Was bisher geschah: Stunde des Ruhms

„Und siehe, die drei dunklen Gottheiten kehrten zurück, und als sie die Götter zu Fall brachten, brach die Stunde der Verheißung an. Und so erfüllte die große Heuschrecken-Gottheit das Versprechen, und so wurde das Hekma entzweigerissen, und jeder Schutz, den es bot, war vor der Rückkehr des Gott-Pharaos zunichtegemacht.“


Hapatra stand auf den Stufen zum Tempel der Stärke und sah zu, wie das Blut im Luxa weiter den Fluss hinaufschwappte und das Wasser dabei tiefrot färbte. Ihre Arme waren eng vor der Brust verschränkt, ihr Mund zu einer schroffen Linie zusammengepresst. Die anderen Wesire des Tempels flankierten sie zu beiden Seiten und starrten ebenfalls auf die freiliegenden Teile des Flussbetts und das Rot, das sie besudelte.

Khufu stand zu ihrer Rechten. Er war breitschultrig und stämmig, und an seinen Schläfen zeigte sich erstes Grau. In einem fröhlicheren Augenblick hätte Hapatra ihn wegen seines Alters aufgezogen (entsetzliche fünfunddreißig), doch nun konnte sie lediglich den Kopf schütteln.

„Wir sollten mittlerweile Neuigkeiten über die Absichten der neuen Götter erhalten haben“, sagte sie. „Wo ist Iput?“

„Sie kehrt sicher bald zurück“, sagte Khufu. Tiefes Vertrauen durchzog seine Stimme wie der feine Klang eines Windspiels.

Hapatra spielte mit der Schlange, die sich um ihren kleinen Finger gewunden hatte. Vorhin war ein Bote eingetroffen, der vom Erscheinen der drei neuen Götter berichtet hatte – und davon, dass einer von ihnen mit Rhonas gerungen hatte. Sie wünschte, sie hätte an Rhonas’ Seite stehen können, um die Neuankömmlinge zu begrüßen, doch die Wesire waren sich einig gewesen, dass es im Augenblick besser war, in den Tempeln zu bleiben.

Hapatra schürzte die Lippen. Sie war ebenso rastlos und begierig auf Nachricht wie jeder andere im Tempel. „Wir sollten für die Stunde des Ruhms in Rhonas’ Nähe sein.“

Khufu verschränkte nun ebenfalls die Arme. „Die Stunde des Ruhms ist die Zeit, in der sich Sterbliche und Götter gleichermaßen als würdig erweisen, ins glanzvolle Nachleben einzugehen.“

Hapatra machte ein zustimmendes Geräusch. „Also werden die neuen Götter sie zuerst prüfen? Und dann uns und die ungeprüften Geweihten?“

Khufu zuckte die Schultern.

Hapatra verlagerte ihr Gewicht vom einen Bein aufs andere, während sich ihr Haustier von ihrer einen Hand zur anderen schlängelte. Ihr Herz pochte aufgeregt. Sie wusste, dass Rhonas’ mühelos siegen würde, doch es war qualvoll, so auf Kunde warten zu müssen.

„Die Prophezeiungen waren stets ungenau darüber, was den den Ort angeht, an dem wir uns hierfür aufhalten sollten. Woher sollen wir wissen, wann wir die ungeprüften Geweihten vor die neuen Götter führen sollten? Und was hat es damit auf sich, dass der Fluss zu Blut wird?“ Hapatra runzelte die Stirn.

Khufu hob entschuldigend die Hände.

„Der Gott-Pharao wird schon Licht ins Dunkel bringen.“

Möge die Gnade des Gott-Pharaos sich als fruchtbarer erweisen als seine Form der Verständigung, dachte Hapatra.

Sie ließ ihren Blick wieder zum Luxa schweifen. Die Vögel hatten zu singen aufgehört, und die Stadt, in der sonst die Geräusche fröhlicher Leibesübungen erschollen, war vollkommen still. Hapatra fühlte sich unbehaglich. Noch besorgniserregender war das schwindende Wasser – Blut – des Flusses. Der leere Teil des Flussbetts war voller toter Fische. Seltsam klumpige, blutgetränkte Tiere zuckten und wanden sich träge im Schlamm. Der Fluch des Umherirrens scherte sich nicht darum, dass sie eigentlich Wasser brauchten, um sich überhaupt voranbewegen zu können.

Das alles war zu seltsam. Zu ungewöhnlich. Diese Prophezeiungen waren vage und ihre Manifestationen beunruhigend.

Nie gekannte Zweifel geisterten durch Hapatras Verstand. Sie wagte nicht, ihnen Namen zu geben.

Ohne Vorwarnung stockte ihr der Atem.

Ein plötzlicher, bohrender Schmerz fuhr Hapatra ins Herz, und sie taumelte vor Qual zurück, umklammerte sich die Brust und fluchte durch das Stechen.

Verzweifelt blickte sie sich nach der Ursache um und sah, dass sich auch die anderen Wesire an die Brust griffen. Sie beruhigte ihre Gedanken und versuchte, sich durch den Schmerz zu kämpfen. Hapatra war eine Meisterin der Gifte und hatte einen Großteil ihres Lebens damit verbracht, ihren Körper durch sengende Schmerzen zu treiben. Sie atmete ein, dann aus und konzentrierte sich ganz auf ihren unbedingten Willen, die Panik und die Pein zu verdrängen.

Der körperliche Schmerz ließ nach, aber ein Gefühl des Grauens blieb zurück.

In Teilen der Stadt erklangen Schreie. Auf der Suche nach ihrer Quelle huschte Hapatras Blick über die Dächer und Tempel. Der Lärm schien vom Tor zu kommen, doch er wurde lauter, als würde sich etwas sehr schnell durch Naktamun bewegen. Hapatra sah, wie sich Kefnet in der Ferne in die Luft schwang, gefolgt von einem dunklen Schatten, den sie nicht erkannte.

Von oben hörte sie etwas Eigenartiges: Ein zirpendes, kratzendes Geräusch wie von Hunderten von kleinen Beinchen, die durch den Schleier des Hekma krochen. Hapatra schaute nach oben und erblickte eine Wolke aus Heuschrecken, die über ihr schwebte.

Diese Ungeheuer hätten durch die Stunde der Offenbarung vernichtet werden sollen. Deshalb war der Dämon überhaupt über der Stadt erschienen: Er war wie alle Bestien jenseits des Hekma aus dem Paradies vertrieben worden. Warum waren die Ungeheuer dann noch hier?

Ihre Schlange glitt von ihrem Finger und verschwand in einer Ritze in der Wand des Tempels.

Hapatra blickte zu Kefnet zurück und erkannte, dass die dunkle Gestalt, die ihm folgte, nur einer der neuen Götter sein konnte.

Bild von Lius Lasahido
Bild von Lius Lasahido

Sie war gewaltig. Das Ding schien auf den nächsten Turm zu klettern. Seine Klauen griffen nach den steinernen Kanten eines Obelisken, während es seinen riesigen Leib nach oben wuchtete. Auf halbem Weg schien es sich daran zu erinnern, dass es Flügel hatte, und es schwang sich rasch zur Spitze hinauf. Sein Surren war ein beständiges, ohrenbetäubendes Geräusch, als würde die Luft selbst sich gegen das unablässige Schlagen der riesigen, insektenartigen Flügel wehren wollen.

Hapatra wandte sich zu Khufu.

„Wir sollten Kefnet helfen!“

Der Wesir schüttelte den Kopf. Er keuchte noch immer vor dem seltsamen Schmerz. „Dies alles ist Teil der Stunde des Ruhms. Auch die Götter werden geprüft werden.“

„Also war das dieser Schmerz? Eine Prüfung?“

Khufu nickte, und Hapatra verzog das Gesicht. Sie ging zur anderen Seite der Plattform. Nichts hieran fühlte sich richtig an.

In diesem Augenblick hörte sie leise Schritte auf der Treppe. Iput, die jüngste und leichtfüßigste Wesirin des Tempels der Stärke, kam die Stufen heraufgerannt. Ihr Gesicht war tränenüberströmt. Hapatra kniete sich nieder und nahm sie in den Arm.

„Iput, was hast du gesehen? Was wollen die neuen Götter?“

„Rhonas ist tot!“, stieß Iput hervor.

Hapatra klappte der Mund auf. Sie schüttelte den Kopf.

„Nein. Er ist ein Gott. Götter können nicht getötet werden.“

Iput zitterte vor Trauer. „Diese Skorpion-Gottheit hat ihn getötet. Sie will sie alle töten.“

Rhonas war der mächtigste der Götter. Bestien wichen vor seiner Stärke zurück, und dunkle Mächte verzagten, wann immer sein Schatten auf sie fiel. Rhonas konnte nicht getötet werden.

Doch der Schmerz in Hapatras Herz sprach eine andere Sprache.

Hinter ihr schrie Khufu.

„Es ist eine Prüfung! Iput lügt! Rhonas, der größte unter den Göttern, wird an der Seite des Gott-Pharaos stehen –“

„Willst du wohl einmal still sein?“, rief Hapatra.

Dies war nicht die Zeit, sich an die üblichen Benimmregeln zu halten. Versprechen waren gebrochen und Vertrauen von fremdem Gift durchsetzt worden. Hapatra konnte später trauern. Ihr einziges Ziel war es nun, die anderen Götter in Sicherheit zu bringen, sodass keiner der Bewohner der Stadt mehr den Schmerz erleiden musste, wenn ein Gott fiel.

Hapatra blickte auf und sah dunkle Insektenwolken an der Barriere hängen. Sie schaute zu der Heuschrecken-Gottheit auf dem Turm in der Ferne – gerade noch rechtzeitig, um zu bemerken, wie sie mit ausgestreckten Armen irgendeine unheilige Magie auf den Himmel über ihnen wirkte.

Das Surren der Heuschrecken erfüllte die Luft über ihr.

Eine graue Masse formte sich im Inneren des Hekma. Zunächst war sie noch dünn, doch als die Heuschrecken-Gottheit ihren Zauber fortsetzte, wurde sie größer und größer und das Surren der Flügel lauter und lauter.

Hapatra kniff die Augen zusammen, um zu erkennen, was die Heuschrecken taten. Sie schienen übereinander hinwegzuklettern, um die schimmernde Magie des Hekma zu erreichen. Und während sie sich bewegten, brachen helle Lichtstrahlen durch Barriere hindurch. Hapatra öffnete erschrocken den Mund. Die Heuschrecken fraßen das Hekma selbst auf.

Hapatra wandte sich an die anderen Wesire. „Zu der Stunde der Verheißung wird die Welt in ein glanzvolles Paradies verwandelt werden. ‚Das Hekma wird nicht länger gebraucht werden, um die Wüste und die umherwandernden Toten fernzuhalten, und das Wasser des Luxa wird frei durch die Ödnis fließen.‘ Oder?“

Die anderen Wesire nickten. Hapatra deutete mit einem Finger auf die Heuschrecken in der Ferne. Sie straffte die Schultern und richtete sich zu voller Größe auf. „Der Luxa wird frei durch die Ödnis fließen, weil es kein Hekma mehr gibt!“

Die Wesire blickten entsetzt nach oben. Sie sahen von ihrem Aussichtspunkt aus zu, wie die Heuschrecken mehr und mehr der Magie verzehrten, die die Menschen Naktamuns vor der Außenwelt beschützt hatte.

Selbst Khufu konnte den Blick nicht abwenden. „Die Heuschrecken-Gottheit ist dafür verantwortlich ... ?“

Das Hekma war nun völlig von Heuschrecken bedeckt – ein Schwarm, der so dicht war, dass das Licht der zwei Sonnen flackerte und dunkler wurde. Eine schaurige, schwarze Nacht senkte sich über Naktamun. Hapatra blinzelte, während sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Das unablässige Regen der Insektenmasse versah die Steine des Tempels der Stärke mit unzähligen Lichtsprenkeln.

Hapatra beschloss, dass nun genau der richtige Zeitpunkt war, um nach drinnen zu gehen.

„Genug gestarrt! Zieht euch alle zurück!“, rief Hapatra. Die anderen Wesire waren von ihrer Trauer verzehrt worden und rappelten sich nur mit Mühe und verzweifeltem Schluchzen auf.

Hapatra fuhr herum. „Rhonas würde nicht wollen, dass ihr hier herumsitzt und trauert! Macht euch kampfbereit, Wesire!“

Die anderen schnieften und nickten und begaben sich ins Innere, um ihre Waffen zu holen.

Ein nadeldünner Lichtstrahl stahl sich durch die Masse aus Insekten über ihnen.

Lichtbahnen brachen durch die Unterseite der Barriere – zuerst nur einige wenige, dann ein Dutzend und dann verschwand plötzlich ein Viertel des Hekma ganz.

Hapatra spie ein Schimpfwort aus.

In der Stadt brach Chaos aus.

Bild von Jonas De Ro
Bild von Jonas De Ro

Sie sah vom Tempel aus zu, wie Kefnet nach oben flog und einen Zauber begann, um das Hekma zu flicken, doch es war vergebens. Heuschreckenschwärme fielen über den Gott her, und Kefnet hatte Mühe, den Zauber unter dem Angriff Abertausender von Insekten aufrechtzuerhalten. Hapatra verfluchte den eingeschränkten Blick, den sie auf den Rest der Stadt hatte.

Als das Hekma verschwand, ergoss sich eine Flut umherstreifender Mumien aus der Wüste in die Stadt.

Sie wandte sich auf dem Absatz um und eilte in den Tempel.

Die verängstigten Geweihten hielten einander tröstend in den Armen. Einige Wesire bewaffneten sich, andere führten die Bestien des Tempels aus ihren Käfigen, um sie in der Stadt freizulassen und die Mumien zu bekämpfen. Das Innere des Tempels der Stärke war ein ausgedehntes Übungsgelände, das man das Gehege nannte, eine sorgsam gepflegte Anlage, in der die Geweihten ihre Zähigkeit und Überlebenskünste an und mit Wildtieren schulen konnten. Hapatra bahnte sich ihren Weg durch den äußeren Ring des Geheges in Richtung des wesentlich gefährlicheren inneren Rings. Sie hatte ihr gesamtes Leben dem Dienst an diesem Tempel verschrieben und kannte jeden Weg und jede Abkürzung. Die Gemächer der Wesire waren ganz in der Nähe.

Hapatra tat ihr Bestes, sich den Aufruhr in ihrem Inneren nicht anmerken zu lassen. Alles, was sie je gewollt hatte, war ein Platz an Rhonas’ Seite im Nachleben. Wohin gingen Götter, wenn sie starben?

Der Zugang zu ihren eigenen Gemächern war von giftigen Ranken verdeckt. Mit Leichtigkeit schlüpfte sie durch sie hindurch und lief auf ihren Waffenschrank zu.

Speer. Krummschwert. Zahllose Phiolen mit Gift.

Hapatra erinnerte sich an eine Lektion, die sie gerade erst vor wenigen Monaten gelehrt hatte.


Sie war von Geweihten umringt, von denen jeder gesund, begabt und in der Prüfung der Stärke zu Großem ausersehen war. Als Meisterin der Gifte liebte Hapatra es, ihr Handwerk zu lehren.

Sie hob stolz das Kinn und stellte der Gruppe von Schülern eine einfache Frage: „Wie bewegen sich umherstreunende Mumien durch die Wüste?“

Hapatra wartete einen Augenblick und lächelte dann strahlend.

„Mit Sand zwischen den Zähnen!“

Alle Geweihten stöhnten auf, und Hapatra grinste selbstzufrieden.


Hapatra lächelte bei der Erinnerung und zog eine Phiole mit Gift hervor. Sie wusste sehr wohl, wie Mumien sich bewegten. Sobald der Fluch des Umherirrens erst einmal voll eingesetzt hatte, wurden die Mumien durch Reize bewegt, die durch die Wirbelsäule und die Nerven zu den Muskeln geschickt wurden.

Sie strich Gift auf die Klinge ihres Krummschwerts.

„Tote Nerven, tote Mumie.“

Hapatra unterstrich ihre Bemerkung mit einem schrillen Pfiff.

Irgendetwas polterte an der Öffnung zu ihrem Gemach vorbei, und Hapatra lächelte bösartig. Sie griff nach einem dicken Schal, um sich vor den Heuschrecken zu schützen, und rief nach dem Ding dort draußen.

„Tuuuuuyaaaa, Süße!“

Sie hörte ein Zischen hinter den Ranken. Hapatra schnallte sich ihr Krummschwert auf den Rücken und schob die Ranken beiseite, um das gewaltige Basiliskenweibchen vor sich zu streicheln.

Tuya war doppelt so groß wie Hapatra und länger, als sie je nachzumessen gewagt hatte. Die beiden teilten ein magisches Band zueinander, und Tuya schnüffelte an den Händen ihrer Herrin. Hapatra küsste sie auf die Schnauze.

„Die Welt, wie wir sie kennen, ist zu Ende gegangen, altes Mädchen“, flüsterte Hapatra. Das Basiliskenweibchen stieß die Schnauze in Hapatras Halsbeuge.

Die Meisterin der Gifte schluckte ihre Trauer herunter.

„Keine Zeit für Trübsal, Süße. Wir haben eine Stadt zu retten.“


Hapatra klammerte sich an Tuyas Rücken, während die Schlange sich ihren Weg durch die Ringe des Geheges bahnte. Es waren gerade keine Geweihten hier, und die Wildnis war seltsam leer.

Hapatra streckte eine Hand aus und wob einen Zauber des Rufens. Zu mir, sandte sie aus. Folgt mir nach draußen und rächt euren Meister, denn er ist tot.

Die Bestien und die Tiere im Gehege hoben aufmerksam die Köpfe. Sie begannen, ihr zu folgen – erst eine Kreatur, dann viele, bis sich eine ganze Horde aus Antilopen, Flusspferden, Rhinozerossen und Elefanten dem sich dahinschlängelnden Basiliskenweibchen angeschlossen hatte.

Ranken und Blätter schlugen Hapatra ins Gesicht, als sie durch den Dschungel des Geheges preschte. Sie zupfte an Tuyas Seite, um sie die Haupttreppe hinaufzulenken, und Hapatra kniff die Augen zusammen, als sie durch das Tor hinaus in den Schrecken des hellen Tageslichtes vordrangen.

Das Licht traf ihr Gesicht gleichzeitig mit einem Sturm aus Schreien und Geräuschen. Von ihrer Aufgabe befreit schwärmten die Heuschrecken zu jedem Körper, den sie finden konnten. Verfluchte Tote hatten begonnen, von der Wüste aus in die Stadt zu wandern, und ein paar wenige Schrecken aus der Ödnis hatten begonnen, alles Lebende, dessen sie habhaft werden konnten, anzugreifen.

Naktamun, einst voll von glänzendem Alabaster, war nun von Plagen und Bestien übersät.

Hapatra konnte selbst durch ihren Schal spüren, wie Heuschrecken von ihr abprallten. Sie ließ Tuya zum Stehen kommen, und die Menagerie aus Tieren aus dem Tempel der Stärke hielt ebenfalls an.

Die Sonnen über ihnen schienen durch Wolken von Insekten hindurch. Kefnet schwebte nun hoch über der Stadt und versuchte verzweifelt, das Hekma neu zu errichten. In der Ferne konnte Hapatra die Heuschrecken-Gottheit erkennen, die noch immer auf ihrem Turm stand und Welle um Welle aus Heuschrecken auf den hilflosen Kefnet hetzte.

Hapatra wob rasch einen weiteren Zauber des Rufens. Greift die falschen Götter an! Töte die eindringenden Insekten!

Die Bestien brüllten vor Blutdurst und Wut auf, und Tuya bäumte sich auf und bleckte die Zähne. Hapatra zog ihr Krummschwert und zwang Tuya, weiter voranzustürmen.

Sie rasten durch die Straßen Naktamuns und rammten möglichst viele der Mumien und Heuschrecken, die ihnen dabei in die Quere kamen. Hapatra lehnte sich zur Seite von ihrer Schlange weg und schnitt mit ihrem vergifteten Krummschwert zahlreichen Mumien in die Brust. Mit jedem Hieb von Hapatras Klinge hielt eine weitere Mumie inne, beugte sich vor und fiel schließlich zuckend und zappelnd zu Boden.

Könnte Rhonas mich jetzt nur sehen, dachte sie mit einem bittersüßen Lächeln.

Tuyas Fänge bohrten sich in die Leiber zahlreicher Mumien, und Hapatra sprang von ihrem Reittier.

„Halte die verfluchten Toten von der Stadt fern!“, rief sie. Als Geste der Zuneigung ließ Tuya kurz die Zunge hervorschnellen und glitt dann davon in Richtung der Außenbezirke Naktamuns.

Hapatra blickte auf, sah den sich mühenden Kefnet und rannte auf ihn zu.

Der Schal hielt die Heuschrecken davon ab, sich in ihrer Haut zu verbeißen oder sie zu kratzen, aber Hapatra erkannte rasch, dass er gegen die Mumien, von denen sie nun umringt war, keine Hilfe sein würde. Sie stürzte sich dennoch mitten ins Getümmel. Sie begann ein Gebet an Rhonas, ehe sie sich besann und ins Fluchen verfiel. Ungeachtet dessen bahnte sie sich ihren Weg durch die Scharen von Feinden. Ihre Klinge tanzte in einem geübten, präzisen Rhythmus, als sie sich aus der Menge an Untoten herausschnitt.

Sie wusste, dass ihr Gift die Mumien ganz von selbst lähmen würde. Hapatra rannte auf die nächstgelegene Gruppe zu und begann, so viele Hiebe auszuteilen wie nur möglich. Ihr Gift würde die Bewegungen von Lebenden und Toten gleichermaßen aufhalten. Sie konnte zwar nicht den Fluch des Umherirrens aufheben, doch sie konnte es ihnen sehr viel schwerer machen, überhaupt umherzuirren.

Hapatra schlug gnadenlos um sich und schuf eine Schneise aus gelähmten Toten.

Sie verlor sich in diesem Augenblick. Als sie die Klinge hin und her schwang und die Heuschrecken ihre Sicht beeinträchtigten und das Summen der hungrigen Insekten ihr in den Ohren dröhnte, fühlte Hapatra sich alt. Sie hatte vierunddreißig Jahre lang gelebt – zwei ganze Lebzeiten an Erfahrungen. Rhonas war von Anfang an für sie da gewesen. Er war so gut und so wahrhaftig gewesen. Wie hatte ihr Gott sie nur so verraten können?

Nein. Es lag nicht an den Göttern.

Es lag an dem, der fernblieb. Dem Gott-Pharao, der nicht hier war.

Dies alles war seine Schuld.

Hapatra schrie vor Zorn und schlug einer Mumie den Kopf ab.

Ein Aufblitzen von Gold zog ihren Blick auf sich.

Hapatra sah zwei Kinder, die Rücken an Rücken einer Gruppe verfallender Mumien gegenüberstanden.

Sie kämpften mit gestohlenen Speeren und riefen einander taktische Ratschläge zu. Ihre Bewegungen waren ungelenk und entsprangen nichts anderem als einem völligen Entsetzen.

Hapatras Herz wurde schwer. Sie stürmte vor und erledigte rasch die angreifenden Mumien, während die beiden Kinder an ihrer Seite blieben, um weiter zuzustechen und zu schreien.

Kaum waren die Gegner unter ihrer vergifteten Klinge gefallen, wandte Hapatra sich an die Kinder.

„Wo sind eure Hüter?“

„Sie hören einfach nicht auf“, sagte das ältere Kind.

Hapatra runzelte verwirrt die Stirn. Sie trat die Tür des nächstbesten Hauses ein und betrat das Gebäude.

Eine Reihe von Gesalbten bereitete in der Küche ein Mittagessen zu. Essen türmte sich zu allen Seiten auf, und jede Schale war von fressenden Heuschrecken übersät. Der Gestank der Insekten und des verdorbenen Essens hing schwer in der Luft. Einer gesalbten Mumie waren die Schüsseln ausgegangen, um Essen hineinzutun, weshalb sie es einfach Löffel für Löffel zu Boden tropfen ließ. Eine Schar Heuschrecken verzehrte emsig das zusätzliche Futter, doch die Mumien nahmen keine Notiz davon. Es schien, als wären die Gesalbten trotz des sich draußen ausbreitenden Chaos unfähig, ihre Pflichten zu unterbrechen.

Hapatra zuckte zurück und verließ rasch das Haus. Sie kniete sich zu den Kindern herunter und zog eine Phiole mit Gift hervor.

„Gebt mir eure Speere“, wies sie sie an.

Die Jungen reichten ihr die Speere, und Hapatra entkorkte ihre Phiole, um das Gift mit den Fingern auf die Speerspitzen aufzutragen.

„Sucht ein paar Erwachsene und bleibt in ihrer Nähe. Stecht so viele Mumien hiermit, wie ihr nur könnt.“

Ein Schrei drang an ihr Ohr. Hapatra stand auf, zog ihr Krummschwert und rannte auf das Geräusch zu. Heuschrecken drangen auf einen Mann ein, an dessen Seite eine Frau stand und die Insekten mit bloßen Händen wegschlug. Das Klatschen von Haut auf Chitin wurde vom unaufhörlichen Surren der Flügel der Insekten übertönt.

Hapatra erkannte, dass sie sich in der Nähe eines Brunnens auf ihrem Lieblingsplatz befand.

Der Brunnen hatte sein Wasser geradewegs aus dem Fluss gezogen. Nun war er blutbesudelt.

Hapatra spürte einen Stich im Herzen, und Tuya kam um eine Ecke des Platzes gebogen. Ihr gewaltiger geschuppter Körper krachte mit roher Gewalt gegen die Mauern. Ihre gesamte Schnauze war von Blut und den Eingeweiden toter Insekten überzogen.

Hapatra kletterte auf ihre Gefährtin und drängte sie vorwärts. Kefnet hatte sich auf einem Turm in der Nähe niedergelassen. Seine Flügel hingen erschöpft herab.

Hapatra trieb Tuya weiter an, und sie schlängelten sich mit Leichtigkeit durch die Stadt.

Weitere Bewohner hatten inzwischen begonnen, sich zu wehren, und einige hatten ihre Gesalbten dazu gebracht, es ihnen gleichzutun. Hin und wieder begegnete Hapatra einer der Bestien aus dem Gehege, die die heranströmenden Mumien biss, kratzte und in Fetzen riss. Einige bemerkten das vorbeiziehende Basiliskenweibchen und schlossen sich ihm an.

„Wesirin Hapatra!“

Hapatra brachte Tuya zum Anhalten und blickte sich nach demjenigen um, der ihren Namen gerufen hatte.

Vor ihr stand die Ketzerin Samut.

„Wenn du hier bist, um zu sagen: ‚Ich hatte euch gewarnt‘, dann will ich nichts davon hören“, rief Hapatra ihr zu.

Samut schüttelte den Kopf. Sie schaute nach links, wo der Auserwählte Djeru um eine Ecke gebogen kam.

„Wir müssen Oketra finden und beschützen“, sagte Samut.

„Wir haben gesehen, wie ... Rhonas gefallen ist.“ Djeru schüttelte den Kopf. „Wir können die anderen Götter nicht dem gleichen Schicksal anheimfallen lassen.“

Hapatra seufzte.

„Kommt rauf.“

Die beiden früheren Geweihten kletterten geschickt auf Tuyas Rücken, und Hapatra trieb das Basiliskenweibchen vorwärts.

Hapatra geriet auf dem Rücken des Tiers kurz ins Sinnieren: „Ich dachte immer, die Stunde der Verheißung würde bedeuten, dass das Hekma fällt, um das Paradies zu offenbaren.“

„All das ist Teil der Lügen des Gott-Pharaos.“ Samuts Mund war eine dünne Linie. Djeru schüttelte hinter ihr den Kopf und schwieg.

Hapatra tätschelte die Schuppen ihrer Schlange. „Es war mein Lebensinhalt, Rhonas zu dienen. Ich weigere mich, daran zu glauben, dass er uns wissentlich belogen hat.“

„Das hat er nicht. Die Götter wurden von einer mächtigeren Kraft manipuliert.“

Hapatra nickte und dachte über diese Aussage nach. Sie blickte über die Schulter in Samuts Augen.

„Kann diese Kraft getötet werden?“

Samut schüttelte langsam den Kopf. „Das will ich nicht herausfinden.“

„Für jemanden, der behauptet, so vieles zu wissen, ist deine Vision ziemlich eng begrenzt“, herrschte Hapatra sie an.

Djeru schaltete sich von hinten ein. „Unser Volk und unsere Götter am Leben zu erhalten, ist jetzt das Wichtigste. Sollen die Eindringlinge sich gegenseitig bekämpfen.“

Wie aufs Wort eilten ihnen zwei der Eindringlinge in den Weg. Der eine war Gideon, jener breitschultrige Krieger, auf den Oketra als einen der ihren Anspruch erhoben hatte. Der andere war eine bleiche Frau in einem violetten Kleid.

„Halte nicht für sie an“, spie Djeru aus.

Hapatra warf den Fremden einen letzten Blick zu. Es gab keine anderen Städte außer Naktamun, und dennoch wussten diese Eindringlinge nichts von ihrer Kultur. Vorgestern hatte sie Kunde durch die Wesire erhalten, dass die Götter diese Gäste willkommen hießen. Hapatra zog eine verächtliche Grimasse. Sollten die Eindringlinge mit dem Gott-Pharao fertigwerden. Wenn auch er von einer anderen Welt stammte, dann hatten sie einander verdient.

Eine Windbö fegte eine neue Wolke von Heuschrecken über Tuya hinweg. Hapatra hieß die anderen beiden, sich hinter ihr zusammenzukauern, und schützte sie alle mit ihrem Schal. Dann schaute sie auf die Promenade hinunter.

Kefnet und Oketra waren dort. Kefnet schwebte in der Luft, während Oketra reglos, beinahe wie eine Statue, dastand. Nur eines ihrer Ohren zuckte. Als Dienerin Rhonas’ hatte Hapatra nie viel für Oketra übrig gehabt, doch sie spürte, wie eine große Erleichterung über sie hinwegspülte, in der Gegenwart der Göttin zu sein, und wie sie eine tiefe Dankbarkeit für die erste Wärme ergriff, die sie seit Rhonas’ Tod verspürt hatte.

Die beiden Götter blickten auf etwas hinter ihr. Hapatra hielt Tuya an und drehte sich um, um zu sehen, was es war, doch ihr Blick wurde von zusammengefallenen Säulen, zerschlagenem Stein und endlosen Wolken aus umherschwirrenden Heuschrecken versperrt.

Hapatra sah flehentlich wieder zu ihren Göttern.

„Kefnet! Oketra! Das Hekma ist gefallen! Wir bringen euch in Sicherheit!“ Hapatra erkannte, wie lächerlich dieser Befehl noch vor einem Tag geklungen hätte.

Beide Götter schenkten ihr keine Beachtung und starrten weiter in die Ferne. Oketra hielt ihren Bogen in der Hand und hatte einen Pfeil aus weißem Licht aufgelegt.

„Oketra, bitte!“, rief Hapatra mit brechender Stimme, als sie all das bedachte, was sie bereits verloren hatte, und all das, was ihr noch verloren gehen konnte. „Oketra! Wir werden dich beschützen!“ Das Loch in ihrem Herzen durch Rhonas’ Tod war bereits zu groß. Sie würde es nicht ertragen können, wenn es noch weiter aufgerissen würde.

Oketra blickte zu ihr herab. Ihre bleichen Augen leuchteten sanft, und Hapatra sonnte sich in ihrer vertrauten Ruhe. Die Göttin des Zusammenhalts lächelte, traurig und schmal. Um Hapatra herum verklangen die Geräusche der Menschen, die entsetzt flohen, als die Göttin in ihre Seele schaute.

Du bist nicht hier, uns zu beschützen, Tochter des Rhonas.“ Oketra schüttelte kaum merklich den Kopf. „Wir sind hier, um dich zu beschützen.“

Hapatras Herz krampfte sich zusammen. „Oketra, nein!“

Doch mit diesen Worten der Entlassung wandte Oketra sich um und hob den Bogen. Kefnet flog höher in die Luft, und Hapatra konnte endlich sehen, worauf die beiden Götter gestarrt hatten.

Die Bestie war ein fleischgewordener Albtraum.

Sie war größer als jedes Ungeheuer, das sie durch das Hekma in der Wildnis der Wüste je gesehen hatte. Groß, größer als jeder Gott, größer selbst als Rhonas – Hapatra hätte das nie für möglich gehalten. Die Bestie hatte einen menschlichen Leib und den Kopf eines Skorpions, doch irgendwie stand dieser aufrecht auf dem Leib des Dings – und er war wesentlich größer und massiger, als es einem Skorpion zustand. Hinter ihm tanzte rhythmisch – in einem groben, verschlungenen Kreis – sein Stachel, an dessen Spitze Sekret glänzte. Selbst die allgegenwärtigen Heuschreckenschwärme wichen dem Ungeheuer aus und vermieden es, seinen Weg zu kreuzen. Hapatra hörte ein lautes, zwitscherndes Geräusch, und sie vermochte nicht zu sagen, ob es aus dem Maul oder aus dem Schwanz des Ungeheuers kam.

Kefnet schaute zu Oketra zurück, und Hapatra war entsetzt zu sehen, wie die Angst dem Gott so deutlich ins Gesicht geschrieben stand.

Bezwinge deinen Schrecken, Bruder!“, sagte Oketra mit einer Endgültigkeit, die auch eine Saite in Hapatras Herz anschlug. „Stelle dich diesem Ungeheuer und nutze deine Gaben der Kriegskunst!

Kefnet hob den Kopf. Mit einem Schulterzucken flog er nach oben an die Seite des Skorpions.

Oketra hob erneut den Bogen.

Zurück, Gottesmörder, Geißel des ewigwährenden Lebens, und du wirst das Ende dieses Tages noch erleben.

Oketras Stimme hallte silbern über die Weite, obgleich sie das Ende dieses Tages auf eine Weise betonte, die deutlich machte, dass sie den Mörder ihres Bruders eines Tages zur Strecke bringen würde. Sie hob den Bogen, und der weiße Pfeil war nun gleißend und glühend heiß. Der Skorpion wandte den Kopf, um sowohl Oketra als auch Kefnet zu mustern. Wenn er sprach, so konnte Hapatra es wegen des unablässigen zwitschernden Geräuschs, das er von sich gab, nicht verstehen.

Als das Wesen näher kam, spürte Hapatra seine Gegenwart und schnappte entsetzt nach Luft. Ihr Herz füllte sich mit Schrecken, als sie die Skorpion-Gottheit als das erkannte, was sie war. Ihre Göttlichkeit war – obgleich bösartig und in ihr Gegenteil verkehrt – unverkennbar.

Die drei Götter schienen einander abzuschätzen und blieben dabei völlig reglos, als wären sie in einem der Wandbilder im Tempel gefangen, die Hapatra nur allzu gut kannte.

Und dann brach Chaos aus.

Kefnet flog auf die Skorpion-Gottheit zu, schoss heran und wieder weg, während er Zauber um Zauber wirkte. Er verschleierte seinen Ansturm mit einer Reihe von Illusionen: gewaltigen Vögeln und krokodilhaften Drachen, von denen jeder die Aufmerksamkeit der Skorpion-Gottheit rechtzeitig auf sich zog, damit Kefnet angreifen konnte, wenn sie es am wenigsten erwartete, und damit er dem Stachel des Skorpions knapp entging. Oketra schoss eine Salve von Pfeilen ab, doch irgendwie gelang es der Skorpion-Gottheit jedes Mal, ihren dicken Panzer so zu drehen, dass sie jedes Geschoss abfangen konnte. Oketras weiße Energie zerbarst an dem Panzer, selbst als der neue Gott Kefnet mit einer Reihe von raschen Hieben mit seinem Stachel attackierte.

Kefnet gab bald jeden Versuch auf, seine Angriffe durch Illusionen zu verschleiern, denn der Skorpion schien keinen falschen Schritt zu machen oder den Zeitpunkt für einen Angriff zu verpassen. Viele Legenden rankten sich um Oketra und ihre Pfeile, wie sie gewaltige Sandwürmer und Dämonen niederstreckten, und Hapatra war erstaunt von der Macht, die die Skorpion-Gottheit besitzen musste, um solche Angriffe abzuschütteln – dicker Panzer hin oder her. Sie lenkte Tuya in den Schatten und fand sich bald darauf laut zu Oketra und Kefnet beten, um sie im Kampf anzufeuern.

Kefnet flog höher, um den Angriffen der Skorpion-Gottheit auszuweichen, doch diese richtete ihre Aufmerksamkeit augenblicklich auf Oketra und schoss mit beängstigender Geschwindigkeit auf sie zu. Oketra war gezwungen, wild zurückzuweichen. Ihre Schritte ließen den Boden erbeben, während Kefnet notgedrungen zurückfliegen und den Angreifer ablenken musste.

So tödlich effizient die Skorpion-Gottheit auch war: Oketra und Kefnet kämpften mit einer Anmut, die Hapatra beinahe als poetisch empfand. Sie bewegten sich im Einklang miteinander, und ihre blitzschnellen Manöver aus Angriffen und Gegenangriffen waren perfekt aufeinander abgestimmt, um die Flanke des Skorpions zu attackieren oder eine Schwachstelle in seiner Rüstung zu offenbaren. Obwohl die Skorpion-Gottheit sich bislang unbeeindruckt zeigte, wusste Hapatra, dass sie gerade zwei Meistern der Kampfkunst zuschaute, deren gemeinschaftliche Taktiken über Jahrtausende hinweg verfeinert worden waren.

Die Skorpion-Gottheit schlug mehrfach zu, ohne einen Treffer zu landen, und positionierte sich eilig neu. Ihr Stachel schien dabei etwas getroffen zu haben: Er hatte offenbar einen von Kefnets Flügeln gestreift, denn der Gott mit dem Kopf eines Ibis begann, durch die Luft zu taumeln, als eine seine Schwingen sich weigerte, sich im Gleichtakt mit der anderen zu bewegen. Er trudelte, und die Skorpion-Gottheit machte sich dies sofort zunutze und stieß mehrfach mit ihrem Stachel zu, der Kefnet jedes Mal nur um Haaresbreite verfehlte. Kefnet, der vor Anstrengung keuchte, flatterte verzweifelt hin und her.

Oketra stand reglos am Rand der Promenade und hielt den Bogen auf den Skorpion gerichtet. Sie wollte nicht riskieren, Kefnet zu treffen, während er so verzweifelt versuchte, am Leben zu bleiben, und sein Körper befand sich nun zwischen ihr und dem Skorpion. In seinem Tanz ums nackte Überleben unterlief dem ibisköpfigen Gott ein Fehltritt. Die Skorpion-Gottheit stürmte heran, und Kefnets Flügel gaben nach.

Der Ausfall der Skorpion-Gottheit wurde von Oketras Pfeil aus weißem Licht gestoppt, der in ihrem Kopf zerbarst. Das unablässige Zwitschern verstummte, als der Skorpion kopflos zusammensackte. Sein Körper zermahlte Stein zu Staub, und die Erschütterung ließ Hapatra, ihre Basiliskin und deren Passagiere kurzzeitig vom Boden abheben. Hapatra sah zu, wie der Leib der Skorpion-Gottheit zu Staub zerfiel: Welche Macht auch immer ihn angetrieben hatte, sie war nun nicht länger vorhanden.

Kefnet glättete seine Schwingen und stand auf, scheinbar unverletzt. Er lächelte seine Schwester hinterlistig an, und sie teilte seine Freude.

Die drei Menschen auf dem Basiliskenweibchen jubelten. Sie priesen die Kühnheit Oketras und die Klugheit Kefnets.

Meine Götter sind prächtig, dachte Hapatra staunend. Samut und Djeru umarmten einander und klopften Hapatra auf die Schultern. Hapatra indes weigerte sich, ihre Freudentränen zu teilen. Dafür hatte sie später noch Zeit, wenn sie allein war.

Doch während sie noch darüber nachsann, wie sie den Tod Rhonas’ betrauern sollte, begannen der Staub und die Teilchen, die einst den Leib des Skorpions gebildet hatten, sich zu bewegen.

Die Einzelteile stiegen vom Boden auf und bildeten innerhalb von Augenblicken wieder ebenjenes Untier, das gerade erst getötet worden war.

Es erhob sich vollständig und unverletzt, als hätte der Kampf, der die Promenade zum Erbeben gebracht hatte, nie stattgefunden. Kefnet wandte sich zu dem gefallenen Gegner um, nur um diesem geradewegs ins Gesicht zu blicken. Sein bösartiges Zwitschern war das Letzte, was Kefnet hörte, bevor der Stachel seine Stirn durchbohrte. Die Wunde war weder tief noch breit, doch der schöne und kluge Kefnet, der Gott des Wissens, war bereits tot, noch ehe er in sich zusammengesunken war.

Hapatra schrie, ebenso wie Samut und Djeru, und ihre Herzen schmerzten erneut unter dem Verlust eines Gottes. Oketra fauchte wütend und schoss verzweifelt ihre Pfeile ab.

Sterbliche! Flieht in die Sicherheit der Mausoleen!“, rief Oketra.

Hapatra hielt einen Augenblick inne. Welche Mausoleen?

Sie achtete nicht weiter auf den Befehl und rief Samut und Djeru hinter sich zu: „Steigt ab! Sofort“

Die beiden taten, wie ihnen geheißen, und Hapatra drückte ihre Fersen in Tuyas Seite, um das Basiliskenweichen anzutreiben.

Die Schlange spie ihr Gift, wand sich um die Skorpion-Gottheit und mahlte mit ihren Kiefern. Hapatra presste die Oberschenkel fest um Tuya und zwang sie zu einer scharfen Wende, um ihr Reittier auf den Feind zuzubewegen.

Kefnets Blut hatte sich über die Steine des Platzes ergossen, und Tuya geriet ins Rutschen, als sie versuchte, mit der Skorpion-Gottheit zu ringen. Hapatra hielt sich an Tuyas Schuppen fest und trieb sie stumm an. Ihr Herz schmerzte ob Kefnets Tod, doch sie schob diesen Schmerz so weit von sich, wie sie nur konnte. Dieser Eindringling musste sterben, und das würde er auch – durch ihre Hand.

Oketra sprang zwischen Tuya und die Skorpion-Gottheit.

Hapatras Burst krampfte sich vor Schmerz zusammen. Sie sah nach oben und kreischte vor Entsetzen auf. Unmittelbar über ihr hatte sich der Stachel des Skorpions in Oketras Bauch gebohrt.

Hapatra schrie und hörte gleichzeitig eine fremde Stimme gleichermaßen vor Schmerz aufschreien. Gideon stand am anderen Ende des Platzes, sein Gesicht ein Abbild der Qual.

Sie und Tayu erstarrten vor Angst, als die Skorpion-Gottheit auf sie beide zukam, nur um dann über sie hinwegzuschreiten. Der Skorpion blickte zum Himmel, suchte nach etwas und machte sich dann auf den Weg durch die Straßen von Naktamun, ohne die Sterblichen eines weiteren Blickes zu würdigen.

Der Platz war leer, und zwei von Hapatras Göttern lagen tot vor ihr.

Das erste Mal an diesem Tag brach sie in Tränen aus.

Sie weinte um den Tod ihres Gottes. Sie weinte um den Tod ihres Pantheons. Sie weinte um die Kinder, die zum Kämpfen gezwungen worden waren, und um die Männer, die von Heuschrecken verschlungen wurden, und um ihre geliebte Schlange, die unter ihrer Hand vor Furcht zitterte. Ihre Trauer schwoll über ein Maß dessen, was sie ertragen konnte, hinaus an und trieb sie in die Arme eines Auserwählten und einer Ketzerin. Djeru und Samut hielten die Wesirin fest, während sie schluchzte, und auch sie trauerten.

Andere Bewohner – Überlebende – kamen aus Gassen und Verstecken hervor, um die Leichname ihrer Götter zu sehen.

Hapatra rang durch ihre Trauer hindurch um Atem und sah Gideon, der wie gelähmt über Oketra stand.

Sie fasste sich und nickte Samut und Djeru zu, die ihre Schultern losließen, damit sie zu Gideon hinübergehen konnte.

Hapatra schenkte Gideon einen verächtlichen Blick. Ihre Wangen waren von zerlaufenem Lidstrich überzogen, und ihre Lippen bebten in einer tödlichen Kombination aus Trauer und Wut.

„Die Ursache all dessen ist ein Eindringling, wie du einer bist, oder?“

Gideon schluckte schwer und nickte.

Hapatra funkelte ihn an und sprach mit einer Stimme, die nur so vor Gift troff.

„Dann ist es deine Aufgabe, ihn zu töten. Erledige das und verschwinde aus meiner Stadt.“

Die Meisterin der Gifte wandte sich ab und ging zu Samut und Djeru. Ihre Sandalen stapften durch die Körpersäfte von Göttern.

Sie blickte die beiden entschlossen an. „Wir müssen Bontu und Hazoret finden, und sie um jeden Preis am Leben erhalten. Sie sind alles, was uns jetzt noch geblieben ist.“


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