Der Stolz der Kraul
Die Kraul sind ein Insektenvolk, das den Golgari von Ravnica loyal zur Seite steht. Sie leisteten ihren Treueschwur erst kürzlich, nachdem sie zuvor jahrhundertelang gildenlos in den Außenbezirken der Unterstadt gelebt hatten. Trotz ihrer Nähe zu den Golgari werden die Kraul von den oberen Rängen der Gilde nicht als ebenbürtig behandelt. Mazirek, Todespriester und Anführer der Kraul, weigert sich, tatenlos dabei zuzusehen, wie sein Volk von Gildenmeister Jarad und seinesgleichen missachtet wird.
Die Gildenhalle der Golgari war eine unterirdische Kathedrale, umgeben von einem gewaltigen kreisrunden Labyrinth voller pilziger Heckenreihen und überwucherter, moosbedeckter Ruinen. Das als Korozda oder Labyrinth des Verfalls bekannte Bauwerk ragte darüber auf: ein bedrohlicher Schatten im Halbdunkel der Unterstadt. In seinem Zentrum stand die Kathedrale selbst: Svogthos. Bewohner des Oben munkelten, wie schön die Kathedrale einst gewesen war. Ihre geschwungenen Bögen und steinernen Türme hatten in längst verstrichenen Tagen vor Silber und Obsidian geglänzt. Doch der Zahn der Zeit hatte sie kalt und feucht werden lassen, geschwängert vom schalen Geruch nach Erde.
Die Bewohner des Unten wussten, dass sie nie aufgehört hatte, schön zu sein.
Sobeslav – ein Gehilfe des Gildenmeisters Jarad – saß bequem auf Kissen in der Gildenhalle. Sein Tisch schloss an jenen von Jarad vod Savos an, doch Letzterer wanderte üblicherweise draußen im Labyrinth umher und entzog sich so dem Blick der Öffentlichkeit. Liche fanden keinen Gefallen an Gesellschaft.
Sobeslav verstand das und ließ dem Meister ohnehin am liebsten seine Ruhe, wenn er sich gerade mit Staatsangelegenheiten beschäftigte. Derzeit arbeitete Sobeslav an seinem von Pilzen erhellten Schreibtisch einen Stapel Briefe ab. Seine elfischen Augen – schlupflidrig, müde und etwas zu weit auseinanderstehend – überflogen die Neuigkeiten von Oben, und er schüttelte missbilligend den Kopf darüber, wie unzweckmäßig in den hell erleuchteten Teilen der Stadt mit dringenden Angelegenheiten umgegangen wurde. Gruul-Aufstände. Ein Ende aller Gespräche zwischen den Orzhov und den Azorius. Es war wohl das Beste, dass die Golgari unten blieben: Unglücksselige Ereignisse warfen ihre Schatten voraus, nun da der Gildenbund umherlaufen, sprechen und sich einfach davonmachen konnte.
Als er fertig gelesen hatte, begann der Elf, die Depeschen in den Kompostkorb am anderen Ende des Raumes zu werfen. Die Würmer hatten mehr Verwendung für sie als er.
Ein Brief ganz unten im Stapel zog doch noch Sobeslavs Aufmerksamkeit auf sich.
Er war auf ordentlich gepresstes Papier geschrieben und duftete nach zartem Moos. Ein glänzendes schwarzes Siegel zierte die Vorderseite, und an das Band war ein einzelner Pilz geknotet.
Merkwürdig.
Sobeslav legte den Pilz beiseite und öffnete vorsichtig den Brief. Die verwendete Tinte war exquisit, die Handschrift jedoch ein Wirrwarr aus Kratzern und unverständlichen Sprenkeln.
Einen Augenblick später hatte Sobeslav entziffert, worum es sich hierbei handelte.
Es war eine Einladung.
Für Jarad.
Von Mazirek von den Kraul.
Sobeslav lachte.
Er zerknüllte das Papier und warf es zu den anderen Briefen in den Komposteimer in der Ecke seines Arbeitszimmers.
Der Brief landete mit einem sanften Schmatzen.
Sobeslav kicherte. Diese Chuzpe! Niemand außer den Kraul scherte sich viel um die Kraul. Und warum auch? Die Kraul waren erst kürzlich zu den Golgari gestoßen. Jahrhundertelang waren sie eine gildenlose Meute insektoider Rohlinge gewesen. Sie lebten am Rande der Gesellschaft und hatten erst vor Kurzem dem Golgari-Schwarm die Treue geschworen. Und da die Golgari nie eine Möglichkeit verstreichen ließen, an neue Mitglieder zu kommen, hatten sie sie aufgenommen. Nun dienten die Kraul ihnen als Arbeiter. Die Golgari hielten nicht viel von Hierarchien, doch selbst sie wussten, dass die Kraul für den Rest der Gilde keine große Rolle spielten.
Wie um alles in der Welt kamen die Kraul auf den Gedanken, dass der Gildenmeister eine Einladung von einem unbedeutenden Todespriester mit so wenig Einfluss annehmen würde?
Sobeslav starrte nachdenklich auf den zerknüllten Brief.
Diese Einladung war gerade haarsträubend genug, um sie sich genauer anzusehen ... Oder? Und sicherlich würde Jarad seine Voraussicht zu schätzen wissen, sollte er irgendwelche empörenden Neuigkeiten über ausgerechnet die Kraul herausfinden.
Sobeslav kniff die Augen zusammen und läutete eine Glocke auf seinem Tisch. Ein Gehilfe steckte in Erwartung von Anweisungen den Kopf ins Zimmer herein.
„Lasse fünfzehn Mitglieder der Wache antreten“, sagte Sobeslav. Vielleicht werden die Kraul so etwas über die wahre Macht der Golgari lernen.
Der an der Depesche befestigte Pilz sollte als Hinweis auf den Ort des anberaumten Treffens dienen. Es war eine alte, aber präzise Methode unter den Golgari, einen Versammlungsplatz anzugeben. Pilzsysteme breiteten sich durch die gesamte Gilde aus, und ein Strang Pilzgewebe konnte sich Hunderte von Faden weit erstrecken. Einfache Magie ließ sich dazu verwenden, einen bestimmten Ort innerhalb dieses Ökosystems aus Pilz und Schlick auszudeuten, und beinahe alle Golgari erkannten die Absicht dahinter, wenn sie einen ihnen unbekannten Pilz erhielten.
Sobeslav wirkte den Zauber und hörte, wie der Pilzhain drei Tage entfernt zu ihm sang. Er stöhnte auf.
Vorräte wurden beschafft und Seile vorbereitet. Ihre Reise würde sie sehr weit und sehr tief führen. Die Unterstadt war nahezu endlos, doch die Golgari waren zu klug, um ihre Städte und Behausungen an Orte im Unten zu bauen, an denen ihre Anwesenheit nicht willkommen war.
Wohin Mazirek ihn schickte, lag weit jenseits dessen.
Bald begannen Sobeslav und seine kleine Gruppe Golgari ihre Reise und ihren Abstieg.
Der Pfad in den Pilzhain führte Sobeslav und seine Wachen durch Höhlen und Erdspalten, unter einem unterirdischen Wasserfall hindurch und über Meilen brachliegender Fäulnisfelder hinweg. Der Pfad führte ihn weiter und tiefer, als jede andere Gruppe je vorgedrungen war.
Fäulnisfelder wurden erst zu Kloaken und dann zu unbehauenem Stein. Die Golgari waren alt und mächtig, aber sie waren nicht töricht genug, dort zu graben, wo sie nicht graben sollten.
Während sie dem Pilzzauber folgten, ließ Sobeslav seine Gedanken wandern. Seine ursprüngliche Ablehnung der Einladung war zu einer Saat des Schreckens geworden, die im Verlauf der Reise keimte und spross. Immerhin war Mazirek ein Todespriester. Und was Sobeslav anging, so waren ihm die Eigenheiten der Insekten recht fremd, denn sie waren von Natur aus bereits andersartig und schwer zu verstehen. Zwar waren die Golgari stolz darauf, niemals die Schwachen und Unterdrückten abzuweisen, doch Sobeslav kam dennoch nicht umhin, sich dessentwegen, was die Kraul wohl wollen mochten, etwas unbehaglich zu fühlen. Immerhin waren sie neu in der Gilde. Vielleicht behielten sie noch die Wildheit der Gildenlosen bei.
Würden sie sich verärgert zeigen, wenn Sobeslav anstelle des Gildenmeisters erschien?
Sobeslav schüttelte den Kopf, und Stärke und Stolz verbanden sich in seinem Herzen. Damit hätten sie doch rechnen müssen. Man musste immerhin erst seine Schuldigkeit tun, ehe man mit dem großen Lich Jarad vod Savo sprechen durfte.
Und so setzte sich die Reise fort – immer weiter nach unten. Bisweilen ließen sie einander an Seilen herab oder zogen den Bauch ein, um sich durch Felsspalten zu quetschen. An einem Nachmittag durchquerten sie eine Höhle voller gewaltiger Kristalle, die über ihnen aufragten, wie es an der Oberfläche Bäume getan hätten. Die Luft in dieser Höhle war schier zu heiß zum Atmen, doch sie marschierten weiter. Die Reise nährte Sobeslavs Neugier, die nur umso stärker aufkeimte, je fremdartiger die Landschaft wurde. Wo lebte dieser Todespriester nur? Was wollte dieser Todespriester? Am dritten Morgen ihrer Reise ließ Sobeslav die Wachen anhalten. Er prüfte den Zauber auf dem Pilz von Mazirek und nickte. Sie standen in einer großen, eigentümlich warmen Höhle. Die Magie von Sobeslavs Zauber schien an diesen Ort zu führen.
Er schnüffelte und sah sich um. Seine Augen spähten in die Dunkelheit.
Dort. Rechts von ihm.
Diese Spalte war auf den ersten Blick kaum zu erkennen.
Ein dünner Riss in der Wand, über dessen Eingang Netze aus hauchdünnen glitzernden Fäden schwebten.
Sobeslav spürte es. Ein ferner, längst verloschener Hauch nekromagischer Kraft wehte über diesen Pfad heran. Alt und von weit her.
Er zitterte. Das konnte nur der Todespriester der Kraul sein.
Sobeslav rief den Rest der Wachen zusammen und nutzte einen schnellen Magieimpuls, um eine einfache Sicherheitsleine zwischen sich und den anderen zu erschaffen. Die Magie der Höhlen war sperrig und engmaschig – lang anhaltend, aber schwer zu meistern. Sobeslav hatte sich nie bemüht, die Zauber des Verfalls zu lernen, wie es der Rest der Gilde tat. Seine Magie war die des Überlebens.
Sobeslav ging voran und leuchtete den Weg mit einem Höhlenzauber, der Spalten erhellte und um schmale Ecken strahlte. Die Felsbarrieren um sie herum wurden vom Schimmern seiner Magie zu scharfen Scherenschnitten. Haltepunkte und Kanten standen nun deutlicher hervor, und die Gruppe stieg immer tiefer hinab.
Die Wände rückten enger und enger zusammen, die Luft wurde dünner und dünner. Sobeslav atmete so viel aus, wie er nur konnte, und wand sich durch die Spalte. Irgendjemand hinter ihm zupfte an der magischen Leine, und Sobeslav zog ihn vorwärts. Sie waren beinahe da. Keine Zeit für Platzangst.
Der Ausgang der beklemmenden Spalte hing wie zwei parallele Linien vor Sobeslav. Er drängte sich vorwärts und stolperte auf harte Erde hinaus. Der Rest seiner Wachen folgte ihm.
Sobeslav stand auf, versuchte, sich an die trockene Luft zu gewöhnen, und nahm einen schwachen Moschusgeruch war, der in der Luft hing. Am Boden bedeckte eine Schicht membranartigen, gelben Schimmels die Steine unter seinen Füßen.
Sobeslav wirkte einen weiteren Illuminationszauber, diesmal einen etwas Allgemeineren, der den Raum über und um ihn herum erleuchtete. Die magische Energie tanzte wie Staubkörnchen in der Luft und erzeugte ein schwaches Licht – sanft genug, um das Gleißen für ihre lichtempfindlichen Augen zu mildern. Dabei begann sich ein leichter Kopfschmerz in seiner Schläfe auszubreiten. Er runzelte die Stirn: Es war zwar eine Weile her, seit er so viel magische Kraft aufgewandt hatte, doch ihm war nicht bewusst gewesen, dass er derart aus der Übung war.
Am anderen Ende des Raumes ragte eine massive, verzierte Platte vor der Gruppe Golgari auf. Glitzerndes Quarz sprenkelte ihre Oberfläche, und sorgfältige behauene Reliefs rahmten den Stein auf beiden Seiten ein. Hätte man diesen Stein droben gefunden, hätte man ihn für einen Teil eines Anwesens eines Oligarchen halten können, doch hier unter der Oberfläche erzählte er von einer fernen und vergessenen Vergangenheit.
Oben auf der Platte war ein einzelner Satz tief in den glänzenden schwarzen Stein gemeißelt worden.
Die Elfen hatten keine Zeit, ihn zu lesen.
Etwas ... summte.
Es war ein leises Murmeln, das sie anfangs gar nicht bemerkt hatten.
Sobeslav zwang die illuminierten Partikel höher, und als sie aufstiegen, kamen Hunderte eng zusammengekauerter, insektoider Gestalten in Sicht.
Eine der Wachen taumelte überrascht nach hinten. Der Rest blieb stocksteif stehen. Sobeslav spürte, wie sein Kopfschmerz zu seinen Augen wanderte, als diese den Albtraum um sie herum wahrnahmen.
Dort, an die Decke geklammert auf ihre Ankunft wartend, waren die Kraul.
In den Reihen der Insekten gab es einen kurzen Tumult. Das Surren von Flügeln. Eine massige Gestalt ließ sich von der Decke fallen und landete mit dem Schmatzen schleimbedeckter Gliedmaßen auf dem Boden der Höhle. Und als sie sich aufrichtete, blickte ein Paar Facettenaugen Sobeslav mit reinster Verachtung an.
Mazirek klackte mit den Mandibeln und richtete sich zu voller Größe auf. Selbst für die Maßstäbe der Kraul war er gewaltig.
„Ich lud Jarad vod Savo ein und erhalte stattdessen seinen Schoßhund.“ Sobeslav zuckte ob des Wirrwarrs aus Klickern und Konsonanten zusammen, als Ravnicas Gemeinsprache durch Mazireks Mandibeln aufs Sonderbarste entstellt wurde.
Sobeslav schluckte und senkte sein Licht herab, um die Decke wieder in Dunkelheit zu hüllen und stattdessen den Todespriester vor ihm besser zu beleuchten. Seine Schläfe pochte, und er kniff die Augen zusammen – sowohl, um das riesige Insekt zu sehen, als auch, um sich darauf zu konzentrieren.
„Ich bin der Gehilfe des Gildenmeisters Jarad vod Savo, Mazirek. Der Gildenmeister war indisponiert und schickte mich an seiner Stelle. Welches Anliegen hast du der Gilde vorzutragen?“
Mazirek umklammerte seinen Stab. Seine Gelenke schlugen gegeneinander, und seine Flügel surrten in einem kurzen Anflug von Gereiztheit.
Mazirek machte einen Schritt auf Sobeslav zu, der seinerseits einen halben Schritt zurückstolperte.
„Verrate mir, Sobeslav“, sagte er. „Was halten die Golgari von den Kraul?“
Eine Klangwelle wie der Schrei einer endlosen Zahl von Zikaden ergoss sich von der Decke. Es dämmerte Sobeslav, dass die Kraul lachten. Sein Kopfschmerz stach ihn nun mit den Dolchen einer ausgewachsenen Migräne, und er unterdrückte ein Stöhnen.
„Die Kraul sind ... fleißig. Arbeiter. Sie arbeiten auf den Fäulnisfeldern und halten die Kloaken in Schuss. Sie sind neu in der Gilde und müssen ihre Schuldigkeit tun.“
„Und ist das alles?“, fragte Mazirek.
Sobeslav hatte das Gefühl, dass es das nicht war.
Lachen zischte aus dem Vormagen des Todespriesters und kreischte aus seiner Kehle. Das Keckern schallte durch die Höhle und zu den Kraul über ihnen.
Sobeslav begann zu schwitzen. Lichtblitze tanzten ihm vor den Augen, und sein Verstand zog sich gequält zurück. Das endlose Dröhnen der Kraul über ihm war unerträglich, und ihr kreischendes Gelächter ging ihm durch Mark und Bein.
Ein jähes, leises Poltern erklang hinter Sobeslav. Einer der Elfen der Golgari war hinter ihm zu Boden gesunken und schlug nun wild um sich. Sobeslav fluchte und blickte wütend zu Mazirek.
„Wir sind in der gleichen Gilde! Wir werden Vergeltung üben, wenn du weiterhin unsere Wachen quälst!“
„Das glaube ich nicht.“
Die Augen einer weiteren Wache verdrehten sich, und sie fiel zu Boden. Schaum tröpfelte ihr aus dem Mund.
Sobeslav spürte einen nagenden Schmerz an seiner rechten Seite.
Mazirek gab ein so abschätziges Schnalzen von sich, wie es einem Kraul möglich war. „Probleme mit der Leber?“
Eine dritte Wache brach zusammen. Sobeslav verzog vor Schmerz das Gesicht.
„Was soll das? Wir sind deiner Einladung gefolgt. Wir sind hier!“
Der Elf sank vor Schmerz auf die Knie. Mazirek kniete sich auf den Boden. Seine Mandibeln klickten in den Ohren des Elfen. „Mein Volk wünscht einen Platz an der Tafel. Die Erneuerung geht beständig voran, Sobeslav. Und wie du weißt, ist dafür bisweilen der Tod erforderlich.“
Sobeslav knurrte durch den Schmerz. „Das werde ich nicht zulassen. Du wirst mich nicht töten, Kraul.“
Mazirek beugte sich dichter zu ihm. „Ich habe dich und deine Wachen die letzten drei Minuten lang getötet – ein Teil deines Hirns nach dem anderen.“
Sobeslav hätte ihn angegriffen, doch in diesem Augenblick versagte eine seiner Nieren. Ein vierte Wache fiel zu Boden. Sobeslav erkannte mit dem verbleibenden Rest seines Verstandes, dass Mazirek ihn bis zum Ende aufsparte.
Der Todespriester richtete sich zu voller Größe auf.
„Außerdem“, sinnierte er, „brauche ich einen Tod, um die Tür zu öffnen.“
Vraska ließ einen Löffel Zucker in ihre Tasse gleiten. Sie stand in ihrer Kammer Mazirek gegenüber, der sich bequem in den Kissen vor ihr niedergelassen hatte. Die Gorgo breitete schwarzen Tee zu: eine Delikatesse, an der der Todespriester erst seit Kurzem Geschmack gefunden hatte.
„Die Kraul haben allein deshalb Bestand, weil ihr Schwarm nur einen einzigen Anführer kennt. Ich wurde in meine Aufgabe hineingeboren.“ Er sprach mit hier und da eingestreutem Klicken und Zirpen. Mazireks Mandibeln beherrschten die Gemeinsprache Ravnicas nur unzureichend. Hier war er sicher. Vraska würde ihren Freund nie verspotten oder schelten.
Die Gorgo sah Mazirek gespannt an, als er über seine Stellung im Schwarm sprach. „Hat dich diese Verantwortung je eingeschüchtert?“
Sie gab nicht weniger als acht Löffel Zucker in die Tasse, die sie Mazirek reichte. Er nahm sie mit einem dankbaren Zirpen entgegen.
Mazirek tauchte die Mandibeln in den Tee. Seine Kiefer mahlten von Seite zu Seite und nippten den Tee mit einer Vorsicht, die nur für Gesellschaft vorgesehen war, die kein Kraul war. Er stellte die Tasse ab. Nachdenklich faltete er die oberen Gliedmaßen zusammen. „Ich habe mein Leben damit verbracht, unsere Bräuche zu lernen und mich darin zu üben, ein Priester des Todes zu werden. Als die Zeit reif war und das Angebot überbracht wurde, war ich bereit, der Anführer meines Volkes zu werden. Kein anderer Kraul verfügt über meine Talente.“
„Man hat mich wegen solcherlei Entschlossenheit schon eigennützig genannt“, gab Vraska mit wissendem Lächeln zu bedenken.
Mazirek stieß einen einzelnen Seufzer und ein leises, nachhallendes Knarzen der Verwirrung aus. Er blickte seine Freundin an.
„Die Kraul haben keine Vorstellung von „Eigennutz“. Stolz spielt keine Rolle im Schwarm.“ Mazirek begann seinen nächsten Satz mit einem sachten, verwirrten Klicken.
„Was ist der Zweck von Stolz?“
Vraska stellte ihre Tasse ab und dachte nach. Sie seufzte und tat einen Atemzug, um zu versuchen, ihre Gedanken in Worte zu kleiden. Schließlich fand sie ihre Antwort.
„Im Laufe meines Lebens haben schon viele den Fehler gemacht, mich nicht ernst zu nehmen ... entweder als Fachkundige oder als Bedrohung.“ Vraskas Hände waren vor ihr gefaltet, und die Locken ihres Haars umrahmten ihr Gesicht mit einer sanften Bewegung.
Sie blickte Mazirek voller Ehrlichkeit in den goldenen Augen an.
„Begegnet man mir mit Missachtung, muss ich zunächst mich selbst mit einer Überzeugung lieben, die kein Narr mir nehmen kann.“
Mazirek dachte sehr gern an diese Unterhaltung zurück. Stolz war den Kraul fremd, doch als er seinen Zweck erfahren hatte, verstand er. Er war zu Unglaublichem fähig, und kein Maß an Missachtung der Golgari würde das je ändern. Diese Lektion war der Grund dafür, dass Mazirek Vraska sein Leben anvertrauen würde. Mazirek war der Gorgo vor vielen Jahren zum ersten Mal begegnet, als er die Assassinen der Ochran beraten hatte. Er hatte jenen Assassinen, die darum gebeten hatten, Segen und Verzauberungen gewährt, und Vraska war die Einzige, die danach das Gespräch mit ihm gesucht hatte. Die beiden begannen, sich regelmäßig zu treffen, um über Theologie und Politik zu sprechen, und ihre Freundschaft war im Laufe der Jahre immer enger und bereichernder geworden.
Mazirek fühlte Stolz, als er Sobeslav Zelle für Zelle tötete.
Der Elf schrie eine volle Minute, als seine Bauchspeicheldrüse versagte.
Der Todespriester hob seinen Stab zur Decke und hieß den Rest der Kraul, ihren Gesang zu beginnen. Er sprach in der Sprache der Kraul, einer Sprache ohne Fleisch, eine Reihe von Zirp- und Klicklauten, die nicht für menschenähnliche Lippen geeignet waren.
Die Kraul antworteten nun mit ihrem Gesang, und Kraul begann seinen Zauber.
Ungeübten Ohren mochte der Klang wie der einer großen Maschine erscheinen, die rhythmisch klopfte und tickte. Für Mazirek erklang die Macht von Jahrtausenden darin, ein Gebet wiedererlangter Kraft, das Vorspiel zu einem Imperiums, das nur darauf wartete, errichtet zu werden.
Mazirek führte den Chor voller Leidenschaft an und wob Magie in jeden Ton, den er sang. Der Schleim unter ihm erwachte, und das Geflecht leuchtete von den Seelen der unlängst Verstorbenen auf. Je mehr Wachen zu Boden fielen und starben, desto stärker wurde der Zauber. Während all dem tastete Mazirek nach der Macht, die in jeder verblichenen Seele ruhte, entriss ihr ihre Kraft und lenkte sie in seinen Stab. Der Zauber war beinahe fertig.
Sobeslav zuckte und winselte, als sein Körper ihn verriet und alle Teile nach und nach abstarben. Aus nahezu schon blicklosen Augen starrte er Mazirek an, das Gesicht zu einem blassen Abbild eines Flehens um Gnade verzerrt. Mazirek ließ die Teile seines Gehirns, die Schmerz verspürten, am Leben und sang mit rauerer Betonung und in die Melodie eingewobenem Stolz.
Mehr als alles andere war Vraskas Kammer gemütlich. Sie glich einem Kuriositätenkabinett. An jeder Wand hingen erlesener Tand und vollkommen fremdartige Gegenstände. Die Farben und Variationen waren zunächst stets überwältigend für seine Facettenaugen, doch der Effekt ließ schließlich irgendwann nach. Dies war ein gastlicher Ort, das Zuhause einer Reisenden. Über ihrer Küche hing ein gewaltiges purpurnes Banner. Ein Tonkrug, dessen Rand mit Wellen bemalt war, stand auf dem Bücherregal. Dutzende gefalteter Papiervögel waren auf den Bändern verteilt, die über die Decke gespannt waren. Der Effekt war beruhigend und fesselnd: In Vraskas Kammer einen Tee zu trinken, war, als säße man in der Schatzkammer eines Museums.
Mazirek tigerte durch Vraskas Wohnzimmer. Er schäumte vor Wut ob eines weiteren Erlasses des Gildenmeisters.
„Jarad und der Rest der Elfen könnte es nicht weniger kümmern, was aus den Kraul wird. Er hat unsere Nahrungsrationen verringert und jedes Gesprächsgesuch abgelehnt. Er lässt uns lieber verhungern, als uns Einfluss innerhalb des Golgari-Schwarms erlangen zu sehen. Unser neues Bündnis ist in seinen Augen wertlos!“
Vraska beobachtete Mazirek aufmerksam, während er sprach. Sie beugte sich vor.
„Mazirek, das geht nicht nur dir allein so. Die Kraul, die Gorgo ... Wir alle wurden viel zu lange übersehen und überhört.“
Mazirek klickte verdrießlich mit den Mandibeln. „Die Veränderung, die wir brauchen, kann nur durch Krieg herbeigeführt werden. Doch solch ein Konflikt wäre ein zu hoher Preis für mein Volk.“
„Aber was, wenn es eine Möglichkeit gäbe, es ohne Blutvergießen zu erreichen?“, fragte Vraska.
Mazirek starrte sie an.
Vraska nahm einen Schluck aus ihrer Tasse. Sie lächelte und hob leicht die Schultern. „Es gibt eine Menge Möglichkeiten, Veränderungen ohne Blutvergießen herbeizuführen.“
Mazirek beendete seinen Gesang. Die Kraul über ihm nahmen seine Pheromone auf und huschten zum Boden der Höhle, um sich ihm anzuschließen.
Sobeslav war noch am Leben. Er schnappte mit einem Lungenflügel nach Luft. Seine Augen fanden keine klare Sicht mehr.
Mazirek beugte sich hinunter und hielt seinen Stab über Sobeslavs Kopf.
Ein einziger Satz entfuhr den Lippen des Elfen: „Ein Kraul kann die Golgari nicht führen.“
Mazirek legte den Kopf schräg und klackte mit den Mandibeln. „Du hast recht. Und das werde ich auch nicht.“
Die Spitze des Stabes bewegte sich zu Sobeslavs Hals.
„Aber ich weiß, wer es tun wird. Und du wirst mir helfen, die Mittel für ihren Aufstieg zu erlangen.“
Ein letztes Aufbäumen von Macht. Das flatternde Seufzen des Opfers. Sobeslavs Augen weiterten sich, als sein Gehirn sich urplötzlich zersetzte.
Der Elf, der einst Sobeslav war, lag lang gestreckt zu Füßen des Todespriesters.
Mazireks Flügel schwirrten vergnügt, und er sog die Kraft aus dem sterbenden Leib des Elfen in seinen Stab.
Die Kraul um ihn herum jubelten und stimmten einen Anfeuerungsgesang an.
Mazirek atmete mit bebenden Mandibeln ein und konzentrierte sich auf die Tafel aus Obsidian vor sich.
Mazirek umklammerte seinen Stab mit den mittleren Gliedmaßen, stemmte die unteren Gliedmaßen in das Schleimgeflecht unter sich und zog mit aller Kraft nach oben. Er nutzte die Fasern des Schlicks und die Pilze zu seinen Füßen, und ein Strom nekromagischer Kraft stieg zu ihm auf. Die Macht der sechzehn frischen Seelen durchfuhr ihn von Kopf bis Fuß, und Mazirek wob einen raschen Zauber in seinem Geist, um den Tod, den er aus dem Schlick gezogen hatte, in Bewegungsenergie zu verwandeln und ihn mit dem noch pulsierenden Tod zu verbinden, den er gerade erst geerntet hatte.
Er packte die Steintafel links und rechts und riss sie beiseite.
Er hatte eigentlich gewollt, dass der Gildenmeister Zeuge dessen wurde und sein Ende genau dann erleben sollte, wenn die Kraul diese gewaltige Macht für sich beanspruchten.
Doch Jarads Zeit würde noch früh genug kommen.
Ein Luftstoß wallte zu ihm heraus, als das Siegel der Tafel gebrochen wurde. Das Innere der Kammer war pechschwarz.
Er spürte sofort, dass das Mausoleum alt war. Diesem Ort haftete der Gestank mehrerer Jahrhunderte an.
Die Kraul hinter ihm drängten sich zusammen und spähten in die Kammer.
Vor ihnen befand sich eine Kaverne, die so groß war, dass die Kraul ihre Wände nicht wahrnehmen konnten, und wie Soldaten in Formation waren am Boden des Mausoleums Hunderte von Steinsärgen aufgereiht. Die Decke war hoch und verziert, vergoldet und bemalt, um dem Auge vorzugaukeln, dass es sich um freien Himmel handelte. Alles an diesem Ort verströmte das Gefühl eines alten, tiefen Reichtums – und der Macht.
Als er die Kammer betrat, lief ein Strom aus Magie durch den Stein. Mazirek spürte, dass er einen alten Zauber ausgelöst hatte, und sah verzückt zu, wie jeder einzelne der Särge sich zu öffnen begann.
Feingliedrige, mit Spitze und Ringen verzierte Hände hoben die Deckel der Särge an, und die Untoten begannen, sich langsam zu erheben, ganz wie Vraska es vorhergesagt hatte.
Mazirek ließ stolz die Flügel schwirren.
Eine Drohne der Kraul ließ sich neben ihm nieder. Ihr Geruch kündete von einer Frage.
„Wie nennt man sie?“, fragte sie auf Kraul.
Mazirek richtete sich zu voller Größe auf und deutete mit großer Geste mit seinem Stab über die Armee, die sich vor ihm erhob. „Siehe, Kind: Umerilek, Mausoleum der Einstmaligen, die Erlösung der Kraul und der Schlüssel zur Erschaffung des Imperiums der Golgari."