Kein Ende, kein Anfang
Viele Jahre sind vergangen, seit Sarkhan Vol das Schicksal Tarkirs veränderte , indem er Ugin vor dem bösartigen Nicol Bolas rettete und den sterbenden Drachen in einen schützenden Kokon aus Stein hüllte. Seither tobten die Drachenstürme, aus denen junge Drachen geboren wurden, nicht nur unvermindert auf Tarkir weiter, nein, sie wurden sogar noch stärker, als würde Ugins Zorn sie anfachen.
Nur wenige auf Tarkir kennen den Grund für das zornige Tosen der Stürme, doch ein jeder spürt ihre Auswirkungen. Was einst ein zerbrechliches Gleichgewicht zwischen Klanen und Drachen war, droht nun zu einer verheerenden Niederlage für die Khane zu werden. Jeder Monat bringt neue Drachen und neue Verluste.
In den Wandelnden Wüsten sehen sich die Häuser der Abzan Gegnern gegenüber, die mindestens ebenso geschickt darin sind, in der Einöde zu überleben, wie sie selbst: der großen Drachin Dromoka und ihrer Brut. Da es ihnen an einem Rückzugsort mangelt, an dem sie Zuflucht suchen könnten, haben die Abzan durch den neuerlichen Ansturm der Drachen mehr verloren als jeder andere Klan.
Daghatar, der Khan der Abzan, muss nun seine weiteren Schritte sehr weise wählen, wenn sein Volk fortbestehen soll.
Die Winde heulten um die steinerne Zitadelle Merk-Ek, den Stammsitz des Klans der Abzan. Im Laufe des letzten Jahres waren die Stürme häufiger geworden, und es gab kaum mehr Augenblicke der Ruhe zwischen ihnen. Die Winde wehten beständig, und in der Wüste waren sie tödlich. Dort, wo sie am stärksten waren, konnten Wind und Sand einem Steinbock oder einem ungeschützten Menschen das Fleisch von den Knochen schleifen. Die Festungen zogen seltener umher. Noch nie zuvor in der Geschichte des Klans waren die Vorräte an Wasser und Nahrung auf einem niedrigeren Stand gewesen. Doch kein Sturm konnte verheerend genug sein, um die Abzan-Ältesten nicht aus allen Ecken des Reiches zurück zum Sitz ihrer Macht zu bringen.
Daghatar, der Khan der Abzan, saß am Kopf einer langen Marmortafel. Sie war zerkratzt und voller Flecken, abgenutzt durch die vielen Ratsversammlungen, die hier seit Generationen abgehalten worden waren. Jeder Platz war besetzt. Zwanzig der Stärksten und Weisesten des Klans waren anwesend, und gemäß der Tradition des Khans Burak, die er wieder eingeführt hatte, sprach Daghatar nicht, ehe er jeden seiner Ratgeber vollständig angehört hatte. Er würde zuletzt sprechen, und er hatte auch das letzte Wort in der Angelegenheit.
Daghatar der Unerbittliche | Bild von Zack Stella
In diesem Wissen hatten seine Ratgeber bereits seit zwei Stunden gesprochen und gestritten. Der Klan befand sich in einer ernsten Lage, und niemand wollte, dass eine Entscheidung getroffen wurde, ohne ausgiebig angehört worden zu sein. Daghatar stützte das Kinn auf die Hand, müde, aber aufmerksam, während der Kampf vor ihm weiter tobte.
„Was du vorschlägst, ist absurd! Du sprichst von Dromokas Brut, als wäre sie eine Naturgewalt. Allein im letzten Monat haben meine Krieger und ich drei Drachen erlegt. Und das zusätzlich zu den zweien, die unser Khan selbst mit seiner Streitaxt erschlug! Und ich spreche hier nicht von Jungtieren! Die Flügelspanne dessen, den sie Korolar nannten, maß zwanzig Fuß! Ja, wir hatten Verluste, aber wir können diesen Kampf gewinnen!!“ Es war Reyhan, die dort sprach, die Anführerin der Streitkräfte dreier Häuser, und die Einzige, die in den letzten beiden Jahren durchweg nur Erfolge vorzuweisen hatte. „Natürlich nur unter der Voraussetzung, dass ihr Feiglinge nicht beschließt, uns aufzugeben.“ Sie funkelte über den Tisch. Immer weniger der Anwesenden vermochten ihrem Blick standzuhalten.
Der Mann zu Daghatars Rechter begann langsam zu applaudieren. „Ja, gut gemacht. Gut gemacht! Und hast du deine Trophäen auch über deinen Toren aufgehängt wie eine Wilde von den Mardu? Zwanzig Fuß! Ein imposanter Sieg. Fünf in sechs Monaten! Eine erstaunliche Großtat. Doch wie viele Drachen wurden in dieser Zeit aus den Stürmen geboren?“ Das war Merel, Daghatars Onkel, ein Mann, der es in jungen Jahren abgelehnt hatte, Khan zu werden. „Meine Kundschafter zählten sechzehn. Und das waren nur meine Kundschafter. Dromoka nistet keine fünfundzwanzig Meilen von hier, und sie ruft durch die Stürme mehr und mehr Drachen an ihre Seite. Sie zwingt den anderen Drachen nicht nur Gehorsam auf, sie befehligt eine Armee. Und ich glaube nicht, dass ich hier irgendjemanden daran erinnern muss, was geschehen ist, als wir uns ihr entgegenstellten. Reyhan, du bist eine Meisterin des Zermürbungsfeldzuges. Meine Rechenkünste mögen vielleicht etwas eingerostet sein, aber bitte, kläre mich auf: Warum glaubst du, dass sich das Blatt zu unserem Vorteil wenden kann?“
Daghatar legte die Stirn in noch tiefere Falten. Er hatte die Hoffnung gehabt, dass alle Anführer der Abzan zusammenkommen und ihm durch ihre gemeinsame Weisheit einen Weg aufzeigen würden, den er noch nicht bedacht hatte. Stattdessen bestätigten sie nur seine schlimmsten Befürchtungen.
Reyhans Augen funkelten. „Ich habe viele Bemängelungen von dir gehört, alter Mann, aber keine Lösungen. Niemand von euch hat einen besseren Plan vorgestellt, als einfach nur Widerstand zu leisten. Meine Lösung ist simpel. Wir ziehen unsere verbleibenden Truppen zusammen und marschieren geradewegs zur Quelle unserer Bedrängnis. Wir rufen all unsere Männer und Frauen zu den Waffen, wir rufen jeden Ahnen an, der willens ist, uns zu erhören, und wir treffen die Brut mitten ins Herz. Wir bringen Dromoka zu Fall, und ihre Brut wird sich in alle Winde zerstreuen. Der Rest Tarkirs soll sich um sich selbst kümmern, bis die Stürme sich legen und der Wind sich dreht. So, wie es immer war.“
Merels Erwiderung war kaum mehr als ein Flüstern. In seinen Augen spiegelte sich Bedauern. „Du warst nicht dabei, Reyhan. Du hast nicht gesehen, wie sie mit uns umsprang. Wir haben mehr als tausend Krieger verloren und ihr nicht einmal einen Kratzer zugefügt. Dein Plan bedeutet das Ende der Abzan.“
Belagerung der Zitadelle | Bild von Steven Belledin
Stille legte sich über den Raum. Reyhans Gesichtszüge wurden weicher, und sie ließ den Kopf hängen. „Ich habe heute nichts gehört, was nicht genau darauf hinauslaufen würde, alter Freund. Ich versuche, uns ein wenig Hoffnung zu bringen. Oder im Falle unseres Versagens wenigstens ein Ende, auf das wir stolz sein können.“
Niemand sprach. Alles, was gesagt werden musste, war gesagt worden. Die Wahrheit lag nun vor ihnen auf dem Tisch. Daghatar erhob sich, und alle richteten sich in ihren Stühlen auf.
„Ich habe euren weisen Rat gehört, und ich danke jedem Einzelnen von euch. Auf der einen Seite haben wir einen Krieg, den wir wahrscheinlich nicht gewinnen können. Auf der anderen Seite haben wir eine Belagerung, die wir wahrscheinlich nicht überleben werden. Ich will nichts beschönigen: Das könnte das Ende der Abzan sein. Daher werde ich nicht voreilig handeln. Die Ahnen müssen befragt werden. Doch was auch immer wir entscheiden: Ich werde bis zum Ende an eurer Seite stehen. Ihr dürft gehen.“
Die Gemächer des Khans waren karg eingerichtet. Daghatar war ein wohlhabender Mann aus einflussreichem Hause, doch nichts davon spiegelte sich in dem einen Raum wider, den er mit niemandem teilen musste. Keine Diener säuberten die Kammer, und kein Besucher sah je ihr Inneres. Das war etwas Ungewöhnliches für ein Volk, das derart stolz auf seinen Gemeinschaftssinn war, doch er war der Khan, und somit war ihm die eine oder andere Eigenheit gestattet. Und dennoch war er an jenem Ort nicht wirklich allein. Nicht angesichts der Erinnerung.
Sie sah zu, wie er eintrat, und er konnte ihren Blick auf sich spüren. Sie war die Bürde eines jeden Khans, schon seit Dutzenden von Generationen. Sie ruhte an einem Ehrenplatz und war jenen, die sie betrachteten, eine Inspiration. Nicht so jedoch denen, die sie trugen. Denen war sie eine schreckliche Last. Doch in finsteren Zeiten war sie eine Waffe und eine Ressource, die ihresgleichen suchte.
Die Erinnerung.
Es hieß, sie wäre aus einem der ersten Sippenbäume entsprungen, verbunden mit den Geistern einiger der allerersten Abzan: jenen, die überlebten, jenen, die lernten, jenen, die überdauerten, als das Leben selbst unmöglich schien. Diese großen Geister nährten den Setzling, bis er zu einem gewaltigen Baum herangewachsen war. Dessen Zweige strebten höher empor als die Mauern Mer-Eks, höher, so hieß es, als die weit entfernten Türme der Jeskai – ein wahrer Berg aus Holz und Rinde und Blättern, der trotz der unbarmherzigen Wüste wuchs und gedieh. Daghatar dachte oft, dass er dem Himmel ein Gräuel gewesen sein musste, und der Himmel brachte ihn auch schließlich zu Fall. Während eines gewaltigen Sturms fuhr ein Blitz herab und spaltete den Baum bis in seinen Kern hinein. Dort fanden sie es. Das alte Bernsteinherz des Baumes, das mit der Kraft der längst Verstorbenen pulsierte, die zu einem einzigen Bewusstsein verschmolzen waren. Das Bernsteinherz wurde in den Kopf eines Streitkolbens eingelassen, der seither von den Khanen der Abzan getragen wurde.
Hätte er gewusst, was es wirklich war, hätte Daghatar den Titel nie angenommen.
Der Bernstein funkelte und pulsierte in einem fließenden Licht, das schneller dahinströmte, als er das Herannahen des Khans spürte. Daghatar griff nach dem Streitkolben und zögerte kurz, bevor er den lederumwickelten Griff packte. Die Stimme hämmerte in seinem Kopf wie die schweren Hufe einer alles niedertrampelnden Bestie.
„Feigling. Schwächling. Du bist uns aus dem Weg gegangen. Fürchtest du deine Pflicht so sehr?“
Daghatar hob den Streitkolben respektvoll hoch und umfasste den Bernsteinkopf vorsichtig mit der linken Hand. Die Ältesten hatten ihm zwar noch nicht jene Führung geschenkt, nach der er suchte, doch die Ahnen hatten ihn auch noch nie im Stich gelassen. Er ließ sich nieder, holte tief Atem und versuchte, Verdrossenheit und Ablehnung aus seiner Stimme zu verbannen. „Ganz im Gegenteil. Ich fürchte mich vor dem, was geschieht, wenn meine Pflicht nicht erfüllt wird. Doch ja, ich habe mich mit dem weisen Rat der Lebenden zufriedengegeben.“
„Der Lebenden. Ja. Du hast Angst vor dem, was du verlieren magst, und deshalb verlierst du jenes aus dem Blick, wofür du die Verantwortung trägst. Deine Pflicht ist größer als ein Leben – oder zehntausend Leben. Deine Pflicht gilt jedem Abzan, der je leben wird.“
Vormacht der Abzan | Bild von Mark Winters
Daghatar schloss die Augen. „Am Ende jenes Weges, den wir gerade einschlagen, werden das nicht sonderlich viele sein.“
Er spürte eine Welle der Verachtung von dem Bernsteinherzen. „Nur wenn du versagst. Hast du dich dem Gedanken an das Versagen bereits ergeben? Wird es dich trösten, wenn du stirbst und dich mit der Vernichtung abfindest, zu der du dein Volk verdammst, dass dein Weg schwer war?“
„Ich nehme eure Grobheiten gern in Kauf, um euren Rat zu erhalten. Wir haben zwei Möglichkeiten, doch keine davon klingt vielversprechend. Dromoka und ihre Brut sind nicht wie andere Drachen. Sie sind mächtig, ja, doch beschützen sie einander auch. Sie arbeiten zusammen, und sie sind der rauen Wüste gegenüber nicht anfällig. Wir führen Krieg gegen einen Feind, der sich unsere eigenen Stärken zu eigen gemacht und vervollkommnet hat. Wir können tun, was wir immer getan haben, nämlich unsere Verteidigung erbittert aufrechterhalten, doch die Drachen werden immer zahlreicher und mächtiger, und unsere Vorräte werden irgendwann endgültig zur Neige gehen. Oder wir können gegen die Anführerin kämpfen und hoffen, dass der Rest sich nach ihrem Tod in alle Winde zerstreut.
Ich frage mich jedoch, ob selbst dies genug sein wird. Ich hörte von einigen der anderen Khane, dass es keinen Ort auf ganz Tarkir gibt, der von den Drachenstürmen verschont bleibt. Wir mögen also vielleicht eine Brut zurückschlagen, doch eine andere wird gewiss ihren Platz einnehmen. Falls es noch einen dritten Weg gibt, so habe ich ihn noch nicht gefunden. Was also soll ich tun?“
Die Erinnerung schwieg einen Augenblick.
„Der erste Rat, den du je bei uns suchtest. Es war eine solch unbedeutende Angelegenheit. Du hattest eine Patrouille verloren, die von den Sultai gefangen genommen worden war, und du wolltest versuchen, sie zu retten. Du hast geweint, weil wir dich die Wahrheit haben sehen lassen: Das Schwerste, was ein Khan tun muss, ist, eine Niederlage zu erleiden und doch zu überleben, um den nächsten Kampf zu gewinnen. Bei der Rettung hättest du noch fünfmal mehr Leute verloren, als du bereits an die Sultai verloren hattest. Du hast es ihnen im Jahr darauf heimgezahlt, und die Geister der Gefallenen kehrten heim. Das ist es, was es bedeutet, Abzan zu sein. Eine Niederlage zu erdulden und dennoch nichts von der eigenen Stärke einzubüßen. Und das wirst du wieder tun. Die Stärke der Abzan ist genug, um dieser Bestie standzuhalten, und ganz gleich, wie viele du verlierst, wirst du sicherstellen, dass die, die überleben, eine Zukunft haben. Khan Daghatar, bist du bereit zu tun, was getan werden muss?“
Der Khan grübelte lange über die Worte der Erinnerung nach.
„Ja. Ich glaube, das bin ich.“
Der Himmel war klar, doch der Wind heftig. Daghatars Helm klirrte von dem ständigen Peitschen des Sandes gegen den Stahl. Seine Maske hielt zwar das Schlimmste ab, aber dennoch musste er blinzeln, als er und seine Gefolgschaft am Versammlungsort eintrafen. Ein riesiger Felsvorsprung kam in Sicht. Merels Körperhaltung änderte sich, doch er blieb an der Seite seines Neffen. Dies war der Ort seines ersten Kampfes mit Dromoka. Eintausend Abzan waren in diesen Dünen gefallen, doch die Zeit und die Wüste hatten jede Spur der Toten verwischt. Dennoch war es ein heiliger Ort. Ein Ort von schier unermesslicher Bedeutung. Daghatar konnte es spüren.
Ebene | Bild von Noah Bradley
Als sie sich näherten, konnte er eine Handvoll Menschen sehen, die zwischen den Felsen auf sie warteten. Die meisten von ihnen waren nach Art der Abzan gekleidet, trugen allerdings nicht die Zeichen eines bestimmten Hauses. Eine instinktive Verachtung für diese Männer wallte in ihm auf, doch er wusste sie einzuschätzen. Er griff nach der Erinnerung und marschierte weiter dem tosenden Sturm entgegen.
Die Felsen boten ein wenig Schutz vor dem Wind, sodass Daghatars Männer ihre Masken und Helme lockerten, um einen Schluck Wasser zu trinken. Der Khan klickte den Gesandten ins Gesicht. Seines blieb ausdruckslos. Die Gesandten verbeugten sich tief. Daghatar erwiderte die Geste.
„Daghatar, Khan der Abzan. In Namen der Ewigen heißen wir Euch willkommen. Ich bin Sohemus.“
„Du heißt mich in meinem eigenen Land willkommen, Sohemus. Doch unter diesen Umständen nehme ich es hin. Ich bin jedoch nicht hier, um mit dir zu sprechen. Wo ist deine Herrin?“
Sohemus senkte den kahl geschorenen Kopf. Er wirkte wie ein Pilger der Jeskai. „Sie wird zu uns kommen, sobald sie es wünscht. In der Zwischenzeit lehre ich Euch die Bräuche, die es zu beachten gilt. Wenn Ihr sprecht, dann blickt sie an. Sie wird jedoch nur die Drachensprache sprechen, und ich werde übersetzen. Seht mich nicht an oder richtet das Wort an mich.“
Daghatar legte den Kopf leicht schräg und nickte dann. „Nun gut. Noch etwas?“
„Ich möchte Euch nur daran erinnern, dass sie für dieses Treffen keinem Waffenstillstand zugestimmt hat. Und nach dem, was sie Eurem Volk vorwirft, garantieren wir nicht für Eure Sicherheit.“
„Was?“ Daghatars Herz raste vor Zorn. „Was sie uns vorwirft?“
Sohemus verneigte sich tief und zeigte dem Khan die leeren Handflächen. „Es ist nicht an mir, das zu besprechen.“ Sohemus wich zurück, und ein seltsames Lächeln huschte ihm übers Gesicht. „Ah. Ihr werdet nicht länger warten müssen. Sie kommt.“
Dromoka die Ewige | Bild von Eric Deschamps
Daghatar blickte zum Himmel und sah nichts weiter als das Gleißen der Sonne. Dann verschwand das Licht. Eine riesige Gestalt stieg von oben herab, mit Schwingen, die so groß waren, dass sie den Sturm zum Schweigen brachten. Die Männer unten spürten Luftzug um Luftzug von oben kommen, als die Drachin vor ihnen landete. Dromoka war gewaltig, mehr als dreimal so groß wie der größte Stoßzahn, den Daghatar je gesehen hatte. Ihre dicken Schuppen reichten in ihren Farben von Bronze bis Gold, und keine einzige schien auch nur einen Kratzer zu haben. Tausende von Pfeilen, Speeren und Schwertern waren an diesen Schuppen zerbrochen. Hier sind sie also zu sehen, dachte Daghatar, unsere vergeblichen Bemühungen.
Der Khan trat vor und verneigte sich. Auch die Drachin neigte leicht den Kopf. Sie schien ihn neugierig zu mustern, wie jemand, der einen bislang unbekannten Käfer entdeckt hatte. Die Drachin sprach, ein grollendes, scharrendes Geräusch, wie er noch nie zuvor eines vernommen hatte. Er widerstand dem Drang, sich Sohemus zuzuwenden, als dieser übersetzte.
„Ich gewähre dir diese Audienz, Daghatar von den Abzan, obgleich ich nicht verstehe, was du dir davon erhoffst.“
Daghatar starrte zu der Drachin hoch. Er fühlte sich, als würde er das Wort an eine Festung richten. „Große und mächtige Dromoka. Ich kam hierher, um die Feindseligkeiten zwischen den Abzan und Eurer Brut zu beenden.“
Die Drachin gab ein Geräusch von sich, ein Grollen, das sich wie ein Erdbeben anfühlte. Daghatar brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass es ein Lachen war. Sohemus übersetzte das, was folgte. „Das wird nicht möglich sein. Euer Stamm von Nekromanten ist ein Schandfleck auf ihrem Land, den sie nicht dulden kann.“
„Was? Nekromanten? Ich verstehe nicht. Ihr sprecht von den Sultai, Dromoka. Wir haben nie derlei finstere Künste angewendet.“
Die Drachin senkte den gewaltigen Kopf, um Daghatar unverwandt in die Augen zu blicken. Sie wirkte neugierig. Als sie sprach, überstrahlte die Hitze aus ihrem Maul die der sengenden Sonne.
„Ihr bindet eure Toten, um euch zu dienen. Nekromantie. Du bringst sogar einen solch dunklen Geist in ihre Gegenwart und wagst noch, es zu leugnen? Und doch wirkst du aufrichtig. Erkläre diesen Widerspruch.“
Die Ahnen rufen | Bild von Nils Hamm
Daghatar blickte auf die Erinnerung herab. „Ihr missversteht das. Dies sind unsere geehrten Ahnen. Ihre Weisheit führt uns. Es ist ein Brauch. Unsere Art. Wir können nicht ...“
Sie unterbrach ihn, ihre Stimme ein einziges Donnern. Sohemus wand sich sichtlich ob ihres Ausbruchs und zögerte, bevor er ihn übersetzte.
„Die Lebenden dienen den Lebenden, und die Toten gehen von uns. Dies ist der Lauf der Natur, und sie ... missbilligt ... jene, die sich dem wiedersetzen.“ Die Drachin fuhr mit sanfterer Stimme fort. „Dromoka lässt Euch wissen, dass sie Euer Volk beobachtet hat und vieles fand, dem sie Achtung entgegenbringt. Ihr dient einander voller Mut und seid gemeinsam stärker als allein. Ihr versteht Entbehrungen und Stärke. Selbst Euer Brauch der Krumar ähnelt dem, was sie unter uns Menschen eingeführt hat, die ihr die Treue geschworen haben. Doch solange Euer Volk von Nekromantie befleckt ist, wird unsere Brut alles daransetzen, die Eure aus der Wüste zu tilgen.“
Daghatar blickte der Drachin lange in die Augen.
Die Stimme der Erinnerung brach über seinen Geist herein. „Narr. Du wirst diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen. Hier gilt kein Waffenstillstand, und dieses Untier hat versprochen, uns alle zu töten. So nah kommst du nie wieder heran. Erhebe mich zum Schlag. Strecke deine Feindin nieder. Jetzt.“
Daghatar umklammerte das Heft der Erinnerung. Er straffte sich und trat vorwärts.
„Dromoka, unsere Ahnen schenken uns seit Jahrhunderten Führung. Und ich werde Euch an dem einzig wahren Rat, den sie mir je gegeben haben, teilhaben lassen. Sie erinnerten mich daran, dass die Pflicht eines Khans größer ist als ein Leben oder als tausend Leben. Ich trage eine Verantwortung für das Leben eines jeden Einzelnen unserer Nachkommen – bis ans Ende aller Tage. Um Abzan zu sein, müssen wir eine Niederlage erdulden und dennoch nichts von unserer Stärke einbüßen. Wir müssen tun, was nötig ist, selbst wenn es schwer ist. Oder sogar undenkbar.“
Furchtlos schritt er auf die Drachin zu. Dromoka regte sich nicht, selbst als er nur eine Armlänge von ihr entfernt stand. Er konnte spüren, wie die Erinnerung voller Kraft und gespannter Erwartung pulsierte. Er murmelte etwas, während er den Streitkolben zum Schlag hob.
„Vergebt mir.“
Daghatar schmetterte den Kopf des Streitkolbens auf den Felsen zu seinen Füßen. Der Bernstein knackte, und die Stimme der Erinnerung zersprang in tausend Schreie voller Qual und Zorn. Er ließ den Bernstein erneut hinabfahren, wieder und wieder, bis er in Tausende funkelnde Splitter zerbrochen war. Die Stimme war verstummt. Die Ahnen waren fort.
Zersplittern | Bild von Tim Hildebrandt
Er atmete leise aus und beugte das Knie. „Merel. Du wirst die Kunde zu jedem Haus tragen. Entwurzle jeden Sippenbaum. Die Ausübung der Nekromantie ist ab sofort verboten.“ Er blickte zu Dromoka auf. „Ich hoffe, dies ist zufriedenstellend?“
Die Drachin nickte.
Merel sah plötzlich um Jahre älter aus. „Sohn, ganze Häuser werden sich auflehnen. Du sprichst davon, all unseren Bräuchen den Rücken zu kehren. Von der Vernichtung unserer Ahnen! Das bedeutet Bürgerkrieg!“
„Ja. Doch die, die übrig bleiben, werden eine Zukunft haben.“
Schweigend blickte er auf die Splitter der Erinnerung herab. Ein Windhauch trug sie davon, funkelnder Staub, der sich mit dem Sand vermischte. Kurz darauf war keine Spur mehr von ihnen zu finden.