Was bisher geschah: Bruchstellen

Während die übrigen Wächter sich an der Rebellion der Erfinder beteiligen, hat Liliana die düstere Aufgabe übernommen, sich des eigentlichen Problems auf Kaladesh anzunehmen: des Planeswalkers Tezzeret.


Vor langer Zeit und auf einer weit entfernten Welt war eine junge Liliana Vess durch die Bäume eines dunklen Waldes geschlichen, während um sie herum eine Schlacht getobt hatte. Das Krächzen der Raben und die Schreie der Sterbenden hatten sie in die Wälder begleitet und der Pfad ihres Lebens hatte eine andere Richtung eingeschlagen. Die Straßen Ghirapurs unterschieden sich so sehr vom Caligo-Wald auf Dominaria wie die heutige Liliana von jenem naiven, hoffnungsvollen und zu allem bereiten Mädchen.

Aber Krieg war Krieg. Surrende Thopter nahmen den Platz der Raben ein (wofür Liliana außerordentlich dankbar war), während Schreie sich mit dem Klang der Entladungen von Ätherkanonen und flinkgeschmiedeten Sprengsätzen vermischten.

Ihre Mission damals war das Leben gewesen: ein Heilmittel für jene sonderbare Krankheit zu finden, die ihren Bruder an die Schwelle des Todes geführt hatte. Heute war ihre Mission der Tod – ihre Aufgabe und ihr ständiger Begleiter. Der Tod Tezzerets. Nichts anderes zählte – nicht die Bemühungen der Renegaten Kaladeshs, nicht die Einmischung ihrer verbündeten Planeswalker, nicht das Streben des Konsulats nach der Wiederherstellung der Ordnung.

Tezzeret musste sterben.

Natürlich musste er sterben, und es war absurd, dass Gideon dabei so zimperlich war. Immerhin hatte sie, bevor diese ganze Sache auf Kaladesh angefangen hatte, ohnehin geglaubt, er wäre bereits tot. Ihn jetzt zu töten, bedeutete einfach nur, ein loses Ende festzuzurren, das von einer unglücksseligen Angelegenheit auf Ravnica von vor vier Jahren übrig geblieben war.

Liliana hatte damals für den Drachen gearbeitet und Jace gegen Tezzeret aufgebracht, in dem Versuch, die Kontrolle über ein interplanares Konsortium an sich zu bringen. Jace hatte Tezzerets Verstand zerrüttet und ihn zum Sterben auf irgendeiner weit entfernten Welt zurückgelassen. Ein loses Ende. Tezzeret hätte sie heimgesucht, hätte Jace heimgesucht und hätte zweifellos alles noch komplizierter gemacht.

Sie seufzte und blickte sich in dem Chaos um, das die wütenden Renegaten Ghirapurs angezettelt hatten. Es war auch so schon alles kompliziert genug, und sie hatte jede Menge ungelöster Schwierigkeiten. Tezzeret und Jace. Garruk und den Kettenschleier. Bolas und ihre Dämonenpakte. Der verfluchte Rabenmann. Selbst die Ereignisse im Caligo-Wald hatten bestimmte Fragen unbeantwortet gelassen. Ein verworrenes Knäuel nach dem anderen und jedes von ihnen hatte seine eigenen losen Enden. Sie hielt inne und blickte auf die Leiche eines unglücksseligen Renegaten, die schlaff und mit gebrochenen Gliedern im Wrack eines kleinen Kopters lag. Sie winkte mit einer Hand in seine Richtung und ein neuer Zombie rappelte sich mühsam auf.

Sie fühlte sich ein wenig besser.

Wo er lediglich ein loses Ende gewesen war, als sie erstmals von seiner Anwesenheit hier erfahren hatte, so war Tezzeret inzwischen eine deutliche Gefahr – nicht nur für diese Welt, sondern für alles, wie weit sein Ehrgeiz noch reichen mochte. Wenn Rashmi irgendeine Ahnung hatte, wovon sie redete – und sie war klug, also hatte sie das vermutlich –, dann baute Tezzeret so etwas wie ein altmodisches Weltenportal, etwas also, was in der Frühgeschichte Dominarias für unermesslich viel Unheil gesorgt hatte. Soweit sie wusste, waren derlei Dinge eigentlich unmöglich geworden, seit das Multiversum sich ... verändert ... hatte.

Doch dem Strudel aus Energie nach zu urteilen, der nun um den Ätherturm herumwirbelte, schätzte Liliana, dass Tezzeret dieses Portal tatsächlich aktiviert hatte. Das konnte nichts Gutes bedeuteten.

Gideon sprach zwar eine Menge darüber, interplanare Bedrohungen zu bekämpfen, doch obwohl Tezzeret gleich hier war, schien er ihn irgendwie nicht töten zu wollen. Stattdessen hatten er und Jace und die anderen sich vollends in diesen Krieg und in diese Rebellion verstricken lassen. „Das geht uns doch einen Dreck an“, murmelte sie. Nicht, dass das erklärte Ziel der Wächter sie ernsthaft scherte, aber die Rebellion war zu einer gewaltigen Ablenkung von dem geworden, was wirklich wichtig war.

„Ich“, sagte Liliana zu sich selbst mit einem bitteren Lächeln.

Sie hieß den Zombie, ihr zu folgen, und schmunzelte bei dem Gedanken daran, dass Gideon dies keineswegs gutgehießen hätte. Doch sie würde einen Leibwächter brauchen, wenn sie zu Tezzeret gelangen wollte.

Und ich werde zu Tezzeret gelangen, dachte sie.


Glücklicherweise hatte es Liliana nicht mehr weit, denn ihr neuer Freund zog eine Menge Aufmerksamkeit auf sich. Es war jedoch die beste Art von Aufmerksamkeit: Die Leute rissen den Mund auf und wichen erschrocken zurück, deuteten entsetzt auf sie und blieben ihr tunlichst aus dem Weg.

Man könnte meinen, sie hätten noch nie zuvor eine Nekromagierin gesehen.

Sie wusste jedoch, dass das nicht ewig so sein würde. Früher oder später würden einige Soldaten des Konsulats beschließen, dass sie und ihr Zombie eine echte Bedrohung ihrer vielgepriesenen Ordnung waren und sich zwischen sie und den Ätherturm stellen. Daher brachte sie die verbleibende Entfernung hinter sich, so schnell sie nur konnte, bis sie schließlich auf eine Barrikade stieß, an der ihr ein Dutzend Soldaten des Konsulats den Weg versperrte. Ein unnatürlicher Wind, der zweifelsohne von dem wirbelnden Strudel über ihr erzeugt wurde, übertönte den Befehl des zwergischen Hauptmanns, doch seine Bedeutung war klar: Halt. Kehren Sie um.

Mit einem kaum merklichen Nicken schickte Liliana den Zombie auf eine Position vor ihr, um die Soldaten beschäftigt zu halten, bis sie sich selbst um sie kümmern konnte.

Sich um sie kümmern?“ Liliana konnte fast hören, wie Jace ihr Handeln infrage stellte – genauer gesagt dachte sie sogar einen Augenblick lang, seine Stimme erklänge wirklich in ihrem Kopf. Ein einziger Zauber hätte den Soldaten das Leben entziehen und sie ihrem Gefolge aus wandelnden Leichen hinzufügen können, und sie hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass ihr dies gelingen würde. Mana stieg wie Galle in ihr hoch, befeuert von ihrem Hass auf Tezzeret, bereit für den kommenden Kampf. Es wäre leicht gewesen, diese Soldaten zu töten, doch erstaunlicherweise war das nicht ihr Plan. Vielleicht färben Jace und – sie schauderte ein wenig – General Fleischschild auf mich ab.

Speere hoben sich und Ätherwaffen leuchteten blau auf, als sie sich weiter der Barrikade näherte. Dann erkannte ein aufmerksamer Soldat das wahre Wesen ihrer Begleitung und stieß einen ganz entzückenden Kraftausdruck aus, der selbst über das Heulen des Windes zu hören war.

„Das ist dein Stichwort“, murmelte sie und schickte den Zombie voraus, während sie auf die Soldaten zuschritt. Violett-schwarze Energie knisterte um ihre Hände und schlug Funken auf ihrem Kleid.

Dann brandete ihre Magie wie eine Woge des Todes nach vorn und spülte über die Soldaten hinweg. Sie war vorsichtig: gerade genug Mana, um ihnen die Luft aus den Lungen zu saugen, bis ihnen schwarz vor Augen wurde und ihnen die Knie nachgaben. Gerade genug, um sie aus dem Weg zu schaffen, während sie und ihr Begleiter den Turm betraten, aber nicht genug, um sie zu verwelkten Hüllen werden zu lassen. Beinahe wünschte sie, Jace wäre hier, um ihre Sorgfalt und Zurückhaltung zu bezeugen.

Der Zombie räumte die Barrikade aus dem Weg und Liliana betrat den Ätherturm.


Zurückhaltung war nicht unbedingt zielfördernd. Sie beraubte sie der Gelegenheit, ein ganzes Gefolge aus Zombieleibwächtern um sich zu scharen. Viel wichtiger noch: Sie ließ Leute hinter ihr am Leben, die ihr den Rückzug versperren konnten, sobald Tezzeret tot war. Wie leicht es doch wäre, dachte sie, als sich eine geisterhafte schwarze Hand um den Hals eines weiteren Wachpostens legte. Einfach etwas fester zuzudrücken und dem Genick des Mannes einen kleinen Ruck zu geben, um noch eine Seele in die gähnende Leere zu schicken. Jace und Ritter Fleischklops würden es nie erfahren. So leicht.

Doch sie seufzte, ließ die eigene Hand sinken und sah zu, wie der Wachposten zusammensackte und sich dabei an die Kehle griff und nach Atem rang – unfähig, auch nur einen Finger zu rühren, um sie aufzuhalten. Sie klopfte ihm auf den Helm, als sie an ihm vorbeiging.

Und dann war sie drin. Es war ein gewaltiger Raum, der von dem riesigen Ring von Tezzerets Weltenportal beherrscht wurde. Präziser ausgedrückt war das Portal ein Ring innerhalb eines Rings, der sich wiederum in einer vage ringförmigen Struktur befand, welche aus Wirbeln und leuchtenden Rohren und etwas, was wie reiner Zierrat aus Drahtgeflecht aussah, bestand. Tezzeret stand mit dem Rücken zu ihr gleich unter den inneren Ringen und hantierte an einem Teil des Geräts herum. Dahinter öffnete eine zersplitterte Glaswand den Raum den heulenden Winden, während ein gelbroter Sonnenuntergang den Himmel färbte.

Sie warf beide Hände nach vorn. Die Zeichen ihrer dämonischen Pakte leuchteten beinahe so hell wie der Äther in dem Portal. Die Zeit der Zurückhaltung war vorbei. Ein tosender Sturm rauchiger Schwärze schoss durch den Raum auf Tezzeret zu und formte sich zu einer spektralen Klaue, die ihm die Seele aus dem Fleisch reißen und ihn zur Strecke bringen würde.

Im letzten Augenblick jedoch löste sich eine Masse scharfkantigen Metalls aus den Haufen von Schrott entlang der Ränder des Raums und stellte sich zwischen Tezzeret und den Tod, der auf ihn zuraste. Lilianas Zauber fraß sich in die Masse hinein, aber nicht hindurch, und sie schien gänzlich unbeeindruckt, als sie sich zu einer vage menschenähnlichen Gestalt zusammensetzte.

Erst jetzt wandte Tezzeret sich um. Seine Hand aus Fleisch und Knochen brachte gerade irgendeine Anpassung an seinem Ätherium-Arm zu Ende. Er schien von ihrer Ankunft und sogar von ihrem Angriff unbeeindruckt.

„Vess“, sagte er. Seine Stimme hallte in dem gewaltigen Gewölbe wider. „Hat er dich geschickt? Warum? Um mich zu auszuspionieren?“

Bild von Daarken
Bild von Daarken

Liliana blinzelte. Das war kaum der bösartige Gegenangriff, mit dem sie gerechnet hatte – und auf den sie vorbereitet war. „Wer?“

Tezzeret zuckte die Schultern. Er zog den Ärmel seiner Robe wieder nach unten, sodass er einen Großteil seines Ätherium-Arms bedeckte und ein seltsames Leuchten verbarg, das dem Lichtsog aus dem Portal zu gleichen schien. Erst danach widmete er ihr seine volle Aufmerksamkeit. Er hob eine Augenbraue.

„Nein“, sagte sie. „Du hast es in der Arena gesehen. Ich bin mit ihnen hier.“

„Natürlich bist du das. Baans kleiner Fehler. Wie hat er sie gleich genannt? Die Wächter?“ Er keckerte. „Sind sie hier, um mein prächtiges Tor zu sehen?“ Eine ausladende Geste mit seiner Metallhand schloss den Ring hinter ihm und um ihn herum ein.

Liliana schlenderte nach links und brachte etwas Abstand zwischen sich und den Haufen Schrott von einem Konstrukt, das ihn gerettet hatte und nun in ihre Richtung schlurfte. „Ich dachte, es sei Rashmis Tor.“

Tezzerets Gesicht verzog sich vor Zorn. „Diese Idiotin? Sie hatte doch keine Ahnung, was sie da entdeckt hatte!“

Liliana lächelte. Sein Temperament war seine Schwäche, und an seinem Ego zu kratzen, schien der sicherste Weg zu sein, ihn die Kontrolle verlieren zu lassen. „Da wäre ich mir nicht so sicher“, sagte sie.

„Was? Glaubst du, sie hat die Blinden Ewigkeiten gesehen? Du glaubst, sie hat verstanden, wie ihre Erfindung dazu verwendet werden kann, Welten miteinander zu verbinden? Sie würde für immer und ewig Vasen quer durch Ghirapur schicken, wenn ich ihrem mickrigen Verstand nicht die richtige Richtung vorgegeben hätte.“ Er schloss nun die Lücke zwischen ihnen, als wollte er Liliana von seiner kostbaren Erfindung fernhalten.

Violettes Licht pulsierte durch die Linien auf Lilianas Haut. „Du solltest es besser wissen, als eine Frau wie sie zu unterschätzen.“ Während er gerade unaufmerksam war, schleuderte sie ihm zur Unterstreichung dieses Punkts einen fokussierten Strahl entgegen, der an dunkle Blitze erinnerte. Er riss die Metallhand hoch, um den Angriff abzuwehren und seine Energie zu zerstreuen. Sie musste dichter heran.

„Na gut“, knurrte er. Der metallene Koloss schlurfte näher und hob zwei faustartige Brocken über das, was wohl sein Kopf sein sollte. Tezzeret sprach ungerührt weiter, als wäre nichts geschehen. „Und wie steht es mit deinen neuen Freunden? Haben sie irgendeine Idee, in was sie sich da verstrickt haben?“

Ein Schauer aus Metall ging scheppernd nieder und prasselte auf Lilianas Zombieleibwächter ein, verschonte jedoch sie selbst. Der Zombie sprang den wandelnden Metallhaufen an, als Tezzeret näher kam.

„Natürlich nicht“, sagte Liliana. Trotz allen Zögerns und aller Zurschaustellung von Misstrauen hatten die anderen Wächter sie in ihrer Mitte willkommen geheißen. Tatsächlich hatte der Einzige, der es hätte besser wissen können – Jace –, sie sogar noch ermutigt, ihr zu vertrauen.

„Du hast sie alle um den kleinen Finger gewickelt, oder?“, sagte Tezzeret.

Liliana lächelte nur, richtete einen einzelnen leuchtenden Finger auf ihn und schoss einen weiteren Energiestrahl auf ihn ab.

Er winkte mit der Metallhand, und ein Strom scharfer Metallsplitter pfiff durch die Luft und fing ihren Angriff ab. „Selbst Beleren?“, fragte er. „Es fällt mir schwer zu glauben, dass er vergessen hat, was du ihm angetan hast.“

Liliana runzelte die Stirn. „Jace und ich ...“ Sie hielt inne und beschloss, ihren Satz damit zu beenden, an den Rändern von Tezzerets Seele zu nagen und seine Lebenskraft zu verringern.

Blaues Licht schimmerte in der Luft zwischen ihnen und ihre Magie verschwand in kleinen, azurblauen Funken. „Oder hat er es vergessen?“, fragte Tezzeret. „Seine Erinnerungen wirken so zerbrechlich.“

„Er hat bestimmt nicht vergessen, was du ihm angetan hast.“ Zwei knisternde Energiestöße kurz hintereinander verliehen ihren Worten Nachdruck. Einer wurde von Tezzerets lebendem Metallhaufen abgefangen, der sich von dem Zombie losriss, und er selbst fing den anderen mit seiner Metallhand auf – wenn auch mit offenkundiger Anstrengung.

„Zu schade, dass er dich nicht begleitet hat.“ Tezzeret breitete die Arme weit aus. Zwei Ströme aus Metallsplittern ähnlich denen, die sich in Lilianas Zombie gebohrt hatten, erhoben sich schlangengleich hinter ihm. „Wir hätten ein tolles Wiedersehen feiern können.“

Er hatte sich verwundbar gemacht. Eine spektrale schwarze Hand erschien aus dem Nichts, griff nach seiner Brust und ließ ihn zurücktaumeln und heftig keuchen, während die Metallsplitter zu Boden regneten. Doch sie hatte Macht gegen Geschwindigkeit getauscht, und er war noch nicht geschlagen.

Sein Atem ging allerdings schwer und seine Stimme war kratzig. „Bist du sicher, dass Beleren nicht derjenige ist, der dich manipuliert?“, fragte er. „Der dich ausschickt, seine Kämpfe auszufechten und seine Rache zu üben?“

„Niemand hat mich ausgesandt.“ Ich habe es auf mich genommen, das zu tun, was niemand von ihnen tun wollte, dachte sie. Meine Entscheidung. Oder?

„Bist du sicher?“, fragte Tezzeret, als könnte er ihr innerliches Zögern sehen. „Vielleicht spielt er dich aus und schleicht sich in deine Gedanken ein.“

Lilianas Zombie stellte sich recht geschickt beim Auseinandernehmen des Schrottkolosses an, doch sie wollte eigentlich, dass er Tezzeret zusetzte. „O bitte“, sagte sie. „Jace glaubt gern, er sei das große Genie, aber wenn er mich ansieht, wird er zu einem Schuljungen.“ Doch ihre Worte klangen nicht so überzeugend, wie sie es sich gewünscht hätte.

„Ich glaube, er hat dich weich werden lassen, Vess. Die Nekromagierin, die ich vor vier Jahren kannte, wäre an der Spitze einer Zombiearmee hier hereinspaziert. Und sie hätte überlebt, um davon berichten zu können.“ Tezzeret deutete mit seiner Hand aus Fleisch auf einen Stapel Baumaterialien und etwas erwachte zum Leben.

Die Anstrengung, die sein Zauber ihm abverlangte, zeigte sich in seinem Gesicht, und sie stürzte sich auf die Gelegenheit. Sie spürte, wie Blut sich in den Zeichen auf ihrer Haut sammelte, als sie sich eines winzigen Teils der Macht des Kettenschleiers bediente. „Du weißt ja nicht, wovon du redest“, knurrte sie, als ein Impuls dunkler Energie sich von ihr aus wie eine kräuselnde Welle ausbreitete. Die Welle prallte von Tezzeret ab und wandte sich wieder in ihre Richtung, nachdem sie das Leben aus seinem Körper gerissen hatte. Liliana griff danach und rief diesen Funken Lebenskraft, dieses Fragment einer Seele in ihre wartenden Arme. Tezzeret fasste sich an die Kehle und fiel auf die Knie – und schon stürzte sich ihr Zombie mit Zähnen und Klauen auf ihn.

Sie krümmte die Finger in der Luft und versuchte, einen besseren Griff um die Magie zu erhalten, die sein Leben umfangen hatte und es nun wie einen zappelnden Fisch heranzog. Oh, wie sehr sie das genoss!

Sie hörte noch ein lautes Surren, ehe ihr auch schon ein adlergroßer Thopter vor dem Gesicht entlangschwirrte, sie streifte und dadurch zum Zurücktaumeln brachte und eine klaffende Wunde auf ihrer Stirn hinterließ. Sie hörte, wie Tezzeret nach Luft schnappte, und sah gerade rechtzeitig auf, um Zeugin zu werden, wie er den Zombie von sich schleuderte und sich mit vor Wut lodernden Augen aufrappelte. Zwei Thopter nahmen eine schwebende Position über seinen Schultern ein.

„Warum kämpfen wir, Vess?“ Er holte mehrmals angestrengt Atem, während sie wieder auf die Beine kam. „Hat deine Liebe für Beleren dich glauben lassen, du seist so eine Art Heldin?“

Sie knirschte mit den Zähnen und schluckte ihren Zorn herunter. „Ich versichere dir, meine Beziehung zu Jace hat nichts mit Romantik oder Zuneigung zu tun.“ Auch ihr Atem ging schneller, doch die Energie, die sie Tezzeret entzogen hatte, durchströmte sie. „Und welche Art von Heldin verwendet schon Magie wie die meine?“ Ihr Zombie sprang ihn erneut an.

Tezzerets riesige Metallklaue schnitt in einem großen Bogen durch das verwesende Fleisch des Zombies und zog Fäulnis und Innereien hinter sich her. „Er hat dich also wirklich nicht geschickt?“

„Jace? Natürlich –“

„Nicht Beleren.“

Sie standen einander in einem Augenblick regloser Stille gegenüber.

„Oh“, hauchte Liliana. „Oh. Du bist auf Bolas‘ Geheiß hier.“

Ein verächtliches Grinsen verzerrte sein Gesicht. „Sag mir bitte, dass du das nicht erst jetzt begriffen hast.“

Alles ergibt plötzlich einen Sinn. Ein Teil von ihr hatte es vermutet, doch sie hatte es nicht glauben wollen. Es erklärte allerdings, warum er am Leben war und sein Verstand unversehrt zu sein schien. Und nun ist alles noch um so vieles schlimmer, dachte sie, als sie Tezzerets heranschwirrenden Thoptern auswich.

„Also hat er dich um den Finger gewickelt“, sagte sie. Wie er es mit jedem tut.

Tezzeret schnaubte. „Ich arbeite daran, eine Schuld zu begleichen. Dank deines Freundes.“ Jace war nur eine Figur in ihrem Spiel gewesen, doch die Verletzung, die er Tezzeret zugefügt hatte, war nicht von der Art, die man so einfach vergeben konnte.

„Und dann was?“

Tezzeret zuckte die Schultern, aber Liliana sah einen vertrauten Übermut in seinem Blick.

Sie lachte. „Du hast große Pläne, es ihm heimzuzahlen? Nicol Bolas? Ich bin mir ziemlich sicher, dass nicht einmal du so dumm bist.“

„Selbst wenn ich solche Pläne hätte, würde ich sie dir kaum verraten. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Bolas deinen Verstand freilegt und ihn liest wie ein Buch.“

Das war kein angenehmer Gedanke. Sie erwiderte ihn mit einer Salve nekrotisierender Energie – genug, um ihm das Fleisch von den Knochen fallen zu lassen, seine Seele leer zu trinken und ihn zu einer schrumpeligen Hülle am Boden zu machen, solange sie nur irgendwie seine Verteidigung durchdringen konnte. Doch ein weiterer Strom Metallsplitter fing einem Bienenschwarm gleich einige ihrer Schüsse ab. Seine Gegenzauber neutralisierten weitere, und einer ging völlig fehl, als ein Thopter ihr in die Magengrube flog und die Luft aus ihr herauspresste. Dennoch wurde Tezzeret auf die Knie gezwungen, wo er keuchte und würgte und das, was von dem Zombie noch übrig war, es schaffte, ihn am Boden zu halten.

Blut strömte ihr nun über die Haut – nicht von irgendeiner Verletzung, die er ihr zugefügt hatte, sondern von der Anstrengung ihres Zauberns und des Tributs, den sie dem Kettenschleier zollen musste. Sie taumelte – nur ein wenig –, als sie auf ihn zuging und dort, wo er lag, über ihm aufragte.

Sie stellte ihm einen Stiefelabsatz auf die Kehle, gleich über dem Schlüsselbein. „Also was?“, herrschte sie ihn an. „All das hier für ihn? Was hat er denn damit vor?“

Tezzeret starrte keuchend und voller Furcht und Wut auf dem bleichen Gesicht zu ihr hoch.

„Eine transplanare Transportgesellschaft?“, fragte sie. „Ein neuer Versuch in Sachen Unendliches Konsortium?“ Doch sie wusste es besser: Bolas Pläne waren nie so klein gewesen. Das hatte sie sogar schon auf Ravnica gewusst, als sie ihm dabei geholfen hatte, seine Pläne zu verfolgen.

Tezzeret gelang ein Keckern. „Vielleicht solltest du ihn das fragen.“

Lilianas Mund verzog sich zu einem Lächeln. „Aber ich habe dich doch gleich hier.“

„Du weißt, dass er nie mehr verrät als nötig. Er würde mir nie das gesamte Ausmaß seiner Pläne anvertrauen.“

„Nun, dann kannst du mir sagen, wo ich ihn finde.“

„Damit du es ihm heimzahlen kannst? Vielleicht bist du doch so dumm, wie ich dachte.“

„Wer hat denn etwas darüber gesagt, gegen ihn zu kämpfen?“, fragte Liliana. „Sag mir, wo er ist.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob er es zu schätzen weiß, wenn ich das ausplaudere.“

Liliana legte etwas mehr von ihrem Gewicht in ihren Absatz und zwang ein raues Husten aus seiner Kehle.

„Es tut mir sehr leid, dass ich deine Schweigsamkeit nicht gutheißen kann.“

Tezzeret keuchte und bekam ganz offensichtlich kein Wort heraus. Sie verringerte den Druck gerade so weit, dass er atmen konnte. „Spuck‘s schon aus, Tezz.“

„Du solltest es wissen. Du bist schon einmal dort gewesen.“

Sie legte die Stirn in Falten und dachte an all die Welten, die sie bereits besucht hatte. „Welche?“

Tezzeret wollte husten, aber aus seiner Kehle kam keine Luft. Er versuchte vergeblich, Töne von sich zu geben. „R– Ra–“

Mit einem ungeduldigen Seufzer hob sie den Fuß und suchte nach einem anderen Schwachpunkt an seinem metallenen Körper, in den sie ihren Absatz bohren konnte.

„Razaketh“, keuchte er.

Überall auf ihrem gesamten Körper verspürte sie mit einem Mal ein sachtes, aus Furcht geborenes Kribbeln. Zwei Dämonen, die Macht über sie besaßen, waren dank des in ihre Haut geritzten Vertrages noch übrig. Kothoped und Griselbrand waren dank des Kettenschleiers recht einfach zu bezwingen gewesen. Die Macht des Kettenschleiers hatte jedoch einen Preis, wie das Blut verriet, das noch immer von ihrer Haut auf Tezzerets Gesicht und Brust tropfte. Razaketh war stärker als die beiden anderen.

Sie hatte vorgehabt, Jace und die anderen Wächter irgendwann dazu zu bringen, Razaketh entgegenzutreten. Sie hatte jedoch gehofft, sie besser zu kennen – zu erfahren, wozu sie imstande waren, sicherzugehen, die richtigen Saiten anzuschlagen, um sie dazu zu bewegen, das zu tun, was sie wollte –, bevor sie sie auf die Reise schickte. Auf die Reise nach ...

„Amonkhet“, sagte sie laut. „Er ist auf Amonkhet.“

Tezzeret schluckte schwer und unter sichtlichen Schmerzen. Gut.

„Das ist das Ende, Tezzeret.“ Sie breitete die Hände über ihm aus und sammelte das Mana für den Zauber, das jenes bisschen Leben, welches er noch in sich trug, aus ihm heraussaugen sollte.

„Ist es das?“

Er schaute an ihr vorbei. Sie duckte sich in Erwartung eines weiteren heranrasenden Thopters. Es flog tatsächlich etwas auf sie zu – etwas viel Größeres als Tezzerets vogelartige Thopter –, und es wirbelte von außerhalb der zersplitterten Glaswand auf den Turm zu.

Die sogenannte Hoffnung der Renegaten. Die Wächter hatten ihre Aufgabe also doch erfüllt, das Luftschiff an der Blockade des Konsulats vorbei dicht genug heranzufliegen, um den Ätherdisruptor in Gang zu setzen. Überraschend, aber sehr zufriedenstellend.

„Ich denke, gleich ist es so weit“, sagte sie. Sie bewegte sich hinter etwas, was wie eine stabile Wand wirkte, und ließ Tezzeret im Griff ihres Zombies zurück.

Doch etwas stimmte nicht: Als sie sich hinter der Wand duckte, erhaschte sie einen Blick auf flammendes rotes Haar an der Spitze des übergroßen Thopters. Chandra? Was zur Hölle

„Wir werden sehen“, sagte Tezzeret, und dann –

Dann waren da Flammen.


Chandras Faust war wie ein glühender Stern, der Gideons Brust trotz des leuchtenden goldenen Lichts, das seinen Körper vor der Hitze abschirmte, versengte. Er hielt sie eng an sich gedrückt und konnte die Anstrengung in jedem ihrer Muskeln spüren, als sie die Flamme erschuf und unter ihren Willen zwang.

„Fast geschafft“, sagte er. Das schillernde goldene Leuchten breitete sich über den Rest seines Körpers aus – die magische Macht, die ihn schon vor zahllosen Verletzungen bewahrt hatte. Würde sie reichen?

Sie nickte kaum merklich und die Hitze wurde noch stärker.

Bild von Chris Rallis
Bild von Chris Rallis

„Chandra“, sagte er.

Sie antwortete nicht. Vielleicht hatte sie ihn nicht gehört, vielleicht war sie zu sehr auf die lodernde Sonne konzentriert, die sie in ihrer Handfläche hielt.

„Ich bin froh, dass du hier bist“, sagte er. „Ich bin froh, dass du Regatha verlassen hast. Die Wächter ... Alles. Ich bin –“

„Gids“, sagte sie durch zusammengepresste Zähne. „Ich ... Ich lasse gleich los.“

Er zog sie dichter an sich. Der Aufprall war nur noch einen Herzschlag entfernt. Das goldene Licht umfing sie nun beide – es klappte! –, aber die Hitze ...

„Ich habe dich“, sagte er. „Du bist in Sicherheit.“

„Ich weiß“, sagte sie. Ihre andere Hand berührte seinen Arm, und das war genug.


Gleißendes weißes Licht, eine Eruption sengend heißer Luft, zerbröckelnder Stein und Staubwolken. Ein Sturz. Schreie. Schmerz – zu viel verdammter Schmerz.

Als ihr Blick wieder klar wurde, fand Liliana sich halb unter den Trümmern der Werkstatt begraben. Überall um sie herum waren Schutt und zersplittertes Metall, und die Mauer, hinter der sie Zuflucht gesucht hatte, war weitestgehend zerstört. Eine gewaltige Rauchsäule erhob sich dort, wo Tezzerets Tor gestanden hatte. Kein Zombie regte sich als Antwort auf ihren mentalen Ruf. Also machte sie sich eigenhändig daran, sich zu befreien. Sie war blutverschmiert und wegen des Kettenschleiers und ihrer kleineren Verletzungen etwas benebelt.

Mit jedem Stein, den sie anhob und zur Seite warf, stieß sie einen neuen farbenfrohen Fluch aus. Sie hatte Tezzeret nicht getötet, als sie die Gelegenheit dazu gehabt hatte, und wenn sie diese Explosion überlebt hatte, dann wahrscheinlich auch er. Er würde entkommen. Zurück zu Bolas – oder er würde sie jetzt finden und töten, während sie ... nicht ganz bei Kräften war.

Und die dumme Chandra ist losgegangen und hat sich selbst umgebracht, dachte sie. Das war nicht der Plan. „Was für eine Verschwendung“, sagte sie zu sich selbst. „Können sie denn ohne mich gar nichts richtig machen?“

Aus dem Schutt befreit stolperte sie auf die Überreste von Tezzerets Portal zu. Wenn er oder Chandra oder sonst irgendein Hoffnungsschimmer noch am Leben waren, würde sie sie dort finden. Unterwegs musste sie gelegentlich anhalten, um einen Splitter oder Trümmer oder einen Haufen Metall beiseitezuschieben und sich den Weg frei zu machen, nach wie vor von der leisen Zuversicht getrieben, vielleicht doch jemanden zu finden.

„Ich wäre völlig zufrieden, eine Leiche zu finden, die mir hilft, diesen Schrott wegzuräumen.“

Jemand, der mir ohne Widerworte gehorcht, dachte sie. Jemand, den ich vollkommen unter Kontrolle habe. Auf diese Weise ist es so viel einfacher.

Tezzerets Worte klangen in ihrem Kopf nach: „Du hast sie alle um den kleinen Finger gewickelt, oder?“ Das ist der Plan, dachte sie. Aber nichts verläuft nach Plan.

Der ganze Sinn darin, nach Kaladesh zu kommen, war gewesen, Chandras Nützlichkeit einzuschätzen. Sie ist nicht sehr nützlich, wenn sie tot ist – nun gut, zumindest weitaus weniger.

Wenn sie den Rest ihrer Dämonen töten wollte, ohne sich selbst dabei umzubringen – wenn sie jemals frei sein wollte –, dann brauchte sie mehr als Zombies. Sie brauchte mächtige Verbündete, und die hatte sie gefunden. Doch es war alles so kompliziert.

Sie hörte ein Husten. Und inmitten des Staubs und des Rauchs, der träge über dem Wrack des Portals aufstieg, erkannte sie flammendes rotes Haar und eine Messingschutzbrille. Sie war am Leben.

Liliana wurde schneller, knickte einmal um, schenkte dem Schmerz keine Beachtung und erreichte endlich Chandra.

„Chandra“, schalt sie. „Was in den neun Höllen war –“

Chandra half Gideon neben sich auf die Beine. Er ragte vor ihr auf und zupfte ihr ein verdrehtes Stückchen Drahtgeflecht aus dem Haar. Sie beide sahen aus, als ... Nun ja, als wäre ein Gebäude über ihnen zusammengestürzt, und Liliana vermutete, dass sie nicht viel besser aussah.

„Fleisch ... Klops .... Kerl“, stammelte Liliana.

Chandra sah Gideon nicht in die Augen, lächelte aber, als sie Liliana bemerkte. Gideon folgte ihrem Blick.

„Liliana!“, sagte er. Er trat vor und hob erst die Hand, nur um es sich dann doch noch rechtzeitig anders zu überlegen, bevor er ihrer Schulter diese fleischige Last aufbürdete. Er kratzte sich verlegen am Kopf. „Hast du ... Ähm ... Hast du ihn gefunden?“

Liliana runzelte die Stirn. „Er ist entweder unter diesem Schutt begraben oder heim zu seinem Meister gerannt.“

Schweigend betrachteten die drei Planeswalker einen langen Augenblick die Trümmer.

„Wo ist Jace?“, fragte Liliana schließlich. „Wir müssen wirklich reden.“


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