders als ihr Schöpfer waren sie sanft, verletzlich, zerbrechlich – und sterblich. Und die Schatten in der Welt, die Überreste des schwarzen Meeres, nahmen sich jene, die starben, und pervertierten sie im Untod zu einer Bedrohung und Plage für die Lebenden.
Und so erschuf der große Gott-Pharao die Götter.
Er nahm das Gewebe der Welt selbst und verflocht das Mana Amonkhets zu fünf Mustern, auf dass jedes eine seiner Tugenden verkörpern sollte. Und so entstanden die Unsterblichen Amonkhets. Aus dem Willen des Gott-Pharaos geboren und stärker als seine Traumkinder sollten die Götter fortan die Sterblichen vor den Launen des Schattens beschützen und sie in einen glanzvollen Tod führen.
Und der Gott-Pharao wusste von einem Reich jenseits dieser Welt. Einen Ort, den man nur durch den Tod erreichen konnte. Und obwohl er die zahlreichen Plagen dieser Welt ebenso kannte wie die Schatten, die an allem zerrten, was auf ihr wandelte, so wusste er auch, dass seine Kinder bestehen, wachsen, lernen und sich letztlich als würdig erweisen konnten. Denn das Leben nach dem Tod war ein zu kostbares Geschenk, als dass man es leichtfertig machte: Seine Kinder mussten den Beweis dafür erbringen, dass sie sich seine Pracht verdient hatten.
Und so schenkte der Gott-Pharao seinen Kindern die Prüfungen. Und jeder Gott erhielt die Ehre, die Sterblichen auf ihrem Weg zum ewigen Leben zu lehren, auszubilden und anzuleiten.
Und als alles an seinem Platz war, verließ der Gott-Pharao Naktamun, um den Weg zur Ewigkeit zu bereiten und seinen Kindern Zeit zu geben, zu lernen, zu erblühen und ihr Schicksal zu erfüllen, ehe sie im Leben nach dem Tod wieder mit ihm vereint wären. Er ließ seine Kinder in der Obhut der Götter zurück und setzte die zweite Sonne in Bewegung, auf dass sie die Zeit seiner Rückkehr ankündigen sollte.
Rhonas wusste, dass all dies wahr war.
Es klang mit einer Gewissheit durch jede Faser seines Seins, als sei es ebenso in ihn eingewoben wie die Leylinien aus Mana, die ihn an diese Welt banden. Es strömte durch die Körper seiner Geschwister, und ein jeder von ihnen war ein greifbarer Beweis für die Großherzigkeit und Göttlichkeit des Gott-Pharaos. Er kannte seine Rolle im Plan des Gott-Pharaos. Und daher hatte er die Sterblichen dieser Welt seit Jahren herausgefordert und den Bewohnern Naktamuns geholfen, ihre Leiber zu stählen und ihre wahre Stärke zu erkennen – alles im Bilde seiner selbst und dem des Gott-Pharaos nach.
Und so frohlockte Rhonas, als die zweite Sonne endlich wie prophezeit zwischen den Hörnern ruhte, und er stieg aus seinem Tempel und löste sich aus seiner Prüfung. Und er stand vor dem Tor zum Jenseits, um ihren Schöpfer, den Stammvater aller Dinge, den wiedergekehrten Gott-Pharao, willkommen zu heißen.
Doch das, was er vorfand, war nicht das, was er erwartet hatte.
Als er sich am Ufer des Luxa zu seiner Schwester Hazoret gesellte, spürte Rhonas eine ungewöhnliche Kälte durch seine Schuppen dringen. Dämonische Magie hing schwer, klebrig und dick in der Luft, während der Kupfergeruch von Blut alles überdeckte. Rhonas blickte auf das rot gewordene Wasser und dann zu den anderen Göttern, als diese eintrafen. Oketra sprang leichtfüßig an Hazorets Seite. Kefnet schwebte stolz wie immer herab und landete neben Rhonas, während Bontu still und unnahbar herbeischritt. Die fünf standen vor den blutigen Ufern des Luxa, getaucht in das sich spiegelnde rote Licht der zweiten Sonne.
Es war viele Jahre her, seit sie alle an einem Ort versammelt gewesen waren. Jeder Gott erfüllte einen Zweck in der Schöpfung des Gott-Pharaos: die Sterblichen durch die ihm zugedachte Prüfung zu führen und auf seine Weise über die Stadt zu wachen. Rhonas hatte am engsten mit Hazoret zusammengearbeitet. Sie beide waren gelegentlich durch die Wüste gestreift, um jede größere Bedrohung zur Strecke zu bringen, die der Stadt zu nahe kam. In der Gegenwart der anderen hatte er sich jedoch seit einer geraumen Weile nicht mehr befunden. Und nun waren sie hier, und sie alle fünf standen vor dem Tor. Zu ihren Füßen neigten die Sterblichen ehrfürchtig die Köpfe oder spähten staunend zu ihnen herauf und sonnten sich zum ersten Mal in der Präsenz aller fünf Götter zur gleichen Zeit.
Und dennoch erschien der Gott-Pharao nicht.
Rhonas’ Zunge schnellte hervor, kostete die Luft und suchte nach irgendeinem Hinweis – ganz gleich, ob nun magischer oder weltlicher Natur. Die versprochene Stunde der Offenbarung war gekommen und verstrichen, doch keine Antworten waren enthüllt worden. Welchen Zauber der inzwischen verschwundene Dämon auch entfesselt haben mochte: Er hing noch immer in der Luft, sein Effekt brodelnd und unerfüllt. Rhonas packte seinen Stab, und seine Instinkte wisperten von Gefahr.
Da. Der Luxa. Hazorets Stimme hallte in seinem Verstand wider, und Rhonas’ Blick wanderte zum Fluss. Das Blut, das noch Augenblicke zuvor zu gerinnen begonnen hatte, hatte seinen Strom durch das Tor wieder aufgenommen und rauschte mit größer werdender Geschwindigkeit an ihnen vorbei. In der Vergangenheit war Rhonas Zeuge geworden, wie sich das Tor zum Jenseits als Teil der täglichen Reise der würdigen Toten einen Spalt breit aufgetan hatte. Dies war jedoch das erste Mal, dass er die Tore weit offen stehen sah. Und dennoch erblickte er kein Zeichen des versprochenen Paradieses hinter dem offenen Portal – nur die Nekropole, groß und imposant, in der die Toten der Rückkehr des Gott-Pharaos harrten.
Binnen Augenblicken war alles, was vom mächtigen Luxa noch übrig war, ein paar rote Rinnsale und gerinnende Blutstropfen, die an den Steinen am Grund des Flussbetts klebten. Die beißende Bitterkeit des dämonischen Zaubers nagte an Rhonas’ innerstem Wesenskern, und er spürte, wie sich alte Magie entfaltete und ausbreitete. Als die magische Präsenz in der Luft fassbarer und schier unerträglich wurde, schien das Blut des Flusses im steinernen Fundament der Nekropole zu versickern und in die Furchen und Verzierungen der Statuen, die beide Seiten des Gebäudes säumten, hineinzuströmen.
Ein Schwall übelriechender Luft quoll aus dem monolithischen Bauwerk, und ein lautes Knacken ertönte plötzlich. Rhonas sah mit an, wie drei der gewaltigen Statuen – nein, Sarkophage – an der Seite des Gebäudes aufbrachen und ihre steinernen Fassaden zu einer Staubwolke zerbarsten. Ein blaues Licht blitzte auf, und drei riesige Gestalten erwachten durch den dämonischen Zauber aus ihrem Schlummer.
Eine Welle aus Schreien und Rufen breitete sich von den Sterblichen aus, die sich zu Füßen der Götter versammelt hatten, während die Götter vor dem Anblick und der nackten Präsenz der gewaltigen Gestalten zurückwichen. Die drei waren größer als die Götter selbst. Ihre menschenähnlichen Leiber endeten in monströsen Köpfen in Form von Insekten: einer war ein Skorpion, einer eine Kreatur von spindeldürrer, heuschreckenartiger Gestalt und einer trug dort, wo sein Gesicht hätte sein sollen, den azurblauen Panzer eines Skarabäus.
In Rhonas’ Verstand gab es keinerlei Zweifel: Diese drei waren Unsterbliche. Wo die Gegenwart seiner Geschwister wie eine wärmende Flamme glühte, ging von diesen Göttern jedoch ein Schatten aus, eine Schwere aus Dunkelheit und Verzweiflung, die sich über alle Anwesenden – Sterbliche wie Götter gleichermaßen – legte.
Zum ersten Mal seit seiner Erschaffung verspürte Rhonas Unsicherheit. Nichts in den Prophezeiungen und nichts in seinen Erinnerungen an den Gott-Pharao hatte auf diese drei hingewiesen.
Die Sterblichen zu seinen Füßen raunten, und einige stießen verängstige Schreie aus, als die Skorpion-Gottheit durch das Tor stapfte und ihre schweren Schritte den Boden erzittern ließen. Zu seiner Rechten machte Hazoret mit gezücktem Speer einen Schritt nach vorn, doch Rhonas hob seinen Stab, um ihren Eifer zu bremsen. Ist dies ein Feind oder eine Prüfung?
„Ich bin Rhonas, Gott der Stärke. Wer seid ihr und warum seid ihr während der Stunde des Ruhms erwacht?“, donnerte Rhonas’ Stimme.
Die Skorpion-Gottheit gab keine Antwort, wandte ihren Insektenkopf aber in seine Richtung. Bei genauerem Hinsehen erschien die Gottheit noch viel grotesker, als Rhonas ursprünglich gedacht hatte. Ihr Leib war wie ein Wendel aus Sehnen und Muskeln, die von einem dunklen Außenskelett bedeckt waren, und Händen, die in scharfen Klauen endeten. Ihr Kopf wirkte wie ein riesiger Skorpion, der sich auf dem menschenähnlichen Körper niedergelassen hatte, sein harter Panzer vergoldet und von blauen Kugeln verziert, von denen Rhonas nur annehmen konnte, dass es sich um Augen handelte.
Der Unsterbliche schien Rhonas zu mustern. Kein Wort kam zwischen seinen Mandibeln hervor, doch ein tiefes, klackerndes und zwitscherndes Geräusch setzte ein, das lauter und lauter wurde. Rhonas umfasste seinen Stab fester, als der Schwanz des Skorpions über den Kopf des Gottes peitschte. Eine Woge aus Panik ergriff die Sterblichen zu Rhonas’ Füßen, und er spürte einen Rausch aus Gebeten und Flehen.
Rhonas richtete seinen Stab auf die Skorpion-Gottheit und erwiderte deren Zurschaustellung von Angriffslust mit seiner eigenen. „Ob du nun ein Vorbote der Rückkehr des Gott-Pharaos oder ein Eindringling bist, der sich gegen die Stunden verschworen hat: Du sollst keinen Schritt mehr tun.“
Die Skorpion-Gottheit machte einen weiteren, erderschütternden Schritt vorwärts. Rhonas verlagerte den Griff um seinen Stab, während sich seine Füße in eine oft geübte, feste Stellung bewegten. Um ihn herum standen seine Brüder und Schwestern bereit, die Körper angespannt und den Blick auf Rhonas gerichtet.
Erneut schnellte Rhonas’ Zunge aus seinem Mund in die Luft hinaus. „Du sollst keinem Gott Amonkhets trotzen. Wir wachen über diese Stadt und ihre Bewohner. Wenn du meine Prüfung bist, dann werde ich dich besiegen und mich als würdig erweisen!“
Ohne Vorwarnung sprang die Skorpion-Gottheit auf Rhonas zu. Das Klackern und Zwitschern wurde noch einmal deutlich lauter. Sand wirbelte auf, als der Unsterbliche sich mit überraschender Geschwindigkeit und erhobenem Stachel voranbewegte. Er sprang in Reichweite und holte mit den Klauenhänden nach Rhonas aus.
Doch dieser war bereit, wich der anstürmenden Gottheit aus und hieb mit seinem Stab nach ihr. Das Metall prallte gegen den Rücken der Gottheit – ein wuchtiger Schlag gegen ihren Panzer, der geringere Wesen in Staub verwandelt hätte. Der Unsterbliche schien den Angriff abzuschütteln, während er mit klickenden Mandibeln und erwartungsvoll zuckendem Schwanz herumwirbelte. Erneut sprang er auf Rhonas zu, und diesmal zielte er mit seinen Klauen nach den Augen des Beschützers von Naktamun. Rhonas hob seinen Stab, um zu parieren, und die Klauen der Skorpion-Gottheit klirrten gegen das Metall seiner Waffe. Rhonas spürte, wie seine Knie sich beugten und seine Füße unter der rohen Gewalt des Hiebes im Boden versanken.
Rhonas wehrte sich und versuchte, die größere Gottheit wegzudrücken. Es war ungewöhnlich, dass er gegen etwas kämpfte, was größer war als er, aber nicht neu. In der Wüste gab es Sandwürmer, abartige Ungeheuer und noch weitaus furchterregendere Bestien, und gelegentlich hatte er durchaus schon mit einem Gegner gerungen, dessen Gestalt die seine überragte. Doch gegen etwas zu kämpfen, was stärker war als er? Stärker als der Gott der Stärke?
Rhonas schrie wütend auf und drückte. Seine Muskeln kreischten, als er die Skorpion-Gottheit zurückstieß. Der Boden erbebte mit jedem ihrer Schritte, als sie ins Taumeln geriet. Rhonas machte sich den Verlust ihres Gleichgewichts zunutze, bündelte Mana und wob einen Zauber des Nachdrucks. Macht strömte durch seine Glieder, und mit aller Kraft drosch er auf die Skorpion-Gottheit ein.
Er traf den Unsterblichen auf der Brust, und dieser wurde über das weite Feld geschleudert, ehe er mit einem Krachen gleich hinter dem Tor landete. Rhonas hörte die Sterblichen jubeln und Lobpreisungen rufen, während sich die Skorpion-Gottheit langsam aufrappelte. Rhonas’ ausdrucksloses Gesicht verbarg das Grauen in seinem Herzen vor den jubelnden Sterblichen. Dieser Speer hat bislang jeden Kampf beendet.
Die Skorpion-Gottheit überquerte erneut die Schwelle des Tores. Diesmal stürmte sie nicht einfach vor. Stattdessen begann sie, Rhonas zu umkreisen. Sie hielt Abstand, pirschte sich jedoch immer näher an ihn heran. Das Klackern und Zwitschern hörte nie auf, sondern setzte sich eintönig und mit betäubender Lautstärke und Geschwindigkeit fort. Rhonas versuchte, dem Geräusch keine Beachtung zu schenken, und begann stattdessen eine gemurmelte Anrufung.
Diese Skorpion-Gottheit war zweifellos eine Prüfung der Stunde des Ruhms. So musste es sein. Nichts anderes hatte jemals Rhonas’ Stärke so auf die Probe gestellt. Nichts hatte seinen Angriffen standgehalten und überlebt. Rhonas’ Blick huschte zu den beiden hoch aufragenden Gestalten hinter dem Tor. Vielleicht würden diese beiden fremden Götter seine Geschwister auf eine andere Weise prüfen. Denn letztlich konnten die Götter sich nicht als würdig erweisen, wenn sie sich nicht ebenso wie die Sterblichen einer Prüfung stellten und etwas vollbrachten, was alles Bisherige übertraf. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, während er seine Anrufung fortsetzte. Gepriesen sei die Stärke und die Weisheit des Gott-Pharaos, dachte er. Es ist mir eine Ehre, mich gegen einen solch formidablen Gegner zu bewähren.
Rhonas berührte seinen Stab und stieß die letzten Worte seiner Anrufung hervor. Ein kränkliches grünes Leuchten pulsierte, das aus dem Metall zu kommen schien. Es schimmerte über die gesamte Länge des Stabes und verschmolz dann mit der Klinge am Ende der Waffe, um dort viridiangrün zu glimmen.
Rhonas ging los – entgegen der Richtung des kreisenden Pirschens der Skorpion-Gottheit.
„Du bist wahrlich stark“, sagte Rhonas. „Doch heute sollst du nicht obsiegen.“
Diesmal stürmte Rhonas mit schlangengleicher Eleganz auf die Skorpion-Gottheit zu. Er parierte einen Hieb des Stachels, wirbelte dann herum und versetzte seinem Gegner einen Schlag mit dem Ellenbogen, der ihn in den Rippen traf. Rhonas’ Stab zog einen Schweif aus grünem Licht hinter sich her, als er ihn schwang und schnell statt hart zuschlug, um die Stärke des Panzers der Skorpion-Gottheit zu prüfen und klaffende Schnitte und Kratzer auf der unfassbar harten Schale zurückzulassen, während er den Angriffen seines Gegenübers auswich.
Während sie rangen, schienen die Bewegungen der Skorpion-Gottheit langsamer zu werden. Die Hiebe ihrer Klauen und ihres Schwanzes wurden schwerfällig. Zu spät blickte sie mit dämmernder Erkenntnis auf Rhonas’ Stab. Rhonas grinste und bleckte die Zähne, während er das scharfe Ende des Stabes in die Schulter des Unsterblichen trieb und den Panzer knackte. Die Skorpion-Gottheit war nun schlicht zu langsam, um den Angriff aufzuhalten oder ihm anderweitig zu entgehen. Das beißende Leuchten des magischen Gifts – stark genug, um die allermeisten Lebewesen zu töten – pulsierte, als es durch die Wunde eindrang und die Skorpion-Gottheit von innen heraus lähmte und auffraß.
Rhonas zog seinen Stab zurück, und die Skorpion-Gottheit fiel auf die Knie und zwitscherte schwach. Das freudige Gebrüll der Menschen drang an sein Ohr, und er spürte eine Woge der Erleichterung und der Wärme von den anderen Göttern ausgehen. Rhonas musterte das zur Strecke gebrachte Ungetüm und wandte sich dann seinen Brüdern und Schwestern und den versammelten Sterblichen zu. Er öffnete den Mund, um zu sprechen.
Die Worte verließen nie seine Kehle.
Eine plötzliche Bewegung hinter ihm erwischte ihn unvorbereitet. Scharfe Klauen gruben sich ihm in die Arme, und er bemerkte kaum, dass die Skorpion-Gottheit ihn von hinten gepackt hatte, bis ihm ein greller Schmerz durch den Kopf zuckte.
Die Zeit stand still.
Rhonas blickte nach unten, überrascht, sich selbst am Ufer des Luxa stehen zu sehen. Hinter ihm ragte die Skorpion-Gottheit auf, eine düstere Gestalt, die Dunkelheit ausstrahlte und dabei auf absonderliche Weise leuchtete. Ihre Klauen hielten Rhonas fest.
Dann sah Rhonas den Stachel des Skorpions, der ihm über dem Kopf aufragte und sich ihm in den Schädel gebohrt hatte.
Ich ... bin besiegt ...
Die Gewissheit setzte langsam ein, während das Sekret aus dem Stachel der Skorpion-Gottheit ihm die Wirbelsäule hinabrann, in seine Seele und seinen Verstand sickerte, das körperliche Band zu seiner Göttlichkeit durchtrennte und die Magie, die seinen Leib mit seiner Unsterblichkeit verband, auflöste. Rhonas sah voller Schrecken und Faszination zu, wie der Tod ihn verzehrte. Er spürte, wie das Gift an seinem Herzen nagte und jenes Bündel aus Leylinien und Magie und Körperkraft zerfaserte, das sein innerstes Selbst ausmachte.
Doch als das Gift die Bande kappte, die ihn auf dieser Welt hielten, löste es auch die magischen Fäden, die dort von einer anderen Macht geschaffen worden waren.
Und plötzlich erinnerte sich Rhonas an die Wahrheit.
Die Erinnerungen begannen als ein leises Tröpfeln, ehe sie durch den gebrochenen Damm aus sich zersetzender Magie hindurchfluteten. Und Rhonas’ Geist selbst zuckte erschrocken zurück, als die wahren Ereignisse und die wahre Natur des Gott-Pharaos sich enthüllten – eine tosende Flutwelle, die alles hinwegspülte, woran er in den letzten sechzig Jahren geglaubt hatte.
Die große Lüge des Gott-Pharaos. Der Drache – kein Schöpfer, sondern ein unbarmherziger Zerstörer. Der große Eindringling – Jäger der Sterblichen und Verderber der Götter. Die grausame Umkehrung des heiligsten Ritus dieser Welt, das Pervertieren einer ruhmreichen Ehre zum stetigen Mord an sterblichen Auerwählten. Die jähe Erinnerung, dass die Götter nicht nach dem Ebenbild des Drachen erschaffen, sondern aus Amonkhet geboren worden und dass sie einst zu acht gewesen waren – Säulen der Welt und Wächter über die Sterblichen. Und dieser Heuchler hatte alles verdorben.
Rhonas weinte.
Und während er weinte, verwandelten sich seine Tränen von Schmerz zu Wut, und er spie den widerwärtigen Namen aus, sein sterbendes Herz von Trauer und Zorn erfüllt.
Nicol Bolas.
Als der Rand seine Gesichtsfelds von einer kriechenden Schwärze erobert wurde und er spürte, wie sich die letzten Bande seines Geistes zu seiner körperlichen Gestalt auflösten, blickte Rhonas in die grausige Fratze des Gottes hinter ihm. Und obwohl seine Augen bereits von einem milchig-weißen Film bedeckt waren, sah er die wahre Natur dieses Gottes: ein winziges Flackern einer Flamme in seinem Herzen, umgeben von völliger Schwärze, das einstige Licht und die Seele seines Bruders begraben unter bösartiger Verderbnis. Dieser Gott war einst einer der ursprünglichen acht gewesen, ehe man ihn einer grausamen Veränderung unterzogen hatte, auf dass er einem neuen Ziel nachgehen mochte: die Geschwister, die ihm einst das Liebste in der Welt gewesen waren, zu töten.
„Bruder“, flüsterte Rhonas.
Rhonas spürte, wie sich der Stachel des Skorpions zurückzog, spürte, wie seine Muskeln zuckten und sich anspannten, spürte das Herannahen des Todes. Und ihm brach das Herz: wegen seiner drei verlorenen Geschwister, wegen all der Sterblichen, die hatten sterben müssen, und wegen all jener Bittsteller, die er in treuer Unterwerfung so grotesk fehlgeleitet hatte.
Und die Stärke der Welt schwand dahin, und ihr unsterbliches Licht geriet in den alles verschlingenden Schatten ins Flackern.
Die versammelten Götter und Sterblichen schrien auf vor Qual, als der Skorpion Rhonas in den Kopf hineinstach. Dieser Hauch eines Augenblicks, kaum einen Wimpernschlag lang, schien sich unendlich auszudehnen, und das erstarrte Abbild des Stachels, der sich tief in Rhonas’ Schädel gebohrt hatte, brannte sich in die Seelen aller Anwesenden ein. Dann zog die Abscheulichkeit ihren Stachel zurück, und schwarzes Sekret spritzte aus der Wunde, während Rhonas taumelte und mit zuckendem Leib zu Boden fiel, um dort schließlich reglos liegen zu bleiben.
Die Skorpion-Gottheit wandte sich ohne innezuhalten oder gar einen Blick zu verschwenden den anderen Göttern zu und lief ihnen mit aufgerichtetem Stachel entgegen.
Tumult brach aus. Sterbliche schrien, als sie sich abwandten und flohen. Die anderen Götter tasteten nach ihren Waffen, als die Skorpion-Gottheit auf sie zumarschierte, unbarmherzig und unaufhaltsam.
Da spürten die vier Götter einen Ruck durch die Welt gehen, ein Ziehen an dem, was sie im Innersten zusammenhielt. Hinter der Skorpion-Gottheit umklammerte Rhonas seinen Stab und stützte sich darauf, um sich aufzurichten. Seine Knie waren gebeugt und er blutete aus der Wunde in seinem Schädel. Satte, grüne Energie wogte über seinen Körper und sammelte sich in seinem Stab. Mit aller ihm noch verbleibenden Kraft zog er den Rest der Leylinien straff, die ihn zusammenhielten, und verzerrte so die Luft um sich herum. Ein gequälter Schrei entrang sich seiner rauen Kehle.
„Tod dem Gott-Pharao, dem bösartigen Eindringling und Zerstörer!“
Mit einem kehligen Ruf und einer verzweifelten Anstrengung schleuderte Rhonas seinen Stab durch die Luft und zwang seinen letzten Rest an Kraft in die Waffe hinein.
Als Rhonas zusammenbrach, wurde sein Leben ausgelöscht, und die unsichtbaren Stränge aus Leylinien und Mana, die ihn zusammenhielten, wurden nun endgültig durchtrennt, woraufhin sie kleine Wellen aus reiner Macht an alles auf Naktamun aussandten, was lebte. Sterbliche krümmten sich vor Entsetzen, als der Gott dahinschied, und selbst die anderen Götter taumelten und wichen zurück. Sie sahen zu, wie Rhonas’ Stab, der die letzten Überreste der Macht ihres Bruders in sich barg, durch die Luft schoss und sein allerletzter Zauber die Waffe in eine gewaltige Schlange verwandelte, die mit gebleckten Zähnen, von denen tödliches Gift troff, gegen die Skorpion-Gottheit prallte.
Diese fiel zu Boden, von der Schlange umwunden. Der Schwanz der Gottheit schlug wild um sich und versuchte, die Schlange zu stechen, als beide die Oberhand gewinnen wollten.
Die vier Götter starrten wie gelähmt. Um sie herum schwollen die Angstschreie an, als die Sterblichen versuchten, von dem Tor wegzukommen.
Die Schreie ihrer Kinder befreiten Oketra aus ihrer Starre. Sie wandte sich ihren Geschwistern zu. Tränen standen ihr in den Augen, und ihre Stimme klang krächzend und unsicher, als ihre übliche Anmut einfach dahinschwand.
„Die Stunden sind verdorben worden. Wir müssen die Sterblichen beschützen.“
Ihre Worte versetzten ihre Geschwister in Bewegung. Hazoret wandte sich zu Oketra. Ihre Brauen waren vor Verwirrung zusammengekniffen.
„Rhonas. Er sagte ... Er hat unseren Gott-Pharao geschmäht.“
Oketra nickte. Auch sie hatte Rhonas’ letzte Worte gehört, und obwohl sie keineswegs wahr sein konnten, nagte Zweifel an ihrem Herzen, als flüchtige Gedankenfetzen am Rande ihres Gedächtnisses vorbeihuschten.
Ein stärker werdendes Summen lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück zum Tor.
Die zweite der Insekten-Gottheiten hatte die Arme ausgebreitet, und ein Schwarm Heuschrecken erhob sich aus ihren Händen. Oketra sah entsetzt zu, wie die dunkle Wolke in den Himmel aufstieg und sich über das Hekma verteilte – und damit begann, sich durch die magische Barriere zu fressen.
„Was tut es da?!“, schrie Kefnet auf.
Ein Schaudern aus Erkenntnis und Begreifen lief Oketra die Wirbelsäule hinunter, als sie sich der Worte der Prophezeiung erinnerte. Und zu jener Zeit wird der Gott-Pharao das Hekma niederreißen.
Oketra sprach, und ihre Stimme war nur noch ein gedämpftes Flüstern.
„Die Stunde der Verheißung hat begonnen.“
Ein grässliches reißendes Geräusch erklang vor ihnen. Die Skorpion-Gottheit erhob sich vom Boden, in jeder Hand eine Hälfte der gewaltigen Schlange.
Langsam öffnete sie die Klauen und ließ die Hälften zu Boden fallen. Ihre azurblauen Augen starrten kalt und stechend zu den Göttern, und erneut begann sie ihr unaufhaltsames Näherkommen.
Oketra legte einen Pfeil auf ihren Bogen. Ihr Mund war zu einer dünnen Linie zusammengepresst, und ihr gebrochenes Herz wurde mit grimmiger Entschlossenheit zu Stein.
Und die Skorpion-Gottheit pirschte sich näher heran, während hinter ihr die anderen beiden Gottheiten die Schwelle des Tores überschritten und die Stadt Naktamun betraten.
Über ihnen allen warf die zweite Sonne, dort zwischen den beiden Hörnern in der Ferne, ihr rotes Licht auf das Land – ein unablässig wachendes Auge, das das Verstreichen der Stunden beobachtete.
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Weltenbeschreibung: Amonkhet