Eine Frage der Zuversicht
Huatli glänzte in genau zwei Dingen.
Sie war als Ritterin genauso überragend wie als Oratorin.
Wenn sie ihr Können in diesen Disziplinen demonstrierte, übertraf sie alle anderen Ritter des Imperiums der Sonne.
Sie wollte nie etwas anderes sein. Und sie war sich sicher, dass ihr der Kaiser nach all den Jahren des Aufstiegs und der Vorbereitung endlich den Titel als Poetin des Krieges verleihen würde.
„Lass es mich noch einmal sehen“, flüsterte ihr Cousin ihr zu.
Huatli öffnete ihre Satteltasche. Blanker Stahl glänzte darin, als die Sonnenstrahlen darauf fielen.
Inti lugte in die Tasche und ein Grinsen huschte über sein Gesicht. „Wie hässlich.“
Ihr Cousin war ein Inbild der Gleichmut, womit er sie oft zur Weißglut brachte. Über die Jahre hinweg hatte Huatli jedoch gelernt, seinen Enthusiasmus zu erkennen, und aus seinen zwei Worten las sie heraus, dass er mit Stolz erfüllt war.
„Wer auch immer diese Waffen geschmiedet hat, er war genauso ungeschickt wie diejenigen, denen wir sie abgenommen haben.“ Huatli lächelte. Ihr letzter Triumph war ein einfacher gewesen. Auf beiden Seiten hatte es keine Verluste gegeben. Überlegene Kampfkunst und ein Angebot, welches die Gegner nicht ausschlagen konnten, hatten ausgereicht. Die Legion des Zwielichts hatte sich auf ihre Schiffe zurückgezogen und Waffen sowie Stolz zurückgelassen.
Huatli ließ ihren Blick über den Platz schweifen, als sie und ihr Cousin unter dem Torbogen hindurch in die Stadt Pachatupa einritten. Ein paar Bewohner arbeiteten emsig an den Vorbereitungen zur Begrüßungszeremonie für die Heimkehrer, die später an jenem Tag stattfinden sollte. Andere liefen umher, doch insgesamt wirkte der große Platz leer. Nur ihre eigenen Reittiere (zwei helläugige Klauenfüße) schienen sich für sie zu interessieren. Huatlis Dinosaurier zerrte an den Zügeln, denn er wusste, dass im Stall Futter auf ihn wartete.
Huatli und Inti waren von der letzten großen Expedition des Imperiums der Sonne zur Sonnenküste zurückgekehrt. Der Großteil der Armee war bereits zurück, doch ihre Schwadron hatte sich durch einen letzten Zusammenstoß mit der Legion des Zwielichts verspätet. Und wie alle wohlverdienten Siege, hatte dieser ihnen reiche Beute beschert.
Inti streckte ihr die Hand entgegen und Huatli reichte ihm eines der erbeuteten Schwerter. Er ließ sein Handgelenk kreisen, um das Gewicht des Schwertes zu testen, und gab es ihr dann zurück. „Du hättest ihren Priester sehen sollen“, sagte er.
„Hohepriester“, korrigierte ihn Huatli.
„Hohepriester? Wie dem auch sei, seine Fingernägel waren so lang wie die unserer Großmutter.“
Huatli antwortete mit einem übertriebenen Nicken und einem nachdenklichen Hmm. „Es passt alles zusammen. Logisch betrachtet kann es sich bei unserer Großmutter nur um eine Vampirin handeln.“
Sie wandte sich Inti zu und begann, die Beweise dafür an ihrer Hand abzuzählen.
„Sie hat keinen Appetit, einen leeren Blick und entgegen jeder Wahrscheinlich ist sie immer noch am Leben …“
Inti grinste. Auch Huatli begann zu lächeln.
Die beiden waren zusammen aufgewachsen. Als Kinder hatten sie gegeneinander mit Stöcken gekämpft, nun kämpften sie Seite an Seite gegen die Feinde des Imperiums der Sonne.
Inti legte seine Hand auf Huatlis Schulter. Mehrere Leute kamen fröhlich und mit erwartungsvollem Ausdruck im Gesicht auf sie zu.
„Ich lasse dich mal mit deinen Bewunderern alleine“, sagte er.
Huatli winkte Inti zum Abschied noch hinterher.
„Huatli! Willkommen zu Hause!“, schallte es ihr entgegen.
Huatli lächelte und senkte den Kopf zum Gruß.
Ein Mädchen, nicht älter als dreizehn, rannte mit großen Augen aus der Gruppe auf sie zu. „Poetin des Krieges, wirst du bei der Zeremonie eine Rede halten?“
Huatli hasste das. Wenn Leute annahmen, sie hätte bereits etwas erreicht, worauf sie noch hinarbeitete.
„Ich werde eine Rede halten, aber ich bin noch nicht die Poetin des Krieges. Wie heißt du, meine Liebe?“
„Wayta. Ich habe dir zugehört, als du beim Fest der Sonnenwende gesprochen hast … Das war wunderschön.“
„Beschäftigst du dich mit Poesie, Wayta?“
Das Mädchen blickte zu Boden, sichtbar beschämt. „Meine Gedichte sind nicht gut genug, um sie vorzutragen.“
Huatli beugte sich zu ihr herunter, sodass der Rest der kleinen (aber wachsenden) Schar sie nicht hören konnte. „Soll ich dir ein Geheimnis verraten?“
Wayta blickte Huatli verwundert an.
Huatli erwiderte den Blick mit einem aufrichtigen Lächeln. „Es gibt auf der Welt nur zwei Sorten von Gedichten. Gedichte, die gut sind, und Gedichte, die ehrlich sind. Gute Gedichte haben clevere Reime und jeder kann clever sein, wenn er sich nur genug Mühe gibt. Aber ehrliche Gedichte sind voller Magie; die Fähigkeit, andere Leute fühlen zu lassen, was du fühlst, ist in der Tat ein sehr mächtiger Zauber.“
Huatli sprach weiter. „Wenn du der Meinung bist, dass deine Werke nicht gut genug sind, dann versuche nicht, sie besser zu machen. Versuche lieber, sie ehrlich zu machen.“
Sie zwinkerte dem Mädchen zu.
Da grinste Wayta breit über das ganze Gesicht.
Eine Stunde später begann die Begrüßungszeremonie für die Heimkehrer und Huatli wartete geduldig auf ihren Auftritt.
Obwohl ihre Mission relativ klein gewesen war, markierte sie das Ende eines größeren Unterfangens, die Sonnenküste von Invasoren zu befreien. Aus diesem fröhlichen Anlass würde der Kaiser zu allen Bewohnern von Pachatupa sprechen und auch Huatli sollte eine Rede halten.
Der Titel „Poet des Krieges“ wurde in jeder Generation nur einer einzigen Person verliehen. Sie verwoben die Geschehnisse in Worte und konservierten sie in Geschichten für die Nachwelt. Um diesen Titel zu verdienen, musste man dem Imperium der Sonne immer wieder außerordentliche Dienste erweisen. Mit dem Titel ging große Verantwortung einher, die schwer auf den Schultern von jemandem in ihrem jungen Alter lasten würde, doch Huatli konnte sehr gut mit Druck umgehen.
Alle Einwohner des Imperiums der Sonne respektierten ihren Kaiser, doch sie alle liebten ihren Poeten des Krieges. Dies sollte mit Sicherheit ihre letzte Rede werden, bevor ihr der Kaiser die große Ehre zuteil werden ließ, und Huatli wollte nichts mehr, als sich der ihr entgegengebrachten Bewunderung als würdig zu erweisen.
Es gab keine festgeschriebenen Anforderungen für den Titel, doch das wachsende Vertrauen, das der Kaiser in sie setzte, signalisierte, dass die entsprechende Ankündigung kurz bevorstand. Huatli konnte es in der Luft fühlen, wie den Hauch von Metall vor einem Sturm.
Huatli rollte ihre Schultern und atmete die modrige Luft tief ein. Ihr Reittier bewegte sich unruhig von einer Seite zur anderen, denn es wollte endlich den dunklen Schatten des Stalls verlassen. Huatli legte ihre Hand auf die ledrige Haut ihres Dinosauriers.
Ruhig, mahnte sie, und schickte ihrem Reittier ein Bild von Futter über die geistige Verbindung, die die beiden hatten.
Der Dinosaurier beruhigte sich in dem Moment, als er die winkende Belohnung spürte. Huatli tätschelte seinen Nacken. Die Bestie schüttelte sich noch einmal, um dann wie ein Kaltblüter im Winter zu erstarren und Huatlis nächstes Kommando abzuwarten.
Huatli würde nun jeden Moment an der Reihe sein. Sie machte sich vor solchen Auftritten keine Sorgen mehr. Sie sorgte sich nur danach, ob sie auch alles gegeben hatte.
Die Luft im Stall war stickig und warm.
In der Ferne vernahm sie das Echo der Stimme ihres Kaisers, der zu den Einwohnern von Pachatupa sprach. Jeder, der in dieser Stadt wohnte, würde an der Zeremonie teilnehmen.
Vielleicht wird er es nach meiner Rede bekanntgeben, dachte sie. Vielleicht wird er heute verkünden, dass ich genug geleistet habe, um den Titel zu verdienen, den die Stadt bereits in einem Atemzug mit meinem Namen ausspricht.
Ein Mann schaute in den Stall und blickte Huatli an. Er trug die Zeichen eines Priesters – er gehörte zu den Organisatoren dieser Zeremonie – und nickte Huatli zu.
Huatli sprach sich Mut zu: Du schaffst das. Ihr Dinosaurier krächzte, da er ihre Aufregung teilte.
Sie drückte ihre Fersen in die Flanken des Reittiers und der Klauenfuß trug sie aus dem Stall.
Die Sonne brannte heiß wie ein Schmiedefeuer und der Jubel der Massen war ohrenbetäubender als das Gebrüll jedes Dinosauriers.
Tausende Einwohner machten Platz und bahnten Huatli den Weg, während sie ihr applaudierten. Die Stadt um sie herum erstrahlte im bernsteinfarbenen Licht der Mittagssonne. Das auf dem Platz versammelte Publikum hatte sich dem Tempel der Lodernden Sonne zugewandt, von wo aus der Kaiser seine Ansprache gehalten hatte, doch nun wandten sie sich alle gemeinsam Huatli zu, als sie auf die große Treppe zuritt, die zum Podium führte.
Huatlis Dinosaurier lief schnurstracks durch die sich teilende Menge, unter Torbögen hindurch, so hoch, dass selbst ein Brontodon darunter hindurchpassen würde. Hoch oben, am Ende der Stufen des Tempels der Lodernden Sonne, stand der Kaiser. Seine Hand hatte er ihr zum Empfang entgegengestreckt und selbst auf diese Distanz konnte Huatli ein breites Lächeln auf seinem Gesicht erkennen.
Die Menge begann, immer wieder ihren Namen zu rufen.
Huatli strahlte und sie spürte, dass dies der richtige Moment war, um ihre Beute hervorzuholen.
Sie hielt eines der erbeuteten Schwerter in die Luft und die Menge jubelte doppelt so laut.
Eher als Stichwaffe konzipiert, war das Schwert dünn und wirkte zerbrechlich. An den Griff hatte jemand eine kitschige, schwarze Rose geschweißt. Wie konnten solch zweitklassige Schmiede von sich selbst nur glauben, Eroberer zu sein?
Ihr Dinosaurier hielt direkt vor den Stufen zum Tempel und Huatli stieg ab, das Schwert immer noch in die Luft haltend.
Sie sah hoch zum Kaiser und begann damit, die Stufen des Tempels zu erklimmen.
Der Tempel selbst war auf einem älteren Tempel errichtet worden, der wiederum auf noch älteren Ruinen erbaut worden war. Das Imperium der Sonne hatte sich im Laufe der Zeit wenig verändert. Es war immer noch ein Reich, in dem die Mächtigen um noch mehr Macht stritten, wobei sie auf dem Alten aufbauten und danach strebten, immer neue Höhen zu erreichen. Einst kontrollierten die Flussherolde den Kontinent, doch unter der Führung des neuen Kaisers festigte das Imperium der Sonne seinen Einfluss und errang die Vormachtstellung. Apatzec Intli III. war auch für den derzeitigen Expansionismus des Imperiums verantwortlich, den er vor mehreren Jahren, nach dem Tod seiner Mutter, einläutete. Während seine Vorgängerin sich mit Banalitäten beschäftigte, strebte er danach, sich als neuer Herrscher zu beweisen, der das Imperium der Sonne in ein neues Zeitalter des Ruhms führt.
Huatli hatte der vorherigen Kaiserin nie gegenübergestanden, doch sie bewunderte Apatzecs Entschlossenheit. Er wurde das erste Mal auf sie aufmerksam, als sie innerhalb seiner Garde befördert wurde, und nach Jahren ergebener Dienste war sie zu der taktischen Beraterin geworden, der er am meisten vertraute.
Am Ende der Stufen angelangt, drehte sich Huatli um und präsentierte das Schwert der Legion des Zwielichts der Menge unter ihr. Sie jubelten nun noch lauter als zuvor. Kaiser Apatzec kam, flankiert von zwei Priestern, auf sie zu und Huatli überreichte ihm das Schwert.
Er klopfte Huatli auf die Schulter und sprach zu den Bewohnern von Pachatupa unten auf dem Platz.
„Bürger! Ich präsentiere euch die Anführerin der Schwadron, die erfolgreich die Eindringlinge von unserer Sonnenküste verjagte. Sie und ihre Krieger haben die Legion des Zwielichts in die Schranken gewiesen und heute Morgen sind sie wohlbehalten nach Hause zurückgekehrt. Meine Worte werden ihrem Triumph nicht gerecht. Hört ihr zu und bestaunt die tapfere Anmut von Huatli!“
Die Menge tobte.
Huatli lächelte, sie streckte ruhig die Hand aus, und senkte mit einstudierter Leichtigkeit den Handballen. Die Menge verstummte und Huatli wirkte schnell einen Zauber, der die Lautstärke ihrer Stimme erhöhte.
Genauso, wie du es geübt hast. Du schaffst es!
„Kinjalli, erhöre meinen Ruf!
Es ist an der Zeit, die Schläfer zu wecken,
den Schatten im Osten zu durchstoßen,
der all unsere Tage verdunkeln würde.
Tilonalli, erhöre meinen Ruf!
Entfache das Feuer in unseren Herzen,
auf dass wir zum Morgenlicht werden,
welches die Dunkelheit vertreibt.
Mit der Dreifaltigen Sonne über uns
und diesem Gebet auf unseren Lippen.
Wie gleißende Strahlen haben deine Krieger
die Ungläubigen an deinen Küsten durchbohrt.
Auf Klauenfüßen und Kammhörnern
ritten wir Ruhm und Ehre entgegen.
Wir straften die verschlagenen Feinde
die nach deinem Geburtsrecht trachten.
Auf dem Sand haben sie sich uns entgegengestellt,
mit triefenden Fangzähnen und gezogenen Schwertern,
doch die Kreaturen der Nacht waren chancenlos;
Ihre Abscheulichkeit floh von unseren Ufern.
Heute stehe ich hier, um euch zu erinnern:
Euer Imperium ist das Licht.
Nichts erfüllt die Dunkelheit so mit Schrecken
wie die aufgehende Sonne.“
Die Menge jubelte und applaudierte erneut.
Kaiser Apatzec sah Huatli anerkennend an.
Huatli nickte dankbar zurück.
Der Kaiser trat vor und sprach ebenfalls mit magisch verstärkter Stimme: „Der kleine Sieg, den wir heute errungen haben, markiert den Anfang einer neuen Phase unserer Expansion.“
Das Publikum verstummte. Das klang nach wichtigen Neuigkeiten.
Heißt das, er wird mir nun den Titel verleihen?
„Nun, da wir die Legion des Zwielichts von unserer Ostküste vertrieben haben, sind wir bereit, den Süden zurückzuerobern“, verkündete Apatzec. Er sprach im Redestil eines Herrschers und mit dem Selbstbewusstsein eines Eroberers. „Unsere Krieger sind besser vorbereitet denn je und mit der Stärke der Lodernden Sonne werden wir die Legion des Zwielichts endgültig von unserem Festland verbannen!“
Die Menge jubelte und Apatzec nickte Huatli zu. Ihr Herz sank ein bisschen. Die perfekte Zeit, um ihren neuen Titel zu verkünden, hatte der Kaiser gerade verstreichen lassen. Sie winkte der Menge noch einmal zu, drehte sich um und folgte dem Kaiser ins Innere des Tempels.
Er signalisierte den anderen Priestern, sie alleine zu lassen und legte seinen prunkvollen Umhang ab.
Huatli setzte sich auf eines der Kissen in der Mitte des Raumes. Er saß ihr gegenüber und lächelte.
„Danke, dass du deine Gabe mit uns geteilt hast, Huatli. Unser Imperium braucht deine Stimme.“
„Ich bin Euch immer gerne zu Diensten, Kaiser Apatzec.“
Er hielt immer noch das Schwert der Legion des Zwielichts in seiner Hand und betrachtete es mit sichtbarem Missfallen.
„Kitschig, nicht wahr?“, sagte er. „Da fragt man sich, wie sie damit einen ganzen Kontinent erobern konnten.“
„Sie haben auch ihre Zähne eingesetzt, mein Gebieter.“ Huatli konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Zu ihrem Pech sind unsere jedoch viel schärfer.“
„In der Tat.“
Der Kaiser lächelte Huatli zu. Sie saß ruhig da und wartete geduldig darauf, dass er zu ihr sprach.
Dann sagte Apatzec etwas, das sie überhaupt nicht erwartet hatte.
„Ich werde dich nicht zum Kampf in den Süden entsenden.“
Huatli war zutiefst verletzt, doch sie gab sich große Mühe, es sich nicht anmerken zu lassen.
„Mir wurde versprochen, dass man mir nach der letzten Mission den Titel Poetin des Krieges verleihen würde.“ Es gelang ihr, beim Aussprechen dieser Worte jegliche Emotion aus ihrem Gesicht zu verbannen.
Kaiser Apatzec schüttelte ernst den Kopf. „Ich wusste, dass dir das nicht gefallen würde.“
„Es geht nicht darum, was mir gefällt“, sagte Huatli und drückte dabei mit ihrer einen Hand ganz fest die andere.
„Das Imperium der Sonne braucht dich hier in Pachatupa. Es könnten immer noch Eindringlinge an unseren Küsten im Osten landen.“
„Habt Ihr Kunde von etwas Bestimmtem?“
Der Kaiser runzelte die Stirn. „Nur Gerüchte. Aber ich fürchte, dass uns in naher Zukunft ein doppelter Angriff durch die Tollkühne Koalition und die Legion des Zwielichts bevorsteht. Du und deine Schwadron, ihr werdet weiterhin an der Küste Flagge zeigen und alle Eindringlinge abwehren, die da kommen mögen, während unsere Armee den nächsten Monat über im Süden kämpfen wird. Du wirst nächste Woche zu deiner Mission aufbrechen.“
„Wie Ihr wünscht, mein Gebieter.“
Der Kaiser hielt inne und seufzte. „Wenn ich daran denke, wie der Befehl meiner Mutter gelautet hätte …“
„‚Schützt die Städte und sucht weiter nach der einen, die wir verloren haben‘, nehme ich an?“
Apatzec nickte und lächelte kurz.
„Wir würden eher einen fliegenden Panther finden als eine ganze, verlorengegangene Stadt. Wir müssen uns auf das konzentrieren, was real ist, Huatli. Was wir sehen und hören können. Wenn wir Geistern nachjagen, drehen wir uns nur im Kreis. Bereite deine Schwadron vor und denk daran, unterwegs ein neues Gedicht zu verfassen.“
Plötzlich fühlte sie ihr Herz pochen. Sie wurde immer noch für den Titel in Betracht gezogen.
Apatzec verbeugte sich vor ihr und sie erwiderte die Geste.
Einen Monat später schnappte Huatli ein Gerücht auf.
Späher berichteten, ein Schiff der Tollkühnen Koalition wäre direkt vor der Küste aufgetaucht. Huatli sattelte ihr Reittier und ritt sofort zusammen mit Inti in den Dschungel.
Rudel von langhalsigen Dinosaurier rannten auseinander, als die beiden auf ihren Klauenfüßen durch das Dickicht preschten.
„Sie sollen ihr Lager nahe eines Felsvorsprungs aufgeschlagen haben“, rief ihr Inti lauthals zu.
Ranken schlugen gegen Huatlis Rüstung, während sie sich rasend schnell einen Weg durch den Dschungel bahnte. Im vollen Galopp begann sie damit, einen Zauber zu wirken, um Unterstützung herbeizurufen.
Sie spürte, wie sich die magische Energie in ihrer Brust sammelte. Sekunden später wurden sie auch schon beidseitig von trabenden, zweibeinigen Dinosauriern flankiert. Und etwas später hatten sie ein ganzes Rudel Dinosaurier im Schlepptau. Eierfresser schlossen sich ihnen genauso an wie Raptoren und Peitschenschwänze. Sie alle bewegten sich im Einklang mit den Reittieren der beiden Ritter des Imperiums der Sonne. Huatli gab dem Rudel Befehle, beruhigte die Dinosaurier mit ihrer Magie und suggerierte ihnen, dass sie nicht verletzt werden würden.
„Huatli! Vor uns!“ Inti zeigte auf eine Lichtung vor ihnen, wo das Flussdelta auf das Meer traf.
Grelle, rote Segel sprangen vor dem blauen Horizont sofort ins Auge, ebenso ein beachtlicher Berg aufgestapelter Kisten am Strand.
Immer noch im Schutze der dichten Dschungelgewächse kamen die beiden mitsamt ihrer Eskorte zum Halt. Huatli und Inti beobachteten erwartungsvoll das Schiff.
„Keine Mannschaft zu sehen“, bemerkte Inti leise.
Huatli nickte. „Sie müssen auf Erkundung sein. Ich zerstöre ihre Ausrüstung. Sobald sie ihre Vorräte in Flammen aufgehen sehen, werden sich die Piraten am Strand zeigen, und dann treibst du sie zu ihren Booten.“
„Klingt gut“, erwiderte Inti. Er sah Huatli an und nickte. „Sie vorsichtig, Cousin.“
„Du auch.“
Inti ritt etwas tiefer in den Dschungel, während Huatli ihr Reittier anwies, auf den Strand zu reiten. Den Rest des Rudels ließ Huatli hinter sich im Dschungel zurück.
Der Klauenfuß trottete leise durch den Sand und schon bald war Huatli direkt bei den Vorräten. Sie entkorkte ein Fläschchen, das an ihrer Hüfte hing, und goss dessen stechend riechenden Inhalt über die aufgestapelten Kisten. Dann holte sie einen kleinen schwarzen Stein hervor und schlug ihn gegen den Stahl ihrer Klinge. Funken flogen auf das trockene Holz der Kisten, die augenblicklich Feuer fingen.
Huatli verstaute ihre Klinge wieder und galoppierte zurück in den Dschungel. Sie hielt wieder dort, wo sie das Schiff erspäht hatten. Ein paar Piraten erschienen und Panik stand ihnen ins Gesicht geschrieben, da sie ihre Rationen und Ausrüstung gerade in Rauch aufgehen sahen. Doch sie waren Huatli noch nicht panisch genug.
Jagt sie zum Strand, befahl Huatli, wobei ihre Augen magisch aufleuchteten.
Im Dschungel raschelte es laut und ein Dutzend Schreie von Menschen, Ogern und Goblins ertönten, als die herbeigerufenen Dinosaurier den Rest der Mannschaft auf den Sand hinaus trieben. Die Piraten stolperten von der Sonne geblendet ins Freie, nur um voller Grauen das Feuer in ihrem Lager zu erblicken. Sie rannten voller Verzweiflung darauf zu und versuchten, die Flammen zu löschen.
Huatli grinste und sah Inti in einiger Entfernung. Sie pfiff und er trottete zu ihr. Ein paar Palmen und hohe Farne verbargen sie vor den Blicken der Piraten.
„Alles läuft nach Plan“, sagte Huatli, während sie die panische Mannschaft beobachtete, die bereits versuchte, zurück zum Schiff zu gelangen. „Geh und such uns etwas Trinkwasser. Ich bin durstig.“
Inti wandte sich ab und verschwand im Dschungel.
Huatli stupste ihr Reittier an und trottete langsam am Rand des Strandes entlang.
Plötzlich riss etwas am Bein von Huatlis Klauenfuß und holte den Saurier von den Füßen. Huatli schlug unsanft auf dem Waldboden auf, mit einem dumpfen Schlag.
Huatli sprang auf die Beine, nur um zu sehen, wie sich ihr Reittier vor Schmerzen wandte. Ein Bein des Dinosauriers war von einer rot-glühenden Kette umschlungen, deren Hitze das geschuppte Bein versengte.
Dann erst erblickte sie, wer die Kette festhielt, und Huatli keuchte vor Angst.
Hinter einem Baum trat ein riesiges Monster hervor.
Es hatte den Körper eines Schmieds, aber den Kopf eines Tieres, das Huatli bisher nur bei den Forts der Legion des Zwielichts gesehen hatte – den Kopf eines Bullen? Schwere Eisenketten waren um seinen Torso gewickelt und er schien von innen zu glühen wie aufbrechende Lava, während heißer Dampf aus seiner Schnauze aufstieg.
Huatli sprang auf die Kette zu, um ihr Reittier zu befreien, doch der Angreifer schnaubte nur verächtlich und zog an der Kette. Das heiße Metall löste sich wie von Zauberhand von dem verkohlten Bein und schoss zurück in die Hand ihres Widersachers, nur um erneut hervorzuschnellen und sich um den Hals des kreischenden Dinosauriers zu legen. Das Monster zog fest an der Kette und das Genick des Sauriers brach wie ein Zweig.
Huatli zog ihre Waffe. Sie gab sich keine Mühe, ihre Wut zu verbergen – ihr Reittier war ihr jahrelang ein treuer Gefährte gewesen. Für diesen Akt der Grausamkeit sollte er ihren Zorn zu spüren bekommen.
„Wer bist du?!“, schrie sie ihn an.
Der Hühne streckte die Hände aus. Die glühenden Ketten wanderten wie Schlangen zurück und wickelten sich um seine Arme, bereit für einen neuen Angriff. Ein unnatürliches Feuer brannte in der Kehle dieser Bestie.
„Ich bin Angrath, der grausamste aller Piraten, und ich suche die Immerwährende Sonne.“
Huatli lachte lauthals. „Du und jeder andere auf dieser Welt, du Narr.“
Seine Stimme hatte einen Akzent, den Huatli nicht zuordnen konnte. „Wenn du mir nicht sagst, wo ich die Immerwährende Sonne finde, wirst du sterben, Ritterin.“
Eine Kette schoss von seinem rechten Arm auf Huatli zu. Sie konnte im letzten Moment ausweichen, doch sie spürte die Hitze, als die Kette an ihrem Gesicht vorbeisauste.
Huatli fand ihr Gleichgewicht wieder und begann sofort, auf Angrath zuzusprinten, ihre Klinge bereit zuzuschlagen. Sie wollte nah genug an ihn herankommen, um mit ihrer Klinge seine Gelenke anzugreifen, doch der Pirat strahlte so große Hitze ab, dass sie es in seiner Nähe nicht aushielt. Sie wich zurück und wirbelte Dreck und herabgefallene Blätter auf, als sie erneut seiner Kette auswich.
Hätte sie nicht etwas Abstand zwischen sich und ihren Gegner gebracht, wäre sie bestimmt von der Kette getroffen worden. Die zweite Kette kam angeschnellt und wickelte sich um ihren Fuß. Huatli wurde mit einer Wucht zu Boden gerissen, die ihr die Luft aus der Lunge presste.
Die Kette glühte weiß vor Hitze und sie konnte das Brennen durch ihre stählernen Beinschienen spüren. Sie beugte sich nach vorne und brachte alle Kraft auf, die sie noch hatte, um die Kette mit ihrer Klinge zu durchtrennen. Angrath kam langsam auf sie zu und sie sah wilde Flammen in seinen Augen lodern.
Huatli wand sich fast schon panisch und es gelang ihr, die Kette zu lockern.
Kein Pirat kämpfte mit so viel Groll. Kein Flussherold tötete mit solcher Gleichgültigkeit. Niemand von der Legion des Zwielichts war so unberechenbar. Dieser Gegner war anders als alle, denen sie bisher begegnet war, und Huatli fühlte sich, als würde sie neben sich stehen.
„Huatli?!“
Huatli riss den Kopf herum. Inti hatte sicher den Lärm gehört, den ihr Kampf verursacht hatte. Nun stand er im Dickicht des Dschungels und starrte die beiden voller Entsetzen an. Als Angrath sich dem Neuankömmling zuwandte, sprang Huatli auf und griff an.
Sie schoss in geduckter Haltung auf den Hühnen zu und es gelang ihr, ihn mit einem Tritt gegen die Beine aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Angrath ging zu Boden und während er sich bemühte, wieder auf die Beine zu kommen, schnitt Huatlis Klinge in einer geraden Linie tief in seine Brust.
Der stierköpfige Mann brüllte vor Schmerzen und langte mit seiner Kette nach Huatli.
Nun war Huatli wieder in ihrem Element. Sie bewegte sich wie eine Wildkatze, verlagerte ihr Gewicht tänzerisch von einem Bein auf das andere und wich der Attacke mit Leichtigkeit aus. Sie nutzte den Schwung der Bewegung, mit der sie ausgewichen war, und landete sogleich einen Tritt gegen das Kinn ihres Gegners.
Angrath strauchelte und Huatli rief Inti etwas zu, der die beiden mit offenem Mund beobachtet hatte.
„Inti! Ich brauche ein Reittier!“
Sie spürte, wie Inti hinter ihr begann, einen neuen Dinosaurier für ihre Flucht herbeizurufen.
Im nächsten Moment erblickte sie wieder eine rot-glühende Kette auf sich zufliegen. Sie rollte über den Boden, um der schmetternden Kette zu entgehen. Bei dem Ausweichmanöver verlor sie eine ihrer Beinschienen.
Inti schrie: „Hinter dir!“ Sie spürte, wie etwas ihren Rücken traf und Huatli fiel mit dem Gesicht voran auf den von Laub bedeckten Waldboden.
Angrath hatte sich wieder aufgerappelt und starrte so finster, wie es sein Gesicht zuließ.
Huatli hörte einen Schrei und musste zusehen, wie Inti von seinem Reittier gerissen wurde. Eine zweit Kette wickelte sich plötzlich um ihr ungeschütztes Bein und ihr Schrei übertönte das Zischen der heißen Kette auf ihrer Haut.
Plötzlich stieg ein Gefühl der Angst in ihr auf, dass sie und ihr Cousin hier und jetzt sterben würden.
Sie wollte aufstehen und sich ihrem Gegner entgegenstellen, als sich tief in ihrer Brust ein Funke entzündete.
Plötzlich fühlte sie keinen Schmerz mehr, dafür spürte sie, wie sie sich langsam aufzulösen begann.
Eine Explosion aus Lichtern und Farben raubte ihr die Sicht, eine Kakofonie von Geräuschen schrillte in ihren Ohren und ihr Körper schien sich langsam von sich selbst zu lösen. Es fühlte sich warm und natürlich an und sie hatte das Gefühl, ihr Kopf würde nach vorne, tiefer in das Wirrwarr von Farben und Lichtern hineingezogen werden … und dann sah sie es.
Eine Stadt, die in warmem Gold erstrahlte.
Helle, leuchtende Türme ragten hoch in den Himmel. Schimmerndes Metall, wie sie es nie zuvor gesehen hatte, und über der Stadt hingen Wolken, die vor magischer Energie pulsierten.
Es war wundervoll.
Und dann war es verschwunden.
Ihre Sinne wurde zurückgeholt, als ob eine unsichtbare Macht sie zurück in den Dschungel gezogen hätte. Durch welches Tor sie auch immer geblickt hatte, irgendetwas hatte es vor ihrer Nase zugeschlagen. Langsam verschwanden all die Farben, Lichter und Geräusche und sie fand sich auf dem Waldboden wieder.
Huatlis Herz raste und sie erblickte ein seltsames Symbol – ein Dreieck in einem Kreis –, welches über ihrem Kopf leuchtete.
Sie schnappte nach Luft.
Langsam kam sie wieder richtig zu sich und ihre Atmung beruhigte sich.
Dann realisierte sie, dass sich Angrath immer noch direkt vor ihr befand.
Er starrte sie verwundert an, seine Ketten waren wieder um seine Arme gewickelt und seine Augen waren geweitet.
Inti war benommen, aber am Leben. Auch er starrte Huatli und das leuchtende Symbol über ihrem Kopf an, das nun langsam verschwand.
Der Pirat streckte seinen Arm aus und zeigte auf Huatli. „Du bist ebenfalls einer!“
Huatli stützte sich mit einer Hand auf dem Boden ab. Das Symbol über ihrem Kopf löste sich in Luft auf. Sie schüttelte den Kopf.
Dann begann sie zu sprechen, ohne darüber nachzudenken. „Ich weiß nicht, was gerade geschehen ist.“
Angrath grinste, wie man mit einem Stierkopf nur grinsen konnte. „Ich habe bisher noch keinen anderen auf dieser verfluchten Welt getroffen! Wir können uns gegenseitig helfen, zu entkommen!“
Inti saß wieder auf seinem Dinosaurier und näherte sich seiner Begleiterin.
„Huatli, steig auf!“ Inti streckte ihr seine Hand entgegen. Sie ignorierte ihn und starrte Angrath schockiert an. Auch er streckte ihr einen Arm aus, als wollte er sie einladen.
Sie schlug schnell mit ihrer Klinge nach Angrath, stieg auf Intis Reittier und während sie rannten, hallte Angraths lauter Schmerzensschrei durch den Dschungel.
Huatli war verwirrt und ihr schossen unzählige Fragen durch den Kopf. Sie hatte große Mühe, ihre Gedanken zu ordnen. Es war, als wären da hunderte Stimmen, die alle durcheinander brüllten.
Mein Körper LÖSTE SICH AUF und da waren Farben und Lichter, aber war es ein Anfall oder eine Halluzination? Angrath sah es auch, dieser VERDAMMTE BRENNENDE PIRAT MIT EINEM KUHKOPF. Wie kann er sich einbilden, ich würde ihm helfen, nachdem er meinen Saurier getötet hat und auch mich töten wollte?
Während sie in Gedanken versunken war, sprach Inti alles aus, was ihm in den Kopf kam.
„Dein Körper! Diese Magie! Wie hast du das angestellt? Hast du heimlich trainiert? Was war dieses Symbol? Warum dachte der Pirat, du würdest ihm helfen wollen?!“
Huatlis Antwort war kurz und leise.
„Ich habe die Goldene Stadt gesehen.“
„Du hast was?!“
„Inti … Ich glaube, ich habe Orazca gesehen.“
Alles, was Huatli zu wissen geglaubt hatte, schien nun überholt.
Sie wurde nicht nur von der seltsamsten Bestie angegriffen, die sie jemals erblickt hatte, nein, ihr Körper hatte sich aufgelöst und für einen Augenblick konnte sie durch ein Tor an einen anderen Ort blicken, nur um dann wieder in ihre Welt zurückgezogen zu werden.
Es war, als versuchte sie, auf einem einzelnen Baumstamm in einem Fluss zu stehen. Es war, als hätte ihr jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Ihr Glaube daran, was real war und was nicht, war auf den Kopf gestellt.
Die Nacht brach bereits herein, als sie in die Stadt zurückkamen, doch Huatli begab sich direkt zur Residenz des Kaisers.
Sie wollte die eine Person um Rat fragen, von der sie wusste, dass sie niemandem davon erzählen würde.
Die Wachen erkannten sie sofort und gestatteten ihr mit einer respektvollen Verbeugung Zutritt in das größte Gebäude in Pachatupa. Ihre förmliche Begrüßung wirkte keineswegs beruhigend auf Huatli.
Ein Diener führte Kaiser Apatzec in einen Versammlungsraum. Ein Mosaik der Sonne dominierte die größte Wand im Raum und das einfallende Mondlicht glänzte in den darin eingesetzten Bernsteinen. Der Kaiser wirkte genauso gefasst wie immer, doch statt seines Umhangs mit Dinosaurierfedern trug er eine weniger formelle Robe.
„Huatli, was führt dich zu solch später Stunde zu mir?“
Huatli Herz schlug laut von Innen gegen ihre Rippen. „Ich habe etwas gesehen, das ich nicht verstehe.“
„Einen Traum?“, fragte der Kaiser. Sein mürrischer Gesichtsausdruck verriet, was er von Träumen hielt.
„Nein. Ich würde es nicht glauben, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte.“
Der Kaiser fasste sich nachdenklich mit einer Hand ans Kinn. „Erzähl mir, was passiert ist.“
Sie saßen zusammen, wie Freunde es tun würden, und Huatli gab alle Geschehnisse so genau wieder, wie ihre Erinnerung es zuließ.
Der Kaiser hörte ihren Ausführungen geduldig zu.
Er trank ab und zu einen Schluck von seiner Tasse Xocolātl. Er hatte sich eine bringen lassen, als er merkte, dass dies eine außergewöhnliche Geschichte werden würde.
„Wie hat es sich angefühlt?“, fragte er schließlich.
„Es fühlte sich an, als würde mir jemand nicht gestatten, zu gehen. Als ob ich eine Tür geöffnet hätte, durch deren Spalt ich zwar blicken, aber nicht durchschreiten durfte.“
„Irgendjemand hat dich daran gehindert? Und nur Inti weiß, was vorgefallen ist?“
„Ja und ja, mein Gebieter.“
„‚Apatzec‘, bitte. Wir sind doch unter Freunden.“
Huatli sah ihn erschöpft an.
Der Kaiser schüttelte den Kopf und lächelte. „Du bist außergewöhnlich tapfer, Huatli.“
„Bei allem Respekt, mein Gebieter, ich möchte widersprechen.“
Kaiser Apatzec stellte seinen Becher ab und musterte sie nachdenklich.
„Du kennst die drei Aspekte der Dreifaltigen Sonne. Die Blühende Sonne erschafft, die Lodernde Sonne zerstört und die Erwachende Sonne nährt. Es ist der letzte dieser drei Aspekte, den du erkunden musst.“
„Was meint Ihr damit, Gebieter?“
Der Kaiser wirkte nun etwas aufgeregt. „Meine Mutter war dickköpfig und abergläubisch. Sie würde eher Fabeln im Dschungel hinterherjagen, als sich um Außenpolitik zu kümmern. Ich bin zwar der Meinung, dass es töricht wäre, unsere gesamte Streitmacht auf die Suche nach Orazca zu schicken, doch es wäre sicherlich genauso töricht, unsere talentierteste Ritterin nicht auf die Suche zu schicken, obwohl das Schicksal sie dazu auserkoren hat.“
„… Mein Gebieter …“
„Was du gesehen hast, ist Beweis genug, dass du würdig bist, den Titel zu tragen. Huatli, bei der goldenen Stadt, die du gesehen hast, kann es sich nur um die verlorene Stadt Orazca handeln. Du musst losziehen und die darin verborgene Macht für uns sichern, sodass unser Imperium der Sonne weiter gedeihen kann.“
Huatli hatte ihre Hände zu Fäusten geballt. „Aber mein Gebieter, die Poetin des Krieges begibt sich nicht auf Expeditionen. Ich war nie dazu bestimmt, auf eine Expedition zu gehen!“
„Aber du hattest die Vision. Also ist dies das Schicksal der Poetin des Krieges.“
Huatli stockte der Atem. Meinte er wirklich, was er gerade impliziert hatte?
Der Kaiser stand auf und lief hinüber zur anderen Seite des Versammlungsraumes. Er nahm einen Helm von einem Haken und ging damit zu Huatli.
Es war der Helm der Poeten des Krieges.
Huatlis Herz begann erneut zu rasen.
Apatzec strahlte voller Stolz. „Huatli. Der Titel ‚Poetin des Krieges‘ gehört dir, wenn du die Goldene Stadt Orazca finden kannst.“
Huatlis Mund entwich unbewusst ein Seufzer.
Alles, wonach sie sich sehnte, hing nun an einem Ort, der eher Mythos als Realität zu sein schien.
Der Kaiser drehte den Helm in seiner Hand um. Der Helm reflektierte das Licht der Lampen und tauchte sein Gesicht in ein warmes Leuchten.
„Dies ist eine neue Ära für unser Imperium. Keiner der bisherigen Poeten des Krieges hatte jemals eine Vision der Goldenen Stadt.“ Er lächelte aufrichtig. „Deshalb ist mein Erlass ein ganz besonderer.“
Huatli lächelte ebenfalls. Sie nahm Haltung an und schaute dem Kaiser in die Augen. „Mein Gebieter, ich werde Orazca finden und die Immerwährende Sonne zum Ruhme unseres Imperiums der Sonne sichern.“
Kaiser Apatzec nickte. „Morgen bricht eine neue Zeit für unser Imperium an, Poetin des Krieges.“
Die Unterkünfte der Ritter lagen abgelegen und waren vom Rest der Stadt durch eine kleine Mauer getrennt. Hier trainierte, aß und schlief sie zusammen mit den anderen Rittern und plante die Verteidigung der Stadt. Andere Regimenter widmeten sich der Eroberung und der Erweiterung des Imperiums, doch ihre Sorge war der Schutz dessen, was das Imperium der Sonne bereits kontrollierte. Huatli war hier aufgewachsen. Sie wurde Ritterin, genau wie ihre Eltern vor ihr. Dies war das einzige Zuhause, das sie jemals kennengelernt hatte, und sie kannte jeden Weg und jeden Winkel. Nun schritt sie einen der Wege entlang.
„Huatli?“
Inti schaute um eine Ecke. Seine Stirn war voller Sorgenfalten. „Hast du dem Kaiser berichtet, was du gesehen hast?“
Huatli nickte.
Ihr Cousin wusste nicht, wie er sich verhalten sollte, und nickte ebenfalls. „Das ist … gut. Geht es dir gut?“
Huatli schüttelte den Kopf und zuckte gleichzeitig mit den Schultern, wodurch klar wurde, in welcher emotionalen Verfassung sie sich befand.
„Ja. Nein.“, gestand sie.
Inti ergriff ihre Schulter und führte sie zurück in den Aufenthaltsraum der Krieger. Dieser war leer und ruhig. Der Rest des Regiments hatte sich schon vor Stunden schlafen gelegt. Er goss ihr ein säuerlich riechendes, milchiges Getränk ein. Inti behauptete, dass es Balsam für die Seele wäre. Sie glaubte ihm, denn des Geschmackes wegen würde es wohl niemand trinken. Inti wartete ab, bis sie ein paar Schlucke getrunken hatte und wieder zur Ruhe gekommen war, bevor er damit begann, einen Wickel für die Brandwunde an ihrem Bein vorzubereiten.
„Bist du dir sicher mit dem, was du heute gesehen hast? Als du … war das …“ Inti kreiste mit einer Hand über seinem Kopf, womit er offensichtlich auf das Symbol anspielte.
Huatli nickte.
„Ich habe eine Goldene Stadt gesehen.“ Sie schluckte und blickte ihm flüchtig in die Augen.
Intis Gesicht blieb ausdruckslos, als er den Wickel um ihr Bein legte. „Du hast eine Goldene Stadt gesehen?“
Huatli spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. „Ja.“
Inti legte einen Verband um den Wickel, lehnte sich zurück und begann zu grübeln. Nach einer Weile brach er das Schweigen. „War es die Goldene Stadt?“
Huatli schüttelte zögernd den Kopf. „Niemand weiß, wie Orazca tatsächlich aussieht, daher vermute ich, dass es die Goldene Stadt war.“
„Ich verstehe.“
Inti schnalzte mit der Zunge. Er legte das übrige Verbandsmaterial in seiner Hand zusammen. „Hat der Kaiser dir aufgetragen, sie zu finden?“
„Er hat mir gesagt, dass er mich zur Poetin des Krieges macht, wenn ich die Stadt finden kann.“
Inti war sichtlich überrascht.
Er nahm einen langen Atemzug und nickte. „Das ist eine große Ehre.“
„Ja, das ist mir bewusst.“
Inti setzte sich auf einen Hocker. Huatli streckte ihr Bein aus und legte es auf seinem Oberschenkel ab. Er begann damit, Verband und Wickel wieder zu entfernen und die Haut, die darunter zum Vorschein kam, war vollständig geheilt. Intis Training in Heilmagie hatte sich bezahlt gemacht.
Huatli atmete erleichtert auf. „Inti, man hat mich noch nie mit einer so verantwortungsvollen Aufgabe betraut. Ich möchte nicht alleine gehen.“
„Das musst du nicht“, sagte Inti. „Nimm Teyeuh und mich mit. Wir werden dich dorthin bringen.“
„Aber ich weiß nicht, wo dort ist …“ Inti konnte die Beklommenheit in ihrer Stimme hören.
Er warf ihr einen vielsagenden Blick zu. „Die Flussherolde wissen vielleicht etwas. Warum sonst sollten sie mit solchem Eifer ihr Territorium verteidigen?“
Huatlis blickte zu Boden. „Ich habe mein ganzes Leben lang trainiert, um diesen Titel zu verdienen, aber von einer Reise zu einer mystischen Stadt war nie die Rede.“
„Möchtest du nicht gehen? Möchtest du den Titel für die unzähligen kleinen Errungenschaften erhalten oder für eine legendäre Errungenschaft?“, fragte er schließlich.
Sie antwortete sofort aus dem Bauch heraus und war selbst überrascht, als sie ihre eigenen Worte hörte.
„Ich möchte die Stadt finden.“
Ihr Herz raste. Der Gedanke daran, eine Entdeckerin zu werden, war beängstigend, denn es war keine Rolle, in der sie sich jemals gesehen hatte. Doch zusammen mit der Angst stieg in ihr auch ein Gefühl der Vorfreude auf – Vorfreude darauf, einmal etwas gänzlich Neues zu tun.
„Ich hätte nie geglaubt, dass ich einmal etwas anderes sein könnte, als was ich jetzt bin, Inti. Ich möchte beides sein.“
„Das bist du bereits, Cousine“, erwiderte Inti und erhob sich. „Ich werde Teyeuh Bescheid geben. Wir werden bei Sonnenaufgang aufbrechen und uns einen Flussherold suchen, der uns den weiteren Weg weisen wird.“
Er lief in Richtung der Rüstkammer, als er innehielt und über seine Schulter zu Huatli blickte.
„Wie soll ich dich eigentlich nennen? Poetische Wünschelrutengängerin des Krieges?“
Huatli dachte einen Moment lang nach. „Reisende Poetin des Krieges?“, bot sie im Gegenzug an.
Inti dachte über ihren Vorschlag nach und machte einen weiteren. „… Poetische Entdeckerin der Goldenen Stadt und des sich auflösenden Körpers?“
„Ich glaube nicht, dass das als Inschrift auf einen Helm passt, Inti.“
„Der Helm wäre jedenfalls zu groß für deinen Kopf“, entgegnete er und lachte.
Inti verließ den Raum und ließ Huatli mit ihren Gedanken alleine.
Sie war besorgt. Sie war aufgeregt. Sie stand vor der größten Herausforderung ihres Lebens.
Schließlich lächelte Huatli.
Sie lief noch eine Weile herum, bevor sie zu ihrem Bett ging.
Als sie auf ihrer Matratze lag und nach oben schaute, versuchte sie, sich die Farben, Lichter und Klänge ins Gedächtnis zu rufen. Sie hatte gefühlt, wie sie Stück für Stück auseinandergebrochen war, und trotzdem hatte sie in jenem Moment keine Angst verspürt. Was sie verspürt hatte, war eher ein freudiges Hochgefühl. Sie legte eine Hand auf ihre Brust und schloss die Augen. Vor ihrem geistigen Auge formte sich ein Bild davon, wie lebendig die Sonne auf die goldenen Dächer der Stadt schien, und wie die kleinen Wolken am blauen Himmel voll von magischer Energie erstrahlten. Nie zuvor hatte sie etwas Derartiges gesehen.
Sie war keine Seherin, doch sie hatte eine Vision gehabt. Sie war keine Reisende, doch sie sollte sich auf eine lange Reise begeben. Huatli war beides und ihr Schicksal hatte sich an diesem Tag schlagartig verändert.
Huatli versuchte, an nichts mehr zu denken. Sie tauchte in einen Traum ein, in dem alles golden glänzte, und sie sah, wer sie in Zukunft sein würde. Der Traum fühlte sich so echt an, dass er fast wie eine Prophezeiung wirkte.
Sie war eine Ritterin und sie war eine Oratorin.
Und nun war sie auch eine Entdeckerin.