Die Gilden Ravnicas haben zähneknirschend akzeptiert, dass Jace Beleren nun die lebende Verkörperung des Gildenbundes ist. Schließlich ist mittlerweile offensichtlich geworden, dass es jedes Mal Jace ist, der sich schlichtend zwischen die Gilden stellt, wenn sie aneinandergeraten. Nicht ganz so offensichtlich ist jedoch Belerens wahre Natur als Planeswalker – außer für ein paar ausgesuchte Eingeweihte. Der Izzet-Gildenmagier Ral Zarek hat wenig für den Lebenden Gildenbund übrig, doch auch er ist insgeheim ein Planeswalker, und diese Gemeinsamkeit ist mit einem Mal von überlebenswichtiger Bedeutung.


Verbindungen zur Unterwelt | Bild von Yeong-Hao Han

Der Himmel über der namenlosen Straße in der Unterstadt war von denselben Wolken bedeckt, die schon seit Wochen über dem Zehnten hingen und denselben leichten Nieselregen auf die Stadt niedergehen ließen. Ral Zarek ging auf dem tief liegenden Weg voran, der Gedankenmagier nur einen einzigen Schritt hinter ihm.

„Solltet Ihr es wagen, in meinem Kopf herumzufuhrwerken, Beleren, so werdet Ihr feststellen, dass diese Wolken über mir plötzlich voller Blitze stecken, die alle zufällig auf Euch niederfahren“, sagte Ral Zarek leise.

„Könnt Ihr mir dann nicht einfach sagen, wohin wir gehen?“, fragte Beleren.

„Das seht Ihr noch früh genug.“

„Ihr wisst aber schon, dass ‚Das seht Ihr noch früh genug‘ genau das ist, was Leute sagen, kurz bevor ich unbedingt in ihren Kopf eintauchen muss, oder?“

Ral blickte den Gedankenmagier über die Schulter hinweg an. „Wusstet Ihr, dass das Zehnte öfter als jedes andere Stadtviertel vom Blitz getroffen wird? Habt Ihr eine Ahnung, warum das so ist?“

„Euretwegen?“

Ral grinste. „Ihr habt Euch ein Fleißkärtchen verdient.“

Sie passierten eine Auslage, aus der es nach fettigen Zwiebeln roch, und eine modrige Gasse, aus der ihnen vermummte Elfen scheele Blicke zuwarfen.

„Es hat mich ... überrascht, dass Ihr an mich herangetreten seid, Ral“, sagte Beleren.

Ral zuckte die Schultern. „Ich hatte keine andere Wahl.“

Von allen nur denkbaren Mitwissern und Spionen in Ravnica hatte Ral sich ausgerechnet an den einen Magier gewandt, der dafür eigentlich am allerwenigsten infrage kam. Jace Beleren war der sogenannte Lebende Gildenbund, der Vermittler unter den Gilden, und er war trotz aller entgegenlaufender Bemühungen Rals in dieses Amt gehoben worden.

„Nach allem, was Ihr mir erzählt habt“, fuhr Beleren fort, „werdet Ihr nur weiteren Schaden anrichten, wenn Ihr zulasst, dass sich diese Informationen weiter verbreiten.“

Ral warf Beleren einen Blick zu. Der Gedankenmagier sah ohne seinen charakteristischen Mantel eigenartig aus – unscheinbarer –, doch so passte er besser in diese Gegend. Er sah wie jeder andere Bewohner Ravnicas aus: wie ein gesichtsloser Bürger des Zehnten und nicht wie der berühmte Lebende Gildenbund. Ral fragte sich, ob er zusätzliche Illusionen wirkte, um nicht weiter aufzufallen. Doch das war nicht wirklich wichtig: Ral war es nicht schwergefallen, ihn aufzuspüren, und genau dort lag das Problem.

„Falls dieses Unterfangen weiter so vonstattengeht wie bisher, werden seine Ergebnisse durchsickern. Und dann bricht die Hölle los“, sagte Ral.

Ral hielt an einer Tür in der Tunnelwand an. Er setzte den Knauf kurz unter Strom, ehe er ihn drehte, um ihnen aufzutun. Er führte Beleren in einen schmalen Durchgang und versiegelte die Tür hinter ihnen.

„Wie groß ist Niv-Mizzets Verdacht?“ Belerens Stimme hallte von den Wänden wider.

Jace der Gedankenarchitekt | Bild von Jaime Jones

„Falls ihm das Muster bereits aufgefallen sein sollte, dann hat er zumindest nichts davon verlauten lassen. Üblicherweise ist er nicht derart zurückhaltend, weshalb ich vermute, dass er es noch nicht gesehen hat. Leider ist er von einer enervierenden Brillanz, wie Ihr ja wisst, und er ist zudem nicht gerade für seine Geduld bekannt. Er beginnt zu vermuten, dass ich ihm etwas vorenthalte.“

„Nehmt Ihr Einfluss auf die Ergebnisse?“

„Ich bin Ral Zarek! Ich weiß nicht, ob es Euch bekannt ist, Beleren, aber Izzet-Magier stellten sich nicht der Forschung der Izzet in den Weg. Ich habe lediglich ... meine Fertigkeiten nicht in vollem Umfang eingesetzt. Und außerdem ist bei jeder meiner Ortungen seine Haushofmeisterin zugegen.“

„Und wie oft habt Ihr mich schon ... geortet?“

Ral hielt inne. Er erwiderte Jaces Blick. „Oft genug. Oft genug, damit Niv-Mizzet durchaus bereits vermuten könnte, dass Ihr ein Planeswalker seid.“


Projekt Leuchtkäfer war nicht Niv-Mizzets Idee gewesen, sondern vielmehr die von Maree, der derzeitigen Haushofmeisterin des Feuerhirns. Maree war eine Elementaristin, die ihren Gildenmeister durch ihre Arbeit an Melek beeindruckt hatte. In den Wochen, die auf das Verborgene Labyrinth und das ganze Fiasko mit dem Lebenden Gildenbund gefolgt waren, war dem Drachen aufgefallen, dass Beleren über längere Zeiträume nicht aufzufinden war, und seine Haushofmeisterin Maree hatte vorgeschlagen, seine Bewegungen sorgfältiger zu verfolgen.

Daher war Ral zum Forschungsleiter für ein Projekt ernannt worden, das die Phasen, in denen Beleren verschwand, aufzeichnen und eine Erklärung dafür finden sollte. Natürlich wusste er längst, was es mit Belerens Abwesenheiten auf sich hatte: Er war ein Planeswalker wie er und verbrachte Zeit jenseits der Daseinsebene Ravnicas.

Die Vorstellung, Niv-Mizzet könnte Wind davon bekommen, ließ ihn mit den Zähnen knirschen und rührte an einen wunden, düsteren Punkt in seiner Jugend. Ral hatte unter schmerzvollen Umständen gelernt, seine Planeswalker-Seite zu verbergen, und er wollte dies auf keinen Fall erneut durchmachen.

Zudem kannte er die entsetzliche Bandbreite an Dingen, die Niv-Mizzet anstellen würde, falls er jemals die Wahrheit erfuhr. Würde er nur aus reiner Neugier sämtliche Planeswalker sezieren, derer er habhaft werden konnte? Oder würde er sie einfach alle auffressen, um seine Überlegenheit zu demonstrieren, und weil er ihre schiere Existenz allein schon aus purem Neid nicht duldete? Würde er das Kommen und Gehen eines jeden Planeswalkers überwachen und die gesamte Arbeit zunichtemachen, die Ral investiert hatte, um sich durch die Ränge hochzuarbeiten und endlich einen respektablen Platz unter den Izzet einzunehmen?

Und was würden die anderen Gilden mit diesem Wissen anstellen?

Ungeachtet der damit verbundenen Risiken hatte er sofort eingewilligt, das Projekt zu leiten. Es war besser, Projekt Leuchtkäfer selbst zu leiten und auf die Ausrichtung seiner Bemühungen Einfluss nehmen zu können, als dass irgendein zweitklassiger Chemister Beleren auf Schritt und Tritt folgte, dabei die Existenz anderer Welten bewies und alles ruinierte.

Ral gestand gerne ein, dass er genau der Richtige für diese Aufgabe war: Seine Methoden waren brillant. Als Niv-Mizzet ihm das Projekt anvertraut hatte, hatte er gar nicht anders gekonnt: In seinem Kopf waren die Ideen, wie man den Gildenbund wohl verfolgen könnte, regelrecht durcheinandergerast. Er half dabei, eine unauffällige Verzauberung zu entwickeln, die einen kleinen Energiestoß aussandte, wann immer sie eine Abweichung im Fluss der Wirklichkeit feststellte – wie beispielsweise ein Weltenwandeln. Ein niederer Izzet hatte die Verzauberung an Belerens Mantel angebracht. Anschließend beschwor Ral dann ein dynamisches Verstärkungsfeld über dem Zehnten herauf, das die Bewohner des Viertel in den letzten Wochen als hartnäckiges Nieselwetter erlebten. Das Nieselregenfeld wandelte die schwachen Impulse der Verzauberung in wahrnehmbare Blitzschläge um, die jedoch nicht so spektakulär waren, als dass sie Verdacht erregt hätten.

Genieknall | Bild von Terese Nielsen

Das System war perfekt. Andere Izzet-Gildenmagier begannen, nach den verräterischen Blitzen Ausschau zu halten. Erst in letzter Minute hatte Ral daran gedacht, die Präzision seines hartnäckigen Sturmes dergestalt abzuschwächen, dass Projekt Leuchtkäfer nicht gleich die Existenz von Planeswalkern bewies.

Nach und nach trafen die ersten Daten ein, und umgehend wandten sich die Dinge zum Schlechteren.


„Warum sagt Ihr es ihm nicht einfach?“, fragte Beleren, während Ral ihn durch den dunklen Tunnel führte. „Im Labyrinth habt Ihr dafür gesorgt, dass Emmara alles erfährt. Und nun versteckt Ihr Planeswalker vor Niv-Mizzet?“

Ral hielt an, wandte sich jedoch nicht zu Beleren um. „Das würdet Ihr nicht verstehen“, sagte er nüchtern.

„Ich könnte es verstehen“, sagte Jace und winkte ab. „Aber ich würde wohl riskieren, einen tödlichen Stromschlag zu erleiden.“

Ral fuhr mit der Hand sachte über die bemooste Rundung der Tunnelwand. „Wisst Ihr, weshalb ich Teil der Izzet geworden bin, Beleren? Wisst Ihr, was ich alles auf mich genommen habe, um einen Ort zu finden, wo ich hingehöre? Ich wuchs in einem winzigen Viertel auf. Ein kleines Viertel voller kleingeistiger Menschen. Haben sie mich in meiner Sturmmagie unterstützt? Nein. Jeder hat auf dem ‚Regenzauberer‘ herumgehackt.“ Ral zog abwesend an einem Riemen seines Handschuhs. „Ich lernte schnell, was ich besser für mich behalte. Ich kam allein in den Zehnten. Ich lernte den Akzent und ich lernte das Viertel kennen: wo man essen konnte, wo man besser nicht übernachtete. Ich studierte die Geschichte einer jeden Gilde, bis ich sie vorwärts und rückwärts auswendig konnte. Ich stieß auf die Izzet und lernte alles über sie, was mir möglich war. Ich studierte die Sturmmagie auf der Grundlage jener Gleichungen, die Niv-Mizzet selbst aufgestellt hatte, und ich arbeitete mich in der Gilde nach oben. Der glücklichste Tag meines Lebens war der, an dem ich ein Teil der Izzet und ein Gildenmagier wurde.“

„Aber Ihr seid nicht nur ein Gildenmagier. Ihr seid ein Planeswalker.“

„Mein Funke eröffnete mir nur einen weiteren Weg, alles zu verlieren, wofür ich gearbeitet hatte. Ich bin ein Sturmmagier des Zehnten. Ich bin durch und durch Ravnicaner.“

Ral drehte sich zu Beleren um und stieß ihm einen Finger gegen die Brust. „Und dann kündigt Niv-Mizzet das Labyrinth an und wer wird zum Gildenbund? Nach allem, was dieser Ort mir verdankt? Ein Außenseiter, der sich nicht einmal dafür hatte anstrengen müssen. Ein Eindringling von irgendeinem anderen Ort. Ihr spaziert herein, löst ein Rätsel und seid nun plötzlich in einer Position, in der Ihr das Schicksal meiner Welt lenken könnt. Wisst Ihr, wie ich mich dabei fühle?“

Ral sah im trüben Licht des Tunnels, wie Jace die Stirn in Falten legte und der Blick des Magiers hin und her huschte, während er nach einer Antwort suchte. Ral verspürte den Drang, einfach davonzustürmen und den Eindringling seinen Gedanken zu überlassen, doch dann sah er, wie sich Belerens Miene veränderte.

„Ihr wolltet mich bestrafen“, sagte Beleren. „Ihr wolltet das zerstören, was ich mit Emmara hatte. Aus Rache, weil ich das Rätsel im Labyrinth schneller lösen konnte als Ihr.“

Ral seufzte und ließ die Schultern sinken. Beleren sah irgendwie jung und alt zugleich aus: jungenhaft wegen seines vom Nieselregen zerzausten Haarschopfs, und doch zu hager und voller Sorgenfalten.

„Ich wollte es Euch nicht mit Eurer Freundin verderben, Beleren“, sagte Ral.

„Schon in Ordnung“, sagte Jace. „Es kam so, wie es kommen musste. Sie ist nun in Sicherheit.“

Ral senkte den Blick und spielte an seinem Handschuh. „Sie erinnert sich nicht?“

Beleren kratzte sich am Arm. Ein Flecken weicher Haut auf seiner Stirn runzelte sich, und er sagte nichts.

„Nun, ich mache Euch keine Vorwürfe“, sagte Ral. „Es ist so, wie es sein muss. Ihr habt mich vorhin gefragt, warum ich es ihm nicht einfach sage. Anfangs wollte ich das. Ich wollte, dass meine Welt es versteht – dass sie versteht, was ich bin und wovon sie ein Teil ist. Wofür sonst ist eine Gilde gut, wenn nicht fürs Verständnis sonderbarer Wahrheiten? Doch Ihr kennt Niv-Mizzet nicht. Es würde ihn verrückt machen. Es würde sein Innerstes nach außen kehren. Und das würde er dann auch mit uns machen ...“ Ral zuckte die Schultern. Er beugte sich nach vorn und gestikulierte mit den Händen, um seine Worte zu unterstreichen. „Denkt darüber nach, was es bedeuten würde, wenn Niv-Mizzet oder gar die ganze Welt genau wüsste, wann der Lebende Gildenbund sich außerhalb dieser Dimension aufhält, Beleren. Denkt einmal darüber nach.“

Beleren blickte einen Moment zur Seite. Er rieb sich die Schläfen. „Könnt Ihr das Projekt nicht beenden?“

„Nicht so, wie die Dinge gerade stehen. Der Drache hat mir die Verantwortung übertragen.“ Ral setzte seinen Weg durch den Tunnel fort. „Kommt. Wir sind fast da.“

Beleren war eine Mauer undurchdringlicher Skepsis. „Könnt Ihr mir nicht zumindest verraten, wohin Ihr mich führt?“

Ral rieb die Fingerspitzen gegen die Stirn, als würde er Belerens Telepathie nachäffen, und stieß zwei Worte hervor: „Kommt jetzt.“


Etwas früher an diesem Morgen hatte Ral im Hauptsitz der Izzetgilde gestanden und einem Drachen ins Gesicht gelogen.

Ral hielt die Handflächen dicht aneinander und ließ geistesabwesend Blitze zwischen ihnen tanzen. Er wich etwas zur Seite, um nicht in den Schatten zu geraten, den Niv-Mizzets gewaltiger Leib auf den Boden warf, als der Drache sich vorbeugte, um einen besseren Blick auf die Ortungen zu haben. Er begutachtete die Ergebnisse. Die Ortungen wurden wie eine Wolke aus zufällig platzierten und sich langsam drehenden Sternen in die Luft projiziert. Ral dachte darüber nach, etwas zu erzählen, eine Anekdote aus dem Feld vielleicht, um dem Bericht einen Hauch von Authentizität zu verleihen. Er wusste, dass der Drache nichts davon halten und es das Einsetzen seines unausweichlichen Missfallens nur beschleunigen würde, doch er wollte es dennoch tun.

Neben ihm schlug Haushofmeisterin Maree vor Aufregung die Hand vor den Mund. Ral hob eine Augenbraue – eine leicht wertende Geste womöglich, aber eine, die auch als Freundlichkeit verstanden werden konnte – und musterte sie von oben bis unten. Er mochte die Haushofmeisterin, doch er fragte sich, was wohl aus ihrer sagenhaften Karriere werden würde, sobald sie den Drachen zu langweilen begann.

Niv-Mizzet knurrte, als er die Diagramme mit ihren verstreuten Punkten betrachtete: Lichtblitze, die als Daten verzeichnet wurden. Wenn Ral es richtig angestellt hatte, dann waren es nicht genug, um ein Muster erkennen zu können. Doch als er genauer hinsah, bemerkte er etwas Eigenartiges: Da waren zu viele Punkte.

„Das ist schlecht“, dachte er.

„Das ist gut“, sagte Niv-Mizzet. „Ihr beginnt, zuverlässige Wiederholungen zu erzielen, Zarek.“

Niv-Mizzet, das Feuerhirn | Bild von Todd Lockwood

Ral knirschte mit den Zähnen. Er starrte auf die schimmernden Daten dort in der Luft, und als er sie verstand, hüpften ihm statische Entladungen das Rückgrat hinunter. „Das sind nicht nur meine Ortungen“, sagte Ral. „Das sind nicht nur die des Gildenbunds.“

„Nein, sie sind neu.“ Marees Linse wackelte über ihrem Auge, während sie sprach. „Einer der Izzmagnus und ich nahmen ein Kontingent Explosionssucher und Elementaristen und ahmten Eure Technik nach.“ Auf einen Wink von ihr hin begannen die Lichtpünktchen zu leuchten.

Ral kochte. „Wie konntet Ihr mehr Detektoren aufstellen, ohne mich zurate zu ziehen?“

„Es brauchte eine Weile, aber Mizzix und mir gelang es, Euren Ortungszauber neu zu kalibrieren und seine Reichweite zu erhöhen.“ Ral hatte gar nicht gemeint, dass sie erklären sollte, wie sie es bewerkstelligt hatte, doch so schien sie es aufzufassen. „Wir beobachten nun Hunderte von Bürgern und haben zwei neue Signale gefunden: neue Leuchtkäfer. Wir verfolgen ihre Abweichungen just in diesem Augenblick. Ist das nicht grandios?“

Zwei neue Signale. Ral konnte ihre Ortungen in dem leuchtenden Diagramm erkennen: andere Planeswalker, die nach Ravnica kamen und es wieder verließen. Sie würden das Muster im Nu erkennen.

„Feuerhirn“, sagte Ral. Seine Gedanken überschlugen sich. „Dieses Abweichen von meinem geplanten Unterfangen könnte die Validität der Ergebnisse beeinträchtigen. Es gefährdet das gesamte Projekt.“

„Vielleicht tat ein wenig mehr Wagnis Euren Forschungen gut, Zarek“, sagte Niv-Mizzet. „Doch selbst mit der Erweiterungsarbeit der Haushofmeisterin ist das Bild noch nicht scharf genug. Wir brauchen eindeutige Daten ... und zwar schnellstmöglich.“

Ral blickte an der geschuppten Säule des Drachenhalses hinauf und dann in die Augen der Echse. Sie sahen wie Glasperlen aus, hinter denen Hitze loderte. „Ja, Feuerhirn.“

„Wir hatten einige Ideen, wie wir die Präzision Eures Sturmverstärkers verbessern könnten“, sagte die Haushofmeisterin und rückte ihre Linse zurecht. „Dabei bräuchten wir natürlich Eure Hilfe.“

„Die Präzision verbessern?“

„Ja. Wir haben eine Reihe gyrostatischer Dynamos auf dem Dach von Nivix angebracht und sie benutzt, um die Leitungswerte Eures Sturms zu messen. Ich hoffe, Ihr nehmt es mir nicht übel, aber wir fanden einigen Spielraum für Verbesserungen.“

Ral schüttelte den Kopf. „Das ist absurd.“

„Ich ... Wie bitte?“

„Das ganze statische Feld beruht auf einem schmalen Leitungsband“, sagte Ral. War sie auf eine weitere Beförderung aus? Versuchte sie absichtlich, ihn seines Amtes entheben zu lassen? „Weitere Dynamos stören nur die Empfindlichkeit. Zu viel Leistung bringt alles aus dem Gleichgewicht.“

Haushofmeisterin Maree blickte zu Niv-Mizzet auf. „Feuerhirn, ich fürchte, ich kann dem Forschungsleiter nicht zustimmen. Ich glaube, es ist mehr Leistung erforderlich, um die benötigte Empfindlichkeit zu erzielen.“

Der Drache schwang langsam den Kopf zwischen den beiden Menschen hin und her. Schließlich blickte er Maree an. „Tut es.“

Ral wusste, dass Drache wie Haushofmeisterin seine Reaktion aufmerksam beobachteten. Er sagte nichts.

„Die Anpassungen an den Dynamos werden bald abgeschlossen sein“, sagte die Haushofmeisterin. „Können wir uns morgen treffen, um die Verbesserungen des Sturms zu implementieren?“

Ral blickte zu Niv-Mizzet auf. Der Drache bleckte die Zähne, eine Geste, die wahrscheinlich als aufmunterndes Lächeln gedacht war, aber eher einer Drohgebärde ähnelte. Ral sah Speichel zwischen den gekrümmten Fangzähnen glänzen.

„Selbstverständlich“, sagte Ral. „Hoffen wir, dass alles gut geht und wir die Wahrheit erfahren. Auf morgen dann.“


Ral und Beleren folgten weiter dem moosbewachsenen Tunnel. Rhythmische Gesänge und das Geräusch marschierender Füße hallten zu ihnen herab. Ral erreichte eine Leiter, die zu einem schweren Eisengitter führte. Er legte einen Finger auf die Lippen – Beleren nickte – und kletterte hinauf. Er stieß das Gitter auf und zog sich nach oben. Beleren folgte ihm leise nach.

Sie tauchten in einer Seitengasse neben einer Boros-Garnison auf, gegenüber einer Hauptstraße, die ob der Abenddämmerung von Lampen erhellt war. Ral und Beleren versteckten sich an einem tiefer gelegenen Torweg des Garnisonsgebäudes und sahen zu, wie Soldaten der Boroslegion zum Exerzieren marschierten. Ihre Stiefel spritzten durch die flachen Pfützen, die die Straße übersäten. Ral spähte auf das Nieselfeld über ihnen und versicherte sich an einem nahen Glockenturm der Uhrzeit.

Boros-Gildeneingang | Bild von Noah Bradley

„Behaltet diesen Ort dort gut im Auge“, sagte Ral und nickte in Richtung der Gasse unmittelbar gegenüber der Hauptstraße. „Es ist gerade die rechte Zeit.“

Die beiden Männer warteten und hörten den Ausbildern der Boros zu, wie sie die Gesänge anführten. Ein Schauer jenes Niederschlags, der gerade noch nicht als Regen durchging, fiel sanft aus den hartnäckigen Wolken über ihnen. Ral blickte erneut auf die Uhr.

„Ich erinnere mich nicht an meine Heimat“, sagte Beleren leise und unaufgefordert.

„Was?“

„Ihr spracht davon, wie Ihr auf Ravnica aufgewachsen seid. Viele Erinnerungen meiner Kindheit sind verloren. Zu einer Handvoll schwacher Eindrücke in meinem Kopf zerschlagen. Das meiste, woran ich mich erinnere, begann hier. Auf Ravnica. Ich werde hier nie so stark verwurzelt sein, wie Ihr es seid, und ich gestehe, dass ich oft auf andere Welten reise. Doch auch ich halte mich durch und durch für einen Ravnicaner.“

Ein stechendes, schweres Gefühl regte sich in Ral und er presste die Lippen aufeinander, um es daran zu hindern, aus ihm herauszusprudeln. „Verdammt, Jace! Das ist doch nicht dasselbe“, sagte er. Er wandte sich wieder seiner Beobachtung der gegenüberliegenden Gasse zu, doch er griff sanft nach Belerens Handgelenk und drückte es kurz.

„Ral?“

„Ja?“

„Das ist das erste Mal, dass Ihr mich nicht ‚Beleren‘ genannt habt.“

„Hm.“ Ral blickte erneut zum Turm hinauf und dann in die Gasse.

Nach einer weiteren Minute sprach Jace erneut. „Blitze oder nicht: Wenn Ihr mir nicht sofort verratet, wonach Ihr Ausschau haltet, durchwühle ich Euren Kopf.“

Ral runzelte die Stirn. „Es sollte längst geschehen sein.“ Die Wolken über ihnen waren stumm – kein verräterisches Donnern, kein Anzeichen einer Weltenwanderung. „Ich habe einen Planeswalker verfolgt. Einen, den die anderen Mitglieder von Projekt Leuchtkäfer noch nicht entdeckt haben. Üblicherweise taucht er jeden Abend hier auf.“

„Jeden Abend?“

„Pünktlich wie ein Uhrwerk. Er kommt an, besucht die Stadt und verschwindet wieder, noch ehe der Morgen anbricht.“

„Wer ist er?“

„Das weiß ich nicht. Menschlich. Großgewachsen. Breit. Stechender Blick. Scheint Kontakte bei den Boros zu haben. Ich hatte noch keine Gelegenheit, an ihn heranzutreten.“

Jace zog an seiner Lippe. „Warum wolltet Ihr mir diese Person zeigen?“

„Weil er unglücklicherweise das perfekte Muster abbildet. Er liefert die saubersten Daten von allen. Er reist so systematisch, dass es für Haushofmeisterin Maree und die anderen ein Leichtes wäre, seine Abweichungen zu extrapolieren und so die Wahrheit über Planeswalker zu erfahren. Er ist das Geheimnis, das wir vor Niv-Mizzet verbergen müssen.“ Ral faltete die Hände, und schwache Blitze sprangen zwischen seinen Fingern hin und her. „Ich habe die Verzauberung aufgehoben, die ihn aufspüren sollte, aber ich fürchte, die anderen werden ihn entdecken.“

„Also schön. Wir müssen das logisch angehen. Wir brauchen einen Plan, um sie irgendwie von dieser Fährte abzubringen. Einen Weg, um ...“

„Morgen“, unterbrach Ral ihn. „Sie werden ihn morgen entdecken.“


Ral hatte kaum geschlafen.

„Forschungsleiter Zarek“, sagte Haushofmeisterin Maree, während sie ihm auf das Dach der Gildenhalle Nivix half. „Seid Ihr auf die heutigen ... Anpassungen vorbereitet?“

„Ja“, gähnte Ral. „Ich bereite den Verstärkungszauber vor. Gebt mir einen Augenblick. Ich muss eine Menge Energie dafür heraufbeschwören.“

„Darum haben wir uns schon gekümmert“, sagte die Haushofmeisterin und überreichte ihm zwei biegsame, summende Kabel. „Ihr könnt Euch direkt in Nivix‘ Versorgung einklinken.“ Sie suchte seinen Blick. „Und, Zarek ... wegen dieser Erweiterung, die wir vorgenommen haben ... Ich hatte nicht vor, meine Kompetenzen zu überschreiten. Es ist Euer Projekt. Ich hätte Euch hinzuziehen sollen.“

Izzet-Amulett | Bild von Zoltan Boros

Ral verband die Kabel mit seinem Handschuh. Seine Haut kribbelte, und seine Haare richteten sich auf. Ral konnte sich einer gewissen Aufregung nicht erwehren, als die Energie ihn durchströmte. Er hoffte nur, dass der Plan, den er und Jace geschmiedet hatten, funktionierte.

„Sobald Ihr den Sturm verstärkt, werden wir in jedem Fall einen bedeutend besseren Blick auf die von uns ausgewählten Ziele erhalten“, sagte Maree. Sie schob sich ihre Linse über ein Auge. „Wir werden Gewissheit darüber erlangen, was ihr Verschwinden verursacht.“

Ral wandte sich zur Stadt. Über die Kabel bündelte er Mana in sich, während er kraft seines Willens einen Zauber wirkte. Sein Blick verschwamm. Alles wurde farblos und ausgebleicht. Über sich spürte er, wie der Sturm sich regte und kräuselte. Er holte tief Luft und atmete schwer aus, ehe er die Arme gen Himmel riss.

„Das ist es!“, hörte er Maree sagen. „Er wird verstärkt!“

Ral hörte, wie der Sturm sich erst zusammenballte, um dann einen Wirbel auszubilden, wie ein gewaltiges Untier, das sich aus dem Schlaf erhob. Der Sturm stemmte sich gegen ihn, doch Ral war stärker. Mana schoss in den Sturm und ließ ihn wachsen und mächtiger werden.

„Ich habe etwas“, sagte Maree. „Macht nur weiter!“

Ral schloss den Zauber ab und spürte, wie die Energie aus seinen Armen hinaus und in den Sturm über ihm strömte. Sein Blick wurde wieder klarer. Er sah den gewaltigen Sturm um sich herum, der voller Spannung knisterte. Ob der statischen Ladungen standen Ral die Haare zu Berge. Überall auf dem Dach drehten sich surrend Dynamos.

Trotz allem, was auch geschehen war: Es waren Momente wie diese, in denen er vollkommen sicher war, in der richtigen Gilde zu sein.

Ral Zarek | Bild von Eric Deschamps

Eine mächtige Böe fuhr durch die Luft, und Niv-Mizzet selbst stieg zum Dach des Gebäudes auf. Er ließ sich mit einem Flattern seiner Schwingen neben den beiden Magiern auf dem Dach nieder, ganz wie ein Pfau, der vor einem umherstolzierte, auf dass man sein prächtiges Federkleid bewundern möge. „Eure Schlussfolgerungen, Forscher“, sagte er.

Haushofmeisterin Maree schaute auf ein Messgerät. „Wir erhalten deutlich genauere Peilungen.“

Ral löste schwer atmend die Kabel von seinem Handschuh. Dies war der Augenblick, in dem der Plan aufging oder scheiterte – und Niv-Mizzet würde in jedem Fall darauf reagieren. Über ihnen zuckten Blitze über den Himmel, begleitet von krachenden Donnerschlägen.

Marees Gesichtsausdruck wechselte von Verzückung zu Besorgnis. „Irgendetwas stimmt nicht“, sagte sie. „Die Ortungen. Sie sind irgendeiner Schwankung unterworfen.“

„Was ist los?“, fragte Ral. „Zeigt einmal her.“

Maree zeigte ihm das Messgerät. „Der Sturm hat eine Abweichung aufgespürt – es war der Lebende Gildenbund. Aber ... es zeigt auch an, dass er die gesamte Zeit über im Zehnten war.“

Ral gab unter großem Getue vor, die Anzeige des Gerätes kritisch zu studieren. „Hm. Beleren hatte irgendeine Art von manipuliertem Mana an sich ... und das hat der Sturm als Abweichung registriert.“

„Aber das könnte auch einfach ein Illusionszauber gewesen sein“, sagte Maree.

„Oder irgendeine andere gewöhnliche Fluktuation“, fügte Ral hinzu.

„Hat der Sturm diese Effekte die ganze Zeit über als Leuchtkäfer aufgezeichnet?“

„Ohne die entsprechende Amplitude scheint es, als wäre die Auflösung des Sturms nicht groß genug, um den Unterschied zu erkennen.“

Die Haushofmeisterin drehte an einem Rädchen des Messgeräts und las die Anzeige verärgert erneut ab. „Aber darauf basieren all unsere Daten. Die Testsubjekte verschwanden gar nicht wirklich. Sie waren nur für den Sturm unsichtbar.“

Niv-Mizzet, das Feuerhirn | Bild von Svetlin Velinov

Niv-Mizzet sprach, und seine Stimme war wie Donner. „Diese Methode“, grollte er, wie ein Richter, der einen Angeklagten zum Tode verurteilte, „ist nachweislich unzuverlässig.“

Ral nickte. „Verzeiht mir, Feuerhirn. Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass andere Mitglieder des Kollegiums die Ortungen anpassen. Das lag in meiner Verantwortung.“

„Das Projekt ist beendet“, knurrte der Drache, breitete seine Flügel aus und schwang seinen gewaltigen Leib in die Luft. „Ihr werdet das alles vollkommen neu überdenken müssen, falls Ihr jemals etwas von wahrer Bedeutung beweisen wollt.“

„Ja, Feuerhirn“, sagte Haushofmeisterin Maree.

Niv-Mizzet zögerte. Sein Blick ruhte für einen kurzen, merkwürdigen Augenblick auf den beiden. Dann schraubte er sich in die Höhe und in die Wolken hinein. Seine Schwingen rissen ein Loch in den Sturm und zerstreuten ihn mit einem Grollen.

„Verzeiht mir, Forschungsleiter Zarek“, sagte die Haushofmeisterin. „Oder sollte ich sagen: Gildenmagier Zarek.“

Ral legte den Kopf schief, als würde er beinahe unmerklich mit den Schultern zucken. Er dachte darüber nach, ihr zu erwidern, dass die Haushofmeisterin bald ebenfalls eine Gildenmagierin sein würde, beschloss dann jedoch, dass es wohl die Aufgabe des Drachen sein würde, sie darüber in Kenntnis zu setzen.


Am Abend zuvor war ein Planeswalker im zweiten Geschoss der Boros-Garnison verborgen und lauschte. Er hatte sich für diese Position entschieden, weil sie Schutzzauber gegen Ortungen aufwies und zudem einen guten Blick auf die Seitenstraße darunter bot, wo sich zwei Männer verborgen hielten und leise miteinander sprachen. Einer der Männer trug die Kleidung der Izzet und einen kupfernen Handschuh. Den anderen erkannte er als den Lebenden Gildenbund von Ravnica. Der Planeswalker beobachtete mit grimmigem Interesse, wie seine beiden Zielpersonen ganz offensichtlich seinen üblichen Ankunftspunkt überwachten. Aus seinem Versteck heraus konnte er ihre Unterhaltung gerade noch belauschen.

„Ich habe die Verzauberung aufgehoben, die ihn aufspüren sollte, aber ich fürchte, die anderen werden ihn entdecken“, sagte der Izzet-Magier.

„Also schön. Wir müssen das logisch angehen. Wir brauchen einen Plan, um sie irgendwie von dieser Fährte abzubringen“, sagte der Gildenbund.

Die beiden Magier besprachen einen Plan, eine schlaue, aber riskante Täuschung, die neben dem Gildenmeister-Drachen eine komplizierte Form der Sturmmagie beinhaltete, mit der er nicht vertraut war.

„Wir werden den zusätzlichen Detektor haben, um Eure Illusion zu überwachen“, sagte der Izzet-Magier. „Sobald ich den Sturm verstärkt habe, begebt Ihr Euch zu Eurer Zuflucht, wo Euer Doppelgänger allerdings schon gewesen sein wird. Der Sturm wird sich selbst widersprechen und eine Abweichung registrieren, die nur einen einfachen Zauber darstellt. Das sollte ausreichen, um zu beweisen, dass das gesamte Projekt fehlerhaft ist.“

Der Lebende Gildenbund nickte, beendete die Unterhaltung – und entfernte sich danach nicht zu Fuß. Stattdessen konzentrierte er sich einen Moment und verschwand dann mit einem unverkennbaren Kräuseln der Wirklichkeit.

Der Lebende Gildenbund war ein Planeswalker. So viel war sicher.

Der Izzet-Magier wiederum kroch durch ein Kanalgitter und verschwand aus seinem Blickfeld.

Der Planeswalker strich sich über die kurzen Bartstoppeln an seinem Kinn. Er wurde nicht mehr verfolgt, und das war schon einmal gut. Und zudem hatte er etwas Entscheidendes über den Schlichter zwischen den Gilden erfahren. Es hatte sich also mehr als gelohnt, seine üblichen Abläufe für diesen kurzen Beobachtungsgang zu ändern. Er inspizierte eine Delle in seiner Rüstung, während die letzten Strophen des Gesangs der Boros-Fußsoldaten verstummten, und verließ danach seine Position.

Bild von Richard Wright