Sand trieb träge über Dünen, der Luxa strömte von einem Ende Naktamuns zum anderen, Familien lebten und arbeiteten in zufriedener Behaglichkeit und durch ein sachtes Kräuseln in der Luft schoss ein Drache aus einer weit entfernten Welt aus dem Himmel hervor.

Er hatte Tage. Nur Tage, bis er nicht mehr genug Magie übrig haben würde, um seinen Plan umzusetzen. Es war gerade noch genug Zeit, die nötigen Vorkehrungen zu treffen, durch die er seine Göttlichkeit zurückerhalten würde.

Die Vorhaben des Drachen umspannten Jahrtausende, und er vermochte Jahrhunderte vorauszusehen – ein verschlungenes Labyrinth aus Möglichkeit und Zufall und Statistik und Wahrscheinlichkeit. Für gewöhnlich ging der Drache bei seinen Entscheidungen nur vorsichtig kalkulierte Risiken ein – doch nun musste er, um seine Ansprüche zu erfüllen, etwas rigoroser sein.

Gewalt war ein Akt, den man nicht zurücknehmen oder auf halbem Weg abändern konnte. Sie wurde in Angriff genommen, in die Tat umgesetzt und dann endete sie wieder. Und so musste es auch mit den Entscheidungen des Drachen sein. Kein Zweifel. Kein Zögern oder Unsicherheit. Nur Gewalt.

Die Götter Amonkhets sahen den Drachen außerhalb des Schutzes schweben, den das Hekma bot. Sie kletterten auf die Spitzen ihrer höchsten Gebäude und wappneten sich für eine Schlacht. Sie waren entschlossen, diesmal nicht zu scheitern. Kein Ungeheuer konnte die acht Götter Amonkhets bezwingen. Nicht, wenn nur noch Naktamun übrig war.

Oketra hob den Bogen, und das Licht der Zwillingssonnen spiegelte sich auf seinen Rundungen. Sie schoss einen Pfeil in den Himmel, der das Hekma mit Leichtigkeit durchdrang. Er traf die Flanke des Drachen, und dieser ... lachte. Der große Drache flog auf die schimmernde Kuppel des Hekma zu und drückte prüfend eine Klaue dagegen. Oketra schoss einen weiteren Pfeil ab und zielte diesmal geradewegs auf das Auge des Drachen. Die Bestie warf dem näherkommenden Geschoss einen raschen Blick zu, und es zersplitterte mitten im Flug.

Die Götter waren wie gelähmt. Der Drache besaß genug Macht, um den Gesetzen der Natur zu trotzen.

Hazoret rief den Kindern und Greisen zu, sich in die Sicherheit der Mausoleen zurückzuziehen, und ihre Gehilfen verbreiteten die Kunde. Sie hob den Speer und drängte die Götter zum Angriff.

Die Ablenkung der Götter um der Rettung der Sterblichen willen belustigte den Drachen. Diese Götter scherten sich wesentlich mehr um ihre Welt, als er sich je um eine der Welten gekümmert hatte, die von ihm erschaffen worden waren.

Kefnet, der Hüter des Hekma, hatte Mühe, die magische Barriere aufrechtzuerhalten. Der Drache klopfte sich gegen das Kinn und riss Kefnets Verstand entzwei.

Kefnets Körper und seine Schwingen erschlafften, und der Gott fiel zusammengekrümmt und reglos zu Boden.

Die Herzen der Sterblichen in Naktamun verkrampften sich in sofortigem Schmerz. Selbst jene, die Kefnets Fall nicht gesehen hatten, verspürten Panik. Die Götter wiederum schrien ob ihres Bruders und des Gefühls eines tiefen Verlustes auf, das über die Bewohner Amonkhets hinwegspülte.

Der Drache lächelte. Er streckte eine Klaue aus, und ein Nadelstich aus Licht durchbohrte das Blau der Barriere.

Die Götter schwangen die Waffen und knurrten trotzig. Kein Ungeheuer sollte ein unsterbliches Wesen verletzen und keine Vergeltung dafür erfahren.

Das Hekma flackerte. Seine Oberfläche schlug Wellen wie Wasser in einem Fluss, und das Loch weitete sich genug, damit der Drache hindurchbrechen konnte.

Der Drache schützte sich vor den Angriffen der anderen Götter, indem er sich einen halben Schritt aus der Wirklichkeit zurückzog. Seine Gestalt war noch zu sehen, doch sein Körper war vor ihren Hieben sicher.

Die Götter Amonkhets brüllten und verfluchten ihn, aber kein Schlag ihrer Waffen zeigte Wirkung. Die Macht des Eindringlings war der ihren mindestens ebenbürtig. Der Drache landete auf dem höchsten Turm, schloss die Augen und begann, einen Zauber zu wirken.

Die Zeit für rigorose, gewalttätige Entscheidungen war gekommen.

Die Götter nahmen das Aufwallen von Mana um den Drachen herum wahr wie ein Knäuel aus bösartigen Energien. Verzweifelt suchten sie nach Zaubern, die schützten und verteidigten.

Doch sie waren zu langsam.

Der Drache öffnete die Augen, und jeder Sterbliche, der alt genug zum Laufen war, löste sich auf und entschwand wie ein Lufthauch in den Himmel.

Ein gleißendes weißes Licht umfing Naktamun, und die sieben Götter fielen vor Qual auf die Knie, als zahllose Seelen aus der Existenz ausgelöscht wurden.

Das Licht erlosch. Stille senkte sich herab, nur unterbrochen vom entfernten Wimmern Tausender elternloser Säuglinge.

Die Götter schrien entsetzt auf. Die Gebete der Kinder waren in ihrem Verstand ohne konkrete Form. Endloses Flehen umfing sie in Wogen wortloser Furcht und Verwirrung und als verschwommene Visionen von Müttern und Vätern, die Teilchen um Teilchen auseinanderbrachen. Der plötzliche Verlust von Leben betäubte die Götter und lähmte sie vor Grauen – beinahe so, als hätten sie eine Gliedmaße verloren.

Zwei der Götter blieben jedoch nicht reglos. Hazoret zog Oketra mit stiller Entschlossenheit vom Boden hoch. Die beiden flohen vor dem großen Drachen, während er Anspruch auf die Macht ihrer Geschwister erhob. Der Drache folgte ihnen verwundert und gemächlich, schweigend und ohne Eile.

Oketra lief an der Seite ihrer Schwester in ihr heiligstes Mausoleum. Als sie geduckt die heilige Grabkammer betraten und Reihen um Reihen verzauberter toter Sterblicher passierten, drang das schrille Schreien der Waisen an die Ohren der Götter. Oketra versiegelte die Tür hinter ihnen mit goldenem Licht, das das Steinportal verschlossen hielt, und Hazoret hob sanft so viele Kinder auf, wie sie nur konnte. Oketra half ihr und beruhigte die Kinder mit ihrer Anwesenheit.

Plötzlich hallte das Lachen des Drachen durch das Mausoleum. Hazoret blickte Oketra an, und sie spürten den Drachen auf der anderen Seite des Eingangs, wie er die Stärke der Barriere prüfte. Der Drache nahm den Herzschlag der überlebenden Kinder hinter der Tür ebenso wahr wie die Tausenden und Abertausenden von verzauberten Toten, und er geriet wegen der Makellosigkeit seines Plans ins Kichern. Leise entwob er das magische Siegel der Göttin. Er ließ sich Zeit dabei, um sich an der Verzweiflung auf der anderen Seite der steinernen Tür zu laben.

Die beiden Götter setzten die Kinder in einen kleinen Alkoven in der Kammer und nahmen Seite an Seite Aufstellung vor dem Eingang zu dem heiligen Mausoleum. Hazoret machte ihren Speer bereit. Oketra spannte ihren Bogen.

Die Kinder Naktamuns werden nicht durch die Hand eines Untiers fallen!, rief Hazoret.

„Die Kinder Naktamuns werden durch die Spitze deines Speers sterben“, erwiderte der Drache.

Der Drache brach durch die Tür des Mausoleums. Oketra und Hazoret stürmten vor. Mit dem Wink einer Klaue sandte der Drache ihnen einen Magiestoß entgegen, und der Verstand der beiden Göttinnen wurde völlig leer gefegt.

Sie fielen augenblicklich zu Boden.

Der Drache setzte sein Werk zufrieden fort.


Der nächste Schritt im Plan des Drachen erforderte Unabhängigkeit: ein Volk, das bereit war, die Arbeit ohne die Anwesenheit des Drachen selbst zu erledigen.

Es gab vielerlei Möglichkeiten mit vielerlei denkbaren Ergebnissen, doch die Zeit wurde knapp: Wegen der Unterwerfung der Götter war bereits ein ganzer Tag vergangen. Und so wählte der Drache den schnellen Weg.

Rigorose, gewalttätige Entscheidungen.

Zunächst kehrte er an die Oberfläche zurück und nahm drei der Götter in seinen Besitz. Er verwahrte sie wie Werkzeuge in einem Regal. Ihre Zeit sollte bald genug kommen. Mit seiner verbleibenden Kraft verdarb der Drache die Leylinien, die die übrigen Götter durchzogen, und zwang sie, ihre Herkunft zu vergessen, ihr Dasein an ihn selbst zu binden und alles andere auszulöschen.

Dann öffnete er die Gräber unter der Stadt und führte die verzauberten Leiber der Toten hinaus aus ihren Mausoleen und ins Licht. Es gab nun so viele verwaiste Säuglinge, und die Kinder brauchten jemanden, der sich um sie kümmerte.

Anschließend wandte er sich der Geschichte der Welt zu. Es gab bereits eine ausgefeilte religiöse Zeremonie: eine Reihe von Prüfungen, deren Ergebnis es war, am Ende einer jeden Umkreisung der zweiten Sonne ein einzelnes, auserwähltes Opfer zu küren. Ein seltener Eckpfeiler der Kultur, der von Menschen und Göttern gleichermaßen geachtet wurde. Hervorragend geeignet, seinen eigenen Zwecken zu dienen. Der Drache frohlockte angesichts dieses nützlichen Zufalls. Das, was zuvor immer nur einmal in mehreren Jahrzehnten geschehen war, würde nun einen steten Fluss an Auserwählten hervorbringen. Er verzauberte die zweite Sonne dergestalt, dass ihre Bewegung an seine eigene angeglichen wurde, und schuf so ein ewiges Herunterzählen der Tage bis zu jenem, an dem er irgendwann zurückzukehren gedachte. Dies würde der Grundstein seiner Machenschaften auf dieser Welt werden.

Dann erbaute der Drache einen Thron am Rande der Stadt. Auf der anderen Seite der Barriere errichtete er ein Monument nach seinem Abbild – eine Ehrenbezeugung an seine prächtigen Hörner –, und versah es mit einem Zauber, dass es aus jedem Blickwinkel feststehend wirkte. Er baute das Monument so, dass das Gehörn die kleinere Sonne zu einem Zeitpunkt seiner Wahl am Horizont einrahmte. Der Drache war stolz. Eitelkeit war eine Frage des Überlebens, wenn die eigene Allmacht rasch dahinschwand.

Zu guter Letzt versprach er seine Rückkehr und erging sich im Schreiben seiner eigenen Prophezeiungen, in denen er seine Verheißung den Göttern sowie dem Verstand und dem mythischen Denken der Bewohner unter ihm eingab. Sterbliche liebten Versprechen. Für sie waren Letztere so unverrückbar wie Berge, obgleich sie doch in Wahrheit so launenhaft wie Flüsse waren.

Als der Drache aufbrach, setzte die kleine Sonne ihre langsame Reise über das Firmament fort.

Von Weitem beobachtete und wartete der Drache und spann seine Intrigen auf anderen Welten, während die Jahre verstrichen und er die zweite Sonne Stück für Stück weiter auf ihrem Pfad voranzwang

bis zu diesem einen Augenblick

an diesem einen Ort

auf dieser einen Welt

als die Sonne ihre kreisförmige Bahn beschrieben hatte

und wie prophezeit zwischen den Hörnern zum Stehen kam.

Wie es prophezeit war.

Endlich.

Die Zeit war gekommen, dass der Drache zurückkehren und seinen Schatz an sich nehmen sollte.


Und so erreichte die Sonne ihren Zenit hinter den Hörnern des Gott-Pharaos, und die verheißenen Stunden begannen. Und die letzten Bewohner Amonkhets fielen auf die Knie, und es war ein heftiges Zähneknirschen aus Furcht vor dem, was nun in die Welt kommen mochte, und ein Wehklagen von Kindern und Säuglingen, und die Götter ehrten diesen Augenblick feierlich, so wie es geschrieben stand.


Djeru rannte, so schnell ihn seine Beine trugen, den Blick auf die zweite Sonne geheftet, die zu beiden Seiten hinter dem Linken der Hörner in der Ferne hervorlugte. Sie tauchte die Stadt in eine schleichende Dämmerung, und die ungewöhnliche Lichtstimmung verstärkte die Aufregung und die Ausgelassenheit der Bewohner Naktamuns nur noch.

Samut rannte neben Djeru her, wobei sie mit einer Hand seine Schulter fest gepackt hielt. Als die beiden die Arena verließen, wurden sie von einem Auflauf von Menschen begrüßt, die allesamt zum Ufer des Luxa eilten. Ein solches Chaos hatte Djeru noch nie zuvor gesehen. Jede Zugehörigkeit zur eigenen Saat schien vergessen, und Rücksicht und Benimm spielten beim Übergang von einem Zeitalter der Existenz zum nächsten keinerlei Rolle mehr.

So wenige waren noch übrig.

In den Monaten vor dem Ende des Zyklus der zweiten Sonne hatten mehr und mehr Bewohner dafür gesorgt, die Prüfungen frühzeitig ablegen und sich als würdig erweisen zu können. Zeitpläne waren umgeworfen worden, Saaten auf das Doppelte ihrer gewöhnlichen Größe angeschwollen. Das Ergebnis war eine Stadt, die noch leerer wirkte als sonst und die hauptsächlich von den Gesalbten und denen bevölkert wurde, die zu jung waren, um an den Riten teilzunehmen.

Djeru und Samut bahnten sich einen Weg durch das Gedränge aus Kindern, die noch zu klein für die Prüfungen waren, und stießen dabei ständig gegen ihre Hüften oder stolperten über ihre Beine. Die Arme der Kinder waren ausgestreckt, die verzweifelten Gesichter von aus Eifer geborenen Tränen überströmt. Ihre kleinen Füße bewegten sich schnell. Die Gesalbten konnten kaum Schritt halten, und die meisten von ihnen hatten sich an die Seite zurückgezogen, um das Gewühl vorbeizulassen.

Ein Schatten streifte über sie hinweg – die Beine Hazorets –, und die Göttin stapfte hoch über ihren Köpfen zum Fluss hin. Scharen von Kindern und denen, die nicht an den Prüfungen hatten teilnehmen können, zupften an ihren Sandalen und versuchten, zu ihrem Speer hinaufzuspringen – Nimm mich! Bitte, Gewährerin der Gaben! Lass mich vor seinem Erscheinen sterben, damit ich mitkommen kann! –, doch die Göttin schenkte ihnen keinerlei Beachtung. Ihr Blick war fest auf den Luxa und das Tor an seinem Ende gerichtet.

Die Ankunft des Gott-Pharaos war nahe. Seine Heimkehr würde zweifellos am Tor zum Jenseits stattfinden, jener gewaltigen Steinmauer, wo der Luxa auf das schimmernde Blau des Hekma traf. Der Tor öffnete sich bislang nur für die Glücklichen, die die Prüfung des Eifers bestanden hatten. Doch nun, mit dem Herannahen des Gott-Pharaos, würde sein Versprechen erfüllt werden.

Das Versprechen der Stunden.

Neue Hoffnung wallte in Djeru auf. Er war dazu bestimmt gewesen, der Letzte zu sein, der das Tor durchquerte, und sein Ruhm hätte ihm von Hazoret, der Gewährerin der Gaben, verliehen werden sollen.

Bevor Samut alles verdorben und dieser betrügerische Gideon sich eingemischt hatte.

Und dennoch stand Samut nun an seiner Seite: Eine Hand umklammerte Djerus Arm, ihre Haltung war beschützend und abschirmend. Djerus Herz fühlte sich durch ihre vertraute Gegenwart leicht an, obgleich ihr Verrat noch immer an seinem Verstand nagte.

Sie hat mich wegen ihrer eigensüchtigen Zweifel meines Schicksals beraubt, dachte er.

Doch vielleicht würde der Gott-Pharao ihnen trotzdem noch einen Platz zu seiner Rechten gewähren. Vielleicht konnte Djeru um Verständnis flehen, ihrer beider Würde beweisen und Samut ihren Irrglauben aufzeigen.

Djeru flüsterte ein Gebet der Hoffnung, ein leises Flehen, das von den Schreien und dem Rufen der Menge in dem merkwürdigen Zwielicht übertönt wurde.

„Die Stunden haben begonnen!“

„Wo ist er?!“

„Erlöse uns, o Gott-Pharao! Zeige uns deine Gnade!“

„Au!“, rief Samut, als ein Naga auf seinem hastigen Weg zum Fluss an ihr vorbeischoss.

„Er hat uns jahrelang Selbstgefälligkeit eingetrichtert, und so begrüßen wir ihn nun“, zischte sie zornig. „Alles nur Lügen und Chaos.“

Djeru ging nicht auf Samuts nächste Ketzerei ein. Lauter werdende Klänge in der Ferne hatten seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen.

Umgebungsgeräusche. Ein endloses Knirschen. Etwas Dunkles und Altes, von etwas Gestaltlosem hervorgebracht. Die Khenra in der Nähe legten die Ohren an und winselten beim Rennen, die Naga sprangen ein Stück in die Höhe, als bewegte sich die Erde unter ihnen weg, und jedes Wesen blickte instinktiv zum Ende des Flusses.

Samuts Griff um Djerus Arm wurde fester. „Das Tor.“

Die beiden liefen schneller und erreichten die gewaltige Menge, die sich am Ufer des Luxa versammelt hatte. Die Bürger Naktamuns warteten furchtsam und mit unbändiger Freude zugleich. Ein Minotaurus schluchzte, zwei Khenrazwillinge waren ehrfürchtig auf die Knie gefallen, und eine Schar von Kindern versuchte, den Fluss zu überqueren und zum Tor zu gelangen.

Es war ein kollektiver Wahnsinn, wie Djeru ihn noch nie gesehen hatte. Einen Augenblick lang umklammerte Furcht sein Herz. Doch das Chaos war ansteckend, und die Hitze des Augenblicks ergriff von ihm Besitz. Obwohl er jetzt eigentlich schon im Nachleben sein sollte, hatte Samuts Verrat ihm die Ehre beschert, der Rückkehr des Gott-Pharaos beizuwohnen. Vielleicht würde sich doch noch alles fügen!

Plötzlich und so abrupt, wie er begonnen hatte, verklang der Lärm.

Djeru reckte sich, um besser sehen zu können, und seine Sandalen versanken im feuchten Schlamm des Flussbetts. Warmes Wasser schwappte ihm gegen die Zehen, als die Leiber derer, die ebenfalls auf eine bessere Sicht aus waren, von allen Seiten herandrängten.

„Djeru, du musst mir etwas versprechen“, flüsterte ihm Samut leise ins Ohr.

Er wollte ihr nicht zuhören. Doch ebenso wenig wollte er sie gehen lassen.

„Ganz gleich, was auch geschieht: Wir beschützen unsere Götter. Wir beschützen einander.“

Djeru wusste nicht, worauf sie hinauswollte, aber er nickte stumm.

Ein kollektiver Laut der Überraschung ging durch die Menge.

In der Ferne glitt das Licht der zweiten Sonne am Horn vorbei. Endlich hatte sie das Monument hinter sich gelassen, und ein Strahl gleißenden Lichts erstrahlte über Naktamun. Jubel brandete in der Menge auf, als die Sonne ihren endgültigen Punkt erreichte und sich zwischen den Hörnern niederließ.

Im gleichen Augenblick tat sich das Tor ohne Vorwarnung einen Spalt breit auf, sodass der raue Stein, aus dem es gehauen war, die Strömung des Flusses teilte.

Kein lebendes Wesen hatte je zuvor gesehen, was sich hinter dem Tor zum Jenseits befand. Nur die Toten durften es durchschreiten, und es öffnete sich nur, um einmal am Tag eine Totenbarke hindurchzulassen.

Selbst von dort aus, wo sie standen, spürten Djeru und Samut einen heißen Wind durch den Spalt im Tor wehen.

Von hinter ihnen aus nahm Djeru das Nahen eines Gottes wahr. Er sah zu, wie Hazoret in den Fluss watete und vorsichtig über die Köpfe der Menschen hinwegschritt, um ihnen auszuweichen.

Er kommt!“, rief sie.

Djeru spürte die strahlende Freude der Göttin auf ihn überspringen und ihr Hochgefühl seine Zuversicht stärken.

Ein Kind neben ihnen begann zu weinen, als andere es zu schubsen begannen, um näher ans Ufer zu gelangen.

Einige Avior flogen sogar zum Tor und versuchten, es weiter aufzustemmen. Wieder andere wateten ins Wasser und schwammen auf die Öffnung zu, obgleich niemand sie zu erreichen schien.

Es war noch immer unmöglich, durch den Spalt hindurchzusehen. Nur der Lichtstrahl verriet, dass das Tor tatsächlich offen war.

Samut umklammerte Djerus Schulter und schüttelte den Kopf. „Wir sollten nicht hierbleiben. Wir sollten gehen –“

Das Fauchen des Windes aus dem Tor wurde stärker, und in einer einzigen gleitenden Bewegung öffnete es sich weiter. Samuts Hand fiel von Djerus Schulter, als sie beide wie gebannt dastanden und auf das Tor starrten.

Die gesamte Menge verstummte andächtig.

Die Hitze des Windes wurde stärker, und er übersäte die Menge mit grobem Flugsand. Die Leute hoben die Hände an die Augen, um sie zu schützen. Das Tor schwang nun vollends auf, und die Menge hielt den Atem an.

Ihr war das Paradies versprochen worden.

Hinter dem Tor lag eine endlose Ödnis.

Djerus Mund stand offen. Dort sollten sich grüne Wiesen erstrecken! Natürliche Quellen und ein weites Meer! Und doch war dort ... nichts. Wüste. Ungeheuer. Würmer und Krokodile und die verfluchten Leiber der Ketzer. Das Gleiche, was sich überall auf der anderen Seite des Hekma befand. Endloses, ewiges, alles umspannendes und unbarmherziges Nichts.

Djeru konnte es nicht begreifen.

Um ihn herum brach Verwirrung über die Menge herein. Einige jubelten. Andere stießen Worte der Lobpreisung aus. Wieder andere blickten sich fragend um. War dies das Paradies?

Die Besorgnis pflanzte sich durch die Reihen fort und wurde lauter und lauter.

Etwas Gewaltiges krachte ins Wasser. Hazoret stapfte beharrlich durch die Strömung. Sie begann zu beben, die Ohren eng gegen den Kopf gepresst, doch die Arme als Willkommensgruß ausgestreckt.

Djeru kämpfte sich nach vorn ins Wasser hinter Hazoret, um die Lage besser im Blick zu haben. Das Einzige, was er hinter dem Tor erkennen konnte, war ein Gebäude, bei dem es sich nur um die Nekropole handeln konnte: jenen sagenumwobenen Ort, an dem die würdigen Toten zur Ruhe gebettet waren, um der Rückkehr des Gott-Pharaos zu harren.

Djeru wandte sich zu Samut, deren Aufmerksamkeit jedoch der Göttin vor ihnen galt.

„Hazoret!“, rief Samut. Der goldene Kopf der Göttin fuhr herab, und sie blickte Samut geradewegs an.

„Ist das das Paradies?“

Hazoret antwortete nicht. Djeru sah zu, wie sich ihre Brust in besorgten Atemzügen hob und senkte, doch ihre Miene war nach zu deuten.

„Bitte, Hazoret, fege meine Zweifel hinweg und sage mir, dass das das Paradies ist!“

Die Göttin hob kaum merklich den Kopf und blieb die Antwort noch immer schuldig.

Der Rest der Menge verfiel in Streit.

Es gab noch immer kein Zeichen des Gott-Pharaos. War dies eine Prüfung? Sollte das Fehlen des Paradieses irgendetwas bedeuten? Vielleicht würde das Paradies erst erblühen, wenn er hier war? Vielleicht war der Ort hinter dem Tor nicht die endlose Ödnis, die er zu sein schien – oder vielleicht war er ja doch das Paradies?

Die Kakophonie aus Stimmen verstummte erneut, als eine gewaltige dunkle Gestalt auf nicht minder gewaltigen Schwingen durch das offene Tor und an ihnen am Ufer vorbeiflog. Die Bewohner duckten sich und versuchten, einen Blick auf den flüchtigen Schatten zu erhaschen. Aufgeregte Rufe und Huldigungen an den Gott-Pharao erklangen.

Doch Djeru wusste, dass dies kein Gott-Pharao war.

Er verfolgte die Flugbahn der Gestalt, wie sie zielsicher auf einem Obelisken landete und auf die Menschen unter sich herabblickte. Hinter sich hörte er Samut ihre Chepeschs ziehen und ein Wort zischen, das wie ein Fluch schmeckte, den sie voller Bitterkeit und Zorn ausspie.

Dämon.

Ein grausiger Schauer tanzte über Djerus Rücken. Dämonen waren selten auf Amonkhet. Djerus hatte sie nur in Schriften und bei seinen Studien gesehen – oder als flüchtige, dunkle Schatten weit jenseits des Hekma. Solche Kreaturen hatten keinen Platz im Paradies, doch Djeru kannte die Legenden über diesen Dämon.

Die letzte Prüfung: der letzte ruhmlose Tod vor der Rückkehr des Gott-Pharaos.

Der Dämon stand hoch aufgerichtet auf dem Obelisken und bereitete die Flügel aus, um die Wärme der zweiten Sonne einzufangen. Djeru konnte einen krokodilähnlichen Wuchs und ein irres Lächeln ausmachen. Endlose Schuppen endeten in einem dicken Schwanz. Scharfe Schwingen gingen in ein noch schärferes Grinsen über.

Bild von Jaime Jones
Bild von Jaime Jones

Der Dämon musterte die versammelte Menge. Seine Lippen kräuselten sich höhnisch. Dann schlug er mit den Schwingen und erhob sich wieder in die Luft, wo er beiläufig über dem Fluss und den Menschen kreiste, ehe er vor dem Tor zu schweben begann. Dort, mitten in der Luft, streckte der Dämon den rechten Arm aus und zerkratzte mit den Klauen das Fleisch seines Unterarms. Das Licht der Sonne fing sich in Strömen von Blut. Der Dämon zeigte keinen Schmerz. Stattdessen murmelte er eine Beschwörung, ein tiefes und abgehacktes Grollen, das über das Wasser hallte. Djeru zuckte angesichts der Blutmagie zurück und trat aus dem Fluss, als das Blut des Dämons ins Wasser tropfte.

Mit jedem Tropfen wurde der Fluss langsamer.

Dann riss die Strömung ganz ab.

Binsen, die im Fluss dahingetrieben waren, blieben plötzlich und unvermittelt an Ort und Stelle.

Und während das Blut sich ausbreitete und das Braungrünblau des Luxa befleckte, fraß sich das glänzende Rot seinen Weg flussaufwärts.

Schrille Schreie erklangen von den Menschen in der Nähe des Wassers und wurden lauter, als sie zu fliehen und aus dem Fluss zu waten begannen. Djeru sah zu, wie das nun stille Wasser sich tiefrot färbte. Er spürte eine seltsame Macht vom Luxa aus pulsieren.

Der Dämon hatte den Fluss in Blut verwandelt.

Bild von Cliff Childs
Bild von Cliff Childs

Das Blut breitete sich aus und erstickte das Schilf des Flusses und jeden, der in ihm schwamm, gleichermaßen. Fische trieben mit weit aufstehenden Mündern an die Oberfläche. Ein Stück den Luxa hinauf versuchten Dutzende von Flusspferde, aus dem Schlamm aus Blut und Schlick zu klettern, nur um in dem zähen Gemisch zu ertrinken. Eine gewaltiges Krokodil tauchte aus den Tiefen auf, würgte Rot aus und schnappte hörbar durch die zähe Flüssigkeit nach Luft. Es rollte sich mit den Kiefern schnappend ans Ufer, während sein sterbender Körper tote Fische und Aale tiefer in den weinroten Schlamm unter sich drückte. Alles im Fluss versuchte verzweifelt, aus ihm herauszukommen, doch der Tod ereilte sie nur umso schneller, als die Geschöpfe sich wie wild in dem gerinnenden Morast wanden.

Samut griff mit finsterer Miene nach Djerus Arm.

„Glaubst du noch immer, dass dies das Werk einen großherzigen Gott-Pharaos ist?“

Djeru schüttelte den Kopf, als Zweifel seinen Verstand überfluteten. Als er den Mund öffnete, um zu antworten, erklang eine abgrundtiefe Stimme in der Luft, dröhnend und mit Bosheit und Entsetzen gespickt. Instinktiv drückte sich Djeru die Hände auf die Ohren, doch das half nicht dabei, die Stimme des Dämons auszublenden.

„Liliana“, grollte er.

Samuts Blick weitete sich. „Warum kennt der Dämon den Namen eines der Eindringlinge?“, fragte sie Djeru. Er schüttelte nur den Kopf.

Djeru spähte zu dem Dämon hinauf und spürte, wie ihm das Blut in den Adern gefror. Der Dämon lächelte. Seine messerscharfen Zähne und seine unergründlichen Augen waren der Inbegriff von Macht und Verzweiflung. Seine Stimme donnerte erneut über den Fluss aus Blut.

„Ich weiß, dass du hier bist, Liliana Vess. Du kannst dich nicht vor mir verstecken.“


Weltenbeschreibung: Amonkhet