Mit Unterstützung durch Monique Jones.


Kaya saß mit dem Rücken zu einer der Ecken des Schankraus, die Beine auf einem Stuhl, den Blick fest auf die Tür gerichtet. Natürlich wollte sie nicht so aussehen, als behielte sie die Tür im Auge. Nicht an einem Ort wie diesem. Also schaute sie stattdessen auf ihren Tee und sah nur nach jedem kleinen Schluck zur Tür.

Es war guter Tee, dunkel und kalt und dickflüssig vor lauter Honig. Nicht die Art von Tee, die man an einem solchen Ort kaufen konnte. Der Ort hieß das „Wespennest“ und war exakt die Art von Ort, der perfekt geeignet schien, zwielichtige Gestalten zu treffen. Der Mann, auf den sie wartete, war respektabel und ein Edelmann, was wohl bedeutete, dass sie bei dieser Begegnung die zwielichtige Gestalt war. Doch so genau konnte man das ja nie sagen.

Bild von Chris Rallis

Die anderen Schurken kamen und gingen zu unbeholfenen Mandolinenklängen, und niemand blickte die anderen allzu lange an. Taverne, Kneipe, Trinkstube, große Halle: Auf einem Dutzend Welten war diese Art von Ort immer gleich.

Kaya hatte dem Wirt eine Münze zugeworfen, um die Getränke zu bezahlen, die sie nicht bestellte, und noch eine weitere, um in Ruhe gelassen zu werden. Ihr möglicher Auftraggeber war nur ein paar Minuten zu spät, doch Kaya saß schon seit mehr als einer Stunde hier, um ein Gefühl für den Ort zu entwickeln. Sie dachte darüber nach, eine weitere Münze auszugeben, um den Mandolinenspieler zum Verstummen zu bringen, als ihr Kontakt hereinkam. Der Mann trug eine Iris an seiner Brosche – das Zeichen, nach dem Kaya Ausschau halten sollte. Sie erkannte ihn schon vorher: Unter der schäbigen Kleidung war das Gebaren des Mannes militärisch schneidig. Kaya verdrehte innerlich die Augen.

Sie hatte ihn gebeten, nach ihrer Jacke Ausschau zu halten, deren Stil in dieser Stadt zweifellos auffiel. Der Ort war warm, und Kaya hatte die Jacke so weit aufgeknöpft, dass die lockere Bluse darunter zu sehen war. Der Mann mit der Brosche erblickte sie dennoch mühelos und schritt geradewegs auf sie zu. Wie diskret!

Bild von Josu Hernaiz

Der Soldat baute sich vor Kayas Tisch auf. Kaya regte sich nicht, außer um ihn mit einer Handbewegung einzuladen, Platz zu nehmen. Stattdessen beugte der Mann sich zu ihr herab und fragte: „Seid Ihr die Jägerin?“

„Schuldig im Sinne der Anklage“, sagte Kaya. „Ich nehme an, Ihr seid nicht mein Auftraggeber?“

„Seine Hoheit möchte Euch jetzt sehen“, sagte der Mann und deutete auf die Treppe. „Oben.“

Natürlich. Seine Hoheit würde sich nie an einem Ort wie diesem zeigen. Wahrscheinlich war er zur Hintertür hereingekommen.

Kaya erhob sich anmutig und lächelte.

„Geht nur voraus.“

Der Mann runzelte die Stirn und ging vor ihr die Treppe hinauf. Kaya knöpfte sich die Jacke zu, während sie die Stufen erklommen und einen kurzen Gang entlanggingen. Am Ende des Flures klopfte der Mann zweimal an eine unscheinbare Tür, ehe er sie öffnete und Kaya hineinwinkte.

Der Raum war eng. Anstelle eines Bettes befand sich ein Schreibtisch darin. Hinter diesem saß jener Mann, den sie hier treffen wollte: Emilio Revari, dritter Sohn eines Adelshauses von leidlichem Einfluss. Hinter ihm standen zwei gut gekleidete Diener stramm, deren Aufgabe es wahrscheinlich gewesen war, diesen Tisch hier hochzuwuchten.

Revari hatte fettiges Haar und trug feine Kleidung. Er gab sich wie ein junger Mann, übermütig und forsch, doch die Falten auf seinem Gesicht und die schlaffe Haut unter seinem Kinn verrieten, dass er der Vierzig näher war als der Dreißig. Er trug das höfliche, nachsichtige Lächeln eines Adligen zur Schau, und nur in seinen dunklen Augen, deren Blick mal hierhin, mal dorthin huschte, zeigte sich Unruhe.

„Bitte setzt Euch doch“, sagte er und deutete mit einer Hand voller Ringe auf einen Stuhl am anderen Ende des Tisches. Einer davon war ein Ring mit seinem persönlichen Siegel. Der Rest war mit Edelsteinen besetzt und wirkte teuer.

Der Mann mit der Brosche schloss die Tür und nahm neben dem Tisch die Haltung eines Leibwächters an.

Kaya setzte sich – mit dem Rücken zur Tür. Nichts, was sie sonderlich schätzte. Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück.

„Don Revari“, sagte sie mit einem angemessen demütigen Nicken.

„In der Tat. Und wie darf ich Euch nennen, Fräulein ...?“

„Kaya genügt.“

Tatsächlich stammte Kaya ebenfalls von einer Adelsfamilie ab, obgleich ihre Verwandten und sie niemals auf Förmlichkeiten bestanden hatten. Und seit sie ihre Heimatwelt verlassen hatte, hatte sie keinen Grund mehr, ihre Herkunft auch nur zu erwähnen. Sie wusste es. Das war alles, was zählte.

„Also“, sagte sie, bevor er wieder zu sprechen ansetzen konnte. „Bei welcher Angelegenheit kann ich Euch helfen?“

Manche mögliche Auftraggeber missverstanden ihre Arbeit und versuchten, sie für einen Diebstahl oder Spionage oder einen ganz gewöhnlichen Mordanschlag anzuheuern. Sie hatte keinerlei Hemmungen, einfach aufzustehen und zu gehen, oder auch nur gleich zu dem Punkt zu kommen, an dem sie entschied, ob sie das nicht lieber tun sollte.

Revari regte sich unbehaglich.

„Vor einiger Zeit“, sagte er, „erbte ich nach dem Tod meiner lieben Frau Mutter ihr Anwesen hier in der Stadt. Mein Bruder – der Herzog – hatte ihr hier ein Haus zugedacht, in dem sie den Rest ihrer Tage in Ruhe und Frieden verbringen sollte. Dieses Anwesen gehört nun mir. Ich habe eine angemessene Trauerzeit abgewartet, bevor ich Arbeiter dorthin entsandte, um es herzurichten, damit ich dort einziehen kann.“

Das eigentliche Anwesen der Revaris befand sich in Paliano. Als jüngerer Brüder des Herzogs stand es Emilio zu, dort zu wohnen. Doch dieses Anwesen dort im Hinterland – ein Haus, das groß genug war, um Dutzenden von Soldaten oder gleich einer ganzen Reihe von Großfamilien Platz zu bieten – wäre für einen verwöhnten Adligen und sein Gefolge weitaus bequemer.

„Ich hörte, das Herrichten dauert länger als geplant“, sagte Kaya.

Sie hielt stets beide Ohren offen, wenn sie in der Stadt unterwegs war, und die Gerüchte, die man sich über den Grund für die Verzögerungen erzählte, waren vielfältig. Don Revari war das Geld ausgegangen. Er änderte täglich seine Meinung über die Einrichtung. Seine Gattin änderte täglich ihre Meinung über die Einrichtung. In dem Haus spukte es. Das Haus war verflucht. Eine betrügerische Wahrsagerin hatte ihm gesagt, dass das Haus verflucht wäre, doch in Wahrheit ... und so weiter und so fort. Angesichts der Tatsache, dass er sie anheuern wollte, hatte Kaya eine recht gute Vorstellung davon, welches der Gerüchte wahr war.

„Bedeutend länger“, sagte Revari. „Zunächst waren es nur Kleinigkeiten. Werkzeug verschwand, Reparaturen wurden rückgängig gemacht. Ich schob es zunächst auf die Faulheit und den Aberglauben des einfachen Volkes. Doch es wurde schlimmer und schlimmer, und ich habe keinerlei Zweifel mehr, dass es in dem Haus spukt. Nun wollen die Arbeiter es aus Furcht vor dem Geist nicht einmal mehr bei Tag betreten, und die Leute beginnen zu reden.“

Ein Gespenst hinter dem Schleier des Todes hegte einen Groll gegen ihn und er fürchtete um seinen Ruf.

„Und es handelt sich dabei nur um ... irgendeinen Geist“, sagte Kaya.

Revari rutschte unruhig hin und her.

„Der zufällig nach dem Tod Eurer Frau Mutter dort eingezogen ist?“

Revari richtete sich auf.

„Die genaue Herkunft des Geists“, schnaufte er, „braucht Euch nicht zu scheren. Der Punkt ist, dass sich ein Geist in meinem Haus befindet, und ich wünsche, dass er verschwindet. Man sagte mir, das ist es, was Ihr tut.“

Ein verwöhntes kleines Prinzlein. Kayas Mutter hatte ihr nie gestattet, so mit Leuten zu sprechen – blaues Blut hin oder her.

„Das ist es, was ich tue“, sagte sie. „Aber ich bin nicht einfach irgendeine Kammerjägerin, Don Revari, und Geister sind kein Ungeziefer. Ich muss die Fakten dieses Falles kennen, um herausfinden zu können, wozu Euer Geist womöglich alles fähig ist.“

Er nickte mit rotem Gesicht.

„Ich habe Grund zu der Annahme“, sagte er, „dass meine Mutter sich ... weigert, das Anwesen zu verlassen.“

„Hm“, sagte Kaya. „Könnt Ihr Euch vorstellen, warum?“

„Sie hing seit Jahrzehnten an diesem Haus“, sagte Revari. „Sie hätte es jederzeit an mich abtreten können, und ich hätte dann dafür gesorgt, dass man sich ihrer annimmt. Aber nein. Das Haus gehörte ihr und sie wollte es nicht aufgeben. Also wartete ich. Geduldig. Nun ist sie tot, ich habe sie betrauert und ich bin an der Reihe. Ich will mein Haus.“

Kaya nickte langsam.

„Ich verstehe eure Beweggründe, Don Revari“, sagte sie. „Ich nehme den Auftrag an.“

„Oh, gut“, sagte er bissig.

Kaya schenkte dem keine Beachtung. Vielleicht war Seine Hoheit nicht daran gewöhnt, den Nutzen seiner Bitten infrage gestellt zu sehen. Genau genommen hatte sie diesen Mann vom allerersten Augenblick an nicht leiden können. Doch Kaya würde dankbar das Geld eines unausstehlichen Adligen nehmen, um die Welt von einer weiteren Seele zu befreien, die ihre Angelegenheiten nicht erledigt hatte, solange sie dies noch hätte tun können.

„Habt Ihr die Baupläne dabei?“

Einer der Diener trat mit einer hölzernen Röhre in der Hand vor, doch Revari hob die Hand.

„Das habe ich“, sagte er. „Die Originale und die der Umbauten. Doch ich frage mich ... warum Ihr sie braucht. Sie scheinen eher für einen Diebstahl denn für die Geisterjagd geeignet.“

Kaya lachte.

„Nennt Ihr mich eine Diebin?“

„Nun ... Ich meine, wozu sollten sie denn sonst gut sein?“

Sie beugte sich vor.

„Wenn Ihr mir nicht vertraut, dann solltet Ihr mich nicht in Euer Haus lassen“, sagte sie. „Ich kann leicht andere Auftraggeber finden. Und Ihr könnt entweder jemand anderen mit meinen ganz besonders ausgeprägten Fähigkeiten finden oder für immer mit dem Geist Eurer lieben Frau Mutter leben.“

„Dazu besteht kein Anlass“, sagte Revari steif. „Ich hatte es nicht so gemeint.“

„Oh, gut“, sagte Kaya. Sie nahm dem Diener die hölzerne Röhre aus der Hand und klemmte sie sich unter den Arm. „Hält sich der Geist bevorzugt an einem bestimmten Ort im Haus auf? Die Gemächer Eurer Mutter vielleicht oder der Raum, in dem sie starb?“

„Sie wurde schon überall im Haus gesichtet“, sagte Revari. Er hielt einen Augenblick inne und schien nachzudenken. Dann sagte er: „Nach allem jedoch, was ich gehört habe ... Der Ostflügel. Im ersten Obergeschoss. Nicht ihre Gemächer. Ich schätze, es könnte der Ort ihres Todes sein.“

„Und habt Ihr selbst diesen Geist je gesehen?“

„Nein“, sagte Revari. „Seit ich die ersten vertrauenswürdigen Berichte über diesen Spuk erhielt, habe ich keinen Fuß mehr in dieses Haus gesetzt ... Aus offenkundigen Gründen."

„Offenkundig?“

„Ich bin der Eindringling, oder etwa nicht?“, sagte Revari. „Wenn die alte Vettel so an ihrem Eigentum hängt, hat sie es doch sicher ganz besonders auf mich abgesehen.“

„Schon möglich“, sagte Kaya. „Gibt es noch etwas, was ich wissen sollte?“

„Nicht, dass ich wüsste“, sagte Revari. „Werdet Ihr dies heute Nacht erledigen?“

„In der morgigen Nacht“, sagte Kaya. Sie klopfte auf die Hülle mit den Bauplänen. „Die richtige Vorbereitung braucht Zeit.“

„Also schön“, sagte Revari. „Gebt mir Bescheid, sobald es erledigt ist – ganz gleich, zu welcher Stunde. Ich werde weitaus besser schlafen, wenn ich weiß, dass meine Mutter nun endlich und wahrhaftig in Frieden ruht.“

„Wie Ihr wünscht“, sagte Kaya. „Dann bleibt nur noch die Frage nach der Bezahlung. Die Hälfte im Voraus, wie schon in meinem Brief geschrieben.“

„Ach ja, natürlich“, sagte Revari mit sichtlichem Widerwillen.

Er zog einen Beutel unter dem Tisch hervor. Kaya nahm ihn an sich, ohne hineinzusehen. Er war kaum so, dass der Mann in irgendeiner Position war, sie zu betrügen.

„Ich habe mich geirrt“, sagte er. „Bei diesem Preis seid Ihr keine Diebin. Ihr seid eine Erpresserin.“

„Exorzistin, Euer Hoheit“, sagte Kaya mit breitem Lächeln. „Man spricht es Exorzistin aus.“

Sie nahm ihr Geld und die Baupläne, erhob sich, verbeugte sich übertrieben schwungvoll vor dem Adligen und verließ das Zimmer.


Kaya erwachte am nächsten Abend, als das Licht der untergehenden Sonne durch die Lücke schien, die sie in den Vorhängen gelassen hatte. Sie hatte die Nacht in ihrem kleinen Zimmer in der Schänke verbracht, kalten Tee getrunken, die Baupläne studiert und den Tag über geschlafen. Es hatte einfach keinen Zweck, am Tage Geister zu jagen. Manche von ihnen wollten oder konnten nicht herauskommen, und andere waren tagsüber schlicht und ergreifend nicht von ausreichender Stofflichkeit, um gegen sie zu kämpfen.

Kaya entzündete eine Kerze und spritzte sich Wasser aus einem Becken ins Gesicht. Sie entrollte die Baupläne und studierte sie ein letztes Mal, während sie eine alte Melodie vor sich hin summte und die Knoten in ihrem Haar löste, die vom Schlaf herrührten.

Die Pläne bargen keine wirklichen Überraschungen. Es war ein hochtroskanisches Anwesen wie aus dem Lehrbuch, mit einigen anvarischen Einflüssen hier und da. Alles schien für ein Haus dieses Alters in einem weniger beliebten Teil Palianos recht gewöhnlich. Die Umbauarbeiten würden eine echte Herausforderung darstellen: Revari hatte ihr sowohl die ursprünglichen Pläne als auch die neuen Pläne für die Handwerker gegeben, doch es gab keinen Anhaltspunkt dafür, welche Arbeiten vor deren Flucht bereits erledigt worden waren.

Sie griff nach ihrer Jacke und vergewisserte sich, dass ihre beiden Scheibendolche gut geölt waren, und schob sie in die Scheiden an ihren Unterarmen. Die Kerze war mittlerweile fast heruntergebrannt. Sie löschte sie, goss Wachs in eine Schüssel und formte zwei kleine Kugeln daraus, die sie in ihre Jackentasche steckte.

Sie betrachtete sich im Spiegel und sah eine gut ausgeruhte, hervorragend vorbereitete Geisterjägerin. Vielleicht eine etwas übermütige. Vielleicht.

Bild von Chris Rallis

Also dann. Zur Tür hinaus, die Treppe hinunter in den Gemeinschaftsraum der Schänke, in der sie nächtigte – ein deutlich angenehmerer Ort als das Wespennest. Die Wirtin – eine stämmige Frau, der ein Auge fehlte – winkte sie heran.

„Eine Nachricht für Euch“, sagte sie und reichte ihr einen unbeschriebenen Umschlag. „Persönlich überbracht.“

Kaya hob eine Augenbraue. Die Liste mit Leuten, die wussten, wie sie sie hier erreichen konnten, war sehr kurz. Sie öffnete den Umschlag und faltete das einzelne Platt Papier auf, das sich darin befand. Es war nicht im eigentlichen Sinne ein Brief. Genau genommen gab es gar keine Schrift. Nur ein Symbol. Die Schwarze Rose.

Ihr Herz schlug schneller. Es war also Zeit – Zeit für den großen Auftrag, den sie seit fast einem Jahr vorbereitete. Sie wusste, woher ihre nächste großer Zahlung kommen würde ... vorausgesetzt, sie konnte dieses Ding tatsächlich durchziehen.

Sie dankte der Wirtin mit einer Kupfermünze und ging beschwingten Schrittes zur Tür hinaus.


Sie erreichte das Anwesen, als die Dämmerung völliger Dunkelheit wich. Einer von Revaris Pagen öffnete das Tor und die Haustür, ehe er so schnell er konnte vom Grundstück floh. Die Flügeltüren aus Mahagoni schwangen mit einem lauten Quietschen auf. Entschlossen schlug sie sie hinter sich zu und zog dann die Wachskügelchen aus der Tasche, um sie sich in die Ohren zu stecken. Man mochte es eine Eingebung nennen.

Kaya machte eine Handbewegung und drei Irrlichter sprangen aus ihren Fingern. Es waren keine wirklichen Irrlichter, doch sie wanderten dennoch um sie herum, als besäßen sie ein eigenes Bewusstsein. Sie sandten ein kaltes Licht aus und warfen tiefe Schatten, die stumm im Eingang umhertanzten.

Kaya durchquerte die Halle und betrat den Empfangsraum. Ihre gedämpften Schritte hallten in der Stille wider. Von der hohen Decke hing ein Kronleuchter herab, unter dem sie nicht hindurchgehen wollte. Eine der gewundenen Treppen war in einem modernen Stil gehalten und brandneu, die andere war herausgerissen und noch nicht ersetzt worden. Der ganze Ort roch nach Staub und hohem Alter. Sie trat über eine Ansammlung von Werkzeugen, zerschlagenen Tellern und zerrissenen Gemälden hinweg. Die liebe Frau Mutter war also einer von den Geistern.

„He!“, rief sie. „Geist!“

Ihre Stimme echote durch leere Räume und wurde von dicken Teppichen verschluckt, ehe sie in der Stille verklang.

Also schön.

Vorsichtig ging sie von ihren Irrlichtern begleitet Schritt für Schritt die knarrenden Stufen hinauf. An der Balustrade am Ende der Treppe hielt sie an. Rechts von ihr lag die Westseite des Gebäudes, in der die Schlafräume, die Zimmer der Zofen und all die anderen Annehmlichkeiten des Adelslebens zu finden waren. Links von ihr lag der Ostflügel, der dem Westflügel glich, sich aber aus einem wahren Wirrwarr aus Gästezimmern, Salons und Bibliotheken zusammensetzte.

Entschlossen wandte sie sich nach links und zählte ihre Schritte. Was auch immer das Phantom im Ostflügel beschützte: Die beste Möglichkeit, es rasch zu finden, bestand darin, das Gebiet unmittelbar zu bedrohen.

Jenseits der Balustrade befand sich ein langer Gang, von dessen einer Seite Salons abgingen und an dessen Ende eine große Flügeltür lag. Hinter der anderen Wand verlief den Bauplänen nach ein langer, schmaler Dienstbotengang. Hier war noch nichts Neues gebaut worden, und der mit Teppich ausgelegte Boden war leer – bis auf ein zerschlagenes Teeservice, das von irgendeinem erschrockenen Diener fallen gelassen worden war. Kaya ging darum herum.

„Ich weiß, dass du hier bist!“

Dieses Mal fuhr ein eisiger Wind durch den Gang, der von einem klagenden Heulen untermalt wurde, das von überallher zu kommen schien.

„Sehr gruselig“, sagte Kaya. „Willst du nicht noch an ein paar Fenstern rütteln? Vielleicht ein paar Teller zerdeppern?“

Die meisten Geister hassten die Lebenden, und fast alle hassten es, verspottet zu werden.

Als wäre ein Vorhang aufgeweht worden, erschien fast ganz am anderen Ende des Gangs eine spektrale Gestalt. Sie sah wie eine alte Frau aus, war leuchtend und durchscheinend und ihre Gesichtszüge von Tod und Wut verzerrt. Ihre dürren Arme endeten in scharfen Krallen, und ihr Schleier verlief zu Nebel wie ein Schweif. Das Gesicht der alten Dame wurde von einem Maul voller nadelspitzer Zähne durchbrochen. Sie schwebte nicht bei den Flügeltüren am Ende des Gangs, sondern vor einer der Türen an der Seite. Kaya merkte sich, welche.

„Ach, da bist du ja“, sagte Kaya.

Der Geist schrie sie an – ein durchdringendes Kreischen, das beinahe körperlich fassbar auf sie prallte. Türen klapperten und irgendwo zersprang ein Glas. Kaya zuckte zusammen, doch dank des Wachses in ihren Ohren war das auch schon alles.

Sie zückte ihre Dolche und zwang ihre Klingen jenseits des Reichs des Körperlichen und in das der Toten hinein. Sie leuchteten purpurweiß und wurden kalt in ihren Händen.

„Nun ja“, sagte sie. „Der Spaß ist vorbei. Verschwinde und komm nicht wieder.“

Der Geist schrie erneut und stürmte auf sie zu.

Na gut. Das klappte fast nie, doch Kaya fand, dass sie den Geistern einfach die Gelegenheit dazu geben sollte.

Der Gang war nicht breit genug, um den kratzenden Klauen auszuweichen. Kaya stellte sich die Baupläne vor, strich mit den Fingern darüber und zählte Schritte. Links: die Bibliothek. Nein. Zu viele lose Gegenstände, die ein Poltergeist auf sie schleudern konnte. Dann also nach rechts. Der Dienstbotengang. Ein ziemlich schmales Nadelöhr.

Sie wartete, bis die liebe Frau Mutter nahe genug war, um zuzuschlagen, und warf sich dann nach rechts.

Das – das war nicht der Teil, der Spaß machte.

Sie begann mit einer ihrer Hände, den Dolch fest umklammert. Das geisterhafte Licht und die tödliche Kälte krochen ihr den Arm hinauf, beinahe bis zur Schulter, während ihre Hand mitsamt dem Dolch ins Reich der Toten über- und durch die Wand hindurchging. Zu dem Zeitpunkt, da ihre Schulter dieselbe kleine Reise antrat, befand sich Kayas Hand bereits im Dienstbotengang. Sie ließ die Hand wieder stofflich werden und als ihren Anker im Reich der Lebenden dienen.

Das geisterhafte Licht hüllte ihr kalt und hell Kopf und Körper ein. Sie zog Arme und Beine nach und holte sich wieder ganz ins Reich der Lebenden zurück. Sie stieß mit ihrer nun wieder stofflichen Schulter gegen das andere Ende des schmalen Gangs. Die gesamte Bewegung dauerte vielleicht gerade einen Herzschlag. Nicht, dass ihr Herz tatsächlich schlug, wenn sie auf diese Weise zwischen den Reichen wandelte. Sie wagte es nicht, lange an Ort und Stelle zu bleiben.

Sie wirbelte herum und warf sich zurück durch die Mauer, zurück in die Haupthalle, während das verwirrte Phantom mit wehendem Schleier dorthin flog, wo sie noch vor einem Augenblick gewesen war.

Sie entflammte einen ihrer Dolche und nagelte den Schleier des Geists an der Wand fest.

Der Geist kam taumelnd zum Halten, schrie und wandte sich um, um sie aus toten, weißen Augen anzustarren.

„Grüß dich“, sagte Kaya.

Der Geist holte aus, doch sie blockte den Hieb mit ihrem anderen Dolch, indem sie ihn in die faltige Handfläche des Geists stieß. Die toten Augen weiteten sich.

Das war der Teil, der Spaß machte – zu sehen, wie ein unsterbliches, körperloses Phantom erkannte, dass es sich mit jemandem angelegt hatte, der sich wehren konnte.

Die liebe Frau Mutter wich heulend und schnaubend vor ihr zurück und riss den Schleier von Kayas Dolch los. Aus Schleier und Hand entwich schimmernder Rauch: Geisterblut, wenn man es denn so nennen konnte. Und dann verschwand der Geist wirbelnd durch die Decke des Gangs.

Kaya konnte eine Menge Dinge tun, die auch Geister tun konnten, doch das konnte sie nicht. Sie drehte sich um und rannte auf die Tür zu, vor der der Geist zuallererst erschienen war.

Die liebe Frau Mutter waberte aus dem Boden vor ihr. Kaya warf sich nach links durch die Wand in etwas, was den Plänen nach eine Art Schlafzimmer sein musste. Es sollte umgestaltet werden, aber nicht allzu drastisch –

Der Raum hatte keinen Boden. Er war nur eine offene Grube, aus deren Rand Holzbalken ragten. Kaya erhaschte einen Blick auf eine halbfertige Wendeltreppe, ehe sie in die Tiefe stürzte. Das war nicht in den Plänen gewesen.

Geheimnisse! Warum mussten diese Adligen immer irgendwelche Geheimnisse haben?

Kaya ließ einen ihrer Dolche fallen – es blieb keine Zeit, ihn in die Scheide zu stecken – und wirbelte herum, um mit der Rechten nach einem der Holzbalken zu greifen. Der Dolch landete scheppernd im Erdgeschoss.

Als ihre Irrlichter zu ihr aufschlossen, nahm sie eine Einschätzung ihrer Lage vor. Ihre Füße hingen vielleicht zwei Schritt über einem unebenen Boden und ihre Hand schmerzte davon, dass sie Kayas gesamtes Gewicht auf einmal hatte abfangen müssen. Vor ihr befand sich eine Art Kriechgang zwischen den Stockwerken, der vielleicht einen halben Schritt hoch war. Sie steckte ihren anderen Dolch in die Scheide. Sie hätte vermutlich landen können, ohne sich den Knöchel zu verstauchen, aber eben nur vermutlich ... und selbst dann wäre sie nur wieder im Erdgeschoss gewesen.

Über ihr flog das Phantom schreiend durch die Wand und schwebte dann einen Augenblick verwirrt in der Luft. Der Schleier baumelte quälend dicht zu Kaya herunter. Sie schwang sich einmal, zweimal vor und zurück. Habe immer einen Plan ...

... aber verlasse dich nie darauf. Sie ließ den Holzbalken los, griff in das kalte Reich der Toten und schloss geisterhafte Hände um den Schleier.

Damit hatte der Geist nicht gerechnet: Schnaubend und taumelnd wurde er ein Stückchen nach unten gezogen. Dann flog er in atemberaubender Geschwindigkeit zum zweiten Obergeschoss hinauf, durch das hindurch, was ein Schlafzimmer hätte sein sollen, und kreischte empört. Kaya wollte sich nicht allzu lange an ihm festhalten, konnte er sie doch zu allen möglichen gefährlichen Orten mitreißen. Geradewegs nach oben beispielsweise. Sie schätzte ab, wie schnell der Geist sich um die eigene Achse drehte, und ließ im passenden Augenblick den Schleier los.

Sie durchquerte eine Wand an der Seite des vermeintlichen Schlafzimmers, das sich als Todesfalle entpuppt hatte, duckte sich und rollte über den Boden des Raumes dahinter. Die Leute neigten dazu, erheblich zu unterschätzen, welche Bedeutung der Akrobatik bei einer Geisterjagd zukam.

Sie sprang auf die Füße und zog ihren verbliebenen Dolch. Sie hatte die Anzahl ihrer Schritte vergessen, aber wenn sie es richtig sah, war dies der Raum, vor dem der Geist erschienen war.

Es schien sich um eine Art Teeraum zu handeln, doch er war völlig verwüstet. Überall lagen zersplitterte Möbel, und am Boden knirschten zerbrochenes Glas und Porzellansplitter. Und in einer Ecke lag ein Häuflein Müll ...

Die liebe Frau Mutter kreischte auf der anderen Seite der Wand, gerade als Kaya sich alles zusammenreimte.

Der Ostflügel. Nicht die Gemächer der Mutter. Ein Kriechgang. Und nun ein eigenartiges Häuflein Müll in der Ecke eines ansonsten völlig unscheinbaren Raumes, das dem Geist scheinbar viel bedeutete.

Kaya begab sich mit ausgestrecktem Dolch in Kampfhaltung. Sie leuchtete im Geisterlicht. Der Geist wich zurück und heulte nun in dem Wissen auf, dass Kaya ihn verletzen konnte.

„Warte!“, sagte Kaya und bewegte sich auf die Ecke zu.

Die meisten Geister waren vor Wut oder Trauer von Sinnen, aber vielleicht ...

Die liebe Frau Mutter kreischte. Erneut zersprangen Glas und Porzellan auf dem Boden.

Kaya duckte sich hinter einen schweren, umgestürzten Geschirrschrank, während alles im Raum, was nicht niet- und nagelfest war, auf sie zugeflogen kam. Die Splitter prallten gegen den Schrank, und sie spürte, wie ein paar davon sich in ihrem Haar verfingen. Die liebe Frau Mutter würde gewiss gleich folgen ...

Kaya sprang in Richtung der Ecke, erspähte ein zerstörtes Porträt, ein wenig Schmuck sowie Dielen mit langen, tiefen Kratzern darin.

„Ich sagte: ‚Warte!‘“, rief Kaya und streckte eine Hand aus. „Ich verstehe dich!“

Diesmal hielt der Geist inne.

Ohne den Blick von ihm abzuwenden, schob Kaya dem Müll beiseite, stieß ihren Dolch zwischen zwei der Dielen und drückte. Sie hebelte erst eines der Bretter hoch, dann ein weiteres.

Dort in dem Kriechgang lag die verweste Leiche einer alten Frau. Der Geist heulte, und dieses Mal klang es mehr nach Trauer als nach Ärger. Kaya betrachtete die Leiche und sah dann wieder den Geist an. Die Ähnlichkeit war nicht zu übersehen.

Kaya betrachtete die Dinge, die sie beiseitegeschoben hatte. Den Schmuck eines Mannes, Ringe und Manschettenknöpfe. Ein in Fetzen gerissenes Hemd. Ein Porträt, ebenfalls zerfetzt, das einen jungen Edelmann zeigte, der sich in Pose geworfen hatte. Und unter dem Schmuck ...

ein Siegelring. Ein vertrauter Siegelring.

„Du elender ...!“


Kaya wartete im hell erleuchteten Eingangsbereich von Don Revaris bescheidenem, aber geisterfreiem Stadthaus und widerstand dem Drang, ungeduldig mit den Füßen zu wippen. Sie strich sich durchs Haar und sammelte das aus ihm heraus, was hoffentlich die letzten Porzellansplitter waren, um sie anschließend in ihre Taschen zu stecken. Besser ihr Haar als ihre Kopfhaut.

Es war beinahe Mitternacht, doch man hatte sie hereingebeten. Und trotz der späten Stunde erschien Revari selbst, vollständig angekleidet und sogar schon im Mantel.

„Ist es getan?“, fragte er. Gier blitzte in seinen Augen.

„Nach der heutigen Nacht wird Eure Mutter in Frieden ruhen.“

„Bringt mich dorthin“, sagte er. „Ich möchte das Haus sehen.“

„Sprachen wir nicht zuvor schon über Vertrauen?“, sagte Kaya mit offenkundiger Abscheu.

„Ihr habt mir einen wertvollen Dienst erwiesen“, sagte Revari. „Ihr könnt mir kaum verdenken, dass ich Eure Arbeit begutachten möchte, bevor ich Euch bezahle.“

„Also schön“, sagte Kaya. „Nehmt aber das Geld mit. Ich komme nicht den ganzen Weg bis hierher zurück.“

„Wie Ihr wünscht“, sagte Revari eisig.

Es war kein weiter Weg, aber Revari bestand darauf, eine Kutsche zu nehmen. Der Kutscher und ein Leibwächter saßen auf dem Bock, er selbst und Kaya im Inneren. Revari stellte ihr eine Reihe von Fragen über ihre Arbeit, offenkundig nur aus reiner Neugier und der Überzeugung aller Adligen heraus, dass sie alles etwas anging.

„Hinterlässt es ... Spuren? Wenn Ihr sie tötet?“

„Jeder Geist ist anders“, sagte Kaya nicht zum ersten Mal. „In diesem Fall: Ja, es gibt stoffliche Rückstände.“

„Ah“, sagte Revari. „Das würde ich gern sehen. Sollte man sie ... begraben??“

„Das müsst Ihr mit Euch und Eurem Glauben ausmachen“, sagte Kaya. „Ich bin nicht diese Art von Exorzistin.“

Kayas Arbeit erschien manchen blasphemisch und als eine Erschütterung der natürlichen Ordnung des Lebens nach dem Tode. In anderen Glaubensrichtungen waren es jedoch die Geister selbst, die diese natürliche Ordnung störten, und Kaya diejenige, die das richtigstellte. An manchen Orten war sie für die gleiche Sache mit Segnungen überhäuft worden, für die man sie andernorts aus der Stadt gejagt hatte. Was auch immer das Schicksal der Toten auf jeder einzelnen Welt sein mochte, so war Kaya davon überzeugt, dass sie es nicht damit erfüllten, indem sie die Lebenden belästigten.

Revari nickte zufrieden. Kaya vermutete, dass seine eigenen tiefen Glaubensüberzeugungen nicht vorsahen, für eine weitere Beisetzung zu bezahlen, wenn es sich denn irgendwie vermeiden ließ.

Sie erreichten das Anwesen. Der Leibwächter, der Kutscher und Kayas Entlohnung verblieben in der Kutsche und Revari folgte der Exorzistin durch die Tür. Er hatte eine Laterne dabei, weswegen Kaya sich nicht die Mühe mit den Irrlichtern machte.

Der Anblick in der Eingangshalle war der gleiche wie zuvor. Revari murmelte gequält, als er des Schutts ansichtig wurde.

„Es wird sicher einen Monat dauern, dies alles aufzuräumen, damit die Umbauten weitergehen können“, sagte er. „Und das auch nur, wenn ich die Arbeiter davon überzeugen kann, überhaupt hereinzukommen.“

Er drehte sich zu Kaya um.

„Wäret Ihr gewillt, Eure Arbeit zu, äh, attestieren? Ihnen zu sagen, dass es sicher ist, zurückzukehren?“

„Dazu ließe ich mich wohl überreden“, sagte Kaya. Revari begann erneut zu murmeln.

Sie stiegen die Stufen hinauf. Revari schwang die Laterne herum wie ein aufgeregter junger Jäger in seiner ersten Nacht im Wald. Oben auf der Treppe hielt er inne.

„Ich nehme doch an, dass Ihr den Ostflügel besichtigen wollt?“, fragte Kaya. „Euer Hinweis war sehr wertvoll. Dort habe ich sie gefunden.“

„Ja“, sagte Revari. „Ja, natürlich. Und Ihr seid ... sicher, dass es ungefährlich ist?“

„So sicher wie Euer eigenes Haus, Euer Hoheit.“

Er nickte und machte sich mit tanzender Laterne in Richtung Ostflügel auf. Bei jedem Windhauch oder dem Knacken der Dielen zuckte er zusammen. Kaya ging neben ihm her.

„Da sind wir“, sagte Kaya und deutete auf die geschlossene Tür des Raumes, in dem sie die Leiche der Frau gefunden hatte.

„Hier?“, fragte Revari.

„Hier ist es geschehen“, sagte Kaya.

Revari atmete schneller.

„Ihr geht zuerst hinein“, sagte er.

Kaya lächelte beruhigend, öffnete die Tür und trat hindurch. Revari spähte durch die Tür und trat dann langsam über die Schwelle. Er hielt die Laterne hoch. Das verwüstete Mobiliar des Raums warf bedrohliche Schatten.

Sehr, sehr leise schloss Kaya die Tür hinter ihm.

„Also dann“, sagte er mit trockener Kehle und blickte sich um. „Wo sind diese ...“

Er starrte in die Ecke, in der Kaya die Dielen herausgebrochen hatte, und wirbelte dann zu ihr herum.

„Was hat das zu bedeuten?“, herrschte er sie an. „Was hat das zu bedeuten?

„Ich weiß, was Ihr getan habt“, sagte Kaya. Ihre Stimme war leise, gemessen und ruhig.

Revaris Gesicht war gerötet und seine Adern traten deutlich darauf hervor.

„Was auch immer Ihr glaubt, von mir erpressen zu können – !“

„Ich will nichts von Euch, Muttermörder“, sagte Kaya. Sie deutete mit dem Kinn über seine Schulter. „Sie ist es, derentwegen Ihr Euch sorgen müsst.“

Die liebe Frau Mutter war gramvoll und zeitlos hinter ihrem Sohn aufgetaucht. Revari drehte sich um. Kaya hielt sich die Ohren zu.

„Nein“, sagte er. „Nein. Bitte, Mutter ...“

Der Geist kreischte. Revari fiel auf die Knie und griff sich an den Kopf. Die Laterne schepperte zu Boden. Kaya hob sie auf und löschte sie, sodass der Raum nur noch von dem kalten Licht der Toten erleuchtet war.

Revari wandte sich mit geweiteten Augen und noch immer auf den Knien zu ihr um.

„Helft mir“, sagte er. „Ich bezahle Euch! Ich bezahle Euch das Doppelte!“

„Eure eigene Mutter“, sagte Kaya. „Ihr könnt in der Hölle schmoren.“

Der Geist seiner Mutter näherte sich ihm langsam und mit einem Hauch von Theatralik, der Kaya gefiel. Revari rutschte auf den Ellenbogen von ihr weg, bis er gegen die geschlossene Tür stieß.

„Ihr seid eine Lügnerin“, sagte er. „Ich habe Euch bezahlt, damit Ihr dies in Ordnung bringt! Haltet sie auf! Erledigt Eure Aufgabe!

„Damit habe ich absichtlich gewartet“, sagte Kaya. Sie hatte ihn nicht im eigentlichen Sinne belogen, aber sie hatte auch die Aufgabe nicht wirklich erledigt. „Ich sage Euren Untergebenen, dass sie die andere Hälfte meines Entgelts behalten können.“

Er schnaubte und holte nach ihr aus, doch ihre Beine wurden geisterhaft und er griff geradewegs durch sie hindurch, um mit einem erstickten Schrei gegen die Wand hinter ihr zu stoßen.

„Bitte ...“

Dann war der klagende Geist seiner Mutter mit seinen nadelspitzen Zähnen und dolchartigen Klauen über ihm. Kaya ging in einem Blitz aus purpurweißem Licht durch die geschlossene Tür und überließ Mutter und Sohn ihren traurigen Angelegenheiten. Kaya strich ihre Jacke glatt, drehte sich um und ging davon.

Hinter ihr begann Emilio Revari zu schreien, und er schrie noch immer, während sie die Treppe hinunterging, die Eingangshalle durchquerte und durch die dicken Holztüren des Anwesens hinaus in die Nacht trat.


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Planeswalker-Profil: Kaya

Weltbeschreibung: Fiora