Vorbemerkung: Dies ist der erste Teil einer zweiteiligen Erzählung, deren Fortsetzung folgt

Der Geruch von Robbenfett, Pökelfleisch und Feuerstellen durchzog das Langhaus, das nicht weniger als einhundert Krieger von Fels und See beherbergte. Es gab weder Sonne noch Mond auf Kaldheim, und die Nächte wurden länger. Das fahle Licht, das durch in Form von Rudern oder Haifischflossen geschnitzte Dauben und Runentalismane fiel, und das warme Leuchten aus den Glimmschalen spiegelten sich in Niko Aris’ neuer Brustplatte und neuen Schulterpanzern – ganz so, als hätte Niko neben der Hingabe zum Wettstreit auch noch den Sommerhimmel mit sich gebracht, selbst an diesen eisigen Ort.

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Bild von: Eric Deschamps

Niko drehte den runden Stein zwischen den Fingern und schätzte sein Gewicht. Die Seeleute waren von einem anderen Clan. Blaue Tätowierungen verliefen in konzentrischen Kreisen über ihre Gesichter und Arme und kräuselten sich wie das Meer, als sie Wetten auf Nikos Fähigkeiten abschlossen, manche mit Zweifel, manche mit Zuversicht.

Sieben Krieger standen in einem V am anderen Ende der Tafel beisammen und hoben grimassenschneidend und grinsend die Trinkhörner. Nur eine der Seefahrerinnen hielt schützend die Hand vor die Augen.

Niko liebte jede Art von Sport und war zum Wurf bereit. Links von Niko zupfte Kjell, ein braunhäutiger Kannah-Mystiker, an den Pelzen aus Schneefuchsfell, die er sich um die breiten Schultern gelegt hatte. Die Kette aus grünen Runensteinen um seinen Hals schimmerte in einem unheimlichen Grün über dem weißen Pelz, und die silbernen Perlen in seinem geflochtenen Bart klackerten, als er sprach. „Drei Treffer, dann genau in die Mitte!“

Für die Anwesenden eine Wette. Für Niko … Anweisungen. Niko rutschte mit der Stiefelsohle nach hinten über den Boden aus festgetretenem Lehm und warf, die langen, schlanken Gliedmaßen dabei präzise ausgerichtet. Der Stein prallte von einem Trinkhorn ab, hüpfte über eine eiserne Brustplatte, traf ein weiteres Trinkhorn und landete dann mit einem Platschen im Getränk der in Blau gekleideten Seefahrerin am anderen Ende der Tafel. Sie schürzte die Lippen und fischte den Stein heraus, während die anderen lachten und jubelten.

„Nicht übel, ihr zwei“, sagte sie. „Die Rüstung gehört euch.“

Niko war bereits in die bisherige Beute gekleidet: ein nicht zusammenpassendes Sammelsurium aus den Friedensgeschenken, die zwischen den Kannah und den Omensuchern ausgetauscht worden waren, um ihre Ankunft in Felsmaul zu segnen. Nun breitete Niko die Arme aus und verbeugte sich.

Der Außenposten selbst war neutraler Boden zwischen dem Meer und den Wäldern, und er war schon zahllose Male errichtet, niedergebrannt und wiederaufgebaut worden. Seine versengten, steinernen Fundamente ragten wie abgebrochene Zähne unweit des Ufers empor. Die einzigen Gebäude, die noch standen, waren das Langhaus von Felsmaul, das Rauchhaus und ein baufälliger Stall, den durchreisende Fallensteller als Unterschlupf nutzten.

Während die anderen sich zu der gewaltigen Feuerstelle am anderen Ende des Langhauses begaben, drückte Kjell Niko einen Becher mit irgendetwas Warmem in die Hand. „Ich hätte es dir schwerer machen sollen.“

„Nächstes Mal vielleicht kopfüber?“, schlug Niko vor.

„Während du die Saga von Egil Siebenbaum vorträgst. Kennt man Siebenbaum in den verlorenen Reichen? Ach, sei’s drum. Ich bringe sie dir bei. Wie ist der Sitz? Wie fühlt es sich an?“

Besser, als zwei Wochen lang auf dem Rücken eines Riesenbären durch die gefrorene Tundra zu tapern. Besser als ein Haufen schimmliger Felle über dem dünnen Chiton und den Sandalen, in denen Niko angekommen war. Besser, als im einen Augenblick von einem Agenten des Schicksals in die Enge getrieben zu werden, um im nächsten durch ein schwindelerregendes Kaleidoskop aus Farben und Klängen hierherzugelangen. In die Freiheit.

„Fühlt sich toll an“, sagte Niko. Und strich über die Vorderseite der Rüstung, ein fellgesäumter Waffenrock unter einem Ledermantel mit eingearbeiteten Stahlplatten und einem breiten Kriegsgürtel. Das feine, indigoblaue Chiton war umgearbeitet und an den Seiten befestigt worden. Wie eine Trophäe von Theros und dem Leben, das Niko zurückgelassen hatte. Nach einer erschöpfenden Debatte und in den Schmutz gekratzten Karten, über die sie sich nicht einig werden konnten, war Kjell zu dem Schluss gekommen, dass Theros eines der verlorenen Reiche Kaldheims sein musste. Ein Zweig, der vom Weltenbaum abgeknickt worden war.

Niko leerte den Becher. „Wie lange, bis wir weiterziehen?"

„Wir machen Halt, bis Fynn Schlangenjäger das Ende des Frith verkündet“, murmelte Kjell. „Ich bringe ihn zum Weiterreisen, bevor der Winter richtig hereinbricht. Nur keine Sorge.“ Er deutete in Richtung der Ecke, die die Kannah für sich in Anspruch genommen hatten. Die Bärenkrieger hockten auf den Tischen und Bänken, als wären die Möbelstücke Felsvorsprünge. Selbst bei der Rast waren die Kannah so schroff wie das Land. Sie starrten vor Waffen und fellbesetzter Rüstung und trotteten in einem eigentümlichem Gang wie die weißen Riesenbären, auf denen sie ritten, aus ihrer Ecke zu dem Wildschwein am Spieß und wieder zurück. Niko hatte durch Zufall ihren Pfad gekreuzt und war in diese lebende Lawine hineingeraten, um wie selbstverständlich eingekleidet und mit Nahrung versorgt zu werden. Als der Landleser und Weissager der Kannah hatte Kjell Niko bei jedem Schritt der Reise unter seine Fittiche genommen, genau so, wie er zwanzig Bärenreiter aus dem Wald auf dieser dringenden Mission angeleitet hatte.

„Frith bedeutet Gastrecht?“, fragte Niko.

„Auf unserem eigenen Gebiet schon. Auswärts bedeutet es Frieden oder Waffenstillstand.“ Die Verspieltheit des Wettens hatte sich zu etwas Ernsterem gewandelt.

Der Winter selbst war ihnen auf den Fersen. Wann immer ein Kannah seinen Wald verließ, folgte ihm erst sanfter Schnee, dann Hagel und Donner, bis Speere aus Eis die Kannah zwangen, zurückzukehren oder unterzugehen. Das war der Fluch der alten Götter, dem die neuen Götter keine Beachtung schenkten, und solange die Kannah in ihrem Land blieben, waren alle um sie herum in Sicherheit. Doch einige Dinge waren schlimmer als Flüche.

Kjell lehnte seinen leuchtenden Runenstab an die Tischkante. „Orhaft Steinrücken dient als Vedrune. Das ist das Wort der Omensucher für einen Runenpriester oder eine Runenpriesterin, und Orhaft ist dazu noch sehr vorsichtig. Hätten die Omensucher gedacht, dass der Winter ihre Schiffe hier festhalten oder ihre Leute am Abreisen hindern würde, wären sie hier nicht angelandet. Fynn könnte die Sache allerdings hinauszögern. Es wäre nicht das erste Mal, dass er unseren Fluch als Druckmittel in einem Zwist einsetzt.“

„Ihr würdet den Winter absichtlich über die Unverfluchten hereinbrechen lassen?“, fragte Niko.

Kjell schüttelte den Kopf. „Wir sind wegen des Rates hier, nicht um Krieg zu führen. Der Frith verlangt, dass man Dach und Kost mit jedem teilt, der darum bittet. Vieleicht spielen wir uns ein bisschen auf. Um ihnen zu zeigen, was ihnen bevorstehen könnte, aber nichts Schlimmeres. Man weiß nie, ob der Bettler, den man vor den Kopf stößt, nicht Alrund in Verkleidung ist.“

Kjell hatte Alrund als den Gott der Weisheit geschildert, aber Niko hatte Mühe, sich einen bescheidenen Gott vorzustellen. Ephara teilte ihre Weisheit zum Wohle aller, doch sie würde sich nie dazu herablassen, sich unter Sterbliche zu mischen. Selbst an raueren Orten wie Akros kamen die Epiphanien des Gottes Keranos über einen wie Blitze, um den Verstand zu schärfen und ganz bestimmte Ergebnisse hervorzubringen. Er hatte keine Geduld für Listen und Prüfungen.

„Eure Götter tauchen einfach so auf? Ohne Zeremonie?“, fragte Niko.

Das dumpfe Grollen aus Gesprächen und Gelächter wurde lauter, als eine Frau mit langen Zöpfen sich neben die Feuerstelle setzte.

„So sagt man. Vielleicht ist es aber auch nur eine Geschichte, damit wir höflich bleiben.“

Niko strich sich das metallisch-blaue Haar aus den Augen. „Was davon ist wahr?“

„Beides. Iss schnell auf. Dann kümmern wir uns um die Bären.“

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Bild von: Eric Deschamps

Mitglieder namhafter wie namenloser Clans gleichermaßen bahnten sich ihren Weg durch das Langhaus. Sie schoben Fleischscheiben auf Teller, legten Holz in den Feuerschalen nach und füllten Krüge mit süßen, warmen Getränken. Die Tische und Bänke, die über die gesamte Halle verteilt waren, begannen sich zu leeren, als Seeleute, Krieger, Jäger und Fallensteller sich am Herdfeuer zusammendrängten, um die Geschichte der Frau zu hören. Je stiller es in der Halle wurde, desto leichter fiel es Niko, ihre Worte – tief und voll von ihrer eigenen Musik – auszumachen.

Sturmschwarze Schwingen breiteten sich weit aus und warfen Schatten und Zorn auf die Schlacht, die um Thura Segelreißerin tobte. Heute würde Thura dem Tod nicht entfliehen, denn nur der Tod erweckt die Aufmerksamkeit der Walküren

Fünfzehn Menschen, gehüllt in ein Flickwerk aus Pelzen sowie dicken, aber zerfasernden Roben und abgewetzten Rüstungen, saßen dicht gedrängt um die Geschichtenerzählerin. Sie hatte die Hände ausgebreitet, ihre Zöpfe schimmerten im Feuerschein, und ihre amethystvioletten Augen leuchteten wie zwei helle Sterne im Dunkel ihrer Silhouette.

Doch Walküren fliegen stets zu zweit, und Segelreißerin kannte ihre Wahl: ihre Klinge mit dem Blut ihrer Familie zu besudeln oder sich einen ehrenvollen Platz in Starnheim zu verdienen. Sippenmörder, der einst Freund und Bruder gewesen war, erschien schnaubend wie eine Bestie aus Staub und Rauch. Die Zeichen seines Clans waren vernarbt und bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Und Segelreißerinließ die Waffen fallen

Abseits der gebannten Zuhörer hielten Gruppen von Menschen inne in dem, was sie taten, um ebenfalls zu lauschen. Jugendliche mit frischen Gesichtern hörten auf, die Knochenstücke in ihrer Partie Neunfeld anzustupsen. Rüstige Greise kicherten verschwörerisch, während sie Fleisch von einem Wildschweinspieß zupften.

Sippenmörder sprang. Segelreißerin holte aus, und die beiden lieferten sich einen so erbitterten Kampf, wie nur Familien ihn untereinander kennen. Schließlich entwand Segelreißerin Sippenmörder das Schwert, schleuderte ihn zu Boden und stieß ihm seine eigene, verräterische Klinge durchs Herz und in die Erde unter ihm, woraufhin sie schwor

Niko schnappte sich einen weiteren Teller halb gegessenen Pökelfleischs von einem anderen Kannah, der von der Erzählung zu gefesselt war, um zu widersprechen. Inmitten des Waldes aus Stiefeln und Waffen erregte eine große graue Katze Nikos Aufmerksamkeit. Unter ihrem dicken, flauschigen Fell wirkte sie nicht minder gut gewachsen und formidabel wie die versammelten Krieger. Azurblaues Licht stahl sich aus Nikos Hand, und ein winziger Spiegel erschien auf der Handfläche. Mit einem präzisen Wurf wurde er über den Boden schlitternd zu der Katze befördert. Die Ohren der Katze zuckten, sie machte einen angriffslustigen Satz – und der Spiegel verschwand.

Da ihre Familie nun gerächt war und die Wogen des Kampfrauschs ruhigerer See gewichen waren, sank Segelreißerin auf die Knie. Mit jedem Schlag ihres Herzens schmerzte das Gift in ihren Adern stärker

Die Katze peitschte mit dem Schwanz und schnüffelte. Niko warf ihr einen weiteren Spiegel zu. Die Katze machte erneut einen Satz und tatzte nach dem silbrigen Etwas, ehe es verschwand. Niko warf einen dritten Spiegel. Die Katze schnupperte vorsichtig, hob eine Tatze zum Zuschlagen – und Niko beschwor einen weiteren Spiegel, sodass der erste wieder verschwand. Die Katze spannte sich an, schnüffelte an dem hellen Lichtfleck, den Niko mithilfe des Spiegels auf den Boden warf, blinzelte zu Niko hinauf und schlenderte schließlich gemächlich heran.

Thura Segelreißerin, Thura Eidbewahrerin, Thura Fluchbrecherin fiel tot zu Boden. Die beiden Walküren breiteten die Schwingen aus und berieten sich über Thuras große Taten, ihre Triumphe und ihre Niederlagen

Niko hielt der Katze den Spiegel hin, damit sie daran schnuppern konnte. Die Katze schnurrte, zog die Lefzen zurück und rieb einen Zahn an Nikos Finger. Gerade als Niko sie kraulen wollte, nahm die Katze den Spiegel zwischen die Zähne und machte sich damit unter einen der weniger eng besetzten Tische davon, um ihre Beute zu begutachten. Niko rief die Magie zurück, der Spiegel zersprang und verschwand.

und beantwortete die Frage, die alle toten Zungen umtreibt. Der Verräter ging nach Istfell, doch die Mutige … Sie hatte sich ihren Platz in Starnheim verdient.“ Die Menge um die Geschichtenerzählerin jubelte, die Menschen hoben die Krüge und tranken auf sie.

Die Katze blickte entrüstet vom blanken Boden zu Niko hinauf.

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Bild von: Raoul Vitale

Niko kicherte, strich sich mit dem Finger über die Bartstoppeln am Kinn und blickte auf. Die Geschichtenerzählerin hatte Niko fest im Blick.

Sie nahm eine kleine Schale vom Feuer und bat jemanden, neuen Schnee zu sammeln. Eine eilfertige Bewunderin stolperte beinahe über die eigenen Füße, um dem Wunsch zu gehorchen. Die Geschichtenerzählerin drängte sich an ihr vorbei und bahnte sich stattdessen schnurstracks einen Weg zu Niko.

Kjell scheuchte die anderen Kannah mit strenger Miene von ihren Plätzen, als die Geschichtenerzählerin sich, ohne auf eine Einladung zu warten, auf der Bank gegenüber von Niko drapierte. In ihrem Lächeln lag der Sommer. „Noch länger vor diesem Feuer und ich wäre so knusprig wie dieses Wildschwein.“ Sie musterte Niko und richtete dann ihre Frage an Kjell. „Lange Reise, Weissager?“

Kjell saß ruhig an Nikos Seite, doch die verspielte Schärfe in seiner Stimme wurde sanfter: Er war wachsam wie ein Kaninchen im Schatten eines Adlers. „Jede Reise, die mit dem Anblick einer solchen Schönheit endet, ist die Mühe wert.“

Sie schnaubte. „Wie oft übst du wohl diesen Satz?“

„Jeden Tag. Die Bären lieben ihn.“

„Ja, so etwas habe ich über die Kannah gehört“, sagte sie und kicherte. Als die Bewunderin mit der warmen Schüssel voller Schnee zurückkehrte, war dieser fast vollständig geschmolzen. Die Frau stellte das Behältnis auf den Boden neben die Bank, wo es nicht umgestoßen werden würde. „Gefahr!“

Niko spannte sich an, bereit, Silber heraufzubeschwören, doch es war nur die Katze gemeint, die beim Klang ihres Namens maunzend zu der Schale getrottet kam. Die Geschichtenerzählerin streichelte sie liebevoll.

„Deine?“, fragte Niko.

„Sie gehört Felsmaul. Oder vielleicht auch zum Boot. Es war süß von dir, die Maus für sie zu spielen. Ich habe viele Fremde von vielen verschiedenen Orten getroffen, doch noch nie jemanden, der sich so wenig um meine Geschichten scherte.“

Niko wusste nicht, ob sie die Katze oder Niko selbst meinte. Wie durch reines Muskelgedächtnis setzte Niko jene Miene auf, die für den Hof oder andere öffentliche Auftritte vorgesehen war, doch noch vor dem Austausch von Höflichkeiten schlang Kjell einen Arm um Nikos Schultern.

„Birgi, das ist Niko. Solange Niko mit uns reitet, gehört Niko zu den Kannah. Niko, das ist Birgi, ein Geschenk des Schicksals.“

Birgi zwinkerte Niko zu, und Niko strich sich eine metallische Haarsträhne aus dem Gesicht. „Es ist mir ein Vergnügen.“

„Niko-im-Bärensattel? Niko Eisfuß?“, neckte Kjell. „Zweifellos zu Großem berufen.“

Größe war Niko nicht fremd. Ungeschlagen in zahllosen Wettkämpfen und Turnieren. Unerreichte Präzision mit dem Wurfspeer. Berühmtheit wartete daheim auf Niko. Es war schön, zur Abwechslung einmal unbekannt zu sein. „Ich habe jetzt richtige Stiefel. Eisfuß wird jemand anderem zugeschrieben werden müssen.“

„Große Taten bringen ihre eigenen Namen hervor. Deiner wird für dich ausgewählt werden.“ Ein weiterer Bewunderer brachte der Geschichtenerzählerin einen Becher Met und einen Teller öligen, stark duftenden Räucherfisch. Sie bedanke sich mit einem Nicken und machte sich dann über das Essen her. „Wo wir gerade von großen Namen sprechen: Ich sehe Orhaft nicht unter uns.“

„Orhaft Steinrücken ist noch immer auf dem Schiff. Mit Fynn.“

Es gab ein leichtes Poltern, als würde ein voll beladener Karren eine Brücke überqueren.

Kjell grinste. „Habt ihr das gehört? Das große Werk beginnt.“

Birgi verdrehte die Augen. „Das ist ein Omenpfad, du Miesmuschel. Langweile mich nicht mit dem Wetter. Was hat Schlangenjäger mit den Seeleuten zu schaffen?“

„Er hat schlechte Träume, so sicher wie Tergrids eigener Schatten“, erwiderte Kjell. „Er will eine Deutung.“

Birgi beugte sich neugierig vor.

Kjell tat es ihr gleich und gab wieder, was Fynn ihnen beiden erzählt hatte. „Zersplitterte Anleger an einem leeren See, der Gestank von Schlangenschuppen und das Erstrahlen des Dreigestirns.“

„Starnheimblitzt auf?“, flüsterte Birgi.

„Es erlischt“, brachte Kjell den Gedanken zu Ende. „Die kosmische Schlange wird aus ihrem Käfig ausbrechen, und das Erste, was sie verschlingt, wird das Licht sein.“

„Walschiss“, sagte Birgi und lehnte sich zurück. „Aus dem Traum eines jungen Mannes ist nur die Reue eines Greises geworden. Mehr nicht.“

Kjell breitete die Hände aus. „Du scheinst dir sehr sicher zu sein. Man sagt, er habe der kosmischen Schlange eine Schuppe abgerissen und trägt sie nun als Schild. Fynn und Koma sind miteinander verbunden. Ist es so schwer zu glauben, dass die eine den anderen erschüttert?“

„Ich glaube, dass diese große Axt quer über seinen Schultern sehr kleidsam ist“, sagte Birgi. „Warum geht er damit zu Orhaft?“

„Vielleicht braucht die Magie der Omensucher von der Schlange berührtes Blut. Vielleicht wird eine alte Schuld beglichen.“ Kjell zog eine lange, dünne Gräte aus seinem Bissen und legte sie an den Rand seines Tellers. „Oder vielleicht ist eine Bedrohung von Starnheim eine Bedrohung für uns alle.“

Hinter Kjells jovialer Fassade lag eine ständiger Wachsamkeit im Dienste seiner Leute. Fynn Schlangenjäger jedoch spielte nicht solcherlei Spiele. Er ritt an der Spitze der Vorhut der Bärenkrieger – den massiven Schuppenschild auf den Rücken geschnallt, die riesige Axt in einer, die Zügel in der anderen Hand. Sein eigenes Reittier war grün von Flechten und schnaubte Dampf aus schwarzen Nüstern. Dieser Mann befehligte Berserker mit bloßen Schultern, Schildkrieger und Kleriker wie Kjell. Solche Leute träumten nicht oder baten einfach so andere um Hilfe.

„Warum erzählst du ihr all dies?“, fragte Niko Kjell.

„Nichts bleibt lange verborgen.“ Birgi zuckte die Schultern. „Und obwohl du keine Klinge, keinen Stab und keine Runen trägst, glaube ich nicht, dass du halb so langweilig bist, wie du vorgibst zu sein.“ Sie schluckte einen Bissen Fisch herunter und nahm dann ein Trinkhorn in jede Hand. „Komm, kleine Maus, tränken wir die Bären.“

Die beiden folgten Birgi aus der Halle ins eisige Zwielicht.

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Bild von: Kieran Yanner

Birgis Stiefel knirschten auf halb gefrorenem Schneematsch und zertraten totes Gras im Schlamm. „Wusstet ihr, das Orhaft den Namen Steinrücken wegen eines unbemerkten Stichs in den Rücken erhielt?“

Omensucher-Seeleute und Kannah-Krieger plauschten leise in kleinen Gruppen und nahmen eine etwas aufrechtere Haltung an, wenn Birgi an ihnen vorüberschritt. In der Ferne brummten die Bären.

„Ein Stich in den Rücken, ohne die Organe zu verletzen?“, fragte Niko. „Das bezweifle ich.“

Ein paar Omensucher saßen mit roten Gesichtern und nackten Armen auf versteinerten Baumstümpfen gleich vor dem Langhaus. Birgi reichte ihnen ein Horn, das sie untereinander weiterreichten und gierig leerten.

„Und dennoch ist der Name geblieben. Wurde weitergetragen. Und wurde wahr“, sagte Birgi.

„Wer an der Macht ist, schmückt seine Taten aus. Oder man lässt seine Anhänger es tun“, sagte Niko.

Birgi drehte sich um und hielt das andere Horn Niko hin. „Du scheinst mir weder viel vom Weissagen noch vom Heilen zu verstehen, kleine Maus. Kannst du dir eine Narbe ansehen und wissen, woher sie stammt?“

Niko verschränkte die Arme. Kjell griff sich das Horn, das eigentlich für Niko gedacht gewesen war, und nippte beiläufig daran – ein unfreiwilliger Teilnehmer in einem Ritual, dessen Sinn Niko nicht zu erraten vermochte.

„Man kann nicht in den Rücken gestochen werden und es nicht merken“, sagte Niko.

„Nicht einmal aus Versehen?“, fragte Birgi sanft.

Eine Gruppe Kannah ergoss sich in einer Woge aus rauem Gelächter aus der Tür und bewegte sich dann windabwärts, um den Schnee gelb zu färben.

Niko schüttelte den Kopf. „Das ist völliger Unsinn.“

„Steinrücken erzählt eine wahrere Geschichte als Schlangenjäger.“

Niko blickte hinter sich. Die Omensucherin, die da eben gesprochen hatte, lehnte gegen das Langhaus. Sie hatte ein hübsches Gesicht und breite Schultern. Sie hielt Nikos Blick stand und spuckte dann in den Schnee.

Kjell sog Luft durch die Zähne und ließ sich dann Zeit, ganz gemächlich das Horn zu leeren – samt allem Festen in der Neige.

Birgi zwinkerte Niko zu. „Bereit für die Wahrheit, kleine Maus?“

Fynns Weissager wandte sich im Tonfall süßen Spotts an die Omensucherin. „Wie war das? Ich konnte dich durch all die Fischpisse, die du gegurgelt hast, nicht verstehen.“

Die Omensucherin richtete sich auf und spähte zu der Gruppe Kannah hinter ihnen. Sie hatte die Daumen unter die Riemen gehakt, mithilfe derer sie ihre Waffen am Körper verstaut hatte, und näherte sich Kjell. Nikos Finger kribbelten in den neuen Handschuhen. Keine offenkundige Bedrohung.

Noch nicht.

„Mein Bruder war an Bord von Steinrückens Schiff, als der Angriff sich ereignete. Er hat die Wunde gesehen.“ Ein kleinerer Gesell mit Augen wie aus geschliffenem Stahl warf Birgi einen Blick zu, ehe er sich aufplusterte und sein schwarzes Haar zurückwarf.

Die Frau mit dem hübschen Gesicht stand ihm zur Seite. „Kann Fynn seine Behauptungen beweisen?“

„Einen feuchten Kehricht hat dein Bruder gesehen“, sagte Kjell zu Stahlauge. „Im eigenen Schlafzimmer in den Rücken gestochen, was? Das Schiff, auf dem ein ganzes Haus steht, würde ich gern sehen!“

Weitere Krieger schlenderten aus dem Langhaus und umringten sie, die Münder noch immer fettig von ihrem Mahl. Sie alle waren betrunken und unter schlechten Omen zusammengeführt worden, und ihre Anführer waren weit außerhalb ihrer Hörweite. Niko machte eine Bewegung, um einzuschreiten und die Lage zu entspannen, doch Birgi berührte Nikos Schulter in einer bremsenden, beschwichtigenden Geste.

Das Lächeln Stahlauges bestand hauptsächlich aus Zähnen. „Ihr Flechtenlecker solltet eure verkrusteten grünen Pilze nehmen und euch zurück in den Wald schleichen, wo ihr hingehört.“

Die Tätowierungen auf Birgis Nacken und Schulter schimmerten erneut, und ihre amethystvioletten Augen blitzten auf. „Was sagt ihr dazu, Kannah?“

Höhnisches Gelächter erscholl nach Birgis Ruf. Dies erregte die Aufmerksamkeit der betrunkenen Bärenkrieger, die hinter den versammelten Seeleuten herbeitrotteten. Eine Kannah mit grünen Tätowierungen, die sich in spitzen Winkeln über ihre bloßen Schultern rankten, schlüpfte zwischen Kjell und Stahlauge hindurch. Die beiden taxierten einander, doch der Omensucher weigerte sich, klein beizugeben.

„Soll ich es noch mal sagen?“, fragte Stahlauge. „Die einzige Schlange, mit der Schlangenjäger jemals gerungen hat, ist seine eigene –“

Mit einem Knacken und einem spritzenden Schwall Blut starb die Beleidigung zwischen einer Kannah-Stirn und einem Omensucher-Gesicht.

Kjell stieß Niko hinter sich – nicht zum Schutz, sondern um sich einen Weg ins Getümmel zu bahnen. Nun waren sie alle eifrig dabei. Knie in Eingeweide, Ellenbogen gegen Hälse, Schläge und Gedresche – wildes Gelächter und Schmerzensrufe. Ein Kannah-Ellenbogen wurde zurückgerissen und schlug einer anderen Kannah die Zähne aus, ehe ein Seemann auf sie zustürmte, sie in die Luft wuchtete und dann rücklings zu Boden schmetterte. Etwas auf der anderen Seite des Tumults blitzte in Nikos Augenwinkel auf, und Niko warf sich zur Seite, um einem Geschoss auszuweichen, das mit einem hellen Klirren aufkam.

Walbein. Der Dolch eines Omensuchers hatte sich dort in die Wand gebohrt, wo eben noch Niko gestanden hatte.

Und über allem – dort, wo der Schnee noch unberührt war – lehnte Birgi gegen das verkohlte Gerippe einer Steinmauer. Ihre Tätowierungen schimmerten und sie lächelte zu Niko herunter.

Niko erstarrte. Schockiert. Die Bretagardr hatten Dutzende Regeln und Geschichten darüber, Fremden zu helfen, und hatten den Frith ausgerufen. Birgi hatte dies geschehen lassen. Sie hatte jeder Seite ein Horn gegeben. Niko dazu verleitet, Orhafts Taten in Hörweite der Segler anzuzweifeln. Doch warum?

Kjells Ruf brachte Niko in die Gegenwart zurück. Der Weissager wirbelte und tanzte über das Feld, um mit seinem schwirrenden Stab zwei der Omensucher zurückzuschlagen. Ein dritter näherte sich ihm.

Niko schlitterte durch den Schneematsch und drehte Pirouetten, um den Äxten und Dolchen auszuweichen. Ein Kannah warf sich zwischen Niko und einen Hieb und krümmte sich zusammen. Niko sprang, rollte sich über den Rücken ihres Helfers ab, kam auf der anderen Seite am Boden auf und rannte los.

Nikos Handfläche öffnete sich, und Silberfragmente verdichteten sich zu Splittern aus Spiegelglas, die eine schwache, blaue Leuchtspur hinter sich herzogen, während sie wie eine Aura um Niko herumwirbelten. Niko nahm einen Splitter in jede Hand, formte sie zu Dolchen und warf einen nach dem anderen mit beängstigender Präzision. Einer nach dem anderen wurden Kjells Angreifer in die Brust getroffen. Die Spiegelfallen nahmen ihre Ziele vollständig in sich auf und ließen nichts als eine spiegelnde Illusion ihrer Umrisse zurück, die in tausend Glassplitter zersprang. Einem Beobachter mochte es erscheinen, als hätten Nikos Waffen ihre Opfer niedergemacht. Niko jedoch wusste, dass sie sicher und ohne Schmerzen in den Dolchen verwahrt worden waren, nachdem diese sie getroffen hatten. Die Dolche selbst wirbelten harmlos in Richtung der Schneebänke zu beiden Seiten.

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Bild von: Aaron Miller

Die letzte Angreiferin hatte dieses Spektakel verpasst und hieb von jenseits von Kjells Sichtfeld auf ihn ein. Niko griff nach einem weiteren Splitter. Da erklang das Geräusch von reißendem Stoff und das Snnnick von zerschnittenem Fleisch, als die Angreiferin auf Kjells Arm einstach. Der Weissager zuckte zurück und verlor im Gemisch aus Schlamm und Schnee das Gleichgewicht. In diesem einen Augenblick des Zauderns packte die Omensucherin ihn am Schopf und rammte sein Gesicht gegen ihr Knie.

Kein Dolch diesmal. Eine dritte Spiegelfalle würde Nikos Energie aufzehren und dafür sorgen, dass die anderen beiden aus ihren Fallen befreit wurden, bevor es sicher war. Azurblaues Licht erstrahlte, als Niko den dritten Spiegel zu einer flachen, breiten Speerspitze von der Größe eines Handtellers formte.

Kjell spie wie betäubt blinzelnd Blut in den Schnee. Die Omensucherin grinste auf ihn herab und machte einen Schritt auf ihn zu. Kaum dass ihr Fuß in der Luft war, warf Niko.

Wie ein Stein, der sanft von einer Wasseroberfläche abprallte, glitt der flache Speer unter den Stiefel der Omensucherin. Sie rutschte aus und stieß sich den Kopf auf dem gefrorenen Schlamm.

Ein letzter Spiegel kreiste noch, sodass Niko nach allen Seiten Ausschau halten und sich zu Kjell hinunterbeugen konnte, um ihm aufzuhelfen. Kjell fuhr zusammen. Nase und Lippe waren blutig, doch er hatte immerhin noch alle Zähne. Blut klebte ihm im Bart und im weißen Fuchsfell. „Hui, das wird morgen wehtun“, sagte er eher belustigt als wütend. „Hast du diese beiden in Eis verwandelt?“

„Es sieht schlimmer aus, als es ist. Ihnen geschieht nichts.“ Niko pflückte der Omensucherin das Messer aus der Hand und erblickte dann etwas in dem letzten kreisenden Spiegel. Die beiden Fallen funkelten im Schnee. Die letzte Angreiferin lag bäuchlings und stöhnte sanft, und sie alle drei waren ein Stück von der Hauptgruppe vor dem alten Stall abgesondert. Doch da war noch etwas anderes. Etwas, was die Kämpfenden beobachtete.

Auf dem Dach hinter ihnen hatte sich ein geflügeltes Wesen niedergelassen. Hoch aufgerichtet, wunderschön, schrecklich – mit taubengrauen Federn, die ein Licht verstrahlten, das so blau und rein wie der Winter selbst war. Das dunkelbraune Gesicht war von gelbem Haar eingerahmt, und ernste graue Augen waren voller Interesse auf Niko gerichtet.

Denn nur der Tod erweckt die Aufmerksamkeit der Walküren.

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Bild von: Campbell White

Das Wesen wartete darauf, ob Niko die Omensucherin töten würde.

Mit den Augen, dem schwebenden Spiegel und der Messerklinge spähte Niko in alle Richtungen gleichzeitig. In den Geschichten flogen Walküren stets paarweise, und Niko hatte nicht vor, zuzulassen, dass sie noch jemand anderen holten.

Auf einem vom Regen und Graupel zerklüfteten Felsbrocken hockte das Gegenstück der Walküre. Es hatte hellere braune Haut und glänzendes, schwarzes Haar, das zu langen, ordentlichen Zöpfen geflochten war. Über die rabenschwarzen Flügel des Mannes schimmerten Wellen achatgrünen Lichts, und wo die Rüstung der einen Walküre glänzte, war die von dieser schwarz.

Niko schluckte. Sie waren hier, weil jemand sterben würde.

Kjell war hier, weil sein Paradies womöglich in Gefahr war.

Niko war hier, weil keine Zeit für Erklärungen blieb.

„Kjell, bring sie in Sicherheit“, sagte Niko, warf die beinerne Klinge beiseite und verbarg die letzte Falle, indem sie die Finger darum schloss.

Kjell stellte keine Fragen. Er duckte sich.

Mit einer geschmeidigen Bewegung kam Niko auf die Füße, glitt in Stellung und schleuderte einen silbrigen Blitz auf die schwarzgeflügelte Walküre.

Die Walküre hatte kaum Zeit, sich umzudrehen. Die Falle traf sie genau zwischen die Schwingen, ließ die Illusion ihres Körpers in tausend Spiegelscherben zerbersten – und beendete ihren Flug mit einem leisen Puff, als sie im Schnee landete.

Die Falle war gefüllt, doch dies würde nicht lange so bleiben. Ohne zu der graugeflügelten Walküre zu blicken, stürzte Niko davon, fegte den Splitter mit der gefüllten Falle von der Schneewehe und rief die Magie zurück, um die ersten beiden Fallen freizugeben. Beide Omensucher rollten orientierungslos, aber unverletzt in den Schnee. Niko ließ alle Magie in den letzten Splitter fließen, um die Kanten zu allen Seiten zu verstärken und die darin gefangene Kreatur, die sich mit aller Kraft zu befreien versuchte, festzuhalten.

Niko rannte in Richtung des Schiffes auf den Strand zu. Wenn irgendwer die Kämpfer dazu bringen konnte, die Rauferei einzustellen, dann ihre Kommandeure.

Meerwasser toste und spritzte, als Niko an die Seite des Bootes sprang, sich mit einer Hand festhielt, sich über die Reling schwang und sich auf die Füße rollte, den Splitter mit der Walküre noch immer in Händen.

„Orhaft!“, rief Niko.

Beide Ältesten wandten sich der Störung zu. Fynns Plattenrüstung schepperte trotz des Polsters aus Fellen, und die grünen Runensteine, die seinen Bart zierten, warfen ein schauriges Leuchten auf seine blassrote Haut.

Der Omensucher hatte braune Haut, war massig und stabil gebaut und umklammerte einen Stab mit einer hölzernen Schneide in Form einer Walflosse. Orhaft hatte einen kahl geschorenen Kopf und ein breites, bartloses Gesicht mit eleganten Wangenknochen. Grüne und blaue Roben verschmolzen schier mit einem blauen Umhang, der mit einer Kette aus langen Fangzähnen irgendeines Meeresungeheuers an ihnen befestigt war. Arme und Bauch waren bis die auf kreisrunden, blauen Tätowierungen, die sich vom Kopf bis zu den Fingerspitzen zogen, nackt. Blassgrüne Augen stachen aus diesem Gesamtbild hervor. Das war Orhaft Steinrücken vom Kirda-Meer, Vedrune dieses Schiffes. Und Orhaft war nicht erfreut.

„Du bist es“, murmelte Orhaft.

„Warum bist du allein, Niko? Wo ist Kjell?“, fragte Fynn und trat zwischen Niko und die goldenen Magielinien, die in das Deck des Schiffes eingeritzt worden waren wie eine Karte.

Niko sprach rasch. „Sie alle kämpfen. Ihre Klingen sind gezogen, und der Schnee ist voll Blut. Irgendeine Frau hat sie angestiftet. Ihr müsst sie aufhalten!“

„Was für eine Frau?“, fragte Fynn.

„Birgi. Sie haben den Verstand verloren!“ Niko streckte den Splitter wie einen Talisman aus. Niko spürte, wie sich die schwarzgeflügelte, männliche Walküre im Inneren des Splitters wehrte – wie ein Falke, der sich gegen die Gitterstäbe eines Finkenkäfigs warf. Doch seine Anstrengungen waren vergebens. Er trommelte von innen gegen den Spiegel, und seine hellbraunen Augen sprühten vor Zorn.

Fynn und Orhaft verstanden sofort, was Niko sagen wollte. Walküren bedeuteten Tod.

„Er steht vollkommen unter deiner Macht?“, fragte Fynn.

Niko gefiel der Hunger nicht, mit dem Fynn er gesagt hatte. „Er ist gefangen, aber er kann dich hören.“

Am Horizont, wo es keine Erdbeben geben sollte, erscholl ein Grollen, als würde das Meer sich räuspern. Orhaft warf einen Blick zurück. Der Stab leuchtete golden wie die Dämmerung auf einer anderen Welt.

Fynn schulterte mit einer geschmeidigen Bewegung, die trotz seines Alters weder langsam noch schwach war, seine Axt. „Ich kümmere mich um die Skoti. Du kümmerst dich darum.“ Fynns Blick strich über den Splitter mit der Walküre, während er seinen eigenartigen Schild zur Hand nahm. „Keine Entscheidungen, bis ich zurückkehre.“

Orhaft knurrte einwilligend.

Fynn schwang sich über die Reling des Schiffes, spie in den Sand und stapfte in Richtung des Tumults – wie ein Bär, der einen Zwist unter Eichhörnchen zu schlichten gedachte.

Niko wollte gerade fragen, was eine Skoti war, doch Orhaft schnitt die Frage ab. „Du fängst eine Walküre und nennst das den Frith wahren?“

„Ich habe den Frith gewahrt“, sagte Niko und wedelte mit der Hand in Richtung des Langhauses, wo die Kämpfer noch immer wie Ameisen herumwuselten. „Ich allein habe mich nicht blind in diesen Kampf gestürzt, und soweit ich das sehen kann, versuche ich auch ganz allein, ihn zu beenden.“

In der Ferne grollte Donner, doch weit und breit waren keine Wolken zu sehen. „Du? Birgi aufhalten?“, schnaubte Orhaft verächtlich. „Ebenso wenig könnte ich einen Omenpfad aufhalten. Und weitere werden folgen.“

Kjell hatte Omenpfade als die Wege zwischen den Welten beschrieben, die sich wie zufällig öffneten und schlossen – wie das Gefrieren und Tauen einer Landbrücke. Ein Omenpfad bedeutete eine gute Jagd. Zwei Gefahr. Mehr noch: ein Doomskar, wenn aufeinanderprallende Reiche sich wechselseitig aufrissen wie Schiffsrümpfe.

„Ist dir klar, was du Fynn da gebracht hast? Du als außenstehendes Geschöpf hast dennoch Schaden angerichtet, indem du gezeigt hast, dass man Walküren einfangen kann.“

„Wenn ich die Wahl zwischen einer Falle oder dem Tod habe –“

„So dachten auch die Götter“, sagte Orhaft. „Die kosmische Schlange reiste einst ungebunden durch alle Reiche und jagte jene Ungeheuer, die uns jagten. Ob die Skoti nun vorhatten, die Schlange aus anderen Gründen einzusperren oder sie in ihrem Käfig wahnsinnig werden zu lassen – diese Fesseln werden lockerer. Oder sie wurden durchtrennt.“

„Ud du glaubst, dass ich dafür verantwortlich bin“, fragte Niko.

„Irgendjemand ist dafür verantwortlich.“ Orhaft deutete auf die golden leuchtenden Bilder an Deck, das Abebben und Aufwallen von Symbolen, die still standen und sich zur gleichen Zeit dennoch bewegten. Der eine Sinneseindruck überlagerte den anderen. Es war schmerzhaft, dem zuzusehen. „Fynn Schlangenjäger strebt auf dieser Welt nach zwei Dingen. Koma und Starnheim. Du scheinst versessen, ihm beides zu geben.“

„Hier geht es nicht um Eroberung. Hier geht es darum, ein Unheil zu verhindern!“

„Schlangenjäger und ich haben beide gesehen, wie es endet. Du in Felsmaul, du in Starnheim.“ Über dem Gewühl der Krieger spannte sich ein aufblitzendes Nordlicht auf und verschwand. Orhaft reckte das Kinn in Richtung des Hügels. „Wo auch immer du wandelst, folgt Zerstörung.“

„Das bedeutet nicht, dass ich die Ursache dafür bin“, sagte Niko bitter.

Noch eine Prophezeiung. Fynn hatte kein Wort gesagt. Niko wusste nicht, ob das besser oder schlechter als die fernen Eltern war, deren fester Glaube an Nikos strahlendes Schicksal es unmöglich gemacht hatte, Zweifel daran zu äußern. Niemand hatte jemals gefragt, was Niko wollte.

Niko blickte auf den Splitter herab und holte bebend vor Zorn Luft. „Ich gehöre nicht zu den Kannah. Ich diene nicht Fynn, und ich bin kein Omen. Ich bin nur ein Mensch. Wenn du davon überzeugt bist, dass ich Zerstörung bringe, dann schicke mich mit einer Warnung nach Starnheim, damit man dort vorbereitet ist.“

„Du willst, dass ich dich töte?“, wollte Orhaft wissen.

„Nein. Aber ich bin bereits zuvor zwischen den Welten gereist.“ Niko hielt den Splitter hoch, damit Orhaft die darin gefangene Walküre sehen konnte. „Dieses Wesen reist hin und zurück, ohne zu sterben. Wenn es eine Möglichkeit gibt, wie wir einander helfen können, müssen wir es versuchen.“

Das Geschöpf Theros’ hielt seinem Gegenüber den Splitter hin.

Orhaft nahm den Splitter entgegen und blickte ihn an. Grüne Augen spiegelten sich über der düsteren Miene der Walküre. Niko beobachtete, wie sich die Zahnräder im Kopf von Orhaft drehten. Was konnte man beim Handel mit dem Tod gewinnen? Schon vor dem Versprechen gegenüber Fynn, keine Entscheidungen zu treffen, war eine gefallen.

Orhaft blickte wieder zu Niko auf. „Was macht dich so sicher, dass du dieses Ziel erreichen kannst?“

Lebenslange Ausbildung. Eine unerschütterliche Hingabe. Nicht an den Wurfspeer, sondern an eine Prophezeiung kurz nach der Geburt: Niko würde auserwählt und unbezwingbar werden. Doch hinter Nikos Können stand keine Magie. Nur Entscheidungen. Niko hatte sich entschieden, jeden Tag früh aufzuwachen. Korrekturen ohne Murren anzunehmen und die Grenzen dessen, was möglich war, zu überschreiten. Die Prophezeiung war ein Pfad. Doch welchen Einfluss hatte man, wenn man auserkoren war? Würde dies letztlich irgendetwas bedeuten?

Niko erinnerte sich an das Turnier, das Orakel und wie es sich angefühlt hatte, einen anderen Pfad zu wählen. „Ich verfehle nie mein Ziel.“

Erblicke das Multiversum
Erblicke das Multiversum | Bild von: Magali Villeneuve

„Dann ziele auf das richtige Ziel“, sagte Orhaft schelmisch. „Überlasse Schlangenjäger mir. Kehre zum Schiff zurück, nachdem du dich verabschiedet hast. Ich werde dir geben, worum du bittest."

„Wird diesWirst du mich töten?“, fragte Niko.

Ich werde das nicht tun. Und was auf der anderen Seite geschiehtobliegt allein dir.“

Niko machte sich mit schwerem Kopf und leichtem Körper über den Sand auf den Rückweg. Dies war ein unbarmherziger, kalter und feindseliger Ort, und Niko konnte sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, was diese Leute wohl unter einem Paradies verstanden. Doch Niko hatte den Eindruck, dass es ein Reich voller Wesen sein musste, die beständig zwischen den Welten hin und her wandelten. Vielleicht konnten sie Niko verstehen helfen, wie man die Omenpfade bereiste. Es musste eine Technik dafür geben – etwas, was man studieren, üben, perfektionieren konnte – und jemanden, der erklären konnte, wie sich das alles zusammenfügte.

Je länger Niko die Krieger beobachtete, die ihre Wunden mit Schnee kühlten, desto klarer wurde, dass dieser Lehrmeister hier nicht zu finden sein würde.

Die Älteren beider Seiten schalten lauthals die Jungen – irgendetwas von wegen „Abgeltung in Blut“ und „aus unwürdigen Gründen geschuldet“. Andere deuteten auf Birgi. „Und dies alles vor der Göttin! Schande über euch!“ Wieder andere lachten über ihre Wunden.

Fynn war nirgendwo zu sehen. Stattdessen fand Birgi Niko zuerst – hinter ihr ein Schweif aus der Hoffnung und dem Stolz angehender Helden.

„Hast du gesehen, wie ich –“

„Birgi, bitte erzähle allen, dass ich –“

„Ich hoffe, dass das sauber vernarbt, damit jeder weiß –“

Birgi war einen ganzen Kopf größer als Niko und zudem augenscheinlich eine Göttin. Doch das kümmerte Niko nicht. Niko stieß sie zurück.

Birgi blinzelte. Das Flechtwerk der Tätowierungen an ihrer Kehle schimmerte einen Moment blau und verblasste dann. Einen Wimpernschlag lang glaube Niko, etwas Uraltes und Entsetzliches erblickt zu haben. Ein Sammelbecken an Macht, so unerschöpflich und gefährlich wie die Feuersbrunst, die in der leisesten Glut schlummerte. Birgis Lippen öffneten sich, und in Niko wallte der Drang auf, eine Waffe zu ziehen. Doch so begannen Kämpfe. Niko begriff dies nun und verstand die wahre Natur von Birgis Macht. Und Niko hielt sie streng im Zaum.

„Welche Art von Göttin treibt die eigenen Leute dazu an, sich gegenseitig zu töten?“, spie Niko aus.

Birgi beugte sich vor. „Welche Art von sterblichem Wesen stiehlt sich auf eine andere Welt, um mitKatzen zu spielen, wenn es zu dem imstande ist, wozu du imstande bist?“

Nikos Augen weiteten sich.

„Ich bin nicht hier, um dir zu sagen, was du zu tun hast, kleine Maus. Ich tat dies, auf dass du uns kennenlernen mögest. Unsere Freude. Unseren Zorn. Wie wenig dazwischenliegt. Freiheit bedeutet nichts, wenn man nicht weiß, was man aufs Spiel setzt.“ Sie legte eine Hand aufs Herz. „Wenn du die Kraft hast, uns zu überleben, kannst du alles überstehen.“

Die Göttin blickte auf ihre Leute – wie sie lachten, humpelten und sich untereinander mischten, als wäre der Kampf nur ein Spiel unter Freunden gewesen. Der Eifer in Birgis Lächeln milderte sich zu so etwas wie Liebe, während sie jeden Einzelnen von ihnen mit all seinen Klingen und all seinen Prellungen betrachtete. Die kostbaren Winkel ihres geschichtenliebenden Herzens glichen einem gewaltigen Meer, das eine Flotte an Erinnerungen, Historie, hart erkämpften Lektionen und sagenhaften Heldentaten barg. Von außen betrachtet war es schierer Wahn, doch wenn man sich unter ihnen befand, war es eher pure Hoffnung.

„Kjell ist übrigens dort drüben. Er ist ein guter Geschichtenerzähler. Er weiß, was ich meine.“

Kjell näherte sich und sah etwas mitgenommen aus. Er sagte irgendetwas zur Begrüßung, was Niko entging. Birgi kicherte und drückte seinen verwundeten Arm. Er sog vor Schmerzen Luft durch die Zähne und schlug ihren Arm weg. Sie ging zurück ins Langhaus.

„War das wirklich eine Göttin?“, fragte Niko.

„Uff. Die Göttin der Gören“, sagte Kjell. Er tätschelte sich den Arm und begutachtete die Schnittwunde. Entweder heilte Kjell unglaublich schnell oder Birgis Drücken hatte die Sache beschleunigt. „Doch wir können sie nicht aufhalten. Also verzeihen wir ihr.“

Niko brütete über das, was Birgi gesagt hatte. „Wenn ich ehrlich binkann ich nicht sagen, wann sie die Wahrheit sagt und wann sie eine Geschichte erzählt.“

„Das macht es ja so unterhaltsam. Ach ja, diese Seefrau ist in Sicherheit. Eine Gehirnerschütterung. Wenn sie damit fertig ist, ihre Eingeweide von sich zu geben, ist sie so gut wie neu. Wusstest du, dass sie Orhafts rechte Hand ist? Gut, dass du sie gerettet hast. Ihr Blutpreis wäre ohne Weiteres so hoch wie deine gesamte Rüstung gewesen und sogar noch teurer. Und hast du dieses Gleißen von Licht gesehen? Ich glaube, das war die andere Walküre.“

„Wo wir gerade davon sprechen“ Niko stieß etwas Luft aus. Warum war das so schwer? „Orhaft wird mich nach Starnheim schicken. Lebendig. Um sie zu warnen.“

„Es sollte mich überraschen, dass das überhaupt möglich ist, aberFynns Vision?“

Niko zuckte die Schultern. „Das ist der Plan. Sowohl Orhaft als auch Fynn meinten, es wäre meine Schuld.“

Sie kannten einander seit gerade zwei Wochen, doch er wusste immer, was er sagen musste. „Du wirst ihnen zeigen, dass sie sich irren.“

„Ja.“ Einer von Nikos Mundwinkeln zuckte nach oben. „Willst du mitkommen?“ Als er nicht antwortete, leckte sich Niko über die Lippen. „Birgi sagte, ich müsse wissen, was ich aufs Spiel setzeund dass du ein guter Geschichtenerzähler bist.“

Der Kleriker der Kannah lehnte seinen Stab an das alte Fundament eines lange niedergebrannten und verfallenen Gebäudes. Er sah zu, wie das Licht Starnheims am Himmel glitzerte, während er sich mit sauberem Schneematsch Blut von den Händen wusch. „Du hast mir erzählt, dass es dir von Geburt an bestimmt war, auserwählt zu werden. Dass du dein Ziel nie verfehlt hast und dass du dich entschieden hattest, die großen Spiele zu verlieren, nur um herauszufinden, ob du dem Schicksal trotzen kannst.“

Niko runzelte die Stirn.

„Fynn hat dich gesehen. Hat gesagt, dass du eine Bedrohung bist. Mir befohlen, dich in meiner Nähe zu behalten. Dich aufzuhalten, wenn nötig.“ Kjell spannte die ausgestreckten Finger an und ließ sie wieder locker. „Tiefe Wurzeln, Steinadern … Sie alle sprechen zu mir. Wenn der Himmel schweigt, sprechen die Vögel. Der Wind atmet, und ich lausche. Aber ich entscheide, was Fynn hört.“

Niko sagte nichts. Selbst das Atmen schien schon ein Wagnis.

„Du hast dich entschieden, diese Seeleute zu verschonen, und ich entschied mich, dich nicht aufzuhalten. Wenn du eine Bedrohung bist, du freundliches Herz, dann nicht für uns.“ Kjell blickte zu Niko zurück. „Prophezeiungen, Visionen, Schicksal – das alles sind hübsch klingende Befehle. Doch das macht sie nicht echt.“

Die Worte legten sich in Nikos Mund, als hätte Birgi sie dort platziert. „Nur eine Geschichte.“

„Genau. Ich bleibe hier und sorge dafür, dass Fynn hört, was er hören muss, und ich besuche Starnheim, wenn meine Zeit gekommen ist. Und was dich angeht …“ Kjell griff nach Nikos Schultern. „Geh da rauf, erzähl ihnen, wer du bist, und mach irgendwas Verrücktes.“

„O ja, genau. Ich trete die Tür ein. Dresche jemandem die Faust ins Gesicht.“

„Ja!“ Kjell strahlte, nahm mit sauberen Händen seinen Stab und hielt ihn in die Höhe. „Fall über sie her, bevor sie davonflattern können! Niko Walkürenfaust!“

Sie lachten, umarmten sich und schlugen einander auf den Rücken. Was auch immer als Nächstes kommen sollte: Hier würde es immer Sicherheit geben – etwas zu trinken, ein offenes Ohr und fester Boden, auf den man sich verlassen konnte.

Niko konnte die Katze nicht finden, um sich zu verabschieden. Also ließ Niko Kjell am Strand zurück und ging an Bord des Schiffes der Omensucher. Fynn erteilte schweigend seine Erlaubnis, indem er half, das Schiff ins Wasser zu schieben, wo Orhafts Magie sein Treiben steuern würde. An Bord fand Niko Orhaft und die gefangene Walküre in ein geflüstertes Gespräch vertieft. Sie tauschten Geheimnisse aus, die nur jene, die am selben Ort geboren waren, verstehen konnten. Orhaft enthüllte nur, dass der schwarzhaarige, schwarzflügelige Walkürenmann Avtyr hieß und dass solche seiner Art mit dunklen Schwingen gemeinhin Schnitter genannt wurden.

„Du wirst freigelassen, sobald Niko sicher hindurchgereist ist“, sagte Orhaft. „Beim Salz meines Blutes und dem Bug meines Schiffes.“

„So sei es“, sagte die Walküre mit durch das Glas gedämpfter, gebieterischer Stimme. „Wir sehen alles, Orhaft Steinrücken. Wir werden uns erinnern, ob du deinem heutigen Eid treu bleibst. Kennt dein Mündel die Gefahr? Ich kann keine sichere Rückkehr versprechen. Kein Lebender hat je einen Fuß nach Starnheim gesetzt.“

Orhaft blickte zu Niko, und Niko nickte zustimmend.

„Irgendwer muss es ja als Erstes tun“, sagte Niko.

Das Schiff der Omensucher trieb langsam und stetig über unnatürlich ruhige Wasser. Orhaft hob den Stab. Blaue Tätowierungen leuchteten voll Magie auf und geleiteten das Schiff auf die grollenden, summenden Ränder eines Omenpfades zu, der gerade geboren wurde.

Etwas erschauerte am Rande von Nikos Wahrnehmung und schlüpfte dann davon. Der Körper der Walküre war noch immer gefangen, doch ihre Magie, langsam und beständig wie der Drang der Zeitalter, ließ tausend winzige Nadeln durch Nikos Griff um sie fahren. Niko schnürte es die Kehle zu, da diese neue Schwäche nun offenbart war, doch Orhafts mit Vedrunenmacht versehener Eid hielt, wo der Spiegel versagt hatte.

Die Magie der Walküre durchdrang Orhafts Macht – leitend, führend, die Energien vermischend. Der Omenpfad kräuselte und veränderte sich, blaues Wasser überzog sich mit schwarzem. Über einer Gischt aus Magie wippten Barken auf schwarzen Wassern, und der Winkel des weit entfernten Horizonts wirkte sonderbar … falsch. Eine Barke trieb, gleich einem neugierigen Entlein, näher an die Grenze zwischen den Welten.

Niko wippte auf den Fersen, streckte die Finger aus, schwang sich über die Reling und landete mit einem Platschen von Wasser, das nach Schlick roch, auf der Barke. Nikos Magen zog sich zusammen und gewöhnte sich an den neuen Winkel, wo „unten“ war.

Niko drehte sich um und hob eine Hand – ein Dank und ein Abschied von dem Menschen, der den Omensuchern als Vedrune diente. Von Bretagard. Von Kjell.

Der Omenpfad schloss sich hinter der Barke. Tiefes Zwielicht wich einem hellen Himmel wie kurz vor der Morgendämmerung über spiegelschwarzem Wasser. Die Barke stieß gegen ein weites Wirrwarr aus Anlegern, die in einem Licht verschwanden, das von einem Zuhause sang. Niko kletterte aus dem Boot, richtete die Rüstung, strich sich eine Locke aus silber-violettem Haar aus dem Gesicht und machte sich auf, das Schicksal eines Besseren zu belehren.

Ein weiteres Mal.

Niko Aris – Alternative Illustration
Niko Aris | Bild von: Sara Winters