Die Kanonenkugel verfehlte ihn nur um Haaresbreite.

Kehlige Schreie übertönten das Dröhnen in seinen Ohren, als das Geschoss den Vordermast mit einem ohrenbetäubenden Krachen zerbersten ließ. Und dennoch hielt sich Boldt trotz der Panik der verzweifelten Mannschaft, dem Hämmern in seinem Schädel und seinem rasenden Herzen tapfer auf den Beinen. Dies war seine Gelegenheit.

Unmittelbar voraus hielten zwei Korsaren durch das Chaos rasch auf das kleinere Passagierschiff zu. Er hielt die einzigen Waffen in Reichweite mit zitternden Händen umklammert: Aufzeichnungen unzähliger Stunden des Studierens. Und die Bronzefigur eines Sextanten, eine Belohnung eines seiner Ausbilder in Hoffnung auf all die großen Dinge, die noch folgen sollten. Das war alles.

Er hielt den Sextanten wie einen Fokus vor sich. Seine Kurven und Winkel umrahmten die Korsaren wie das Fadenkreuz einer Armbrust.

Tief einatmen. Beherrscht. Sprich die Worte. Reinige den –

„Rumpfbrecher!“, rief die Kapitänin. Ihr Haar war blutgetränkt. „Hart backbord! Klarmachen zum –“

Jäh unterbrochen verschwand sie mit einigen anderen in einer Wolke aus Schrapnellen, als die Welt um ihn herum in sich zusammenstürzte.

Sieh nicht dorthin. Sieh nach oben. Sieh es dir an.

Er erhob die Stimme über den Lärm und deklamierte aus seinen Notizen eine Verlautbarung der Macht. Tausendmal hatte er die Worte geübt.

„Ashkara nix pulu ...“ Der Fokus begann, sanft in seiner Hand zu leuchten, und sein Herz schlug mit jeder makellos vorgetragenen Silbe schneller. „Sarko mar benosk ...“ Als Nächstes eine ausladende Geste wie der Dirigent einer großen Sinfonie. „Kahuga Duru ...“ Nun die Auflösung. „Tanare!“

Sofort brach eine Woge der Verzerrung aus dem jungen Mann hervor und schoss über das Wasser wie ein gewaltiger Riss in einer Glasscheibe. Im Zickzack suchte sie sich ihren Weg zu dem feindlichen Schiff. Seine Augen weiteten sich gespannt, sein Blick klar durch die Angst, als er auf den Aufprall wartete.

Doch so schnell, wie der Zauber zum Leben erwacht war, so schnell verpuffte er wirkungslos am Rumpf des Korsarenschiffs. Ein Fehlschlag.

Von den Piraten erklang ein doppeltes Wummern – ein Herzschlag aus Eisen und Donner. Einen winzigen Augenblick lang sah er sie: zwei Kanonenkugeln, die durch eine Kette aus knisternder Energie verbunden waren, drehten sich umeinander wie eine Bola – so schnell, dass er sie kaum erkennen konnte. Was für eine Art Magie war das?

Mit atemberaubender Geschwindigkeit wirbelten sie über ihn hinweg, um den Hauptmast wie einen dürren Zweig zu durchtrennen. Mast, Takelage und Mannschaft stürzten auf das Heckkastell und durch das Deck. Zahlreiche Schreie verstummten unvermittelt. Was folgte, waren nur Dunst und Stille.

Und Kellan Boldt, Meisterschüler und Anwärter auf die Elite, Erstgeborener und Erbe des Herzogtums Kelsh, in der Kunst geschult durch Erzmagus Ghavos, fiel besiegt auf die Knie.

Alles war ruhig, gedämpft wie auf dem Hof seiner Familie nach einem kräftigen Schneefall.

„Ihr hättet mir den Garaus machen sollen, ihr Hunde!“, spie eine unbekannte, heisere Stimme.

Von unter Deck tauchte ein alter Mann aus dem Rauch auf. Ein silberner Bart verbarg Teile der Narbe, die entlang seines Kiefers verlief. Boldt hatte ihn bereits zuvor gesehen. Ihm war das goldschwarze Wams aufgefallen, das einst sehr hoheitlich gewirkt haben musste, doch seither zerschlissen und schmutzig und nun auch noch vom Kampf zerrissen war.

Wie war doch gleich sein Name ... Enthril? Ja, der Schiffszauberer. Ein Gehilfe für Flickmagie zum Instandsetzen von Segeltuch und zum Verschließen oberflächlicher Wunden. An dem blutüberströmten Gesicht und an dem verletzten Gebaren des Mannes war jedoch nichts Oberflächliches.

Enthril murmelte einen Fluch in seinen Bart, blinzelte von dem beißenden Rauch und streckte eine leere Hand aus. Als der Wind hinter ihm auffrischte, schwenkte er einen Arm über die See.

Sie strömte herbei, um der Bewegung zu folgen, und knisterte vor einer Energie, die jener Boldts glich, aber jedoch weitaus mächtiger und zielstrebiger war. Eine aufbrandende Woge erwies sich als mächtig genug, um das erste Schiff ungebrochen zu erreichen, es über die Wellen tanzen zu lassen und es mit einem lauten Krachen gegen das zweite Schiff zu schieben.

Die beiden Korsarenschiffe, aufgerissen und ineinander verkeilt, stellten das Feuer ein. Boldt konnte hören, wie die Piraten einander anbrüllten und versuchten, sich einen Reim auf das Geschehen zu machen.

Enthril wiederum verbrachte einen Augenblick damit, zu Atem zu kommen.

„Das sollte sie eine Weile beschäftigen“, stellte er fest, ehe er sich umdrehte und den jungen Mann bemerkte. „Du da! Beweg dich!“

Boldt blickte in die Ferne. Die Worte zerstoben zu Nebel. Der alte Mann humpelte über das Deck auf ihn zu.

„‚Beweg dich‘ bedeutet, dass du deinen Hintern hochkriegen und mir helfen sollst, bevor wir sinken!“

„Aber die Mannschaft ...“

„Wir sind jetzt die Mannschaft. Wir sind alle, die noch übrig sind.“

Boldt blickte aus seiner Erstarrung gerissen auf. Waren sie wirklich die Einzigen, die noch am Leben waren?

„Wir müssen das Schiff flicken und so viel wieder herrichten, wie wir können. Alles, was dafür sorgt, dass wir weiter Luft statt Meerwasser in den Lungen haben.“

„Warte mal. Wie hast du das gemacht?“

Enthril wischte sich Blut vom Nasenrücken.

„Mit der Macht meines guten Aussehens. Und jetzt an die Arbeit.“


Unter Deck drang der beißende Geruch von Hanfgewebe und Kiefernteer in Boldts Nase. Ein hölzerner Dichthammer lag ungenutzt zu seinen Füßen, während er einen Haltezauber – einen sehr komplexen, den er selbst entworfen hatte – auf die Risse im Rumpf wirkte.

Er war dankbar für den scharfen Geruch der Dichtungsmasse, da der Gestank nach verbranntem Fleisch in der Luft drohte, ihn die Beherrschung verlieren zu lassen. Salzwasser hatte den vorderen Laderaum beinahe vollständig überflutet. Die Leichen der Ertrunkenen dümpelten in ihm. Bei jeder Welle wurden sie unbarmherzig gegen das Schott geschleudert.

„An die Arbeit“, gemahnte Boldt sich selbst. „An die Arbeit ...“ Er nahm seinen Zauber wieder auf.

Enthril gesellte sich bald zu ihm. Er trug einen Armvoll zersplittertes Holz.

„Ich habe herausgefunden, warum die Pinne nicht mehr greift“, sagte der alte Mann.

„Warum denn?“

„Sie ist weg.“

Boldt ließ die Schultern sinken.

Der ältere Zauberer warf das Holz beiseite. Er verlagerte sein Gewicht ächzend auf die linke Seite, um eine Stelle gleich über seiner rechten Hüfte zu schonen. Boldt konnte Blut sehen, das durch den alten Stoff seines Wamses sickerte.

„Brauchst du ...?“

Enthril schüttelte den Kopf. „Mir geht‘s gut. Schlaue Mistkerle. Sie haben bis zum letzten Augenblick gewartet, ehe sie Flagge gezeigt haben. Die Farben Talas‘. So haben sie uns überrascht. Und damit ist meine Neugier auf ihre feinen neuen Waffen auch ein für alle Mal befriedigt.“

Der alte Mann trat näher, um sich die Arbeit des Lehrlings genauer zu betrachten.

„Wir verrammeln also den Laderaum hier ...“ Enthril deutete auf einen verkohlten Fleck an der Wand der Kabine. „... und können so die Überflutung aufhalten. Das verschafft uns Zeit. Aber wir haben ein großes Problem und ein noch größeres Problem. Um das große Problem kümmern wir uns bereits. Das noch größere ...“

„Das noch größere Problem sind die Piraten? Die du mit einem Fingerzeig vertrieben hast? Ich dachte, du wärst nur ...“

„Nur ein einfacher Schiffszauberer? Hat dich das deine tadellose Ausbildung in Vorbereitung auf die Akademie gelehrt?“

Boldts Augen verengten sich. „Woher weißt du das?“

„Du hast dich in Richtung der Gewürzinseln eingeschifft und viel zu viel bezahlt. Du bist ohne jeden Zweifel der Stolz einer adligen Familie, der keinen Grund hat, sich in diesen Gewässern herumzutreiben – es sei denn, du befindest dich auf dem Weg zur Lehranstalt in West-Tolaria. Sehr angesehen. Ich gratuliere.“

Der junge Mann sträubte sich leicht. „Du hast also davon gehört.“

Der alte Zauberer deutete mit dem Kinn auf einen goldenen Siegelring an seiner rechten Hand, der das Zeichen des allsehenden Auges trug.

„Ich habe meine Ausbildung mit Auszeichnung abgeschlossen.“

„Und dann hat es dich hierher verschlagen?“

Enthril griff nach einer eisernen Kelle, bedeckte ihr Ende mit dem Pech zu Boldts Füßen und verteilte es auf die Stelle, die sein Zauber ausgelassen hatte.

„Junge, nimm einfach den verdammten Hammer. Du machst das hier unnötig kompliziert.“

Boldt hob das Werkzeug auf und ließ frischen Teer darüber laufen.

„Du glaubst, ich scheue mich vor ein bisschen Arbeit?“ Er verstrich die Masse auf den Brettern und ahmte dabei Enthrils Bewegungen nach. „Du weißt ja nicht, was ich aufgegeben habe. Ich habe Jahre damit zugebracht, mich darauf vorzubereiten, an der Seite der größten Köpfe unserer Zeit zu studieren. Ich habe Pläne, und die beinhalten nicht, als Skelett am Grund des Meeres zu enden.“

„Pläne ...“ Enthril hielt einen Augenblick inne, um darüber nachzusinnen, ehe er seine Arbeit wieder aufnahm. „Ich habe dich in den letzten Wochen beobachtet ... mit deinen Büchern und Aufzeichnungen ...“

„Ganz recht“, bekräftigte Boldt mit nicht geringem Stolz. „Bücher und Aufzeichnungen. Der Weg zu wahrer Größe. Daran ist nicht zu rütteln. Deshalb hat die Akademie nach mir geschickt.“

„Und was wirst du dort lernen?“

„Alles. Morphologie, Beherrschung, Illusionen ...“

„Beherrschung ist die Illusion.“

Der junge Mann wandte sich von dem Schott ab und blickte Enthril fest an.

„Was meinst du damit?“

„Boldt ...“, setzte der alte Mann mit einer leisen Schärfe an, die den jungen Lehrling daran erinnerte, dass er sich dem Schiffszauberer – oder dem Rest der Mannschaft – nie wirklich vorgestellt hatte. „Das ist alles, was auch ich tun wollte. Mich zum Herrscher über jede Lage aufschwingen. Als ich die Akademie als Absolvent verließ, war ich zuversichtlich, dass ich ein großer Meister werden und mein Glück finden würde – dass ich meines Glückes Schmied sein würde. Doch all dieser Ehrgeiz und all diese Meisterschaft im Angesicht wahrer Weisheit? Das ist nicht anderes, als zu versuchen, die Wellen an den Strand zu fesseln.“

Wenn Enthril Reue empfand, so zeigte er sie nicht in seinem Blick. Er wandte sich wieder den Rissen im Schott zu.

„Hier draußen lernte ich, meine Gier nach Macht und Ruhm zu zügeln. Mich selbst als Mittler zu sehen, als einen Diener von etwas Höherem. Als einen Hüter.“ Er hielt seine Kelle hoch, die von schwarzem Teer bedeckt war, um den Gedanken zu unterstreichen. „Und ich habe gelernt, dass man das Wesen von etwas kennen kann, ohne es zwingend besitzen zu müssen.“

Plötzlich drang der Nachhall einer fernen Explosion in die Kabine und beendete jäh die Lektion. Enthril ließ die Kelle zu Boden fallen.

„An Deck. Sofort.“


Die beiden Zauberer kletterten aus dem Laderaum und blinzelten in die grelle Sonne um sich herum. Die Piraten hatten sich aus ihrer misslichen Lage befreit und bewegten sich nun wieder in Waffenreichweite – und es hatten sich weitere ihrer Art zu ihnen gesellt.

„Vier Segel auf dem Wasser“, stellte Enthril fest. Er drehte sich zum abgeknickten Mast. Das Gewirr aus zerrissenen Segeln und verknoteter Takelage wehte in einer steifen Brise. „Und das Tuch, was noch übrig ist, fängt den Wind ein. Genau, wie ich es befürchtet hatte. Wir treiben nach Osten.“

„Aber das bringt uns von den Piraten weg, oder?“

Eine weitere Salve aus den Kanonen schlug steuerbord ein. Dieses Mal war sie näher und hallte über das Deck. Der alte Magier zog ein Krummschwert mit abgebrochener Klinge aus den Trümmern und reichte es Boldt, der es argwöhnisch betrachtete.

„Ich beschäftige sie“, sagte Enthril. „Du nimmst das.“

„Ich kämpfe damit gegen sie?“

„Damit befreist du uns. Kappe die Seile des Hauptsegels – diese dort. Keine Zauber. Spare deine Kräfte. Los!“

Während Enthril sich aufrappelte, um sich den Piraten zu stellen, ging Boldt zum zerfetzten Hauptsegel und musterte die Seile und das Tuch, während er um den Stumpf des abgebrochenen Masts herumstapfte. Als er über die Schulter zurückschaute, sah er Enthril mit ausgebreiteten Armen und nach unten gerichteten Handflächen dastehen, als würde er im Wind dahingleiten, den Blick fest auf die näherkommenden Schiffe gerichtet.

Unter ihnen rollte das Deck mit dem Meer. Enthril veränderte im Gleichtakt mit der Bewegung der See die Haltung, als würde er sie im Kleinen nachahmen. Boldt bahnte sich vorsichtig seinen Weg zu dem verworrenen Doppelstrang aus Knoten und Aufhängungen und hob den gezackten Rest seiner Klinge in die Luft.

Eine weitere Detonation donnerte von den Korsaren herüber. Mastbrecher wirbelten blitzschnell herbei. Enthril bewegte sich mit dem Deck und warf rasch die Arme hoch, als würde er dem Himmel huldigen.

Mit einem schrillen Klirren prallten die schweren Eisen eine Handbreit vor dem Einschlag in den Bug gegen eine unsichtbare Wand. Schimmerndes Licht stob auf, als sie davon abprallten und ein paar Hundert Schritt entfernt harmlos ins Meer stürzten.

Von seiner Position aus konnte Boldt sehen, wie Enthril taumelte und auf die Knie fiel, während die Energie um ihn herum verflog.

„Enthril?“, rief er.

„Mach weiter!“, stieß der alte Mann hervor.

Boldt durchschnitt zerschlissene Seile und Takelage. Immer und immer wieder hieb er darauf ein, bis das zerfetzte Segel sich endlich löste. Beide Zauberer wurden nach vorn gestoßen, als das Schiff sich im Wind aufbäumte und sie zu Boden warf.

Der junge Zauberer ließ die abgebrochene Klinge fallen und eilte auf Enthril zu. Der alte Mann, der nahezu völlig kraftlos war, konnte wenig mehr tun, als ihm zuzunicken und nach vorn zu deuten, um Boldts Aufmerksamkeit auf die Korsaren zu lenken, als der junge Zauberer vor ihm auftauchte.

Boldt starrte auf die näherkommenden Schiffe. Was konnte er schon ausrichten?

Enthril, der neue Kräfte zu sammeln versuchte, sah zu seinem neuen Lehrling hoch. „Willkommen in der echten Akademie, Junge.“

Die Eingebung kam über Boldt wie ein Adrenalinrausch. Er griff in seinen Beutel und begann, darin herumzuwühlen, während das Schiff sich unter seinen Füßen hob und senkte.

Urquellmagie. Das, was die Welt im Innersten zusammenhielt. Richtig gehandhabt konnte er über die Wellen gebieten, eine Bö aus seiner Handfläche entstehen lassen und auf vielerlei Arten angreifen oder sich verteidigen. Er hatte diese Magie über Jahre hinweg studiert. Doch würde es ihm jetzt gelingen, ihr Form zu verleihen?

Boldt blätterte in einem ledergebundenen Buch, überflog einen Vers und steckte den Folianten zurück in den Beutel. Fetzen loser Notizen flatterten davon, als er den bronzenen Fokus hervorholte.

Eine weitere Salve detonierte backbord vor dem Bug, nur wenige Schritt entfernt. Zu nahe. Boldt klammerte sich an die Reling und stemmte sich gegen das schwankende Schiff.

Wie lauteten doch gleich die Worte? Avenkari war die Wurzel. Er wusste es doch. Wie gingen sie noch mal?

Schweiß trat ihm auf die Stirn, als Boldt den Fokus hob und das nächste Schiff ins Visier nahm. Wie ein Fadenkreuz an einer Armbrust. Ein schwaches Leuchten erschien auf dem Sextanten, als er stammelnd und unsicher zu sprechen begann.

Avenkari katala nahota ...

Eine Hand versperrte ihm die Sicht, als Enthril, der wieder auf den Beinen war, Boldts Arm sanft nach unten drückte. Das Leuchten des Fokus erlosch.

„Keine Kinkerlitzchen“, ermahnte er ihn.

„Was zur Hölle tust du da?“, keuchte Boldt und konnte seine Panik nur mühsam verbergen. „Wir werden jeden Augenblick in Stücke gerissen, und –“

„Sprich nicht. Befiehl nicht. Bitte.“

„Aber ...“

„Boldt, die Essenz ist schon hier und wartet nur darauf, dir beizustehen. Suche nach dem, was bereit ist. Sobald du es siehst, wirst du wissen, was du zu tun hast.“

„Aber ich sehe es nicht. Das ist es doch, was ich versuche, dir –“

„Du wirst es wissen.“

Ich sehe es nicht, verflucht!

Rums.

Eine weitere Detonation, ein direkter Treffer am Rumpf. Instinktiv taumelte Boldt zurück, fort vom Einschlag. Und dann, ohne nachzudenken, warf er sich vorwärts – seine Gefühlsregung und seine tiefe Beunruhigung nahmen Gestalt an.

Die Energie brach aus seinem Innersten hervor, unaufgefordert und wahrhaftig. Ein elektrisierender Ausbruch von Kraft jagte über das Meer und erfasste die feindliche Vorhut, um sie erbarmungslos von backbord bis steuerbord durchzuschütteln.

Der Kanonenbeschuss hörte auf. Alles schien einfach aufzuhören, als der junge Zauberer still dastand, entsetzt über das, was er gerade getan hatte.

„Das ... Das ...“

„Du hast den Weg für den Zauber frei gemacht“, sagte Enthril.

„Das war unfassbar!“, Boldt strahlte. „Ich kann es kaum glauben!“

Von den Piratenschiffen drang ein Trommelschlag herüber. Mit behänder Präzision drehte jedes der Schiffe ab, um mit zunehmender Eile zu wenden.

„Bei den Göttern! Alter Mann, wir haben es geschafft!“, rief Boldt frohlockend aus. „Wir haben sie davongejagt!“

Enthril wandte sich nach achtern und ging kopfschüttelnd davon.

„Nein, das war noch nicht alles.“

Boldt eilte ihm nach. „Was? Was siehst du?“

„Dort.“ Enthril deutete über die Reling auf eine Reihe von Bojen in östlicher Richtung. „Es ist zu spät. Der Rand.“

Hunderte von Schritt trennten die einzelnen Markierungen voneinander, eine gepunktete Linie, die sich bis zum Horizont erstreckte.

Dahinter veränderte sich das Meer drastisch. Viel dunkler war es, mit weißen Wellenkämmen. Und auch wenn das Schiff seine Segel eingebüßt hatte, ließ die Strömung nicht nach und es trieb immer dichter an den Rand heran.

„Was befindet sich dahinter?“, fragte Boldt.

Keine Antwort. Enthril betrachtete stumm die sich nähernde Barriere, während ihm rasch die Farbe aus dem Gesicht wich.

Insel | Bild von Adam Paquette

„Enthril?“

„Die Wogen der Düsternis“, stieß dieser endlich hervor. „So sieht das noch größere Problem aus.“

„Bist du jemals dort gewesen?“

„Stehe ich hier und spreche mit dir?“

„Ja.“

„Dann nicht."

Enthril bewegte sich zum Hauptdeck. Seine Gedanken rasten.

„Hierher, Junge, genau hier. Der Rumpf ist hier stärker.“

„Warte, warte“, protestierte Boldt. „Gibt es keine Möglichkeit, dass wir –?“

„Zu spät. Die Strömung hat uns schon erfasst.“

„Oder irgendeinen Zauber, mit dem wir –?“

„Wir überqueren gleich den Rand. Sei bereit.“

„Worauf?“

Enthril blickte Boldt ernst in die Augen.

„Auf alles.“

Hinter den Markierungen verdunkelte sich der Himmel, während sie auf die nächstgelegene Boje zudrifteten. Sie näherten sich ihr von steuerbord und sahen ein beunruhigendes Detail.

An die Markierung war ein Gewirr von Skeletten gekettet, die in verkrümmter Haltung eingefroren zu sein schienen. Die Sonne hatte sie weiß gebleicht. Die Ersten, die sie willkommen hießen.

Leere Augenhöhlen verfolgten sie unheilvoll, während Boldt und Enthril die Grenze zum Rand überquerten.

„Na schön“, sagte Boldt. „Was machen wirjetzt?“

Sofort erstrahlte die Boje in einem gleißenden, unheiligen Licht. Eine nach der anderen leuchtete auf, bis sich ihr höllischer Schein bis zum Horizont ausbreitete. Boldt atmete scharf ein, als die Skelette zum Leben erwachten, knochige Arme ausstreckten und genau auf die beiden Männer deuteten, während ihre zahnlosen Münder sich wie einer öffneten, um einen durchdringenden, anklagenden Schrei auszustoßen.

Dann brach etwas backbord voraus aus dem Meer. Das Paar schaute in die Richtung und wurde von einem schier unglaublichen Anblick übermannt. Ein gewaltiges, mit gezackten Spitzen übersätes Tentakel schoss gut fünfzig Schritt in die Luft.

Es krachte durch die Mitte des Schiffes und zerschmetterte es entlang des Kiels. Die Zauberer wurden in die Luft geschleudert. Das Deck drehte sich unter ihnen wie ein Stein, der über einen Teich hüpfte.

In dem Versuch, sich über Wasser zu halten, klammerten sich die Männer verzweifelt an alles, was ihnen in die Finger kam, als das Deck auseinanderbrach und ihre letzte Zuflucht auf die Größe eines Floßes schrumpfte. Bruchstücke des Schiffs prallten taumelnd gegeneinander, wurden langsamer und brachen in sich zusammen, bevor sie wieder auseinandertrieben und in den endlosen Wellen versanken.

„Sag mir, dass du noch ein Ass im Ärmel hast!“, flehte Boldt und griff fiebernd nach etwas, um nicht unterzugehen, als das Meer ihm bis zur Brust reichte.

Ehe Enthril antworten konnte, kamen die Überreste des Decks kreischend an etwas unter ihnen zum Stillstand.

Boldt holte tief Atem, während Enthril durch die Lücken zwischen den schwimmenden Trümmern hindurchstarrte.

„Wir sind auf Grund gelaufen ...“

Rasch sah sich der junge Mann um.

„Könnte das ein Riff sein oder –?“

Dann erhob sich etwas unter ihnen. Etwas Großes. Und auch sie erhoben sich nun und rauschten in einem Nebel aus Schaum und Gischt vom Wasser in die Höhe.

Das war kein Riff. Unter ihnen tauchte aus einem Sog aus Salzwasser und Schlick die vernarbte Oberfläche eines gewaltigen Panzers auf – der Rücken einer Kreatur, deren Ausmaße unendlich zu sein schienen.

Als sie emporstiegen, wurden die Überreste des Decks unter ihren Füßen nach und nach auseinandergerüttelt. Bald würde alles vorbei sein. Boldt blickte flehentlich zu Enthril. Enthril nickte ihm zu.

„Du wirst es wissen.“

Der alte Mann schloss die Augen und blendete das Chaos aus. Holz und Eisen fielen um sie herum auseinander wie Bündel aus dünnem Stroh. Dennoch blieb Enthril reglos.

Boldt musterte den Mann in seiner stillen Versenkung und wusste nicht, was er tun sollte, außer ... ihn zu unterstützen? Ja, ganz gewiss. Sie beide hatten im Einklang zu arbeiten. Himmel und Meer.

Er griff nach seinem Beutel. Zu seiner großen Verwunderung fand seine Hand jedoch nichts weiter als einen abgerissenen Riemen. Die Bücher, die Aufzeichnungen, der Sextant in Form einer Bronzefigur: Alles war verschwunden.

Die Masse unter ihren Füßen machte einen Satz nach vorn. Boldt krallte sich in den mit Splittern durchsetzten Matsch. Vor ihm hatte sich Enthril kaum bewegt und schien einzig und allein nur noch auf jene Energien zu achten, die er heraufbeschworen hatte.

Mangels einer anderen Möglichkeit klemmte sich Boldt zwischen das, was einst eine Rah gewesen war, und die schuppige Haut darunter. Dann schloss er ebenfalls die Augen.

Suche nach ihm. Sieh es. Was sehen? Nicht wichtig. Tu einfach –

Und dann verstummte die Stimme in seinem Kopf – die Stimme der Kontrolle – mit einem Mal. Oder vielmehr: Sie veränderte sich. Denn endlich konnte er es sehen.

Er sah sich selbst, nur Augenblicke zuvor. Bei den Schiffen, wie er ohne jede Berechnung handelte. In einem wahren Dasein im Augenblick, beim ersten Schimmer der Erkenntnis. All seine Arbeit und seine Studien bis dahin waren nur ein Teil all dessen gewesen. Ein Pfad, durch den die Magie strömen konnte, um ihre eigene Form zu finden und ihm in seinem Herzen zu begegnen.

Er begann, laut Worte hervorzustoßen, Worte, die ihre Gestalt erst noch finden mussten. Rohmaterial, das die Energie einfing und mit sich nahm wie eine Flut. Und der alte Mann, der nun in blaues Licht getaucht war, geleitete sie hindurch.

Doch Enthril wirkte angestrengt, wie eine Brücke, die unter dem Gewicht einer Streitmacht zusammenzubrechen drohte. Erschöpft verlor er immer wieder das Bewusstsein und flüsterte Worte vor sich hin, die an eine andere Person gerichtet zu sein scheinen.

„Es gibt immer ... Immer noch mehr zu wissen ...“

Boldt öffnete die Augen und kroch zu ihm hin. Inmitten des Mahlstroms aus Wrackteilen kauerten sie sich aneinander. Sie befanden sich nun in einer gefährlichen Position auf dem Rücken dieses Ungetüms, das immer weiter aufstieg, während die allerletzten Reste des Schiffs langsam auseinanderfielen.

„Jetzt sehe ich es. Ich sehe es“, sagte Boldt zu Enthril. „Es ist atemberaubend.“

Enthril schien darüber leicht zu lächeln, während er seinen wortlosen Singsang wieder aufnahm. Boldt begann erneut und fiel mit ein.

Die Kreatur schnaufte und blies wie ein Wal. Eine gewaltige, ohrenbetäubende Fontäne aus Gischt. Ungerührt sangen sie beide wie mit einer Stimme weiter. Bis etwas Neues geschah.

Eine einzige widerspenstige Planke des zerstörten Decks stieg aus dem Wasser auf und schwebte keine zehn Schritt entfernt erwartungsvoll in Augenhöhe vor ihnen. Und eine nach der anderen kamen weitere hinzu, bis sie eine zusammengestückelte Ansammlung aus Holz, Segeltuch und Metall umkreiste.

In der Mitte des aufkommenden Tornados öffnete Enthril die Augen, die plötzlich von einem gleißenden, lebendigen Licht erfüllt waren. Beunruhigt blickte Boldt auf, als das Licht an Intensität zunahm.

„Enthril, was –“

Das Licht zersprang und hüllte die Zauberer, die schwebenden Schiffsreste, die Kreatur, das Meer und die Welt ein. Und im nächsten Augenblick bestand alles aus Nichts.


Boldt erwachte mit der Wange auf einem hölzernen Deck. Das Gefühl der glatten, flachen und wie gerade erst geschaffenen Oberfläche brachte ihn dazu, sich abrupt aufsetzen.

Eine neue Umgebung hieß ihn willkommen. Das Deck eines sonderbar anmutenden Schiffes. Er rief nach Enthril. Keine Antwort. Er rappelte sich auf und blickte sich hastig in alle Richtungen um. Der alte Mann war fort. An seiner Stelle: dieses neue Schiff, das von strahlenden Segeln getragen wurde, welche in ungewöhnlichen Richtungen über den Rumpf hinausragten. Ein Schmetterling aus weißem Tuch. Er konnte dahinter jedoch keine Wasser erspähen.

Dann hörte er das Geräusch des Ausatmens der Kreatur. Es klang weit entfernt. Weit ... unter ihm. Er näherte sich der Reling. Um ihn herum war nur Himmel.

Er war an Bord eines Luftschiffs von einer Art, wie er sie sich nie erträumt hätte. Es schwebte hoch über seiner letzten Position, Hunderte von Schritt über den Wogen der Düsternis.

Als er hinunterblickte, konnte er die gesamte Gestalt des gewaltigen Leviathans erkennen. Er nahm den Platz einer ganzen Flotte von Schiffen ein, womöglich sogar noch mehr. Nun streckte er begierig seine Tentakel nach ihm aus, doch er war zu tief unter ihm, um auch nur den Rumpf ankratzen zu können.

Eine Bö blähte die Segel und das neue Schiff glitt zurück über den Rand dort drunten, schneller als der Wind es hätte tragen können sollen. Die Farbe des Meeres wechselte zu einem hellen Blau, so rein wie auf einem Gemälde.

In der Ferne sah er die Piratenschiffe auf ihrem Weg nach Süden. Sie sahen wie Spielzeuge aus. Und noch weiter entfernt im Westen zogen sich als grünes Band sanft die Gewürzinseln dahin. Auf ihnen lag sein Ziel – die Akademie von Tolaria, die näher und näher kam.

Achtern bemerkte er die kunstvoll geschnitzte, elegante Pinne, die ziellos im Wind hin- und herpendelte.

Etwas unmittelbar unter ihr warf das Morgenlicht zurück und erregte seine Aufmerksamkeit. Es war Enthrils Siegelring. Er hob ihn auf und betrachtete ihn eine lange Weile.

Die Gewürzinseln kamen näher. Bald jedoch bewegte sich die Pinne nach steuerbord, als die Segel von einem warmen Wind aus dem Süden erfasst wurden. Das Schiff drehte von dem Archipel ab in Richtung Norden.

Boldt schaute auf die Pinne hinunter, über deren Ausrichtung er gebieten konnte. Schließlich wandte er ihr den Rücken zu und schlenderte zum Bug des Schiffs, um sich von den Winden treiben zu lassen. Er streifte sich als Erinnerungsstück Enthrils Ring über den Finger. Er passte wie angegossen.

Tief unter ihm rückten die Akademie von Tolaria und die Gewürzinseln immer weiter in den Hintergrund und verloren mehr und mehr an Bedeutung, bis sie irgendwann ganz verschwunden waren.

Und Kellan Boldt, ehemaliger Meisterschüler und angehender Wahrheitssucher, ehedem Sohn und Erbe des Herzogs zu Kelsh, in der Kunst geschult durch Wind und Wellen, flog unangefochten über den Himmel, um sich einem neuen Ziel zu stellen, neue Abenteuer zu finden und das Herz der Welt verstehen zu lernen.

Insel | Bild von John Avon