Der Goblin. Der stinkende Goblin. Der fette, stinkende Goblin. Sidisi saß zusammengesunken auf ihrem Thron, das Haupt unbedeckt, die Krone fort – dreist von ihrem Kopf heruntergestohlen durch diesen verfluchten Goblin. Sie hatte in den vergangenen Monaten kaum an etwas anderes denken können als an den Goblin und was sie ihm und seinem Klan antun würde, sobald sie ihr in die Finger gerieten. Es war zu einer regelrechten Besessenheit geworden. Einer nach dem anderen hatten sie ihre am meisten geschätzten Berater davor gewarnt, den Pfad blinder Rache zu beschreiten, und einen nach dem anderen ereilte sein Schicksal im Schlund des Mutterkrokodils inmitten der Grube im Kheru-Tempel.

Spottender Aufhetzer | Bild von Willian Murai

„Jhinu“, zischte Sidisi. „Ich bin hungrig. Bring mir mein Essen.“

 

Sidisi hatte die Krone dereinst selbst gestohlen, vom frisch abgeschlagenen Haupt des vorherigen Khans. Wie alle Khane der Sultai hatte sie ihren Listenreichtum und ihre Skrupellosigkeit unter Beweis gestellt, um sich dadurch zur Herrin über ihr eigenes Schicksal aufzuschwingen. Als sie den leblosen Körper in die Grube geworfen hatte, war dies ein klares Zeichen für alle anderen Anwärter auf den Thron gewesen, dass ihnen ein ähnliches Los drohte. Die Säuberungen an ihren potenziellen Rivalen in ihren ersten Jahren als Khanin hatten die verbliebenen Herausforderer derart eingeschüchtert, dass sie sich davor hüteten, irgendetwas anderes zu tun, als sich vor Sidisi zu verneigen. Und so hatte sie ein goldenes Zeitalter der Ruhe innerhalb der politischen Arena der Sultai eingeläutet. Nun jedoch waren die Höfe des Kheru-Tempels ungewöhnlich still, und es blieb unklar, ob die Adligen und Kaufleute, die seine Hallen sonst bevölkerten, Sidisis berüchtigten Jähzorn fürchteten, eigene Armeen aushoben, um ihr den Thron zu rauben, oder vielleicht auch einfach nur tot waren. Sie hatte so viele an die Gruben verfüttert. So viele.

 

„Meine Königin“, sagte ein hagerer Mann, dem die Haare ausgingen und der sich eifrig verbeugte, als er einen armlosen Sibsig heranführte, auf dessen Kopf eine Schüssel mit Obst angebracht war. „Ich hoffe, dies findet Euer Gefallen.“

 

Jhinu war Teil der Händlerklasse gewesen und stammte aus einer der wohlhabendsten Familien im gesamten Sultai-Imperium. In einem Versuch, Sidisis Gunst zu gewinnen und sich ein Monopol auf das Eintreiben von Steuern entlang des Flusses Niraj zu sichern, überbrachte er ihr die Köpfe dreier Goblins, von denen er behauptete, sie hätten die üble Schandtat begangen. Der Affe wusste nichts von der Magie der Rakshasa noch davon, dass die Lippen der Toten für die Königin der Sultai mit der gleichen Mühelosigkeit Worte formten wie die Lippen der Lebenden. Die drei Goblins wussten nichts von ihrer Krone – sie waren Fahnenflüchtige, die bei ihrem Vorhaben ertrunken waren, den Niraj zu überqueren, um sich von den Bauernhöfen am anderen Ufer Nahrung zu beschaffen. List und Täuschung wurden in der Politik geradezu erwartet, doch der Preis, wenn man sich ertappen ließ, war hoch. Sie ließ ihn als kleine Erinnerung daran am Leben, dass es Schicksale gab, die schlimmer waren als der Tod.

 

„Verrate mir etwas, Jhinu“, sagte Sidisi, steckte sich eine Traube in den Mund und schluckte sie, ohne sie zu zerkauen. „Es ist schon eine ganze Weile her, dass einer deiner Verwandten bei mir vorstellig wurde, um um dein Leben zu feilschen. Scheren sie sich nicht mehr um dich oder sind keine mehr von ihnen übrig?“

 

„Sie … sie haben Angst, meine Königin“, sagte Jhinu. „Sie wollen Euch nicht mit Angeboten beleidigen, deren Wert Eurer strahlenden Herrschaftlichkeit nicht würdig ist.“

 

Sidisi ging mit spitzen Fingern das Obst durch und warf die Früchte, auf die sie keinen Appetit verspürte, auf den Boden. „Und was geschah mit dem letzten Verwandten, der Gold und Juwelen brachte?“

Pflichtbewusste Rückkehr | Bild von Seb McKinnon

Jhinu sah zu einem Sibsig, der an einen Pfeiler auf der linken Seite des Saales gekettet war und ein Banner der Sultai in die Höhe hielt.

 

„Hast du keine Brüder mehr?“, fragte Sidisi. „Ich hätte schwören können, dass du mindestens zwei Brüder hast.“

 

Jhinu blickte zu dem Sibsig, den er in den Saal geführt hatte.

 

„Oh ja“, sagte Sidisi. „Ich dachte, ich hätte ihn in die Nähe der Mandrillkäfige geschickt.“

 

„Mein Vetter“, sagte Jhinu. „Mein Vetter war es, den Ihr zum Bewachen der Käfige abbestellt habt.“

 

„Nun gut“, sagte Sidisi, nahm eine Traube und steckte sie sich in den Mund. „Wenn niemand mehr übrig ist, der mit mir um dein Leben feilschen will, so bist du womöglich wertlos. Vielleicht sollte ich mich dann deiner entledigen. Dich an die Gruben überstellen.“

 

„Nein, nein, meine Königin!“, sagte Jhinu und warf sich vor ihr zu Boden. „Bitte verzeiht. Ich habe noch andere Angehörige. Ich werde mehr Botschaften aussenden. Gewiss wird jemand kommen, der um mich feilschen will.“

 

„Sieh zu, dass dem so ist“, sagte Sidisi. „Um meine Armee aufzubauen, haben wir wesentlich weniger Leute in die Gruben geschickt. Ein Wurm wie du hat keine zweite Haut verdient.“

 

„Es … es tut mir leid“, sagte Jhinu und wich vor der Khanin zurück. „Bitte ... bitte.“ Ich habe Rekruten zu Eurer Musterung bereitstehen.“

 

Sidisi bedeutete ihm mit einem Wink, ihr die Rekruten zu zeigen. Beim Ausheben ihrer Armee hatte sie verlangt, dass alle Provinzen der Sultai fünf von hundert ihrer Einwohner entsandten, um Aufnahme in Sidisis Streitmacht zu finden. Die Provinzen schickten mit Vorliebe ihre Ungewollten, ihre Verbrecher und ihre Mittellosen, von denen viele kaum in der Verfassung waren, die Krokodile in den Gruben zu nähren, geschweige denn in der größten Armee der Sultai seit Jahrtausenden in vorderster Reihe zu kämpfen. Um ihr Missfallen über diesen mäßigen Tribut zu zeigen, hatte Sidisi eine zweite Forderung gestellt – diesmal verlangte sie das erstgeborene Kind einer jeden Familie. Diese Forderung mochte alles andere als freudig aufgenommen worden sein, doch Rakshasa, die als Gesandte in den halsstarrigsten Provinzen erschienen, erstickten rasch jede Gefahr eines größeren Aufbegehrens. Aus dieser Auswahl sollten die Stärksten nun auf Sidisis Geheiß zwecks einer persönlichen Musterung vorgeführt werden. Die Besten sollten ihre Leibwache stellen: untote Krieger, die stark genug waren, um sie vor solchen Übergriffen zu schützen wie jenen, den sie von der Hand dieser elenden Goblins erlitten hatte.

 

„Erlaubt mir, Euch das Kontingent aus der Provinz Niraj vorzuführen“, sagte Jhinu.

 

Sidisi musterte die Rekruten von ihrem Thron aus. Sie waren starke Krieger, die in der Blüte ihrer Jahre standen. Ihre zweiten Häute würden keinen der Schäden aufweisen wie jene, mit denen niederere Sibsig geboren wurden: schwache Knie, schwache Schultern und Zähne, die niemandem das Fleisch von den Knochen reißen konnten.

 

„Einen Augenblick. Was ist denn das für ein Krümel?“, fragte Sidisi und hielt inne, als sie bei der Hälfte an Rekruten angekommen war. In der letzten Reihe stand ein Junge, der höchstens dreizehn Sommer gesehen hatte. „Soll das ein Witz von dir sein, Jhinu? Ich dachte, du hättest diese Auswahl im Vorfeld selbst in Augenschein genommen“

 

„Ich versichere Euch, meine Königin“, sagte Jhinu, „dass es sich hierbei ausschließlich um starke Krieger handelt. Sie werden Euch bestens dienen.“

 

Sidisi peitschte zornig mit dem Schwanz und schickte die Obstschale nebst dem Kopf des Sibsig auf den Boden des Palastes. „Spiel keine Spielchen mit mir, Affe. Ich weiß, dass dies deine Heimatprovinz ist, und ich werde keine dahingehende Nachsicht zeigen, dass ich es dulde, wenn sie mir solche Kinder schicken.“

 

„Meine Königin“, sagte Jhinu und kniete nieder. „Wenn Ihr den Jüngling mit eigenen Augen mustert, so werdet Ihr gewiss feststellen, dass seine Kraft der der anderen Männer hier in nichts nachsteht.“

 

Sidisi verließ ihren Thron und trat an Jhinu heran. „Ich weiß, dass du noch Verwandte hast, und falls nicht, dann hast du noch Freunde und Geschäftspartner. Widersetze dich mir noch einmal und ich werde das Imperium nicht nur von dir säubern, sondern von allen, die du je gekannt hast, und dein Name soll auf ewig unausgesprochen bleiben.“

 

Jhinu hob den Kopf und nickte einmal. Aus den Augenwinkeln sah Sidisi den Jüngling einen halben Herzschlag lang zögern. Dann sprang er auf die Königin zu. Seine Ketten fielen von ihm ab – sie waren mit nichts verbunden gewesen und nicht mehr als Teil einer Täuschung. Seine Flinkheit war unter diesen Affen selten und beinahe schlangengleich. Wahrscheinlich stammte der Junge von den Jeskai, entweder mit Gewalt herbeigeschafft oder ein willfähriger Komplize in diesem Komplott. Das Zögern hatte Sidisi die Gelegenheit zum Handeln verschafft, und mit schier widernatürlicher Geschwindigkeit packte ihr Schwanz Jhinu am Bein und schleuderte ihn dem Jüngling entgegen. Er schrie, als sie über den marmornen Boden des Palastes rollten. Der Junge versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, aber der Schwanz der Königin lag um seinen Hals. Er griff nach dem Dolch, doch dieser war außerhalb seiner Reichweite.

Erdrosseln | Bild von Wayne Reynolds

Auf dem Boden rang Jhinu keuchend um Atem. Schwarze Schlieren breiteten sich rasch auf seiner Haut von jener Stelle aus, wo er sich bei dem Zusammenprall einen Kratzer mit dem Dolch eingefangen hatte. Sidisi erkannte das Gift. Es war als Silumgars Atem bekannt und wurde aus der destillierten Essenz Hunderter von Orchideenstielen gewonnen, von einer Art, die nur einmal im Jahrzehnt im Herzen der Objung-Sümpfe blühte. Das Gift war ebenso selten und teuer wie wirksam Schmerzhaft, langsam und ohne jedes bekannte Gegenmittel. Ein einziger Kratzer wäre mehr als ausreichend gewesen, um sie über den Verlauf mehrerer Tage oder gar Wochen umzubringen, während sie von innen heraus verfaulte. Das war eine persönliche Attacke.

 

„Du hattest recht, Jhinu“, sagte Sidisi, brach dem Jüngling das Genick und schleuderte ihn zu Boden. „Der hier war stark. Er wird eine würdige Ergänzung meiner Leibwache abgeben.“

 

„Ich …“, sagte Jhinu und krümmte sich vor Schmerz. „Ich werde nicht zulassen, dass du gewinnst. Ich werde dich dafür büßen lassen, was du mir und meiner Familie angetan hast.“

 

„Ich habe dich unterschätzt“, sagte sie und strich mit dem Schwanz über Jhinus schweißbedeckte, zuckende Stirn. „Ich hielt dich für einen hoffnungslosen Narren, doch damit hatte ich nur in Teilen recht. Und dennoch hast du mir etwas Wichtiges ins Gedächtnis gerufen: Ich bin zu lax geworden.“ Sidisi nahm den Dolch und stieß ihn Jhinu mitten in die Brust. „So viel Vergnügen es mir auch bereiten würde, dabei zuzusehen, wie du dich die nächsten paar Tage vor Schmerzen windest, wird mir so ein Fehler nicht noch einmal unterlaufen.“

 

Sidisi kehrte zu ihrem Thron zurück, das Haupt hoch erhoben, da sie nun wieder an ihr oberstes Ziel erinnert worden war. Erinnert an die wahre Größe der Drachen und die Ruchlosigkeit, die sie für so lange Zeit zu den Herrschern dieser Welt gemacht hatten. Hätte sie Jhinu am Leben gelassen, nur um ihn leiden zu sehen, so wäre dies eine verschleierte Form des Erbarmens gewesen. Erbarmen, jene größte aller Sünden, hätte Sidisi beinahe das Leben gekostet. Es war eine Empfindung, die sie selbst in ihrer geringsten Form nie wieder an den Tag legen würde.

Bruttyrannin Sidisi | Bild von Karl Kopinski

Wäre der Goblin mit einem Speer oder mit Pfeil und Bogen bewaffnet gewesen, hätte er womöglich einen tödlichen Treffer landen können. Zum Glück für Sidisi liebten die Mardu den Krieg mehr als den Sieg. Sidisi wusste, dass ihre Armee weit davon entfernt war, vollständig aufgestellt zu sein. Sie musste eine Streitmacht zusammenstellen, wie man sie seit den Tagen Tasigurs nicht mehr gesehen hatte. Eine Armee aus Sibsig, die die gesamte Steppe überziehen und unermüdlich wider die Mardu vorrücken würde, bis ihre Pferde vor Erschöpfung starben. Und eines nach dem anderen würde sie jedes Lager auslöschen, das sie fand, und gegebenenfalls die Toten wiederauferwecken, auf dass sie sich dem unnachgiebigen Marsch ihrer Geschwister anschließen konnten. Bald würde der große Ork Zurgo höchstselbst ihren Palast als ihre kostbarste Trophäe schmücken. Vielleicht würde sie ein Tablett aus ihm machen. Oder vielleicht gar einen Stuhl.

 


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