Was bisher geschah: Liliana Vess – Von der Güte der Raben


„Chandra, bitte sing mit uns“, sagte Abt Serenok. Sein langer Ärmel pendelte träge hin und her, als er die Hand zu einer Geste hob.

Chandra und die Feuermönche des Klosters balancierten auf Schollen aus festem Gestein inmitten des weiten Lavafelds, das einige Meilen vom Keralberg-Kloster auf Regatha entfernt lag. Die Luft brannte und die Landschaft flirrte vor Hitze. Ein gewaltiger Vulkan ragte in der Ferne auf und spuckte Rauch. Chandra war nicht sicher, ob sie überhaupt hier sein sollte. Dies mochte der Ort sein, an dem sie als Pyromagierin zu sich selbst gefunden hatte, doch dies beinhaltete offenbar auch unablässige Gesangsübungen.

Chandra kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Ich bin keine große Sängerin“, sagte sie.

„Dann wird dies die perfekte Herausforderung für dich sein“, sagte Serenok. Sein leichtes Lächeln vertiefte die Fältchen um seine Augen. Als Abt und oberster Lehrmeister des Keralberg-Klosters unterwies Serenok die Akolythen in der Kunst der Feuermagie. Wie auch Mutter Luti, die Matriarchin des Klosters, hatte Serenok Chandras Talente immer weiter verfeinert und sie ermutigt, ihre Studien und das Verständnis ihrer selbst voranzutreiben.

Gebirge | Bild von Sam Burley

„Deine Talente erinnern mich an die jener Frau, derentwegen man dieses Kloster einst gründete“, sagte Serenok.

„Ich bin nicht sie, Serenok“, sagte Chandra.

„Du kannst aber danach streben, wie sie zu werden“, antwortete er. „Eines Tages.“

Er meinte Jaya. Jaya Ballard – eine berühmte Pyromagierin. Für Chandra war sie eine Art Mythos, eine Präsenz, die über dem Kloster schwebte. Jayas pyromagische Lehren kannte ein jeder Mönch auswendig, sie waren überall an den Wänden verewigt, und ihre Hitzeschutzbrille ruhte auf einem Podest im Kloster. Einige von Jayas Zaubern waren zu ritualisierten Übungen für die Feuerakolythen geworden – so wie heute, hier, in der Mitte des Lavafeldes. Chandra wusste, dass die Lektionen sehr wohl ihren Nutzen hatten. Auf die Vergleiche hätte sie jedoch gut verzichten können.

„Wir alle können versuchen, mehr wie Jaya zu werden“, sagte Serenok zu den anderen. „Beginnen wir die Übung.“

Er gab den Vorsänger. Die Stimme des Abtes war klar, wenn sie auch dünn wie Papier klang. Chandra fiel sein Alter anhand der Anstrengung auf, die sich in seinem gesamten Handeln zeigte – er musste gegen seinen schmerzenden Rücken ankämpfen, als er die Hand hob und sang.

Die anderen Pyromagier-Initianden fielen ein, und bald war die Luft vom Klang ihrer Stimmen erfüllt. Scharfe Konsonanten akzentuierten tiefe, lang gezogene Vokale. Auch ihre Bewegungen waren in Einklang. Ihre Füße glitten mühelos über die Oberfläche der Felsschollen, ihre Arme fuhren sachte durch die von der Hitze verzerrte Luft. Während ihres Tanzes erhoben sich Feuerzungen aus der Lava und formten einen flammenden Kreis um sie herum.

Der pyromagische Tanz war wundervoll, und auch Chandra tanzte. Sie umfing sich selbst mit den Armen, warf den Kopf zurück und wirbelte um die eigene Achse, um dann die Hände auszustrecken und Feuer aus den Fingerspitzen zu versprühen. Sie blickte in der Drehung auf, um den Rauch zu beobachten, der von der Lava aus zusammen mit dem Gesang der Mönche in den Himmel Regathas emporstieg. Chandra fragte sich, ob sich Jaya genauso gefühlt hatte. Hatte sie diesen Gesang nach Regatha gebracht? Mutter Luti wusste von den Planeswalkern und hatte Chandra erzählt, dass Jaya eine gewesen war. Welche Worte von weit entfernten Welten mochte sie wohl gesungen haben, um das Feuer herbeizurufen? Chandra atmete ein und stieß ein Geräusch aus, das ausdrückte, welche Regung der Tanz in ihr weckte – ein hoher, trillernder Gesang, der heller und heller wurde, während sie weiter auf der Stelle wirbelte.

„Chandra“, sagte Serenok. „Der Zauber wird fehlschlagen, wenn du dich nicht daran beteiligst.“

Chandra hielt inne und sah sich um. Die anderen Mönche tanzten nicht mehr, sondern starrten sie an. Der Gesang war verklungen und mit ihm der Kreis aus Feuer erloschen.

„Ich dachte, das würde ich“, sagte Chandra. Kleine Flämmchen leckten ihr übers Haar, doch sie löschte sie rasch mit der Hand.

„Du musst lernen, diese Leidenschaft in den Lektionen zu bündeln“, sagte Serenok. „Nur gemeinsam kann der Zauber gewirkt und das stärkste Feuer erzeugt werden. Du musst dich ihm ganz hingeben.“

Abt des Keralberg-Klosters | Bild von Deruchenko Alexander

„Ich versuche es ja“, sagte Chandra.

„Versuche es stärker“, sagte Serenok mit rauer Stimme. „Dies sind meine letzten Tage. Zeige einem alten Mönch doch, was er sich zu sehen wünscht.“

„Sagt so was doch nicht.“

Serenok klatschte in die Hände. „Beginnen wir von vorn. Chandra, erinnere dich an das, was du gelernt hast. Die Lektionen sind nicht dazu gedacht, dich einzuschränken. Sie sollen dir beim Wachsen helfen.“

Der Abt stemmte die Hände in die Hüften und warf den Kopf zurück. Chandra sah, wie ihm ein Tropfen Schweiß die Wange hinunterrann – wirkte er einen Zauber?

Von unter dem Lavafeld kam ein reißendes, knirschendes Geräusch. Ein Ruck ging durch die Landschaft, und Chandra und die Mönche gerieten auf ihren Felsplatten ins Stolpern.

„Was ist das?“, fragte einer der Akolythen und wandte nervös den Kopf hin und her.

„Ein Erdbeben?“, fragte ein anderer Mönch.

Ein Wall aus geschmolzenem Gestein erhob sich aus der Lava und schnitt sie vom Weg zum Kloster ab. Etwas Lebendiges entstieg der Lava – etwas Lebendiges und Großes.

„Schnell“, sagte Serenok. „Singen wir noch einmal.“

„Ist das der günstigste Zeitpunkt, unseren Gesang zu üben?“, fragte Chandra.

„Errichtet die Verteidigung, wie ich es euch gelehrt habe. Schnell!“ Serenok begann, laut zu singen. Die Mönche fielen ein und nahmen ihren Tanz wieder auf. Der Flammenkreis umgab sie aufs Neue und wuchs in die Höhe.

Etwas Gewaltiges brach aus der Lava heraus. Ein schuppiger Kopf mit spitzen Zähnen und langen, steinernen Tentakeln ragte hoch über sie auf. Er saß auf einem langen, kräftigen Hals, der an den Seiten mit zuckenden Dornen gespickt war. Das Ding hatte die Größe eines Lindwurms, war aber offensichtlich an das Schwimmen durch Vulkangestein angepasst.

Glutschlund-Teufelsbraten | Bild von James Paick

„Teufelsbraten!“, rief einer der Mönche.

„Setzt den Gesang fort!“, rief Serenok.

Der Teufelsbraten brüllte zum Himmel empor und spie Feuer und Schwefel. Er wälzte sich herum, um die Mönche mit zitternden Tentakeln zu begutachten. Sein Maul war groß genug, um jeden von ihnen mit einem einzigen Bissen zu verschlingen, doch Chandra fand, dass er eher so aussah, als würde er vorher gern noch etwas auf seinem nächsten Happen herumkauen wollen.

Die Mönche sangen und tanzten, und die Flammenwand um sie herum erhob sich und blockierte die Sicht auf den Teufelsbraten.

Als die Flammen höherschlugen, blickte Chandra sich unter den Feuermönchen um und versuchte, ihre Töne und ihren Rhythmus nachzuahmen. Na los, Nalaar, dachte sie. Genau dieser Gesang ist überall im Kloster in die Wände gemeißelt. Du schaffst das. Sie blickte zu Serenok und versuchte, seine Bewegungen nachzumachen.

Die Flammenwand wuchs, doch sie flackerte und reichte nicht hoch genug. Chandra wusste, dass es ihre Schuld war: Sie hastete zu sehr durch die Worte, verwechselte die Töne und stolperte beim Tanz. Der Teufelsbraten würde in der Lage sein, seinen Kopf einfach über die Wand herüberzubeugen und nach einem der Mönche zu schnappen ...

Sie sah über die Flammen hinweg, wie das Ungeheuer seinen Kopf hob. Die Tentakel an seinem Maul wanden sich, und es brüllte.

Chandra gab es auf, sich an dem Gesang zu beteiligen. Sie wandte sich um, um sich dem Untier entgegenzustellen. Ihr Haar und ihre Hände entflammten. Sie schleuderte zwei Feuerkugeln auf seinen Bauch, doch seine hitzebeständigen Schuppen wurden kaum angesengt.

Es griff an: Sein Kopf stieß durch die Flammenwand geradewegs auf einen Akolythen zu. Dieser wich aus und sprang auf eine andere Scholle, als das Untier von oben durch jene hindurchbrach, auf der er eben noch gestanden hatte. Die Flammen des Feuerwalls färbten dem Monstrum die Schuppen schwarz, doch es wurde noch nicht einmal langsamer.

Chandra knirschte mit den Zähnen und balancierte auf ihren Ballen. Als der Kopf des Untiers erneut herabstieß, sprang sie auf die Seite, griff nach zweien seiner Sporne und schwang sich auf den Rücken der Kreatur.

Sofort bäumte es sich auf und kreischte, während es mit peitschenden Tentakeln versuchte, Chandra zu erwischen. Sie packte zwei der Tentakel, stemmte die Füße gegen die Schuppengrate und hielt sich so auf dem Rücken des Untiers.

„Ich hab ihn!“, rief Chandra.

Das Untier bäumte sich auf und verdrehte seinen Leib: Plötzlich war sein Rücken seine Vorderseite. Chandra hing nun von seinen Tentakeln herab, ihre Beine schlackerten hilflos umher.

„Zielt auf seinen Kopf!“, sagte ein Akolyth und beschwor einen Feuerzauber herauf.

„Nein, nicht auf den Kopf!“, rief Chandra, die jetzt genau von dort herunterhing.

Chandra hielt sich fest, baumelte hin und her. Sie winkelte die Beine an, um mit den Füßen Halt zu finden. Dann stieß sie sich ab, um sich auf den Kopf des Teufelsbratens hinauf zu katapultieren. Er schnappte und wand sich, doch Chandra erhitzte ihre Hände, bis sie weiß glühten und sie mit den Fingern durch seine raue Haut stach. Sie hakte sich fest.

Chandra fragte sich, worauf sie sich denn nun schon wieder eingelassen hatte – und das war keine Frage, die sie sich zum ersten Mal gestellt hätte. Die Tentakel des Untiers, die hier am Kopf dicker waren, schlugen nach ihr. Einige trafen nur auf ihre Rüstung, andere jedoch auf ihre Haut. Sie verzog das Gesicht und blickte auf ihre weißglühenden Hände, die sie tief in der Panzerung des Untiers versenkt hatte, und sie wusste, dass sie eine solche Hitze nicht lange aufrechterhalten konnte. Sie brauchte mehr Hitze – mehr, als sie allein zu erzeugen imstande war.

„Ich habe eine ganz dumme Idee“, rief sie zu den anderen hinunter. „Ich habe meine Meinung geändert. Wenn ich es sage, zielt auf mich!“

Chandra passte ihren nächsten Zug auf das nächste Aufbäumen des Untiers ab. Sie löste ihren Griff. Halb rannte, halb schlidderte sie seinen Bauch hinab und wehrte die um sich schlagenden Tentakeln mit einem breiten Bogen aus Feuer ab. Kaum hatte sie die Stelle erreicht, wo das Geschöpf aus der Lava emporwuchs, hielt sie sich mit beiden Händen fest und drehte sich um, um ihm ins Auge zu blicken. Sie stöhnte vor Anstrengung und rammte ihm die weißglühenden Hände tief in die Panzerung.

Reflexartig nahm das Untier den Kopf nach unten, und Chandra sprang.

Als sein zahnbewehrtes Maul herabstieß, sprang Chandra aus dem Weg und das Untier biss sich kräftig in die zerfurchten Schuppen seines eigenen Bauchs. Fürs Erste steckten seine Kiefer fest.

Chandra landete auf einer der Felsschollen. Sie wandte sich zu den Mönchen um und winkte ihnen zu. „Jetzt“, rief sie. „Feuer! Genau auf mich!“

Die anderen Mönche standen reglos da und blickten zu Serenok. Dies gehörte nicht zu ihren Lektionen.

Der Abt blickte Chandra einen endlosen Augenblick lang nachdenklich an.

Das Untier kreischte und zuckte, während seine Zähne noch immer in seiner eigenen Panzerung feststeckten.

„Jetzt!“, flehte Chandra. „Los doch!“

Serenok schaute zu den Akolythen und nickte.

Die Feuermönche schrien auf, stießen die Hände nach vorn und entfesselten ein Dutzend verschiedener Feuerzauber – alle in Chandras Richtung.

Verheerende Flammen | Bild von Aleksi Briclot

Chandra blieben nur Sekundenbruchteile, als die Kometen und Kugeln aus Feuer auf sie zurasten. Sie passte ihre Bewegung genau ab, drehte sich um sich selbst und lenkte die Feuerzauber mit ihren Händen weiter, als sie herumwirbelte. In einer einzigen fließenden Bewegung verwob sie die vielen Feuerstränge zu einem nadelspitzen Pfeil weißglühenden Feuers. Sie führte ihn um ihren Leib herum, hörte ihre Haut zischen, als er vorüberglitt, und schleuderte ihn genau auf den Kopf des Untiers zu.

Der Feuerpfeil fuhr durch die gepanzerte Haut auf der Stirn des Untiers und traf auf weiches Fleisch.

Mit einem Aufbäumen seines Leibes und einem lauten Kreischen riss sich das Untier los und löste endlich das Maul aus seinem Bauch.

Es hob brüllend den Kopf, peitschte mit den Tentakeln und tauchte dann zurück in die Lava.

Wellen wogten über das gesamte Lavafeld, ehe sie abebbten und sich dann ganz verloren. Einen Augenblick lang sagte niemand ein Wort, bis sie sicher waren, dass das Geschöpf nicht mit dem nächsten Wimpernschlag zurückkehren und sie alle verschlingen würde.

Chandra stützte die Hände auf die Knie und rang nach Atem. „Es tut mir leid, dass ich den Gesang gestört habe“, sagte sie. Ihre Mähne aus Flammen verlosch allmählich und wich ihrem gewöhnlichen Haar. Eine Strähne stand ihr wild vom Schädel ab.

„Das war es“, sagte Serenok mit rußverschmiertem Lächeln. Er hustete in die Hand, doch sein Lächeln verschwand nicht. „Du hast das getan, was ich nur eine einzige andere Person jemals habe tun sehen. Du bist bereit. Du bist sie.“


„Chandra, steh auf.“

Chandra war zurück in ihrem Bett im Kloster. Sie hatte das bange Gefühl, dass bereits wirklich jene Zeit des Tages angebrochen war, die man gemeinhin Morgen nannte.

Und um die Dinge auf beachtliche Weise noch weniger angenehm zu machen, erkannte sie Mutter Lutis Stimme an der Tür.

„Chandra“, wiederholte Luti. „Aufstehen. Es ist schon mitten am Tage.“

„Woher wisst Ihr das?“, murmelte Chandra, ohne sich zu rühren. „Hinter meinen Lidern sieht es ziemlich eindeutig nach Schlafenszeit aus.“

„Es geht um Serenok.“

Endlich setzte Chandra sich auf. „Hört zu“, sagte sie und versuchte, ihre Müdigkeit abzuschütteln. „Wenn er mit mir über Gesangsübungen sprechen will, dann sagt ihm, dass morgen vielleicht ...“

„Chandra. Serenok ist tot.“


Die Begräbnisfeier für den Abt war kurz und wurde auf der felsigen Freifläche gleich vor den Stufen des Keralberg-Klosters abgehalten. Es waren dieselben, breiten Stufen, die Chandra erklommen hatte, als sie gerade zur Planeswalkerin geworden war. Viele der Feuermönche, die sich hier versammelt hatten, waren auch unter denen gewesen, die die verdutzte junge Pyromagierin hier willkommen geheißen hatten.

Keralienberg | Bild von Franz Vohwinkel

„Wir alle waren Serenoks Schüler“, sagte Mutter Luti. „Jeder, der ihn kannte, lernte aus seinem Leben voller Flammen und Leidenschaft und aus seiner Hingabe an sein Amt als Abt dieses Klosters seine ganz eigenen Lektionen.“

Chandra weinte – halb vor Fassungslosigkeit, halb in der Erwartung bald einsetzender Trauer. Sie spürte, dass sie diesen Schmerz noch nicht in seiner völligen Wucht empfand. Sie spürte ihn kommen, wie einen Schemen, der sich aus der Dunkelheit an sie heranpirschte.

„Serenoks Körper gab auf, während er letzte Nacht schlief“, fuhr Luti fort. „Und in seinem Dahinscheiden blieb er bis zum Ende ein großer Lehrmeister und erteilte uns eine letzte Lektion. Er zeigte uns, dass wir uns in der Zeit, die uns gegeben ist, einen Pfad für uns erwählen und uns diesem mit voller Hingabe widmen müssen. Wir müssen das Feuer in uns finden, es nähren und ihm unser Leben schenken. Und wir müssen dafür sorgen, dass wir auch in den Herzen anderer dieses Feuer entfachen.“ Sie faltete die Hände. „Leb wohl, Serenok.“

Die Mönche senkten die Köpfe. Die Kapuzen ihrer Roben bedeckten ihre Gesichter.

Als die Zeremonie beendet war, kehrte Chandra nicht mit den anderen zum Kloster zurück. Stattdessen wanderte sie tiefer in die Berge. Sie hörte, wie Luti ihr nachrief, doch sie wandte sich nicht um.


Ein sengender Tag auf Regatha wurde zu einer erbarmungslos heißen Nacht auf Regatha. Rauchstürme tobten über den Himmel, als hätten die aufgewühlten Gefühle in Chandra Form und Gestalt gewonnen. Es war nun so dunkel, dass die Umrisse des großen Vulkans nicht mehr auszumachen waren. Doch Chandra sah die dünnen Lavaströme, die sich seine Flanken hinunterwanden. Auf diese Entfernung wirkte es nicht, als würden sie überhaupt stetig fließen – sie konnte sich bestens vorstellen, wie die leuchtenden Fäden nur schwerfällig ins Tal hinabtropften. Wenn sie den Blickwinkel leicht änderte, hätte sie sich sogar einreden können, dass die Lava den Hang hinaufkroch, um im Herzen des Vulkans zu verschwinden. Chandra ließ sich unter einem Felsvorsprung neben einem Nest Aschemotten nieder. Sie sah dabei zu, wie ein Schwarm der Motten sich auf winzigen Flügeln aus Flammen in den Nachthimmel aufschwang.

Sie hatte immer mit Serenoks Erwartungen an sie gehadert. Doch hätte es sie denn umgebracht, die Gesänge zu lernen und mit den anderen gemeinsam zu üben? Wäre es so schlecht gewesen, dem gerecht zu werden, was er in ihr gesehen hatte? Sie weinte und dachte an Serenoks Lektionen, seine Güte, seine Ermunterungen. Sie spürte eine Leere in sich, einen tiefen Brunnen aus Schmerz. Sie hatte ob des Todes ihres Lehrmeisters eine ganze Woge von Gefühlen erwartet, etwas Greifbares, dem sie sich entgegenstemmen und dem sie trotzen konnte. Dieser Leere konnte sie nicht trotzen. Sie war nichts, wogegen man hätte ankämpfen können. Man konnte nichts tun, als sich in ihr einzurichten.

Nach einer Weile sehnte sie sich mehr nach ihrem Bett als nach Abgeschiedenheit. Sie machte sich über die hohen Gebirgspässe zurück auf den Weg ins Kloster und warf Feuerzauber in die Dunkelheit vor ihr. Aschemotten stoben hinter ihr auf.


Es war Morgen, als ihre Schritte sie endlich zurück zum Kloster geführt hatten.

Mutter Luti saß auf den Steinstufen, ein gefaltetes Gewand auf den Knien. Es war Serenoks Robe, die Tracht des Abtes, die von Fäden von der Farbe von vulkanischem Gestein durchwirkt war.

„Warum begrüßt Ihr mich damit?“, wollte Chandra wissen. Ihre Muskeln waren müde und ihr Herz in Aufruhr, ein Sturm, der durch eine große Leere tobte. Sie hatte die Robe nie anders gesehen, als wenn Serenok sie trug. Ihre Augen funkelten. „Versucht Ihr, mir absichtlich wehzutun?“

„Chandra, hör zu“, setzte Luti an.

„Nein, ich verstehe schon“, sagte Chandra und trat dicht an Luti heran. „Serenok ist tot, aber die Lektionen müssen weitergehen! Wir müssen uns in der großen Halle versammeln, noch ehe seine Robe richtig kalt geworden ist, nicht wahr? Denn wir müssen diese Lücke füllen. Das wollt Ihr mir doch sagen, oder? Dass es schon Stunden her ist und wir vorwärtsblicken und einen neuen Abt bestimmen müssen?“

„Nein, Chandra“, sagte Luti und blickte auf Serenoks Robe hinunter. „Ich bin hier, um dir zu sagen, dass wir bereits einen bestimmt haben.“


„Ich kann nicht“, sagte Chandra zum gefühlt hundertsten Mal. „Ich bin kein Mönch. Und ich bin ganz sicher keine Äbtissin.“

Sie saß an einem langen Granittisch im Herzen des Klosters, umgeben von älteren Mönchen mit Roben in den Farben der Flammen. Serenoks Robe lag gefaltet vor ihr.

„Wie Serenok immer sagte, bist du eine der begabtesten Pyromagier, die das Keralberg-Kloster je gesehen hat“, sagte Luti. Ihre Hände waren gefaltet, ihr Gesicht voller Güte. „Er sah dich als einfallsreich, erfinderisch und aufrichtig an. Deine Worte und deine Magie kamen stets von Herzen, ganz wie...“

Chandra zuckte zusammen.

„... ganz wie bei Jaya. Wir alle könnten von deinem Beispiel lernen.“

Es war freundlich, das zu sagen, doch sie hörten ihr im Grunde gar nicht zu. Ein Schleier wie von flirrender Hitze schob sich vor ihr Blickfeld. „Ich könnte niemals Serenoks Platz einnehmen! Ich bin keine Lehrerin. Ich bin ja kaum eine echte Schülerin. Es tut mir leid, doch ich muss ablehnen.“

Einige der Mönche blickten einander an.

Tempeldiener des Infernos | Bild von Joseph Meehan

„Chandra, es ist eine große Ehre, dieses Amt angeboten zu bekommen“, sagte ein anderer Mönch, dessen langer Bart beinahe bis auf den Steintisch reichte. „Wenn dir die Robe dargeboten wird, dann wird sie zu deiner Pflicht. Du musst sie annehmen.“

„He“, sagte Chandra und schlug die Fäuste plötzlich zu beiden Seiten von Serenoks gefalteter Robe auf den Tisch. Augenblicklich knisterten Flammen in ihrem Haar. „Jetzt gebe ich Euch einmal einen Rat. Darüber zu sprechen, was ich tun muss, ist kein sonderlich kluger Weg, mich zu überzeugen.“

Mutter Lutis Mund war nur noch ein dünner Strich. „Serenok wusste, dass sein Leben zu Ende geht, Chandra. Er hat dich auf die Probe gestellt. Er sah etwas in dir.“

„Serenok glaubte, ich wäre jemand, der ich nicht bin“, sagte Chandra. „Bitte glaubt mir. Ihr wollt nicht, dass ich euch anführe. Ich kenne die Gesänge nicht. Ich vermassele die Schritte. Ich bin nicht die Beste in irgendetwas von dem, was Ihr hier tut.“

„Dann ist das ja, wie Serenok so gern sagte, die perfekte Herausforderung für dich“, meinte Luti.

Die Worte stachen ihr in die Brust. Sie lehnte sich zurück und ließ die Schultern sinken. Sie presste die Fäuste in die Augenhöhlen – ob sie es tat, um die Tränen zurückzuhalten oder um nicht mehr zu sehen, was um sie herum vor sich ging, vermochte sie nicht zu sagen.

Sie öffnete die Augen und blickte in die Gesichter der Feuermönche um sich herum. Diese Menschen, die sie hier an diesem Ort so vieles gelehrt hatten, wollten nun, dass sie ihnen etwas beibrachte. Würde sie bleiben, so könnte sie ihnen zeigen, wie viel ihr es bedeutete, dass sie sie vor so vielen Jahren bei sich aufgenommen hatten, als sie als verängstigte Waise aus einer anderen Welt zu ihnen gekommen war.

„Glaubt ihr wirklich, dass ich das könnte?“, fragte Chandra.

Die Mönche nickten allesamt.

Mutter Luti stand auf und breitete die Arme aus. „Chandra Nalaar, wirst du Serenoks Robe annehmen und unsere Jaya sein? Wirst du uns die Prinzipien der keralianischen Pyromagie lehren? Wirst du uns den Weg des Feuers zeigen?“

Chandra stand auf, umgeben von ihresgleichen. Etwas an dieser Halle verströmte ein Gefühl der Geborgenheit, wie sie es sonst nur von den zerwühlten Laken in ihrem Bett kannte. Vielleicht konnte sie diesen Pfad wirklich beschreiten. Jaya hatte nur kurz auf Regatha verweilt – vielleicht konnte sie ja die Jaya sein, die nicht nur auf der Durchreise war, sondern die Jaya, die blieb. Vielleicht würde es Spaß machen, eine feuerschleudernde Äbtissin zu werden – und vielleicht könnte dies sogar die schmerzende Leere in ihrem Herzen füllen.

Während sie so am Tisch stand und um Worte rang, stürmten zwei Männer herein, die ihrer Kleidung nach unmöglich von Regatha stammen konnten.


Einer war breitschultrig, trug einen Kinnbart und robuste Rüstung, der andere war schlaksiger, glattrasiert und in eine blaue, runenverzierte Robe gehüllt.

Jace, der entfesselte Telepath | Bild von Jaime Jones

Alle Blicke richteten sich auf die beiden Männer. Sie schauten geradewegs zu Chandra, und sie erkannte sie beide.

Eine Frage sprudelte aus Chandra hervor: „Was ... was soll das?“

„Es ist schön, dich wiederzusehen, Chandra“, sagte Gideon Jura. „Wir brauchen deine Hilfe."

Es geht um Zendikar“, erklang Jace Belerens Stimme in ihrem Kopf.

Chandra führte die beiden Planeswalker nach draußen, die Stufen des Klosters hinunter in Richtung der Hänge des Keralienberges. Zwei Planeswalker aus verschiedenen Abschnitten ihrer Vergangenheit – Erinnerungen an zwei Welten und andere Zeiten ihres Lebens – tauchten hier auf, gerade in dem Augenblick, als sie sich den Menschen des Keralberg-Klosters stärker verbunden fühlte als je zuvor. Sie versuchte, in ihren Gedanken Platz für diese immense Widersprüchlichkeit zu machen.

„Also“, sagte sie. „Gideon. Bist du hier, um ein paar Gesetze durchzusetzen? Hinter wem bist du jetzt her?“

„Den Eldrazi“, sagte Gideon.

„Und hinter dir“, fügte Jace hinzu. „Wir haben eine Aufgabe. Wir könnten eine Pyromagierin gebrauchen.“

„Nun, der Zeitpunkt ist ausgesprochen ungünstig.“

„Es tut mir leid, wenn das ein schlechter Augenblick ist“, sagte Gideon. „Und wenn du hierbleiben musst, dann musst du hierbleiben. Aber wir brauchen dich, Chandra. Zendikar braucht dich.“

Hitze wallte in ihr auf. „Hat Zendikar das so gesagt? Wortwörtlich?“ Chandra lief auf und ab, voller Unsicherheit, was sie mit dem aufgestauten Zorn anstellen sollte, der sie überkam. „Wie nett, dass ihr beide an mich gedacht habt. Wie zur Hölle seid ihr beide eigentlich . . . ?“

Gideon nickte zu Jace. „Wir trafen uns kürzlich auf Ravnica.“

„Also springt ihr von Welt zu Welt und sucht nach Leuten, die ihr von dort wegholen könnt? Ist das so?“

Gideon öffnete den Mund und schloss ihn wieder. In diesem Augenblick der Stille glaubte Chandra, das Flüstern einer Welt voller Qualen zu hören, die er erduldet hatte.

Gideon, Champion des Rechts | Bild von David Rapoza

Chandra spürte, wie ihr Mitgefühl für ihn mit ihrem Starrsinn rang. „Gideon, du kennst meine Geschichte hier. Ausgerechnet du solltest wissen, was ich dieser Welt geopfert habe.“

Das Feuer des Vulkans in der Ferne spiegelte sich in Gideons Rüstung. „Dies ist nicht die einzige Welt, die ein Opfer braucht.“

Chandra rieb sich die Schläfen. Das Einzige, was ihr in den Sinn kam, war: Jaya würde mit ihnen gehen. Jaya hätte nicht gezögert, sich in ein neues Abenteuer zu stürzen und irgendeiner Krise die Stirn zu bieten, in der sie ihr Feuer hätte entfesseln und alles vernichten können, was sich ihr in den Weg stellte. Die Versuchung ließ Chandras Herz schneller schlagen. Und wenn sie daran dachte, dass Menschen litten. Menschen, denen sie helfen konnte –

„Denk daran“, fügte Jace hinzu. „Du bist an Zendikars derzeitigem Zustand nicht ganz unbeteiligt. Wir haben eine Schuld zu sühnen, und ob es dir gefällt oder nicht, wir tragen Verantwortung.“

Chandras Augen blitzten auf. Sie sprach so langsam und so ruhig, wie es ihr durch zusammengebissene Zähne möglich war. „Könnte jetzt jeder. Bitte. Aufhören, mit mir. Über Verantwortung zu reden.“

Gideon presste die Hände zusammen. „Chandra“, sagte er, und seine Hände berührten seine Brust. Für ihn war diese kleine Geste wie ein Flehen, ein Ausdruck eines überraschenden Bedürfnisses.

Jaya würde mit ihnen gehen. Jaya würde mit ihnen gehen.

„Geht“, sagte sie.

Gideon blickte zu Jace und dann wieder zu ihr. Er versuchte, auf sie zuzugehen, die Hand auszustrecken und ihren Arm zu berühren. Doch Chandra funkelte ihn an und ein Feuerkreis bildete sich um sie herum und umgab sie mit ihrem eigenen Wall aus Flammen.

Chandra, die tobende Flamme | Bild von Eric Deschamps

Hier werde ich am meisten gebraucht“, sagte Chandra. Sie verschränkte die Arme. „Ich gehöre hierher. Ich habe ein Versprechen gegeben.“ Und in ihrem Herzen wusste sie, dass das die Wahrheit war.

„Gideon“, sagte Jace. „Ich glaube, wir sind hier fertig.“

Gideon blickte Chandra lange in die Augen. Dann nickte er und sagte: „Du findest uns in Seetor, falls du deine Meinung ändern solltest.“ Er warf einen kurzen Blick auf Jaces Stiefel. „Gehen wir.“

Als sie die Welt verließen, wurde die Luft für einen Moment rußig und versperrte ihr die Sicht. Nachdem sie verschwunden waren, schaute sie zu den Stufen, die zum Keralberg-Kloster führten. Dort stand Mutter Luti, die vom Tor aus zu ihr herunterschaute, Serenoks Robe in den Händen.

Chandra nickte ihr zu und stieg die Stufen hinauf.


Chandras Ursprung: Die Logik des Feuers

Planeswalker-Profil: Chandra Nalaar

Planeswalker-Profil: Jace Beleren

Planeswalker-Profil: Gideon Jura