Ganz am Rand der Freien Stadt Nimana ging ein Mann in einer grauen Robe durch die pechschwarze Nacht in Richtung der Lager und zog seinen Kragen als Schutz vor der Kälte enger. Wachsam beobachtete er die Menge, während er sich seinen Weg die Marktstraße entlang bahnte. Für die Einheimischen war leicht zu erkennen, dass er nicht von hier war, selbst ohne dass sie einen Blick auf das Gesicht unter der Kapuze der Robe hätten erhaschen müssen: Er bewegte sich vorsichtig, als hätte er all die hässlichsten Gerüchte über die Stadt gehört. Die Augen einiger Diebe in der Nähe weiteten sich, während sie die weniger offensichtlichen Einzelheiten an ihm wahrnahmen: das Gewicht der Geldbeutel in seinen Taschen, eine Schriftrolle, die sicher in einer Innentasche seiner Robe verwahrt war, die Aura, die ihn umgab und die davon zeugte, dass er in den Diensten von jemandem stand, der ihn großzügig entlohnte – jemandem, vor dem er zugleich entsetzliche Angst hatte.

Kurz vor dem Ende des Marktes befanden sich jene Zelte, in denen die hiesigen Söldnerabenteurer ihre Geschäfte machten. Dort ging der Wiederaufbau am langsamsten voran: Ganze Wohnhäuser waren noch immer zerfallen, wobei man zumindest die Trümmer weggeschafft und so mehr Platz für den üblichen Handel in der Stadt geschaffen hatte. Der berobte Mann sah Meervolk lautstark mit Metzgern über den Preis des Fleisches streiten, das sie aus den Leibern von Untieren geschnitten hatten, und Höker spannen Seemannsgarn über Krimskrams, den sie mühsam zu verkaufen suchten. Dahinter fand man jene Leute, die es zu ihrem Beruf gemacht hatten, sich für Expeditionen anwerben zu lassen. Die Expeditionäre tauschten Geschichten aus und prüften im schwachen Licht einiger Fackeln und des Mondes ihre Ausrüstung, während sie darauf warteten, dass jemand kam, der Arbeit für sie hatte.

Der Mann in der Robe wusste, nach wem er Ausschau zu halten hatte. Sein Auftraggeber hatte ihn auf die Suche nach einem Schwertträger geschickt, der regelmäßig beim Trinken auf dem Markt anzutreffen war. Dieser Mann war Teil einer der brutalsten und effizientesten Gruppen in Guul Draz: ein namenloser Zusammenschluss von Reisenden, die sich wenig um den Rausch des Abenteuers oder der Entdeckung scherten. Sie kümmerte nur das Geld. Dies gefiel ihm und seinem Auftraggeber gleichermaßen: Sie wollten niemanden, der Sperenzchen oder auch nur unnötig Aufheben von der Sache machte. Sie wollten nur, dass der Weg frei war.

Es dauerte nicht lange, bis er den Mann gefunden hatte, der an einer Eckmauer neben ein paar ältlichen Gerbern, die exotische Tierhäute feilboten, lehnte und die Schneide einer kleinen Klinge an seinem Leinenhemd polierte. Der Schwertträger blickte zu dem berobten Mann auf, der ihn anstarrte. „Kann ich Euch helfen, mein Freund?“

„Bist du zufällig Tarsa?“

Der Mann nickte seufzend. „Dann folgt mir mal.“


Anowon, der Dieb der Ruine
Anowon, der Dieb der Ruine | Bild von: Magali Villeneuve

Keiner von beiden hatte den Vampir hinter ihnen bemerkt, der dem Abgesandten den ganzen Weg zum Markt gefolgt war. Er hatte die Kapuze seines langen, blutroten Mantels über den Kopf gezogen, damit niemandem auffiel, wie blass er war. Der Vampir hatte vor Kurzem nur zu gut gelernt, sich zu verbergen und keine Aufmerksamkeit zu erregen. An den meisten Orten war er verhasst: ein Dieb und Mörder, mehr berüchtigt denn berühmt, das Ziel unflätiger Worte von einigen und noch viel üblerer Schläge von allen anderen. Die Expeditionäre, die es ihm erlaubten, sie zu begleiten, taten dies nur zögerlich und behielten ihre Messer beim Schlafen stets in Griffweite.

Er vermutete, dass dem Abgesandten zu folgen, ein erster Schritt war, um dies zu ändern. In der Tat glaubte Andowon sogar, dass dieser Mann den Schlüssel zu seiner Erlösung darstellte.

Als Tarsa die Zelte erreichte, bedachte er zwei Abenteurer mit einem Wink. Das Paar richtete sich zu voller Größe auf, um die beiden Neuankömmlinge wie respektable Fachleute zu begrüßen. Ein schlanker Kor mit silbernem Haar bot dem möglichen Auftraggeber einen Messingbecher mit einer klaren und stark riechenden Flüssigkeit darin an. „Wohin habt Ihr vor, die beste Expeditionsgruppe in Nimana zu entsenden, Herr?“

Der Mann in der grauen Robe lehnte das Getränk mit einer flüchtigen Handbewegung ab. „Es gibt keinen Grund, Höflichkeiten auszutauschen. Ich bin niemand von Bedeutung – lediglich die reisende Stimme eines Gönners, der wünscht, eure Dienste in Anspruch zu nehmen.“

Anowon blieb auf Entfernung und lauschte angestrengt aus einer Gasse in der Nähe. Er hatte eigentlich darauf gehofft, den Abgesandten allein anzutreffen, um ihm seinen Vorschlag einer Expedition zu unterbreiten und sich später seine eigene Gruppe zu suchen, doch daran ließ sich nun nichts mehr ändern. Vielleicht würde es diese Gruppe auch tun. Die grandiosen Geschichten über Tarsas Gruppe waren in Nimana wohl bekannt: Geschichten über ihre unerschütterliche Ruhe und ihr untrügliches Reisegespür. Zudem hatte er etwas gehört, was der Abgesandte zweifellos noch nicht wusste

„Wie es scheint, ist eure Gruppe nicht vollzählig?“ Der Mann schlug die Kapuze zurück, legte pechschwarzes Haar frei und kratzte sich am Kopf, während er den Blick zwischen den Zelten umherschweifen ließ. „Mir wurde gesagt, ihr wärt zu viert, aber …“

Tarsa unterbrach ihn rasch und mit verdrossen gefurchter Stirn. „Wirhaben einen der unseren auf einer Reise nach Ondu verloren.“ Er warf dem Kor, der ob der Frage die Fäuste geballt hatte, einen Blick zu. Der andere Expeditionär entspannte sich augenblicklich. „Aber Ihr braucht Euch deshalb nicht um unsere Arbeit sorgen, Herr.“

Ondu. Bei dieser Erwähnung spitzte Andowon die Ohren. Selbst wenn er diese Anstellung nicht bekäme, war es dennoch ein Glückfall, diese Gruppe zu treffen.

„Das ist bedauerlich, nehme ich an“, meinte der Abgesandte. „Ich will damit sagen, dass es nicht einer gewissen Ironie entbehrt, dass ich hier bin, um euch einen Auftrag in Ondu anzutragen – einen, von dem mein Auftraggeber weiß, dass er außerordentlich gefährlich ist.“

In der Tat ein Glückstreffer, sagte sich Anowon flüsternd.

Der Kor wirkte erneut angespannt. „Wie gefährlich genau meint Ihr denn?“

Der Abgesandte hob den Kopf, um den Kor anzusehen. „Nadino, richtig?“ Er wartete keine Antwort ab, ehe er fortfuhr. „Hattet ihr schon Gelegenheit, die Himmelsfestung der Jwar-Insel zu Gesicht zu bekommen?“

Nadino schnappte nach Luft und Tarsa drehte sich rasch mit tröstendem Blick zu ihm um. „Die hatten wir“, erwiderte er leise.

„Oh“ Einen Augenblick herrschte Schweigen, bevor der Abgesandte fortfuhr. „Vielleicht ist das nicht …“

„Nein“, stieß Nadino durch zusammengebissene Zähne hervor. „Das ist Berufsrisiko. Wir werden Euch anhören.“

Tarsa schnitt eine Grimasse. „Ich für meinen Teil will eine Revanche gegen das verdammte Ding.“

„Grakmaul nennt man es“, fügte der Abgesandte hinzu. „Das ist in der Tat euer Ziel. Lange schon macht es Ärger auf den senkrechten Reiserouten in diesem Gebiet, und das ist nicht gut für das Expeditionsgeschäft. Mein Auftraggeber wird euch jeden Preis zahlen, den ihr verlangt, wenn ihr eure zweite Runde gewinnt.“

Nadino lachte leise auf. „Sicher. Und ihm den Kopf abzuschlagen, wird ein Bonus sein.“

„Bonus?“ Der Abgesandte grinste. „Mein Auftraggeber ist gewillt, eine Bezahlung pro Kopf anzubieten.“

„Und dieserAuftraggeber?“

„Soll nicht eure Sorge sein. Alles, was ihr wissen müsst, ist, dass ihr großzügig entlohnt werdet.“ Er griff nach einem königsblauen Samtbeutel und warf ihn ihm zu. Instinktiv fing Tarsa den Beutel auf. Er fühlte sich nach mindestens einhundertfünfzig Münzen an. „Für eure Auslagen. Natürlich dürft ihr auch alles behalten, was ihr findet, aber denkt daran, dass ihr für die Schädlingsbekämpfung bezahlt werdet, nicht fürs Herumstöbern.“

Anowon suchte während des Gesprächs in einer Tasche seines Mantels nach einem seiner Papiere. Diese Himmelsfestung hatte auch ihm etwas zu bieten, wenn es ihm nur gelang, sein Anliegen vorzubringen …

Seine Notizen flatterten auf die Straße, als ein Elf ihn von hinten packte und die Ellenbeuge um Anowons Hals legte. „Chef!“, rief der Elf Tarsa zu. „Wie es aussieht, haben wir hier einen Spion!“

„Lass mich los, du …!“ Alle Worte, die Anowon in den Sinn kamen, um den Satz zu vollenden, waren bitter. Er versuchte wirklich sein Bestes, nicht der Bitterkeit nachzugeben. Er wusste, davon würde ihm noch eine Menge bevorstehen. Deshalb hielt er sich überhaupt erst verborgen, was – rückblickend betrachtet – aus genau diesem Grund eine grässlich schlechte Idee gewesen war. Es war auch der Grund, weshalb er sich nicht wehrte, ganz gleich, wie einfach es ihm gefallen wäre, sie alle zu überwältigen. Er wollte die Feindseligkeit nicht noch verschärfen, besonders deshalb, weil sein Gesicht noch immer verborgen war …

„Zeig dein Gesicht, Schatten!“, rief der Abgesandte mit der aufgesetzten Kühnheit von jemandem, der nie zuvor in einen Kampf verwickelt war oder einen Befehl gegeben hatte.

Der Elf schlug Anowons Kapuze zurück. Der Anblick seines bleichen und bemalten Gesichts reichte aus, dass Tarsa seine Klinge zog.

„Nein!“, röchelte Anowon und hob unterwürfig die Hände. „Ich will euch kein Leid zufügen! Lasst mich …“ Er deutete hinunter auf seine Papiere.

Nadino ging auf ein Knie, um das Blatt, das ihm am nächsten war, aufzuheben und überflog es kurz, bevor er es an Tarsa weitergab. „Notizen zu den HimmelsfestungenWie es aussieht, ist jedermanns Lieblingsweiser ganz versessen darauf, das Innere von einer zu sehen."

Auf eine Geste von Tarsa hin ließ der Elf Anowon los. Dieser fiel zu Boden und klaubte seine Papiere auf. „Ich nehme an, du bist diesem Mann hierhergefolgt, um uns unseren Auftrag abzuluchsen?“

Der Vampir schüttelte den Kopf. „Ich willsie sehen.“

Nadino verschränkte die Arme vor der Brust. „Das ist nicht unsere Sache.“

Anowon hielt inne und nahm die angespannten und verärgerten Blicke um sich herum auf, bevor er aufstand und Tarsa in die Augen sah. „Was auch immer du von mir halten magst … Alles, worum ich bitte, ist, das Ding zu studieren. Ihr könnt in jedem Fall noch jemanden in eurer Gruppe gebrauchen. Erlaube mir, die Lücke zu füllen.“ Er wandte sich Tarsa voll zu. „Ich biete euch an, eurer Gruppe für nur einen Bruchteil eurer Einkünfte zu dienen.“

„Und was springt für dich dabei heraus?“, fragte Tarsa.

Er zögerte und suchte nach Worten, ehe er antwortete. „Wissen.“


Tarsas Leute hassten die Abmachung, doch sie stellte den Abgesandten zufrieden. Daher willigten sie ein. Anowon würde kaum fünf Prozent aus dem gemeinsamen Verdienst im Geldbeutel bekommen, aber ihm würden sämtliche Unterlagen gehören, die sie fanden. Relikte waren eine andere Sache: Der Vampir erklärte sich bereit, Tarsa in diesem Fall schlichten zu lassen, und beteuerte, kein Interesse an Gold oder Waffen zu haben. Auf die Frage, was er außer solcher Beute noch zu finden hoffte, erwiderte er nur: „Weitaus kostbarere Dinge.“

Wegen dieses überheblichen Tonfalls hatte der elfische Kleriker Eret die Taschen des Weisen auf Hinweise auf ein dunkleres Motiv durchstöbert, wann immer die Gruppe schlief.

Der Auftraggeber des Abgesandten hatte bereits für die Überfahrt von Nimana nach Jwar gesorgt. Das Schiff war lediglich mit einem Deckhelfer bemannt, der für die Rückführung verantwortlich war. Die Anspannung, in Übersee mit einem Vampir festzusitzen, machte den dreien fast sofort zu schaffen. Nadino hatte keinerlei Skrupel, Andowon seinen Verdruss deutlich ins Gesicht zu sagen und ihm bei jeder Gelegenheit zu drohen, wenn er ihm zu nahe kam oder sprach, wenn er nicht gefragt worden war. Eret war stiller und vorsichtiger und wagte es nicht, zu schlafen, wenn er stattdessen vor einer Klinge oder einem Biss auf der Hut sein konnte. Tarsa indes wälzte alle schwierigen Aufgaben auf Anowon ab und pries dessen Stärke und Zähigkeit, als er allein die Segel besetzte, während sie durch die rauen Winde des Schlangenmauls fuhren. Die Seile waren derart straff gespannt, dass er sich kurz sorgte, der Sturm würde sie abreißen.

Anowon ertrug dies alles mit kühlem Gleichmut. Er sprach wohl am verdrießlichsten, als Nadino ihm zum dritten Mal drohte, Teile von ihm an seinen Knurrer-Gefährten Frohnatur zu verfüttern, wenn er über die Stränge schlug. „Ich versichere dir, ich will euch kein Leid zufügen. Sobald wir Grakmaul getötet haben, werden sich unsere Wege nie wieder kreuzen.“

Nur wenige Stunden vor Sonnenuntergang erreichten sie die Jwar-Insel. Anowon keuchte. Die Dunkelheit war stets die schlechteste Zeit zum Klettern, doch Tarsa hatte bereits darauf bestanden, dass sie die Nacht so nahe an der Himmelsfestung verbringen würden wie möglich. Anowon war der Erste auf dem kleinen Schiff, der seine Taschen mit Ausrüstung zusammensammelte und ihr Gewicht beinahe andächtig trug, während die anderen drei Abenteurer und ihr gehörnter Begleiter an Land gingen.

Hinter sich hörte er eine dunkle Grabesstimme in einer ihm fremden Sprache grollen. Es klang wie eine Drohung, wie ein Blick in seine Seele, der kommendes Leid ankündigte. Er drehte sich um, um ihren Ursprung zu finden, und erblickte zwei steinerne Gesichter, die aus dem Sand und dem Gras herausragten und sie anblickten. In ihren weit aufgerissenen Mündern schimmerte ein fahles Blau, das fast unmerklich zu flackern schien – wie das Licht eines Glühwürmchens.

Anowon stand wie gebannt da. Je länger er zuhörte, desto sicherer war er, eine Bedeutung ausmachen zu können – einen Augenblick der Klarheit, der im nächsten Moment im Gemurmel unterging. Es schmerzte doppelt: einmal als pulsierendes Pochen in seinem Verstand und einmal als Sehnsucht, endlich etwas zu verstehen. Er drehte sich zu den anderen um. „Könnt ihr…“das hören …“

Eret schlug ihm hart mit der flachen Hand ins Genick und riss ihn aus seiner Trance. „Sieh sich nur einer das Gesicht dieses armen Kerls hier an. Sag mir keiner, dass unser tapferer Ruinenweiser sich vor den Faduun fürchtet!“

Anowon drehte sich um, bereit, den Elfen anzuspringen. Ihre Blicke trafen sich, und Erets andere Hand fuhr an die Klinge an seiner Seite. Einen winzigen Moment lang wanderten Anowons Gedanken zu der Vorstellung, wie das Gesicht des Elfen bleich wurde, während er das letzte bisschen Leben aus ihm heraussaugte, dem Klang seiner Stimme, die um Hilfe schrie, bevor sie zu Nichts verklang …

„Gibt es hier ein Problem?“, sagte Tarsa. Aus dem Augenwinkel sah Anowon, wie der Krieger nach seiner Klinge griff.

„Keineswegs“, erwiderte Anowon.

Als sie die sicherste Route zur Himmelsfestung erreicht hatten, war die Nacht bereits angebrochen. Tarsa schickte Anowon voraus, während der Rest der Gruppe seine Bündel fester schnürte und sich den Weg senkrecht die Steilwände hinauf bahnte. Anowon ließ sich von seiner überlegenen Sicht durch das Dunkel geleiten und sicherte nur mithilfe des hier fahleren blauen Schimmerns des Strands die Seile. Die anderen drei folgten ihm vorsichtig. Eret setzte dazu an, seinem Hauptmann eine Frage zu stellen, was Tarsa mit einem eisigen Blick unterband.

Das Gewicht der drei Körper, die an ihn gebunden waren, zusammen mit der Schwerkraft, die an ihm zerrte, gaben ihm das Gefühl, eine schwere Prüfung ablegen zu müssen. Hab Geduld, dachte er. Sobald dies alles vorüber war, würden all seine früheren Torheiten hinter ihm liegen. Wenn er recht hatte, was die Himmelsfestungen anbelangte, würden ihm jene Macht und jenes Wissen zuteilwerden, nach denen er so lange gesucht hatte. Und wenn er sich mit dieser Macht beherrschen und so bescheiden bleiben würde wie zu seinen schlichteren Zeiten, in denen er die Texte in Seetor durchforstet hatte, würde er sie vielleicht sogar behalten können.

Nadinos Knurrer hatte bereits einen Weg die Steilwand hinauf gefunden, und als das Dreiergespann sie endlich einer nach dem anderen erklommen hatte, wurden sie von einer nassen Zunge im Gesicht begrüßt. Der Kor deutete nach oben und in Richtung Nordosten, während er den Kopf nicht von den Liebesbekundungen seines tierischen Begleiters abwandte. „Die Felsen, die oben aus dieser Wand ragen, stehen am dichtesten zusammen und sind bereits mit Seilen bespannt. Wir gehen von dort aus rein. Ab diesem Punkt gibt es nur wenig Licht. Also machen wir das entweder schnell oder wir warten bis zur Dämmerung.“

Anowon hörte kaum zu. Er war bereits von der Kante auf die nächste Plattform gesprungen und hielt inne, um das Gewicht seines Bündels auszugleichen. „Macht nur Rast, wenn ihr wünscht“, sagte er. „Ich will sie sehen.“

„Was stimmt nicht mit dir, Weiser?“, rief Nadino. „Hast du vergessen, dass es unsere Aufgabe ist, die Hydra in diesen Ruinen zu erledigen?“

„Ich verspreche, dass ich vorsichtig sein werde …“

„… sonst wirst du sterben.“

„Dann verspreche ich, vorsichtig zu sterben!“ Er biss sich auf die Zunge und holte tief und fauchend Luft. „Ich bitte um Verzeihung. Ich werde nichts aufscheuchen. Meine Forschungen …“

Tarsa hielt den verärgerten Blicken der anderen beiden stand und murmelte Verwünschungen, während er ihnen bedeutete, ihm zu folgen. In einem nervösen Versuch, Ungezwungenheit herbeizuführen, fuhr Anowon fort: „Ein glücklicher Umstand, dass diese Seile hier sind. Nicht viele Abenteurer würden einen Pfad für ihresgleichen hinterlassen.“

Nadino keuchte. „Orien hat sie hier hinterlassen.“

„Orien?“ Anowon zögerte. „War das euer …“

Tarsa räusperte sich vernehmlich. „Vorwärts, Vampir.“

Anowon nickte und kletterte weiter.

Der Anblick, der sich vor ihm ausbreitete, hatte den selbstsüchtigen Teil von ihm bereits in seinen Bann geschlagen. Vor ihnen schwebte ein halbkreisförmiger Felsen, noch immer geziert vom zerklüfteten roten Obsidian und den fahlen Schichten der Erde, auf die er herabgestürzt war – reich an Geschichten, älter als jener Tag, an dem Zendikar gegrollt hatte und auseinandergebrochen war, um sich selbst zu schützen.

Anowon, der Dieb der Ruine
Himmelsfestung-Basilika | Bild von: Johannes Voss

Nur die Himmelsfestungen, dachte er, konnten etwas derart Unbestreitbares wie sich selbst lehren. So viel von Zendikars Geschichte gründete sich auf einem Fehler. Selbst er hatte einst jene Zivilisation, die dieses Land geformt hatte, nach den Kreaturen benannt, die es pervertiert und es beinahe vernichtet hatten – dieselben Kreaturen, die versucht hatten, die Vampire des Hauses Ghet ihres Verstandes zu berauben und sie dazu zu bewegen, sich gegen ihresgleichen zu wenden. Und während all jener Zeit hatte sich Anowon verborgen gehalten, die Schlacht aus den Schatten heraus genau beobachtet und sich dennoch geweigert, daran teilzunehmen. Doch die Himmelsfestungen, die sich nun wieder erhoben, berichtigten die Geschichte und offenbarten einen zuvor verschollenen Pfad in Zendikars Vergangenheit. Er konnte nur hoffen, dass sich unter den Schätzen, die sie mitgebracht hatten, irgendeine Erkenntnis darüber finden ließ, wie diese Welt die Clans – und deren Bluthäuptlinge – geboren hatte, die die Eldrazi hatten verderben wollen. Vielleicht würde ihm eine Antwort auf diese Frage zu einem neuen Stand verhelfen. Zumindest jedoch konnte es ihn von seiner alten Feigheit freisprechen.

Kaum dass er an den Toren der Himmelsfestung angehalten hatte, zog er ein Notizbuch aus seinem Bündel. Es fiel fast auseinander und glich eher einer Loseblattsammlung zwischen zwei Deckeln. Er hielt es jedoch wie einen uralten Wälzer und blätterte eifrig die Seiten um, bis er zu einer Reihe miteinander verflochtener Linien und Muster gelangte.

Eret schloss zu Anowon auf und sah zu, wie der Vampir die Mauern der Himmelsfestung untersuchte und sich über seine Notizen beugte, um beides miteinander zu vergleichen. Ehe der Elf fragen konnte, hatte Anowon bereits beschlossen, dass Liebenswürdigkeit ihm einiges an Wohlwollen bescheren würde.

„Ich habe die Mosaike studiert, von denen Abenteurer an anderen Orten berichteten, und ein paar feine Auffälligkeiten in ihren Mustern bemerkt. Ich vermute, es handelt sich hierbei um einen Text.“ Er deutete mit einer Ecke seines Notizbuches darauf. „Ich glaube, die alten Kor schrieben an diese Mauern, was sie zu einer nützlichen Quelle zur Erkundung des Zwecks dieses Ortes macht.“

„Bist du deswegen hier?“, spöttelte Nadino und hockte sich neben das Tor, um sich auszuruhen. „Um Dinge zu studieren?“

„Ichwar besser als ein Student“, murmelte er. Gleich darauf dachte er bei sich, dass dies nicht der Wahrheit entsprach. Auf der Suche nach Wissen hatte er so viele bittere Dinge getan, und dies machte ihn zu wenig mehr als einem Plünderer. Zuvor jedoch – als er nur unschuldig seinen Wissensdurst hatte stillen wollen, als er in Seetor gewesen war, als Tenihas aus dem Hause Ghet ihn aufgenommen und ihn den Wert der Geschichte gelehrt hatte – war er besser gewesen. Bevor er diese Augenblicke an seinen Durst nach Blut verloren hatte. Oder schlimmer noch: an seinen Hunger nach Macht.

„Deinem eigenen Eingeständnis nach warst du das aber nur knapp.“ Eret musterte neugierig die Reliefs an den Wänden der Himmelsfestung. „Wenn wir Kletterer eines über uns wissen, dann Folgendes: Das einzig Wissenswerte ist das Gefühl eines sicheren Seils und das Glimmen eines wertvollen Schmuckstücks. Kannst du wirklich darauf vertrauen, dass jemand wie wir Alt-Kor“, er deutete auf die Mauern, „übersetzen kann?“

„Die Abenteurer haben es nicht übersetzt. Sie haben es nur abgeschrieben. Muster, Windungen, VertiefungenSieh genau hin. Dann kannst du es selbst erkennen.“ Anowon wies tief in die Himmelsfestung hinein, wo die Nacht zu dunkle Schatten warf, um weiterzugehen. „Tiefer im Inneren befinden sich Laboratorien. Entlang dieser linksseitigen Mauer.“

Tarsa wickelte sich sorgfältig ein Seil um den Arm, während er sich dem Tor näherte und die Reliefs begutachtete. „Also diese Zeichen sindWegweiser?“, fragte er.

„In gewisser Hinsicht.“ Anowon fuhr die Mittellinie des mosaikhaften Musters an der Mauer nach und sah zu, wie sie sich mit ihren Nachbarn verwob, um dann einen scharfen Knick nach links und um eine Ecke herum zu machen. „Man muss der Sprache zugutehalten, dass sie nicht einfach nur aus Text besteht. Sie ist gleichzeitig auch eine Karte.“

Nadino seufzte. „Zu schade, dass wir trotzdem nichts finden …“

Aus der Dunkelheit vor ihnen dröhnte ein Brüllen. Tarsa schnippte mit den Fingern und seine Leute gingen hinter den behauenen Mauern in Stellung. Nadino ließ einen mittelgroßen Feuerball dicht an Anowons Kopf vorbei durch das Tor und den Gang entlang fliegen. In seinem Licht sah Anowon drei gelbgrüne Köpfe und drei Reihen von Zähnen, die Stachelfallen glichen.

Bevor Anowon auch nur den Namen des Dings zu Ende gedacht hatte, hatte Eret ihn in Richtung einer Säule weiter außen aus dem Weg gestoßen. Tarsa pfiff in Nadinos Richtung, und der Kor spurtete nach rechts. Die Blicke des rechten Kopfes folgten ihm, während Nadino abwechselnd Feuer und Eis darauf abschoss. Das reichte aus, um sie davor zu verschonen, gefressen zu werden: Die Köpfe der Kreatur waren nun durch eine einzige Säule voneinander getrennt, und die Kiefer des Ungeheuers schnappten nur wenige Schritte von ihnen entfernt wieder und wieder zu.

„Hast du einen Plan im Sinn, Chef?“, fragte Eret.

Tarsa schüttelte den Kopf. „Das Ding kann mit seinem Hals Stein zerbersten lassen, wenn es will. Und wir sind ein leicht sonnengerösteter Köder genau dafür.“

Anowon dachte rasch nach. Der Abgesandte hatte ihnen bei ihrem Treffen später noch erzählt, dass die Hydra ihr Sehvermögen im Bauch Zendikars geschärft hatte, ehe die Himmelsfestungen wieder aufgestiegen waren, und dass dieses Geschöpf Hitze so hell wie die Dämmerung wahrnehmen und Bewegungen durch die dunkelsten Gänge verfolgen konnte. Er rief Tarsa seinen plötzlichen Einfall zu. „Ihr alle müsst kälter werden!“

„Kälter?“ Der Hauptmann verstand die Idee, bevor er Nadino zurief: „Wir werden Eis brauchen!“ Er deutete auf den Gang – hinter Grakmaul selbst. „Sorg für etwas Schnee an dieser Wand da!“

Anowon hielt seine Hand fest. „So dicht bei der Kreatur?“

„Ja.“ Tarsa tippte sich an die Schläfe. „So dicht wie Seepocken. Wir verschwinden gleich dahinter.“ Er schnippte erneut mit den Fingern, und die Blicke seiner Leute richteten sich auf sein nächstes Signal. Leise zählte er bis drei, bevor er die Luft mit der Handkante durchschnitt. Sie hasteten auf die innere Wand zu.

Anowon rutschte des Schwungs wegen, in den er auf dem schrägen Boden geriet. Am Rand seines Sichtfelds sah er, wie Nadino im Laufen seinen hakenförmigen Stab über dem Kopf wirbeln ließ und sich über dem Gang langsam Säulen aus Schneematsch bildeten. Kurz bevor die Abenteurer gegen die Wand prallten, kratzte die Bestie an den Steinen über ihnen. Sie erwischte Anowon an der Stirn und schleuderte ihn heftig genug zu Boden, dass er sich den Kopf auf dem Felsboden stieß. Es fühlte sich so wund an, so heiß vor Schmerz, und er fragte sich, wie tief der Schnitt wohl war. Zu seiner Rechten hörte er ein Stöhnen, und als er sich gerade umdrehen wollte, fiel eine dicke Schneedecke auf ihn herab. Er spürte einen leisen Aufprall zu seiner Linken.

In der dunklen Deckung aus Schnee blieb er liegen und fasste sich mit der Hand an den Kopf. Das Ding brüllte den Himmel an und erstarrte dann verwirrt. Es wartete einige Minuten lang, die sich auf Anowons Haut wie ganze Winter anfühlten. Der Klang des Atems der Kreatur schien die Wände zu erschüttern. Als das Ding dann schließlich überzeugt war, dass die drei warmen Fleischstücke und ihr geschwätziger Vampirgefährte aus seinem Blickfeld verschwunden waren, huschte es auf der Suche nach einer anderen Mahlzeit davon.

Anowon regte sich nicht, als er spürte, wie sich der Schnee um ihn herum verlagerte, woraufhin Nadinos Stimme zu hören war. „Das war ein schlauer Einfall, Chef. Und jetztfärben wir das Eis rot.“


Anowon brauchte eine Weile, um aufzustehen. Einen Moment war es in dieser kleinen Verschnaufpause so gewesen, als hätte er die Insel wieder zu ihm sprechen gehört. War das eine Art Beruhigung? Zweifel? Lachten selbst die unergründlichen Faduun ihn aus wie ein Kind? Zorn und Verwirrung wallten in ihm auf, und ihn befielen ein Schwindel und ein Gefühl der Leere.

Tarsa wuchtete seinen geschundenen Leib aus der Pfütze hoch, die eben noch Schnee gewesen war, und fing damit an, Anowon heilen zu wollen, als dieser nach seinem Bündel winkte. Er zog zwei Phiolen Blut daraus hervor und nahm sich die Zeit, die Hände um sie zu schließen und sie ruhig zu halten.

Tarsa trat einen Schritt zurück. „Wessen Blut war das?“

„Die Würmer und das Ungeziefer, die in den Ruinen umherhuschen, lassen sich leicht ausbluten“, grollte Anowon. „Und ich brauche Blut.“ Er entkorkte eine der Phiolen und hob sie hungrig an die Lippen. Die bloße Berührung ihres Inhalts allein reichte bereits aus, seine Wunden zu schließen und ihn wieder ganz zur Besinnung kommen zu lassen. Er drehte sich um und sah, wie die anderen beiden Abenteurer aneinandergekauert schliefen. Frohnatur hockte hinter ihren Köpfen wie ein schwer atmendes Kissen in Form eines Knurrers, und Tarsa kniete neben ihnen. Er hatte Mühe, sich einen Stofffetzen um den Arm zu wickeln.

„Warte“, sagte Anowon und stand auf. „In meinem Haus lernte ich alle möglichen Arten von …“

„Behandle mich nicht mit irgendwelchen Malakirzaubern, Vampir“, zischte Tarsa. In seiner Entrüstung zog er zu heftig an dem Verband und keuchte auf.

„Gut, dann keine von denen.“ Anowon senkte die zweite Phiole und hob die Hände, als er sich Tarsa näherte. „Lass mich das für dich verbinden.“

Tarsa zuckte zurück, als der Vampir heranschritt, entspannte sich jedoch schließlich. Anowon nahm das Ende des Stoffs und wickelte ihn vorsichtig mit kreisenden Bewegungen um die Wunde. Die Hydra hätte mühelos den Arm des Mannes abreißen können, hätte sie ihn nur ein wenig tiefer erwischt. Beim Anblick des Blutes atmete Anowon tief ein und unterdrückte seinen instinktiven Durst. „Zu eng?“

Tarsa schüttelte den Kopf. „Danke.“

„Nicht dafür.“ Anowon lächelte verlegen. „Abenteurer müssen doch aufeinander achtgeben.“

Etwas in seinem Blick ließ Tarsa aufhorchen. „Warum bist du hier?“

„Ich weiß, dass das Ganze äußerst beschwerlich ist. Sobald die Dämmerung anbricht, können wir …“

„Nein.“ Tarsa richtete sich auf. „Warum reist du mit uns? Warum hältst du an deiner Queste fest? Jedes große Haus hasst und fürchtet dich – sowohl die Expeditionshäuser als auch die Häuser der Vampire. Die meisten einfachen Leute können Vampire nicht ausstehen. Warum ist dir das alles so wichtig?“

Anowon suchte nach Worten. „Diese Steine sind älter als die Namen einiger eurer Städte. Wenn wir an Zendikar denken, denken wir an die tiefsten Narben der Welt. Die alten Kor errichteten diesen Ort schon, lange bevor diese Wunden überhaupt geschlagen wurden. Vielleicht findet sich an diesem Ort Wissen, das wir nicht einmal begreifen können. Vielleicht kann das, was sie wussten, was sie gelernt haben, dabei helfen, Zendikar zu verändern.“

Das war ein Teil der Wahrheit. Es gab Dinge, die er zu erfahren hoffte. Dinge, von denen er insgeheim hoffte, dass sie ihm zu neuer Gunst verhelfen würden. Vielleicht verbargen die Himmelsfestungen Geheimnisse über Zendikar, die er mit der Geschichte der Eldrazi vergleichen konnte und irgendeine geheimnisvolle Magie hinter der Turbulenz offenbarten … oder aus reinem Zufall das Geheimnis verrieten, wie man neue Bluthäuptlinge erschuf. Womöglich war ihr Aufstieg der Beginn einer vollkommen neuen, unheilvollen Ära, die er verhindern konnte – als Buße für sein Versagen angesichts der Eldrazi. Zwar klammerte er sich an den Gedanken, dass es ihm Ruhm einbringen würde, wenn er der Erste wäre, der all dies erfuhrdoch er war gleichzeitig auch so müde. So begierig darauf, die Welt zu heilen und sie nie wieder leiden zu sehen. In der Lage zu sein, einfach zu lernen, ohne dass jede Wahrheit eine Wunde auf der Welt offenlegte. Seinen Frieden zu machen – mit sich selbst, mit seinen Studien, mit dem Boden Zendikars selbst.

„…Na schön.“ Tarsa setzte sich mit Hilfe seiner Klinge auf, um bequem an der Wand des Ganges zu lehnen. „Ich nehme an, dass du gern etwas studieren willst. Selbst jetzt. Du hast einen Blick dafür. Außerdem muss jemand Wache halten, und sie würden es hassen, wenn du das übernimmst.“ Er gestikulierte in den Gang. „Geh schon. Und rufe um deiner selbst willen um Hilfe, falls du das Ding siehst, und nicht etwa erst, wenn es dich sieht.“

Der Vampir nickte, raffte nur das Nötigste aus seinem Bündel zusammen und wickelte es in ein loses Tuch, das er vor die Brust nahm, ehe er tiefer ins Dunkel vordrang und den aufragenden Reihen aus Stein folgte.


Die nächste Dämmerung fand Anowon in vergnügter Aufregung. Einfach nur in den Hallen der Himmelsfestung zu sein, versetzte ihn in Hochstimmung. Er enträtselte nicht mehr nur ein seltenes Hauptwort oder Verhältniswort aus den Reliefs: Es waren nun ganze Sätze. Die linke äußere Außenlinie der Himmelsfestung von Ondu selbst war eine Abhandlung über ihre Erschaffung, über die Arbeit, die die Vorfahren der Kor auf diesem Land verrichtet hatten. Jede einzelne Kammer barg schon allein an ihren Wänden einen ganzen Schatz. Soweit er es erkennen konnte, war die gewählte Sprache eine lange Linie, die mit parallelen und sie kreuzenden Linien versehen war, um so Buchstaben zu formen. Er konnte die Ränder der Texte ausmachen, Hinweise auf neueste alchimistische Verbindungen und Variationen der Methodik und unbeabsichtigte Ergebnisse. Es war eine Schande, dass so viele der Aufsätze, die er fand, versteinert oder durchnässt waren. Als endlich all das, was er da las, sich in seinem Verstand gesetzt hatte, kannte er bereits den nächsten Schritt.

Er kehrte in den Gang am Eingang zurück und bedeutete Tarsa, ihm zu folgen. Der Rest der Gruppe war erwacht und folgte ihnen. Eret kümmerte sich im Gehen um die Wunden seines Anführers. „Wir wollten uns gerade auf die Suche nach dir machen“, sagte der Krieger. Sein Blick streifte die Klinge seines Breitschwerts, ehe er es wegsteckte. „Lasst uns Grakmaul aufstöbern, damit wir nicht noch eine Nacht lang hierbleiben müssen.“

„Vielleicht können uns die Wände dabei helfen“, sagte Anowon strahlend vor Freude über all sein Wissen.

Nadino blickte finster drein. „Jetzt ist nicht die Zeit, um mit Geschichtswissen anzugeben. Wir sollten uns auf die Mission …“

„Ich spreche von der Mission.“ Er sah Tarsa zuversichtlich an. „Vertrau mir.“

Er führte sie zurück in den Gang mit dessen seltsamen, rechtwinkligen Kreuzungen, die sich zu noch mehr Räumen hin öffneten, deren Wände dicker waren als der Korridor selbst. Bei einigen handelte es sich um Elixierräume, von denen nun nur noch zerbrochenes Glas übrig war und wild wucherndes Gras, in dem es von Insekten nur so wimmelte. Andere waren große Hallen, dunkel gefärbt von all den Dingen, die vor dem Fall der Himmelsfestungen in ihnen geschehen waren. Im Laufen folgte Anowons Blick dem Pfad der Reliefs, und der Vampir murmelte sanft vor sich hin, was sie bedeuteten: „Die Anlage auf dem Kontinent Ondu, gebaut für die Entwicklung von Waffen und Belagerungsgerät für potenzielle Konflikte mit Kräften von außen

„Welche Kräfte von außen?“, flüsterte Nadino unwillkürlich.

Anowon konnte sich eine Antwort vorstellen: Was, wenn gegnerische Streitkräfte von einer anderen Welt aufgetaucht waren, wie er sie gesehen hatte? Doch die Geschichte erzählte einen anderen Hergang. „Dies war die Himmelsfestung, die gegen die Hauptstadt der alten Kor in Makindi rebellierte. Als sie fiel und die Hauptstadt mit sich riss, wurde damit auch die gesamte Zivilisation der Kor begraben.“

„Also ist das hier ein Waffenlager?“ Tarsa klatsche begeistert in die Hände. „Ich wollte schon immer mal sehen, wie so eine Klinge der alten Kor in der Hand liegt. Wie es scheint, wirst du doch keine Relikte von hier mitnehmen können, Anowon.“

Anowon hob einen Stapel in Tuch gewickelte Schriftrollen hoch. „Ich glaube, ich habe genug Schätze an diesem Ort an mich nehmen können. Wir müssen nur noch unsere Aufgabe beenden.“

„Alsowohin führst du uns?“ Eret starrte auf die Mosaike, als hoffte er, sie enträtseln zu können.

„Es gibt in dieser Himmelsfestung einen Versuchsraum – eine Kammer, um ihre Experimente zu testen. Viele von diesen waren nichtunbelebt.“

„Sie haben an den Bestien hier Versuche durchgeführt…“Nadino schüttelte den Kopf. „Sie müssen eine Möglichkeit gefunden haben, die örtliche Fauna zu pervertieren. Entweder durch die Magie des Landes oder ihr eigenes Tun. Diese HimmelsfestungSie könnte Grakmaul überhaupt erst hervorgebracht haben.“

„Ebenso wie viele andere Dinge. Sie haben durch Wissenschaft entdeckt, was die Eldrazi durch Grausamkeit offengelegt hätten“, entgegnete Anowon beinahe gedankenlos. „Sie zeigten, dass diese Welt wund ist und aufschreit. Dass sie ihren eigenen Willen hat. Und wir zwängen ihr den unseren auf, ohne ihr zuzuhören.“

Nun gelangten sie schließlich an eine steinerne Doppeltür, so hoch wie die Himmelsfestung selbst und offen gehalten durch wilde Ranken, die sie in der Mitte durchbrochen und gerade so weit aufgestoßen hatten, dass sich ein schlanker Körper hindurchzwängen konnte. Nadino durchschnitt mit seiner Klinge die Ranken, und der Pflanzenbewuchs wehrte sich windend gegen den Schmerz. Als der Zauberer hindurchschlüpfte, drückten Eret und Tarsa die Tür für sich selbst weiter auf. Staub wirbelte auf und die Wände ächzten unter dem Kreischen unberührten Steines.

Sie traten ein und fanden Nadino dabei vor, wie er einen zusammengeknüllten Stofffetzen anstarrte. Ein Schaltuch der Kor in den Farben ihrer Gruppe, doch es war kaum genug davon übrig, um auch nur eine Hand zu bedecken. Nadino blickte zu Tarsa auf und hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten. „Dieses verdammteDinghat ihn hier hineingeschleiftihn in Stücke gerissen

Tarsa legte ihm tröstend eine Hand auf die Schulter. „Ich weiß, dass das wehtut. Deshalb sind wir hier. Für unsere Runde in dieser Partie. Finde deine Fassung wieder.“

Anowon beobachtete die Szene aus dem Augenwinkel, während er die große Halle musterte. Das war sie nun. Weit und hoch genug, damit die Hydra über nichts ahnendes Vieh – oder gelegentlich einen Elfen – herfallen konnte, den man ihr zum Fraß vorwarf. Hohe Balkone erlaubten den Forschern, dem Schauspiel von oben beizuwohnen. Die Hydra musste damals zweifellos wesentlich kleiner gewesen sein: Die, die sie gesehen hatten, hätte hier mühelos hinaufklettern und das Publikum auf den Rängen verspeisen können. Vielleicht war es ihr damals sogar gelungen. „Hier können wir uns ihr stellen.“

Tarsa schnippte mit den Fingern. „Nadino, begib dich nach oben, wenn sie kommt, und bleib in Bewegung, um sie zu treffen. Ich versuche das Gleiche. Eret, du konzentrierst dich darauf, Nadino zu unterstützen. Halte dich bereit, uns bei der Flucht zu helfen. Und Anowon …“

Der Vampir schenkte ihnen keine Beachtung. Er war darin vertieft, die Regale in der Halle nach allem zu durchsuchen, was den Niedergang dieses Volkes überlebt haben mochte. Tatsächlich fand er Dutzende gut erhaltener Phiolen und Unterlagen, und er ließ so viele in seinen Taschen verschwinden, wie er nur konnte.

„Verdammter Weiser!“ Tarsa schlenderte zu ihm herüber. „Nach allem, was du uns erzählt hast, weißt du sehr genau, dass wir dich nicht mit all diesen Giften ziehen lassen können.“

„Wir haben eine Abmachung, Tarsa.“ Er sprach ruhig, nicht mit der Herablassung seines früheren Ichs. „Dies dient nur Forschungszwecken, das versichere ich dir …“

„Das schert mich nicht. Wenn eine einzige Seele das tun könnte, was diese Dinge tun, könnte das ganze Dörfer auseinanderreißenWillst du, dass die Leute davon erfahren? Dass sie in der Lage sind, sich einen echten Schrecken zusammenzubrauen?“

„In gütigeren Händen könnten diese Studien nützlich sein. In Seetor oder …“

„Jede Hand, die weiß, wie sie Zendikar verkehren kann, ist die falsche Hand.“

Von oben ertönte ein gellendes Kreischen. Tarsa schnippte mit den Fingern und seine Leute begaben sich in Stellung. Ihre Greifhaken bissen sich in die Kanten der Balkone, und die Abenteurer machten sich bereit, sich mit ihnen über den Boden zu schwingen. „Anowon!“, rief Tarsa. „Sei dafür gewappnet, nach oben zu gehen.“

Er nickte seufzend, rückte die Haken an seiner Kleidung zurecht und machte sich eine geistige Notiz, die Seile später zu befestigen. „Und bis dahin?“

„Locken wir sie an.“

Grakmaul, Vernichter der Himmelsfestung
Grakmaul, Vernichter der Himmelsfestung | Bild von: Filip Burburan

Nadino verstand das als Zeichen, in die Halle hineinzuheulen, und Eret folgte seinem Beispiel.. Grakmaul antwortete mit einem Kreischen in den erwachenden Morgen hinein. Die Hydra stürmte durch die oberen Hallen der Himmelsfestung und fiel vom Dach in die Kammer hinein. Während sie fiel, begannen Tarsas Leute ihren Angriff. Nadino ließ scharfe Eissplitter und Kletterhaken auf den Unterbauch des Monstrums prasseln, und Tarsa schwang sich mithilfe seiner Seile nach oben, um Saltos zu schlagen und auf die Hydra einzudreschen, während er den Kor flankierte.

Anowon hatte Mühe, mitzuhalten. Er war nie ein großer Jäger gewesen. Er war lediglich dann vom Schlachtenfieber ergriffen worden, wenn er seinem eigenen Durst nachgegeben hatte – und dieses Untier würde ein vorzüglicher Tropfen sein, sobald es starb. Vielleicht würde er es sogar noch mehr genießen, wenn es noch am Leben war. Er hatte vor, einen Kopf mit einem Seilrest zu erdrosseln, und hoffte darauf, dass die Schwerkraft und sein Gewicht einen Großteil dieser Aufgabe übernahmen. Die Schlinge drang jedoch kaum bis zum Fleisch der Hydra vor und zog stattdessen nur deren Kopf nach unten, wo dieser allerdings ein leichtes Ziel abgab.

Tarsa nutzte den Moment und stieß seine Klinge von unten durch das Kinn der Bestie, ehe er seine Waffe einmal drehte, um dem übrigen Gesicht des Monstrums so den Rest zu geben. Er wusste, dass die entstandene Wunde nicht allzu lange vorhalten würde, bis eine neue Reihe unregelmäßiger, gezackter Zähne und stechende Augen aus ihr hervorbrechen würden. Nadino stand bei dem am weitesten entfernten Kopf vor der gleichen Herausforderung: Ein fehlgegangener Feuerball hatte zwei neue, zuckende Kiefer hervorgebracht, von denen einer unmittelbar vor dem Kor immer wieder ins Leere biss, kaum einen großen Schritt von dessen Stab entfernt. Frohnatur wiederum konnte gerade einmal nach den Hinterbeinen des Dings schnappen, steckte jedoch nicht auf.

Anowon schlussfolgerte, dass dieser ganze Ansatz bereits jetzt zum Scheitern verurteilt war. Noch mehr solchen Leichtsinns und sie alle würden als Futter enden. Er kappte sein Seil und rollte sich aus dem Sichtfeld der Hydra, um sich zu seinem Bündel zurückzuziehen und in seiner Beute nach etwas zu suchen, was er wiedererkannte.

„Du lässt uns besser nicht im Stich, du elender …!“ Nadino konnte seine Konzentration nicht lange genug unterbrechen, um ihn zu verwünschen. „Was tust du?“

„Ich suche nach Antworten!“, rief er und besah sich die Farben der Phiolen, die er eingesteckt hatte. Tiefrot und Pulverblau und sattes Dunkelgrün und noch farbenfrohere Tränke schimmerten durch Glas und Licht und plätscherten in ihren Fläschchen. Er wusste, dass er etwas über einige der Mixturen gelesen hatte, mit denen den alten Kor Erfolge gelungen waren. Eine davon musste ihm doch einen Vorteil verschaffen.

Er fand sie. Ein trübes Gelb in einer Flasche kaum größer als sein Finger, das seinen Zustand von selbst von flaumigem Gas zu festem Bernstein zu wechseln schien. Die Papiere beschrieben es als ein mögliches Mittel zur Unterwerfung, etwas, um Kämpfer und wilde Bestien ruhigzustellen. Er hatte jedoch nicht weit genug gelesen, um zu wissen, auf welche Weise. „Geht höher nach oben!“

Er griff in seinen Beutel nach einem weiteren Hakenseil und zielte auf den Balkon. Bald würde die Hydra ihn bemerken, und er war in der besseren Position als die anderen, um von ihren Zähnen zermalmt zu werden. Er hievte sich nach oben, so schnell er nur konnte, und achtete darauf, die Phiole in seiner Hand nicht zu zerbrechen.

Grakmaul bleckte alle Zähne in allen Köpfen nur in seine Richtung. Die Bestie schnappte nach seinem Seil und verfehlte es nur knapp. Ein Kratzer am Arm ließ den Vampir beinahe abrutschen, und die Phiole fiel ihm aus der Hand. Er murmelte einen Fluch und heftete den Blick auf die herabstürzende Flasche. In diesem Augenblick wirbelte eine kleinere Klinge herbei, zerbrach in ihrem flirrenden Drehen das Glas der Phiole dicht über dem Maul eines heranschießenden Hydrakopfes und bohrte sich schließlich in die Wange des Monstrums. Anowon drehte sich gerade rechtzeitig um, um zu sehen, wie Nadino die Hand nach seinem Wurf zurückzog.

Als die Flasche zerbrach, zerstob der Trank in eine Staubwolke im Gesicht der Hydra und breitete sich langsam ihren Hals entlang aus – wie eine Wolke, die über einen Hügel waberte. Alles, was sie berührte, wurde grau und zerklüftet, als würde die Haut gleichzeitig versteinert und gekocht, während der Dolch mit der Wange verschmolz. Binnen weniger Wimpernschläge hatten sich alle Köpfe der Bestie in scharfkantigen Stein verwandelt, der mit zahlreichen geöffneten Mäulern zur Gruppe hinaufstarrte. Der Leib darunter zuckte, als hoffte er, diesem Schicksal zu entrinnen, das nun unausweichlich war, ehe das Gewicht der Köpfe ihn schon nach unten taumeln ließ und diese mit einem Knacken, das durch das offene Dach nachhallte, von ihm abbrachen.

Das Geräusch allein zwang Anowon zu Boden. Er rappelte sich auf, um der Wirkung des Inhalts der Phiole zu entgehen, doch der Zauber hatte sein Werk vollendet. Alles, was ihm noch schaden konnte, hatte begonnen, seinen Zeigefinger hinunterzurinnen, während er einfach nur furchtsam und reglos dastand. Und dann rann der Tropfen nicht mehr weiter, kurz vor dem Knöchel. Erschöpft und erleichtert fiel Anowon auf die Knie.

Grinsend rief Nadino von seinem Seil herab: „Was ist denn aus dem vorsichtigen Sterben geworden, du elender Vampir?“


Die Köpfe würden nie weich werden.

„Dann gilt also dieselbe Abmachung wie zuvor“, mahnte Tarsa und bereitete sich darauf vor, die Häupter der Hydra an Anowons Bündel zu befestigen.

Der Vampir seufzte, ohne sich von der Stelle zu rühren. „Ich verstehe.“

Erst dann stieß Eret ihn mit dem Ellenbogen an. „Natürlich nicht. Wir teilen das Gewicht auf. Immerhin machen wir uns jetzt auf dem schnellsten Weg nach unten.“

Er und Nadino machten die Seile am Eingang der Himmelsfestung fest und rutschten dank des Gewichts eines Hydrakopfes auf ihrem Rücken die ganze Strecke mühelos nach unten.

Auf dem Weg zurück zum Strand legte Tarsa eine Hand auf die Schulter des Vampirs. „Du hast dir klaglos eine Menge von uns gefallen lassen. Wir waren ekelhaft zu dir. Und du hast uns dennoch gerettet.“ Er deutete auf ein kleines, in Stoff gehülltes Bündel auf Nadinos Rücken – die sterblichen Überreste dessen verlorenen Gefährten Orien – und fügte hinzu: „Du hast uns geholfen, unseren Freund zu rächen und ihm die letzte Ehre zu erweisen.“ Er lächelte freundlich. „Danke. Wir heißen dich gern als unseren vierten Haken willkommen, wann immer du willst.“

Anowon nickte und grinste in sich hinein. Er hatte gerade erst zu begreifen begonnen, dass es dieses Gefühl war, nach dem er sich die ganze Zeit gesehnt hatte. Nicht Ruhm, nicht Ansehen, sondernZugehörigkeit. Zu wissen, dass sein Wissen wertvoll war. Er hoffte, dass dieses Gefühl andauern würde, dass er mehr der fernen Vergangenheit Zendikars enträtseln und dieses Wissen nur um dieses Gefühls willen teilen konnte.

Währenddessen unterdrückte Nadino ein Lachen und kratzte Frohnatur im Gehen den Kopf, als das Tier seine hungrigen, sabbernden Lefzen um einen losen Stapel Schriftrollen in Anowons Bündel legte. Kaum dass er zu dieser Erkenntnis gelangt war, sann Anowon darüber nach, ob er jemals so viel verlieren konnte, wie er bereits gewonnen hatte.

Als ihm die Antwort kam, grinste er und wandte sich um, um den Knurrer unter dem Kinn zu kraulen.