Die auf Fort Adanto stationierte Garnison war mittlerweile an die regelmäßigen und brutalen Angriffe aller Art aus dem verwilderten Dschungel um sie herum gewöhnt, doch sie hätte niemals mit dem gerechnet, was sich von der Küste aus seinen Weg in ihr erhabenes Fort bahnen würde.

Wachen sowie Priester blickten über den hohen Schutzwall des Forts hinunter auf diese zusammengesunkene und völlig verrückt gewordene Gestalt unter ihnen. Es war ein Hohepriester, ein vampirischer Mann aus dem Klerus, der vollkommen von Sand bedeckt war und dessen Wangen vor Blutdurst bereits eingefallen waren. Seine Augen waren unstet wie die einer wilden Kreatur und sein Bart ungepflegt und stumpf wie der eines verwirrten Wegelagerers. „Ich habe über die Wellen und den Tod selbst triumphiert, gesegnet sei die Heilige Elenda!“, brüllte er den Gesichtern über sich entgegen.

Die Wachen sahen einander verunsichert an. Der Mann vor den Toren hatte sich seine Tunika vom Leib gerissen und war auf seine Knie gefallen. Seine ungepflegten Hände samt der langgewachsenen Fingernägel hatte er zum Gebet gefaltet. Seine Gebete waren laut, ganz so, als wäre er sich seiner selbst und seiner Umgebung gar nicht richtig bewusst. Bei den sterblichen Wachen löste dies sichtliches Unbehagen aus. Wer er auch immer gewesen sein mochte, er hatte der Blutentsagung nicht standhalten können.

„Wundersame Wunder! Leere Arterien und schlängelnde Zungen, sie gab uns Leben! Frohlockt, ihr ignoranten Narren!“

Die menschlichen Wachen dachten nicht im Traum daran, das Tor zu öffnen. Ein Vampir war während der Blutentsagung ganz besonders gefährlich. Diejenigen, die sich in diesem Zustand verloren, konnten nicht zwischen dem Blut der Gläubigen und dem Blut der Sünder unterscheiden. Stattdessen rief einer der Wachen eine Priesterin herbei, um sie um Hilfe zu bitten.

Die Gebete des verhungernden Vampirs vor den Toren wurden immer eindringlicher. „Ich gab jede Form der Nahrung auf, um mich der gesegneten Heiligen Elenda näher zu bringen, und hier stehe ich nun!“

Er griff in eine modrige Tasche, die an seiner Seite hing, zog ein Bündel aus verbogenem Metall heraus und warf es auf den Boden. Die Wachen glaubten, dass es sich um einen zerstörten Sextanten, einen zerbrochenen Kompass und noch weitere ruinierte Navigationsgeräte handelte.

„ICH WUSSTE, DASS WIR DIESE GERÄTSCHAFTEN DER TÄUSCHUNG NICHT BRAUCHEN!“, schrie der Vampir aus vollen Lungen. „Mein Glaube an Elenda hat uns hierher geführt!“

Die Priesterin von Fort Adanto hatte sich ihren Weg bis zum Tor gebahnt. Durch das dicke Holz sprach sie mit fester und erhobener Stimme zum Vampir auf der anderen Seite. „Heute sind keine Schiffe eingetroffen. Wie bist du hierher gelangt?“

„Die sakrosankte Tatkraft meines unerschütterlichen Glaubens!“, heulte der Vampir. „Das prächtigste Schiff der Legion des Zwielichts! Ich reiste auf der Wagemut ihrer Majestät an!“

Die vampirische Priesterin krempelte die Ärmel hoch und gab den Wachen mit einem Nicken zu verstehen, dass sie das Tor öffnen sollten. Die Wachen entriegelten das Tor und zogen an den massiven Ketten der Türen, und sogleich stolperte der ausgehungerte Vampir hinein.

Der Priesterin stockte der Atem. „Hohepriester Mavren Fein?“

„Die Heilige Elenda war die Erste!“, keuchte Mavren Fein. „Ihr Opfer ist unser Überleben, ihre Selbstlosigkeit ist der Wegbereiter unseres Erfolges! Ich vollzog das Ritual vor zweihundert Jahren und mithilfe der wachsamen Führung unserer Heiligen Elenda der Ersten finden wir den Weg zur Unsterblichkeit ohne Blut!“

Die Priesterin hatte sich hingekniet und sammelte die Reste von Feins Navigationsgeräten auf. Schockiert blickte sie Mavren Fein an. „Waren dies die Navigationsgeräte Eures Schiffes?“

„Ich wusste, dass wir keine Verwendung für sie haben!“, spuckte Mavren Fein ihr entgegen.

Er hielt plötzlich inne und zog die Luft durch die Nase ein als hätte er etwas gerochen. Dann blickte er zu den Wachen oben auf dem Wall.

Die Wachen wichen zurück, doch nicht schnell genug.

Mavren Fein zischte und rannte zum Wall, seine Augen dabei fest auf die Menschen über sich gerichtet. Er begann damit, sich mit seinen klauenartigen Fingern am Holz des Walls hochzuarbeiten. Holzsplitter flogen umher, während er unablässig und gierig den Wall erklomm. Sein Gesicht war eine furchteinflößende Fratze mit gefletschten Zähnen und seine Augen waren weit aufgerissen. Er zischte und geiferte und sowie er oben angekommen war, riss er die nächste Wache zu sich, die er zu fassen bekam.

Der Mann schrie auf als Mavren Fein wie ein wild gewordenes Tier auf dem Metallstück seiner Rüstung herumbiss, welches Schulter und Kehle schützte. Obwohl niemand schnell genug hatte regieren können, um den blutrünstigen Vampir aufzuhalten, war seine Attacke doch vergebens, denn seine Zähne konnten die Rüstung nicht rechtzeitig durchdringen, bevor die anderen Wachen bei ihm waren und ihn vom Wall traten. Mit einem dumpfen Laut schlug er auf dem Boden auf und schon im nächsten Moment war die Priesterin von Fort Adanto direkt über ihm und drückte ihn nieder, um einen weiteren Angriff zu verhindern.

„Ich zweifle nicht an Eurer Frömmigkeit, Mavren Fein“, stöhnte die Priesterin unter der Anstrengung, ihn weiterhin am Boden zu halten. „Aber Eure Blutentsagung muss zu einem Ende kommen, wenn Ihr wünscht, in Fort Adanto zu verweilen. Beendet Eure Blutentsagung, Hohepriester. Eure Ehrerbietung ist offenkundig, doch Eure Mission verlangt Eure volle Aufmerksamkeit.“

Die Priesterin zerrte Mavren Fein auf seine Füße und führte ihn zu den Gefängniszellen.

Die Legion des Zwielichts hatte auf Dauer keine Verwendung für Gefangene, doch die Arrestzellen dienten ohnehin nur dem Zweck, die Gefangenen so lange zu beherbergen, bis sie gesund genug waren, um ihr Urteil zu empfangen.

Mavren Fein wurde hinunter in den Keller unter der Kirche im Zentrum des Forts geführt. Die Wände bestanden aus Holzplanken, die die Erde zurückhielten, und der Raum wurde durch Öllampen erleuchtet. Die Priesterin öffnete eine Eisentür am Ende des Ganges und führte Mavren hinein. Das Wimmern eines Mannes ertönte durch die Ritzen in den Holzwänden, die auch die Zellen von einander trennten.

„Manuel tötete einen Kameraden in einem leichtsinnigen Akt der Wut über ein Kartenspiel“, sagte die Priesterin zu Mavren Fein und behielt dabei die Tür zur Zelle im Auge. „Mit ihm werdet Ihr heute bei Sonnenuntergang Eure Blutentsagung beenden. Ich bereite alles für die Zeremonie vor.“

Die Priesterin verriegelte die Tür hinter sich und ging wieder hinauf.

Mavren lief seine Zelle ab, während sein Magen knurrte und seine Zähne vor Vorfreude klapperten.

„Weißt du über die Heilige Elenda Bescheid, Verbrecher?“, fragte er durch die Wand der Zelle.

Das Wimmern wurde etwas intensiver. Mavren Fein schloss die Augen und hob die Hände.

„Die Heilige Elenda, die Ergebenste aller Ergebenen, die Erste der Gläubigen. Sie wurde sterblich geboren und war mit ihren Brüdern und Schwestern dazu auserkoren, die Immerwährende Sonne in den Bergen von Torrezon zu bewachen. Hör zu!“

Das Wimmern wurde zu einem kurzen Aufjaulen.

„Pedron der Boshafte tötete sie alle. Er hat seinesgleichen auf die schäbigste, gierigste und hinterlistigste Art hintergangen!“, fauchte Mavren. „Doch sie … sie überlebte. Sie war überlebensgroß! Haar so dunkel und glänzend wie die Schwingen einer Krähe und Fingernägel so scharf wie die tödlichste Klinge! Sie rannte hinaus, um gegen Pedron zu kämpfen, doch die Immerwährende Sonne war dem Verräter von einer geflügelten Bestie gestohlen worden!“

Das Wimmern nebenan war verstummt. Ganz offenbar hörte ihm Manuel aufmerksam zu.

„Die geflügelte Bestie trug die Immerwährende Sonne nach Westen und die Heilige Elenda folgte ihr! Diese entschlossene Frömmigkeit! Gesegnet sei die Heilige Elenda!“

„… Wie wurde sie zum ersten Vampir?“, murmelte Manuel in der benachbarten Zelle. Er wimmerte wieder laut auf, als Mavren Fein sich mit seinem ganzen Körper gegen die Holzwand zwischen ihnen warf.

„Sie war ein Genie! Eine Visionärin! Sie wandte sich der dunklen Magie zu und nahm die Bürde der Unsterblichkeit auf sich, bis die Immerwährende Sonne zurückgebracht werden kann! Gesegnete, wundervolle, brillante Heilige Elenda, die Erste der Gläubigen. Sie suchte Jahrhunderte lang und kehrte nach Torrezon zurück, um die Adligen das Ritual zu lehren, auf dass sie sie bei der Suche unterstützen konnten. Genial! Visionärin! Gesegnet von der Nacht selbst!“

Mavren Fein kratzte mit seinen langen Fingernägeln über die hölzerne Wand.

„Ich war einer der Frühen. Ich sah, wie sie wieder gen Westen segelte und wartete auf den Tag, an dem ich ihr folgen würde. Geduldig, geduldig, geduldig. Im Warten bin ich sehr gut.“

Mavren Fein verstummte. Es war nur noch Manuel zu hören, der in der benachbarten Zelle schwer keuchte.

Der Vampir kniete nieder, seine Hände zitterten vom Wahn der Blutentsagung.

Er grub die Finger durch eine schmale Lücke in der Wand, die ihn von dem Menschen trennte.

Manuel begann zu schreien.

In einer schnellen Bewegung riss Mavren Fein seine Hand wieder zu sich und damit die Wand in Stücke. Die Holzplanken begannen zu bersten und Mavren warf sich durch die zerstörte Holzwand und auf seine Beute.

Nur einen Atemzug später hatten sich seine Zähne in den Hals des Verbrechers gegraben und der rostige Geruch von Blut erfüllte die Luft.

Mavren Fein konsumierte das Blut vollkommen hemmungslos.

Alarmiert durch den Lärm eilten die Priesterin und die Wachen zu den Zellen hinab und hielten bei dem Anblick, der sich ihnen bot, inne. Voller Ehrfurcht sahen sie Mavren Fein beim Einnehmen seiner blutigen Mahlzeit zu. Vampirismus war ein Fluch, eine Bürde, die man ertrug, um ein höheres Ziel zu erreichen. Dieser Vampir hatte seinen Zustand selbst herbeigeführt. Das war bedauerlich, aber leider auch notwendig. Was ihnen zustand, konnte ohne Opfer wie dem seinen nicht gefunden werden.

Mavren Fein schnappte nach Luft und wischte sich den Mund mit seinem Ärmel ab. Der Wahnsinn war aus seinem Gesicht verschwunden und das Zittern hatte aufgehört.

„Priesterin, wie ist Euer Name?“ Seine Stimme war ruhig und kontrolliert. Das komplette Gegenteil des Vampirs, der zuvor noch wahnhaft herumgebrüllt hatte.

„Mardia“, sagte die Priesterin. Sie verbeugte sich leicht. „Bitte verzeiht, dass ich nicht die komplette Zeremonie zum Beenden der Blutentsagung vollziehen konnte.“

„Das ist schon in Ordnung, fromme Mardia,“ sagte Mavren Fein. Er wischte sich noch das Kinn ab und stand dann mit gefalteten Händen da. „Verzeiht das Chaos, das ich verursacht habe.“

„Der Rest Eurer Mannschaft ist also tot?“, wollte Mardia wissen. Mit ihren Händen vollführte sie einen schnellen Segen.

Mavren seufzte und nickte. „Ja. Das Schiff war auf Grund gelaufen, nachdem die Navigationsgeräte zerstört wurden. Wirklich bedauerlich. Doch ich beabsichtige, unsere Mission nichtsdestotrotz fortzusetzen.“

„Wie können wir Euch behilflich sein, Hohepriester?“

Mavren Fein lächelte sanft. „Frische Kleidung. Ein Stab. Ein neuer Kompass wird nicht nötig sein.“


VONA

Vona von Iedo, Ächterin der Sünder, Schlächterin von Magan, hatte sich ihren Ruf durch Jahrhunderte voller Schlachten verdient. Der Krieg der Ketzer hatte ihr genug abwechslungsreiche Unterhaltung geboten, dass ihr Schwert regelmäßig mit Blut getauft und ihr Durst stets gestillt werden konnte. Königreich nach Königreich auf dem Kontinent Torrezon wurde von der vereinten Kirche und Krone eingenommen und Vona genoss jede einzelne dieser Eroberungen.

Und nun stand sie an Deck ihres Schiffes, während dieses beherzt Kurs auf das Schiff der Tollkühnen Koalition am Horizont nahm.

Der glorreichste Tag in Vonas Leben war natürlich der Tag ihrer zweiten Geburt gewesen, den sie kniend in einer Kirche zugebracht hatte, um dort den Zauberspruch zu sprechen, welcher ihr Leben auf Ewig an den Dienst an Kirche und Krone gebunden hatte. Sie dachte oft an den Tag zurück, an dem sie zum ersten Mal das Blut eines Ketzers gekostet hatte, und den Schwur, den sie beim Sprechen des Zaubers geleistet hatte: „Unser Durst soll unsere Sühne sein. Unser Leben soll von unserem Dienst bestimmt sein. Jetzt und auf ewig soll das Blut der Schuldigen uns am Leben halten, bis wir wahre Unsterblichkeit erfahren werden.“ Vona erinnerte sich an das Gefühl neuen Lebens, das sie durchströmte; das plötzliche Hungergefühl. Die Gaben, die sie erhalten hatte, waren einfach unglaublich. Sie konnte mit der Lautlosigkeit eines Raubtiers schreiten und ebenso präzise töten. Sie fürchtete sich nicht davor, des Nachts allein unterwegs zu sein, denn die Seele der Nacht war in ihr und rann durch ihre Adern wie Blut. Warum nur um Himmels Willen wollte die Kirche damit aufhören, nach Blut zu sinnen?

Natürlich behielt sie diesen Gedanken all die Jahrhunderte lang für sich. Als Torrezon endlich vollkommen unter der Kontrolle der Legion des Zwielichts war, konnte Vona sich nur schwer an ein Leben ohne Kampf gewöhnen. Sie war zu einer Adeligen mit eigenen Ländereien geworden, doch diese waren ärmlich und steinig und überdies stellte sich schnell heraus, dass sie nicht zur Lehnsherrin taugte. Sie ertrug die Langeweile ein ganzes Jahrhundert lang. Doch eines Nachts beschloss sie, der Monotonie ein Ende zu setzen. Es bereitete ihr Freude, so wie einem Kind, dass sich vergnügt einem Spiel hingab. Eben eine einfache Art des Zeitvertreibs. Sie ging durch Kämmerlein und Felder und machte jeden ihrer menschlichen Diener ausfindig. Und in nur einer kurzen aber grausig schönen Woche hatte sie jeden einzelnen von ihnen mit Wonne niedergestreckt. Für Vona war es wie eine Hatz. Ein Sport, in dem sie aufging. Und nachdem sie fertig war, ließ sie ihr Domizil und ihre Ländereien einfach zurück.

Das war vor fünfzig Jahren.

Sowie Königin Miralda bekannt gegeben hatte, dass sie eine Flotte zusammenstellen und nach der Heiligen Elenda – DER Heiligen Elenda! – suchen lassen würde, hatte sich Vona freiwillig gemeldet, um das erste auslaufende Schiff zu befehligen. Sie dürstete nach Blut. So sehr. Ob ihre Beute nun schuldig war oder nicht, sie würde sich davon nicht beirren lassen.

Doch das funktionierte nur, wenn sie niemandem davon erzählte, wie wenig sie auf die Regeln gab, denen sie eigentlich verpflichtet war. Dass es ein Geheimnis war, machte es erst richtig aufregend.

Und nun war ein Schiff der Tollkühnen Koalition zum Greifen nahe.

Vona stand am Bug ihres Schiffes und warf ihren unmenschlich scharfen Blick übers Meer. Ihre Mission bot ihr nun genug Spannung, um die Langeweile in Schach zu halten.

Die Streitlustige neigte sich zur Seite und die Mannschaft konzentrierte sich nur auf die Küste direkt vor ihnen. Eine hoch über dem Mast fliegende Sirene hatte Vonas Schiff mittlerweile entdeckt, doch sie waren nur ein kleiner dunkler Fleck, der sich auf einem vom herannahenden Gewitter dunkel gefärbten Horizont abzeichnete.

Vona war durstig und für sie lag es in der Natur der Sache, dass sich auf der Streitlustigen nichts als schuldige Ketzer befanden, deren Blut konsumiert werden wollte. Ein Piratenschiff zu kapern war schon ironisch, aber auch notwendig, damit sie ihren Durst stillen konnte.

Eine unerwartet heftige Welle warf das Schiff brutal nach vorne und Vona klammerte sich an die Reling, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

„Wie konnte dieser Sturm so plötzlich aufziehen?!“, rief sie ihrem Navigator zu.

Der Mensch richtete seinen Sextanten Richtung Küste. „Jemand muss ihn beschworen haben! Die Flussherolde Ixalans sind berühmt für ihre elemen…“

„Es interessiert mich nicht, wofür sie berühmt sind! Konzentriere dich auf das Schiff der Tollkühnen Koalition! Wir sind beinahe nah genug zum Kapern!“

Vona sah zu, wir ihr Priester den Stab erhob und einen dichten schwarzen Rauch beschwor, der ihr Schiff umhüllte. Die Streitlustige war zum Greifen nahe (und im Namen aller Heiligen, Vona war bereits am Verdursten).

Doch der Himmel hatte sich von einem erdrückenden Grau in ein wütendes Schwarz gefärbt. Das Meer warf Vonas Schiff umher und trug es auf massiven Wellen in die Höhe, nur um es dann wieder ins Wasser stürzen zu lassen. Die Mannschaft versuchte, die Segel am Wind auszurichten, um es navigieren zu können, doch das wütende Meer drohte, sie alle von Bord zu fegen.

Vona sah die weiße Linie, wo der Strand auf ausgelagerte Felsen traf. Ihre Augen weiteten sich, doch sie schloss sie gerade noch rechtzeitig, als ihr Schiff mit Gewalt seitlich in die Felsfront rammte.

Sie fiel von Bord und hinein ins aufgewühlte Wasser. Das Wasser spielte mit ihrem Körper wie mit einer Puppe, doch irgendwann schaffte sie es, die Wasseroberfläche zu erreichen.

Schiffbruch erleiden
Schiffbruch erleiden | Illustration von Dimitar

Hinter ihr lag das Wrack ihres Schiffes und um sie herum verstreut lagen die Leichen ihrer Mannschaft auf feinem weißen Sand. Vor ihr war nur eine Wand aus tiefem, grünem Dschungel.

Vona stolperte durch das hüfthohe Wasser und rutschte auf den glatten Steinen unter ihren Stiefeln aus, bevor sie festen Halt fand.

Sie lief an den Strand und stolperte abermals über hölzerne Überreste ihres Schiffes, die zusammen mit Seetang an Land gespült worden waren. Die Geräusche von sich im Wasser bewegenden Körpern sagten ihr, dass sie nicht die einzige Überlebende war. Und auch an Land entdeckte sie nun ein paar angeschlagene Mitglieder ihrer Mannschaft. Allerdings waren sie für Vona so bedeutungslos wie Fremde auf einem Marktplatz. Sicherlich hatten sie ihre Aufgaben und ihre Zwecke, doch verglichen mit ihr waren sie entbehrliche Schachfiguren.

Vonas Mannschaft hatte nur bis zur Erfüllung ihrer Aufgabe einen Zweck. Sie hatten die Küste Ixalans erreicht und damit hatte ihre Mannschaft ihren Zweck bereits erfüllt. Sie allerdings war davon ausgenommen. Ihre Aufgabe war göttlich und war ihr von der Königin selbst übermittelt worden.

Ein altbekanntes Gefühl wühlte ihr Herz auf. Vona von Iedo, Schlächterin von Magan, war der Heiligen Elenda nun so nah wie noch nie zuvor in ihrem Leben.

Ein diabolisches Grinsen machte sich auf ihrem Gesicht breit. Endlich.

Sie kämpfte sich schweren Schrittes und vollkommen durchnässt weiter und vom Strandabschnitt weg. Einige Mitglieder ihrer Mannschaft riefen nach ihr oder versuchten noch immer, wie verzweifelte Fliegen im Honig den Wellen zu entkommen. Sie und ihre Mannschaft hatten das Schiff der Tollkühnen Koalition tagelang verfolgt. Sie hatten den Navigator angewiesen, ein Manöver zum Kapern des Schiffes vorzubereiten, damit die Vampire vor dem erwarteten Landgang noch einmal trinken konnten. Ihresgleichen brauchte dies schließlich, um bei Kräften zu bleiben. Nun, da Vonas Schiff neben dem Piratenschiff gekentert war, erkannte sie, welch schicksalhafter Glücksfall dies war.

Vona war hocherfreut. Sollten die Gerüchte stimmen, ist die Person mit dem Kompass der Kapitän des Schiffes.

Die Vampirin hielt inne und wog ihre Möglichkeiten ab. Sie konnte entweder auf diese Person warten … oder sie konnte den Kapitän im dichten Dschungel angreifen. Vonas teuflisches Grinsen war zurück. Ihre letzte Jagd war schon zu lange her.

Hinter ihr stolperten ein paar Piraten an Land. Vona konnte sie riechen.

Einer der Männer saß fassungslos am Strand und drückte einen Arm mit einem offenen Bruch an sich. An seiner Kleidung erkannte man sofort, dass er zur Tollkühnen Koalition gehörte, und sein Gesicht war faltig wie ein altes Bettlaken. Er sah Vona in die Augen und fiel zurück in den Sand. Langsam kroch er auf seinen müden Beinen verängstigt von ihr weg.

„Bitte! Nein! Ich bin kein Verbrecher!“

Vona schritt voran und blickte naserümpfend auf den Mann hinab. „Erkennst du die Souveränität der Königin Miralda an?“

„J-Ja! Das tue ich!“

Die Vampirin grinste verächtlich. „Dann solltest du wissen, was Ihre Majestät von Lügnern hält. Ich befinde dich des Verrats für schuldig und erkläre dich im Namen der Kirche zu einem Verbrecher.“

Das Geräusch von aufgepeitschtem Sand und einem erstickten Schrei beendeten ihr Dekret und Vona führte mit einem blitzschnellen Biss in die Kehle des Piraten wieder Stille herbei.

Gierig trank sie sein Blut und konnte spüren, wie es ihren Körper erfüllte. Sie wusste, dass sie gerade eine echte Sauerei veranstaltete, doch es war ihr egal. Das Meer würde schon alles fortspülen.

Sie stöhnte zufrieden auf und nahm dann ein Schwert an sich, das ebenfalls an den Strand gespült worden war.

Vona marschierte auf die Wand aus Blattwerk zu.

Sie war nicht für ihre Geduld bekannt. Sie wusste, dass ihre Mannschaft ihr folgen würde, wenn sie denn Schritt halten konnte.

Außerdem brauchte sie sie nicht für die Aufgabe, die nun vor ihr lag. Sie war die Schlächterin von Magan und die Immerwährende Sonne stand ihr zu.


JACE

Jace war froh, dass seine Amnesie ihn nicht das Schwimmen vergessen ließ.

Der heftige Sturm hatte ihn zusammen mit Vraska über Bord gehen lassen. Jace klammerte sich an ein Stück Treibholz und versuchte so, Energie zu sparen, während er auf den Strand zuschwamm. Mit einem Seufzer der Erleichterung spuckte er etwas Salzwasser aus, als er Vraska auftauchen sah. Sie schwamm mit entschlossenen und kraftvollen Zügen zu ihm und dann mit ihm gemeinsam zum Strand.

„Jemand hat diesen Sturm heraufbeschworen“, merkte Jace an und spuckte noch mehr Salzwasser aus.

„Dort an Land auf diesem Felsen war ein Elementarmagier“, sagte Vraska. „Jetzt ist er verschwunden.“

Jace blickte zu den vorgelagerten Felsen. Zu seiner Linken war das Schiff der Legion des Zwielichts, das sie verfolgt hatte. Es war an den Felsen vollkommen zerschellt, doch eines der kleineren Schiffe, das Geleit gegeben hatte, war noch intakt. Das kleinere Schiff trieb schief in der Nähe der Deltamündung.

„Siehst du das kleine Schiff? Wir können damit Flussaufwärts und in den Kontinent hineinsegeln“, sagte Vraska. „Ich gehe zurück und hole die Mannschaft. Bleib solange am Leben.“

Jace nickte widerwillig und kämpfte sich weiter auf den Strand. Nachdem er den Schiffbruch überlebt hatte, hatte er sicher nicht vor, jetzt zu sterben.

Der Sand hier war sehr viel grober als auf der Verdammten Insel. Der Strand war zudem übersät von Steinen und Seetang und das aufgewühlte Meer hinterließ den Gestank von totem Fisch. Die Luft war noch schwer und schwül von dem heftigen Sturm.

Dieser Effekt weckte sofort Unbehagen. Sie mussten von hier fort, bevor die Situation unweigerlich blutig werden würde. Er fühlte sich, als müsste er sich für ein Wettrennen bereithalten. Als ob gleich irgendwo ein Tor auffliegen und ein weißes Kaninchen eine Hetzjagd einläuten würde.

Er begann, sich seinen Weg zu dem kleinen Schiff zu bahnen. Als er endlich ein Stück vom Wasser entfernt war, konnte er den beträchtlichen Schaden sehen, den der Sturm angerichtet hatte. Die Streitlustige hatte die Seite des Schiffs der Legion des Zwielichts gerammt und sich darin verkeilt. Teile beider Schiffe ragten aus dem jeweils anderen heraus und der massive Berg aus zerfetztem Holz wurde von den Wellen immer noch weiter gegen die Felsen geschoben. Jace sah auch Körper im Wasser treiben, doch er wollte gar nicht so genau hinschauen, dass er erkennen konnte, ob es seine Freunde oder Feinde waren.

Sein Herz setzte einen Schlag aus. Malcolm. Breeches. Gavven. Amelia. Es waren die einzigen Menschen, die er – gemessen an seiner Erinnerung – je gekannt hatte.

Jace hörte ein Murmeln in seinem Verstand, das immer lauter wurde. Es klang hungrig und wild wie ein Tier. Er blickte nach rechts und sah, wie ein Vampir in glänzender Rüstung durch den Sand auf ihn zupreschte.

Panik machte sich blitzschnell in Jace’ Verstand breit, doch sowie seine Instinkte die Kontrolle übernahmen, wurde seine Wahrnehmung so langsam, dass sie beinahe zum Stillstand kam.

Der Verstand des Vampirs eröffnete sich ihm und er konnte die fragilen Strukturen aus Energie sehen. Jace streckte die Hand aus, doch erlaubte nur einem winzigen Bruchteil seiner unermesslichen Macht für den kürzesten Moment, gleich einer Nadelspitze, sein Ziel zu erreichen. Diese winzige Nadelspitze seiner Macht übertrug nur ein einfaches Kommando: schlafe.

Seine Instinkte überließen wieder seinem Verstand die Kontrolle. Jace schnappte nach Luft. Der Vampir vor ihm trudelte und stürzte dann schnarchend in den Sand.

Jace verharrte an Ort und Stelle und starrte freudig überrascht den Vampir zu seinen Füßen an.

„JACE!“

Vraska kam zu ihm gerannt.

SCHLIESSE DEINE AUGEN, schrie sie ihm mental und laut genug entgegen, dass er sie hören konnte.

Jace schloss die Augen und hörte, wie etwas mit einem dumpfen Knall hinter ihm in den Sand stürzte.

Er sah zurück und hinab. Ein versteinerter Vampir lag nun ebenfalls zu seinen Füßen. Das Ding sah aus, als hätte es jemand aus einem Museum geholt und auf diesen Strand geworfen. Der Vampir war mitten im Lauf versteinert worden. Seine versteinerte Kleidung war so detailreich, dass es ihm unmöglich vorkam, so etwas wirklich in Stein zu meißeln. Wüsste Jace es nicht besser, hätte er angenommen, dass dies die Skulptur eines meisterhaften Künstlers war. Es war beinahe ein schöner Anblick.

Vraska blieb neben ihm stehen.

„Wir haben Edgar verloren“, sagte sie mit leichter Verbitterung in der Stimme und sah zum Schiff. Jace folgte ihr und ließ den versteinerten und auch den schlafenden Vampir hinter sich.

Den Mannschaftsmitgliedern der Streitlustigen, die überlebt hatten, saß der Schreck in den Knochen, doch sie waren bereit, sich zu verteidigen. Etliche Vampire schwammen trotz ihrer schweren Rüstungen schnell auf den Strand zu. Ihre besonderen Fähigkeiten reichten offenbar über das bloße Trinken von Blut hinaus.

Breeches hechtete mit weiten Sprüngen über den Sand zu Vraska.

„Wir kämpfen, du gehst!“, rief er. Vraska kniete sich zu ihm hinunter.

„Wir sind eine Mannschaft. Wir gehen alle zusammen“, sagte sie mit fester Stimme.

Breeches schüttelte seinen Kopf. „Wir bekämpfen Zwielicht, du findest Sonne! Treffen uns später!“

„Wie wollt ihr uns denn finden?“, wollte Vraska wissen.

Breeches deutete mit dem Finger auf Jace. „Wir folgen hübschen Illusionen!“

Vraska nickte. „Jace wird etwas Großes erzeugen, wenn wir weiter Flussaufwärts von Bord gehen. Lasst Malcolm stündlich aus der Luft nach uns Ausschau halten“, wies Vraska Breeches an.

Der Goblin nickte und trollte sich auf zwei Beinen zurück zu den übrigen Mannschaftskameraden, während er in beiden Händen jeweils ein Messer schwang wie ein tollwütiges Killeräffchen.

„Breeches!“, rief ihm Vraska noch einmal hinterher. Der Goblin drehte sich um und auch der Rest der Mannschaft lauschte den Worten ihrer Kapitänin.

„Wir werden nicht lange hier bleiben. Lasst die Einheimischen in Ruhe,“ befahl sie. „Aber tötet jeden Vampir, den ihr finden könnt.“

Der Goblin grinste und die Mannschaft der Streitlustigen zückte die Waffen, um sich in den Kampf gegen die verbliebenen Vampire zu stürzen.

Jace zitterte trotz der sommerlichen Hitze. Er war froh, auf der Seite der Piraten zu sein.

„Beleren! Mir nach!“, rief sie ihm zu, bevor sie zum kleinen Schiff in Küstennähe rannte.

Jace und Vraska liefen schnellen Schrittes über den Strand und zu ihrem auserkorenen Ziel am Flussdelta. Der Untergrund unter ihren Stiefeln wechselte langsam von feucht-schwerem zu trockenem und klumpigem Sand. Sie rannten an den reglosen Körpern ihrer Kameraden vorbei, die in Lachen aus ihrem eigenen Blut lagen, und Vraska fluchte. Blutige Stiefelabdrücke führten vom Strand in das dichte Unterholz des Dschungels.

Vraska schaute im Sprint zu Jace. „Jace, du musst uns tarnen.“

Er schloss seine Augen und wirkte einen Schleier der Unsichtbarkeit, der sich über ihn und Vraska legte. Er ließ auch ihre Spuren im Sand und jeden Einfluss ihrer Bewegungen auf die Umgebung mit einer Illusion verschwinden.

Vraska preschte durch das seichte Wasser und erklomm sogleich das kleine Schiff. Jace hievte sich nach oben und schnappte nach Luft.

Im Schutze von Jace’ Illusion machte sich Vraska sofort daran, die Segel zu setzen.

Das Schiff war klein, beinahe nur ein Boot, dass wohl eher zum Fischen und zur Erkundung diente. Die dunklen Segel flatterten im Wind und eine plötzliche Brise schob das Schiff landeinwärts und in den Dschungel hinein.

„Wir sollten den Wind nutzen, solange wir noch können. Vor uns liegt aber sehr viel Rudern“, merkte Vraska an.

Sie sahen in der Ferne, wie am Strand ein Kampf entbrannte, doch rasch versperrte ihnen der Dschungel die Sicht und sie verloren Die Streitlustige aus den Augen. Das Kampfgeschrei und das Rauschen der Wellen wichen den Lauten von unzähligen Insekten und den Rufen kleiner fliegender Reptilien.

Dieser Dschungel unterschied sich von dem auf Jace’ Verdammter Insel und er staunte über die erhabene Größe der Bäume hier. Auf seiner Insel hinderte ein Mangel an Platz sie daran, ihre volle Größe zu erreichen, doch hier hatten sie allen Platz der Welt, in die Höhe und Breite zu schießen. Er fühlte sich winzig, wie eine Miniaturversion seiner selbst, die jemand in einen riesigen Garten geworfen hatte.

Vraska hatte alle Hände voll damit zu tun, die Segel so auszurichten, dass sie noch die letzten Ausläufer der schwindenden Brise einfingen. Nach einer Weile gab sie auf und holte die Ruder hervor. Besorgt legte sie ihre Stirn in Falten.

„Du sorgst dich um den Rest der Mannschaft“, sagte Jace. Vraska nickte.

„Ja. Aber sie können auf sich selbst Acht geben“, sagte sie. „Ich bin ihre Kapitänin, nicht ihre Mutter. Sie werden zu uns aufschließen, sobald die Gefahr gebannt ist.“

Über ihnen begannen die Baumkronen sich zu einem massiven Dach aus Blattwerk zu schließen.

Wald
Wald | Illustration von Min Yum

Schatten und sattes Grün umgaben ihr kleines Schiff und der Fluss verengte sich zusehends zu einem tiefen Kanal. Die Zweige über ihren Köpfen bildeten ein dichtes Geflecht, welches die Sonne praktisch vollkommen aussperrte. Die Luft war feucht, schwer und roch nach nasser Erde.

Er warf einen Blick über den Rand des kleinen Schiffs. Ein Fischschwarm wirbelte fidel neben ihnen durch das Wasser. Der Fluss war klar genug, um ihre Umrisse zu erkennen.

Jace sah wieder auf und bemerkte, dass Vraska ihn mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck anstarrte, den er nicht ganz deuten konnte. Sie wirkte angespannt und auch zögerlich.

„Was ist los?“, fragte er.

Sie atmete tief ein.

„Wir sind beide nicht von hier“, schossen die Worte aus ihr heraus.

Jace musste blinzeln. „Ja, das weiß ich doch. Du sagtest, wir kommen beide aus Ravnica …“

Sie verzog das Gesicht und wirkte, als wollte sie nicht weitersprechen und doch zugleich sehr viel loswerden. „Ravnica befindet sich nicht auf dieser Welt.“

Jace’ Augenbrauen wanderten so weit nach oben, wie es physisch möglich war. „Dieser Welt?“

Vraska suchte ganz offensichtlich nach den richtigen Worten, um das auszudrücken, was sie sagen wollte. Sie steckte den Kompass weg, den Jace ihr zuvor zurückgegeben hatte, und nutzte ihre Hände, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen.

„Du hast mir erzählt, dass dein Körper verschwunden und wieder erschienen sei, als du zum ersten Mal hier erwacht bist. Und ein Symbol war über deinem Kopf erschienen, richtig?“

Jace nickte.

Vraska atmete aus und richtete sich danach auf. Ein merkwürdiger Schatten legte sich über ihr Boot und ihr Körper begann, sich aufzulösen.

Jace sprang so schnell auf seine Beine, dass er beinahe in den Fluss stürzte.

Er hörte einen plötzlichen dumpfen Laut und drehte sich herum. Vraska war am anderen Ende des Bootes wieder erschienen und es wäre wohl derselbe Fleck gewesen, würde das Boot sich nicht stromaufwärts bewegen. Über ihrem Kopf erschien das gleiche Symbol aus Dreieck und Kreis, das damals auch über ihm erschienen war.

Jace fiel die Kinnlade herunter.

Vraska führte mit den Händen eine kleine Bewegung aus, wie ein Taschenspieler, der gerade einen Trick vollführt hatte. „Ich kann das auch. Und normalerweise, wenn wir …“, sie deutete dabei auf ihn und sich, „… das tun, können wir zu anderen Welten reisen“, erklärte sie mit ausschweifenden Handgesten. „Wir sind Planeswalker.“

Das waren einfach viel zu viele und vor allem viel zu erschlagende Informationen, um sie auf einmal verarbeiten zu können. Jace fragte die erste von ungefähr dreißig Fragen, die ihm sofort in den Sinn kamen.

Vraska bremste ihn mit einer ausgestreckten flachen Hand. „Warte mit den Fragen, bis ich fertig bin! Nun ist es so: Wenn wir hier versuchen, weltenzuwandern, zieht uns irgendetwas zurück und wir kommen nicht weg. Richtig? Ich glaube, dass sich in Orazca nicht nur die Immerwährende Sonne verbirgt. Von dort geht auch die Verzauberung aus, die uns hier festhält. Ich wurde angewiesen, mit einem Zauber jemanden auf einer anderen Welt zu kontaktieren, sobald ich die Immerwährende Sonne gefunden habe, und ich glaube, sowie ich das getan habe, kommen wir von hier weg.“

„Ist das überhaupt mög…“

„Ein Drache hat mir das Segeln beigebracht, Jace. Also wer weiß, was alles möglich ist?“

Jace war unglaublich erpicht darauf, dieses Rätsel zu entschlüsseln. Er schaute Vraska direkt in die Augen und sprach seinen Gedanken nur zu gerne laut aus. „Wir dachten, dass der Kompass einfach nur zu einer Stadt führt, aber er reagiert auf besonders mächtige Magie.“ Er schaute auf Vraskas Hosentasche hinunter. „Er verweist nicht auf den magnetischen Norden, sondern auf den ätherischen Norden und gibt zugleich an, wo sich noch weitere magische Ereignisse ähnlicher Stärke abspielen. Deshalb hat er auf mich gedeutet, als du mich gefunden hast. Und deshalb zeigt er jetzt wahrscheinlich auf dich. Das habe ich versucht, dir auf dem Schiff zu sagen, bevor wir gekentert sind.“

Sie zog den Kompass wieder aus der Tasche. Er zeigte tatsächlich auf sie, doch die Nadel begann langsam, sich neu auszurichten, als das Symbol über ihrem Kopf verschwand.

Jace nickte bestätigend und stellte über einen kleinen Schalter an der Seite eine der Nadeln neu ein, die seiner Auffassung nach auf den ätherischen Norden zeigte. Er stellte ihn an und aus, während eine weitere Nadel beständig in Richtung Orazca zu zeigen schien. „Wir können so unsere genaue Route bestimmen, indem wir den Winkel zwischen dem ätherischen Norden und Orazca berechnen … Oder wir folgen einfach der größten Ansammlung an magischer Energie, so wie du es getan hast. Die zweite Option ist nicht so elegant, aber sie funktioniert.“

„Das ist … unglaublich“, sagte Vraska und blickte auf den Thaumaturgischen Kompass. Dann begann sie zu Lächeln und das Lächeln wurde rasch zu einem Lachen. „Die Barriere muss auf derselben Magie beruhen, die es uns auch ermöglicht, zwischen Welten zu wandern! Deswegen zeigt der Kompass dorthin! Du hast es wirklich herausgefunden!“

Jace übertünchte sein verlegenes Grinsen mit einem Schulterzucken. „Ich war mir sehr sicher, dass die Person, die mich hierher geschickt hatte, mein Leben beenden würde, wenn ich nicht finden könnte, was ich mit dem Kompass finden sollte. Aber jetzt gibt es wieder Hoffnung, und das dank dir!“

„Wir haben beide unsere Stärken“, erwiderte Jace verlegen.

Vraska grinste. „Und deine sind einfach unglaublich!“ Dann hielt sie für einen Moment inne. Etwas in Vraskas Gesichtsausdruck veränderte sich. Ihr Lächeln wurde weich. „Jace, ist tut mir leid, dass ich das Weltenwandern vor dir verheimlicht habe. Als ich dich fand, war ich mir nicht sicher, ob ich dir vertrauen kann. Doch ab sofort verschweige ich dir nichts mehr.“ Sie begann weiterzurudern und die seichten Wellen des Flusses schaukelten das Boot. „Ich habe mich nie für das bedankt, was du damals zu mir gesagt hast, als wir am Hafen am Ende der Welt vor Anker lagen. Noch niemals zuvor hat sich jemand die Zeit genommen, sich meine Geschichte anzuhören. Vielen Dank.“

Jace lächelte. „Deine Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Danke, dass du sie mit mir geteilt hast.“

Das sanfte Lächeln, das sie ihm als Erwiderung schenkte, ließ ihn innehalten. Es war verletzlich und ehrlich. Vraska sah ihm tief in die Augen.

Sie hatte aufgehört zu rudern.

Alles an diesem Dschungel war so ausufernd und überwältigend. Es fühlte sich an, als läge in allem eine tiefere Bedeutung. Jace hatte unzählige Fragen in seinem Kopf, die alle nicht unterschiedlicher hätten sein können. Sie reichten von Belanglosigkeiten bis hin zu absoluten Phantastereien. Mochte sie Bücher? Was waren die metaphysischen Eigenschaften des Raums zwischen den existierenden Welten? Wie unterschied sich das Weltenwandern von anderen Zaubersprüchen? Welchen Nachtisch mochte sie am liebsten?

Doch etwas in einem der hintersten Winkel seines Verstandes erregte Jace’ Aufmerksamkeit.

Er warf einen genauen Blick auf die Flussufer. Einige Sekunden lang saß er nur still da und tastete die Umgebung mit seinen Kräften ab, um zu sehen, ob sie verfolgt wurden. Die Illusion der Unsichtbarkeit wirkte noch immer auf ihr Boot. Um sie herum herrschte vorwiegend Leere, doch in weiterer Entfernung nahm er etwas wahr. Er konzentrierte sich so gut es ihm möglich war, um den Spielraum seiner Wahrnehmung zu erweitern.

Vraska sah ihn angespannt an. „Spürst du etwas?“

Jace nickte. „Einen Menschen, einen Vampir, ein Meervolk … und einen Minotaurus.“

Zwischen Vraskas Augenbrauen bildete sich eine Falte. „Ein Minotaurus?“


HUATLI

Dichte Mangroven gaben den Weg auf weichen Sand frei und Huatli konnte fühlen, wie ihr Reittier mit jedem Schritt ein wenig einsank. Sie drehte sich herum und gab ihrem stellvertretenden Truppenführer mit einer Handgeste zu verstehen, dass dies das Gebiet war, in dem erst kürzlich Meervölker gesichtet worden waren.

Hier würde sie jemanden finden, der sie zur Goldenen Stadt führen konnte.

Der Gedanke an diese Herausforderung belebte Huatli regelrecht.

Ihr Klauenfuß spürte dies und gab einen aufgeregten Laut von sich.

Die Verbindung zwischen einem Reiter und seinem Reittier konnte mitunter sehr intensiv sein. Manche Reiter bevorzugten es, ihr Reittier direkt nach dem Schlüpfen selbst aufzuziehen. Andere bevorzugten es, wilde Dinosaurier zu fangen und sie durch magischen Einfluss als ihr Reittier zu prägen. Huatli war sehr praktisch veranlagt. Ihre Reittiere waren weder ihre Kinder noch ihre Haustiere. Sie waren Hilfsmittel, die mit Respekt zu behandeln waren, und eine Einheit mit ihrem kriegerischen Selbst bildeten.

Der Himmel in der Ferne war tiefgrau und wütende Wellen krachten gegen eine vorgelagerte Steinformation, die diese zurück ins Meer warf. In der Nähe dieser Felsen sah Huatli zwei gekenterte Schiffe. Eines trug die Farben der Tollkühnen Koalition und das andere hatte die typischen schwarzen Segel der Legion des Zwielichts.

Eine Person erregte ihre Aufmerksamkeit. Zumindest musste sie eine Person sein, doch ihr Anblick war für Huatli vollkommen befremdlich.

Ihre Haut war smaragdgrün und wirkte beinahe reptilienartig und ihre schimmernden goldenen Augen waren weit aufgerissen und suchten den Strand nach Überlebenden ab. Aus ihrem Kopf wuchs kein Haar, sondern etwas, was für Huatli wie Schlangen aussah, und sie trug die Jacke eines Kapitäns.

Huatli wusste, dass sie sich den Schiffen besser nicht nähern sollte. Der Sturm, den das Meervolk heraufbeschworen hatte, war zwar stark genug gewesen, die Schiffe an den Felsen zerschellen zu lassen, doch er hatte sicherlich nicht alle an Bord getötet. Die Kriegerin in ihr wollte all diese Eindringlinge vertreiben, doch dafür war sie nicht hergekommen.

Inti ritt an Huatlis rechte Seite heran. Er ritt auf einem Klingenzahn – ein zähes Reittier und deutlich größer als Huatlis flinker Klauenfuß. Inti sah auf sie herab und zeigte auf den Felsen, der nahe der gekenterten Schiffe hinausragte. Mit der anderen Hand tippte er auf das Netz, das an der Seite ihres Sattels festgemacht war.

Huatli nickte. Er kann offenbar den Flussherold sehen, der den Sturm erzeugt hat.

Sie drehte sich zu Teyeuh. „Kehre in die Stadt zurück und hol Verstärkung, um die überlebenden Eindringlinge aufzuhalten.“

Teyeuh nickte und ritt mit seinem Klauenfuß zurück in den tiefen Dschungel.

Huatli und Inti ritten parallel zum Strand durch das dichte Blattwerk, genau dort, wo der Dschungel auf den Strand traf. Sie preschten durch die Mangroven und das Meerwasser genau zu der Stelle an den Felsen, auf die Inti gedeutet hatte.

Am Strand hinter sich hörten sie die Schreie eines Mannes. Huatli drehte sich nicht herum, um zu sehen, was dort geschah. Sie wusste, sie musste konzentriert bleiben. Stattdessen trieb sie ihren Klauenfuß an und brach aus dem Dschungel heraus und ins Tageslicht. Die Schreie hinter ihr verstummten und auf den Felsen vor sich sah sie einen Körper liegen. Huatli trieb ihr Reittier weiter an, um einen besseren Blick zu haben.

Genau dort auf dem Felsvorsprung, der in das schier unendliche Meer hinausragte, lag ein bewusstloses Meervolk.

Sie sah alt aus. Ihre Finnen waren lang und hatten blasse, abgestumpfte Enden und prächtiger Jadeschmuck ruhte an den Seiten ihres Kopfes. Wer auch immer sie war, sie musste den Sturm beschworen und die beiden Schiffe versenkt haben. Und wenn sie so bedeutend war, wie Huatli annahm, dann kannte sie auch den Weg nach Orazca.

Huatli sprang vor Aufregung fast das Herz aus der Brust. Ihr Plan war ihr zunächst wie ein großer Fehler vorgekommen, doch nun, da sie das Meervolk vor sich liegen sah, kam er ihr nur noch unmöglich vor.

Wie kann ich den ältesten Feind des Imperiums der Sonne davon überzeugen, mir zu helfen?

Wahnwitziger Mut ergriff sie und ihr Blick war nun voller Entschlossenheit. Ich werde einen Weg finden!

Huatli ritt ein Stück näher und stieg dann ab. Als sie näher kam, fing das Meervolk an, sich zu bewegen. Langsam und benebelt kam sie wieder auf die Beine. Das alte Meervolk richtete sich auf und sah Huatli und Inti an, woraufhin sich die Finnen an den Seiten ihres Kopfes vor Überraschung scharf zusammenzogen.

„Ich habe nicht vor, dich anzugreifen“, sagte Huatli bestimmt.

Das Meervolk schloss die Augen.

Huatli wunderte sich. Was tat sie nur?

Das Meervolk atmete tief ein und aus und sah dann wieder Huatli an. „Er ist bereits unterwegs. Geht mir aus dem Weg oder ich sorge dafür, dass ihr mir aus dem Weg geht.“

Wovon in aller Welt sprach sie nur? Huatli griff zu ihrer Klinge. Die Flussherolde waren für ihren Starrsinn bekannt. Sie wusste, dass es schwierig werden würde, einen von ihnen davon zu überzeugen, ihnen den Weg zu weisen, doch ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass es mit dieser ganz besonders frustrierend werden würde. Es würde keine direkte Antwort geben.

„Mein Name ist Huatli, zukünftige Poetin des Krieges für das Imperium der Sonne. Sag mir deinen Namen.“

„Ich bin Tishana von den Flussherolden“, antwortete das Meervolk vorsichtig, „und Ixalan ist in Gefahr.“

Sie erhob eine Hand und Wellen schlugen gegen die Felsen unter ihnen.

Eine Einschüchterungstaktik. Doch Huatli ließ sich nicht so leicht einschüchtern. Sie zuckte nicht einmal. „Warum ist Ixalan in Gefahr?“

Tishanas Finnen flatterten aufgebracht. „Ein Flussherold hat unsere Grundsätze verraten und befindet sich gerade auf dem Weg dorthin. Kumena will entscheidende Kräfte ins Ungleichgewicht bringen.“

Das Meervolk erinnerte Huatli daran, was vielleicht passieren würde, wenn sie einen Schamanen des Imperiums der Sonne mit einer etwas verrückt wirkenden alten Tante kreuzen würde. Eine weise Mystikerin mit dem Vokabular einer sturen Exzentrikerin.

„Ich will nach Orazca, aber ich brauche jemanden, der mir den Weg weist.“

Die Finnen des Meervolks zuckten. „Was?“

„Sie hat sie gesehen“, warf Inti ein und sah zu Huatli.

Nun flatterten die Finnen des Meervolks.

Huatli wählte ihre Worte mit Bedacht: „Ich setzte seltsame Magie ein und sah eine Goldene Stadt.“

Tishana starrte sie mit einem todernsten Ausdruck in den Augen an. „Du hast eine Goldene Stadt gesehen.“

„Ja.“

„Nicht die Goldene Stadt?“

Huatli runzelte leicht verlegen die Stirn. Dieses Gespräch kam ihr sehr bekannt vor. „Ich habe Orazca gesehen“, bestätigte sie nun mit Nachdruck.

Inti warf nun wieder etwas mit ruhiger Stimme ein. „Die Goldene Stadt muss gefunden werden, wenn wir unsere beiden Völker schützen wollen.“ Er deutete zum Chaos am Strand.

Tishana drehte sich zu Huatli und beugte sich zu ihr vor. Ihr Gesichtsausdruck war ernst, sie wirkte wie ein konzentriertes Raubtier. „Und du musst einfach nur dort hingehen? Du willst sie nicht besitzen? Oder sie im Namen deines Imperiums an dich reißen?“

Huatlis Miene war wie versteinert. Sie kniete sich hin und legte ihre Waffe auf den Boden, bevor sie mit nichts als Respekt in ihrem Blick wieder zum Meervolk aufsah.

„Etwas in mir wollte, dass ich die Stadt sehe. Ich bin mir sicher, dass dies beweist, wie wichtig meine Mission für das Überleben unserer beiden Völker ist. Wir sind keine Feinde in diesem Kampf.“

Das Meervolk hielt inne und studierte den Ausdruck in Huatlis Gesicht. Sie schien direkt in sie hineinzublicken und Huatli fühlte sich unter Tishanas Blicken unglaublich jung, während sie vor ihr niederkniete.

Tishana senkte ihre Augenlider und bewegte leicht die Lippen, während sie eine Antwort ersann. Sie legte Huatli schließlich eine Hand auf die Stirn.

Huatli fühlte eine seltsame Hitze in sich aufsteigen, als hätte jemand ein Feuer in ihrer Brust entfacht.

Tishana öffnete ihre Augen wieder. „Ich habe dich gespürt. Schon vor Tagen“, sagte sie.

Huatli konnte nicht anders, als mit erstaunter Abneigung zurückzublicken.

Das Meervolk entfernte sich einen Schritt von ihr und ignorierte ihren abgeneigten Ausdruck. „Ich konnte spüren, wie etwas heftig an der Energie unserer Welt gezogen hat, wie ein Delfin, der versucht, die Wasseroberfläche eines Flusses zu durchstoßen.“

Tishana war mehr als nur ein wenig verschroben. Huatli verwendete auch gerne einmal die eine oder andere Metapher, aber die Vergleiche von Meervölkern erschienen ihr sehr vage.

„Weißt du, was es verursacht hat?“, flüsterte Huatli.

Der Blick des Meervolks wurde scharf. „Ich weiß nur, dass die Oberfläche unserer Welt von unten nicht durchbrochen werden kann. Einige können hineinfallen, doch sobald sie die Oberfläche durchbrochen haben, können sie nicht wieder auftauchen.“

Huatli hatte nicht die geringste Ahnung, was Tishana damit meinen konnte.

„Heute spürte ich etwas ganz Ähnliches“, sagte sie, „in Richtung des Meeres. Und vor zwei Monaten auch, aber noch viel weiter weg am Horizont. Aber zu dir gehörte diese Energie nicht.“

Auch das Meervolk kniete sich hin und sah Huatli nun direkt in die Augen. „Wenn du sagst, dass du tatsächlich eine Stadt gesehen hast, als du den Rand unserer Welt ertastet hast, dann glaube ich dir.“

Inti sah auf Huatli hinunter und grinste voller Stolz. Huatli war dankbar dafür, dass er sie begleitet hatte.

„Aber ich will dein Wort, Huatli.“ Tishana sah sie mahnend an. „Wir begeben uns zur Stadt, um Kumena von ihr fernzuhalten, da seine Anwesenheit dort für euch eine ebenso große Bedrohung ist wie für uns. Solltest du versuchen, Orazca für dich und dein Volk zu beanspruchen, werde ich nicht zögern, dich zu töten.“

Huatli war verunsichert und besorgt darüber, wie diese Reise wohl enden würde. Sie sollte sich auf jeden Fall interessant gestalten, doch darüber hinaus war alles offen.

„Ich danke dir, Tishana.“

Huatli stieg wieder auf ihr Reittier und streckte ihre Hand aus, um auch dem Meervolk auf den Dinosaurier zu helfen.

Tishana sah ihre Hand an, als wäre sie ein giftiges Insekt. „Ich habe meine eigenen Mittel der Fortbewegung“, murmelte sie finster.

Das Meervolk nahm einen kleinen Jadestein aus einer Tasche an ihrer Hüfte und legte ihn auf den Boden.

Wächtertotem
Wächtertotem | Illustration von Anthony Palumbo

Sie erhob wieder eine Hand, woraufhin sich das Stück Jade langsam vom Boden erhob und tiefgrün zu glühen begann.

Die Steine und hölzernen Ranken, die um den Fels herum wuchsen, erhoben sich plötzlich und begannen zu vibrieren. Sie bewegten sich zu dem Jadetotem wie Eisen, das von einem Magneten angezogen wird. Die Steine und Ranken veränderten ihre Form und Größe und nahmen dabei das Totem in sich auf, bis aus ihnen schließlich ein voll ausgeformtes Elementarwesen geworden war. Es hatte nur wenige Augenblicke gedauert, doch die einzelnen Elemente waren kaum wiederzuerkennen und das Elementarwesen war so groß wie Huatlis Klauenfuß.

Tishana hob ihren Fuß und Teile des Holzes formten eine kleine Trittstufe. Sie stieg auf und hielt sich an ihrem neuen Elementarwesen fest.

„Folgt mir“, sagte sie.

Huatli schluckte schwer. Diese Frau hatte immense Kräfte.

Huatli drehte ihren Saurier herum und sah unten am Strand das absolute Chaos. Einige Überlebende paddelten aus den Wracks und jede Menge Blut hatte den einst weißen Strand stellenweise rot gefärbt. Eine Vampirin rannte in den Dschungel hinein.

Huatli zeigte auf die flüchtende Konquistadorin. „Inti! Hinterher! Schließe im Wald zu mir auf, sobald du sie erfolgreich verjagt hast.“

Inti ritt vom Felsen und hinein in den Dschungel.

Huatli pfiff eine kurze Melodie, die an Teyeuh gerichtet war. Innerlich war sie dankbar, dass Teyeuh sich an ihr Training erinnerte, denn er vernahm ihr Kommando und folgte sofort Inti und dem Vampir ins Unterholz.

Es fühlte sich ohne jeden Zweifel wie ein Wettlauf nach Orazca an, dachte Hualti und musste sogar lachen. Diese erbärmlichen Blutsauger.

Der Anfang eines Gedichts begann in ihrem Verstand zu sprießen und sie lenkte ihren Klauenfuß die andere Seite des Felsausläufers hinab. Sie blickte noch einmal zu den beiden Schiffswracks hinüber und dachte amüsiert darüber nach, mit welch kraftvollen Zeilen ihr Gedicht über diese Expedition beginnen würde.

Ein Schiff voller Blutsauger jagte ein Schiff voller Flöhe

„Stopp. Wir müssen zum Fluss“, befahl Tishana. Das Meervolk drehte mit ihrem Elementarwesen ab und begab sich in Richtung Fluss. Huatli hielt Schritt und blieb neben Tishana.

Tishana seufzte und blickte mit der Ungeduld einer beschäftigten Gelehrten zum Flusslauf. „Jemand erzeugt dort auf dem Wasser eine Illusion.“

Huatli folgte der Geste des Meervolks. Sie blickte in der Ferne auf den Punkt, wo das Meerwasser auf das Flusswasser traf und war plötzlich wie gebannt. Der Fluss bewegte sich langsam und sanft. Nicht die kleinste Welle störte seinen ruhigen Lauf, doch etwas schnitt beinahe unmerklich durch das Wasser. Nichts schien diese Bewegung des Wassers zu verursachen und es schien auch nichts darin zu schwimmen.

„Das ist … seltsam. Bist du sicher, dass es eine Illusion ist?“, wollte Huatli wissen.

Tishana gab einen verächtlichen Laut von sich. „Ich erschaffe schon länger Illusionen als es dich auf dieser Welt gibt.“

„Aber denkst du, dass einer der Überlebenden der Legion des Zwielichts dazu in der Lage wäre?“

Das Meervolk schüttelte den Kopf. „Eine derartig ausgefeilte Illusion liegt jenseits ihres Könnens. Ich fürchte, dies ist eine sehr viel größere Bedrohung.“

Ohne Vorwarnung lenkte das Meervolk ihr Elementarwesen in den Dschungel hinein.

Huatli gab ein entnervtes Stöhnen von sich und folgte ihr zügig. Sie bahnten sich ihren Weg direkt durch den Regenwald und achteten darauf, die seltsame Welle im Fluss nicht aus den Augen zu verlieren.

Blätter und Ranken peitschten Huatli über das Gesicht und ihr Herz war erfüllt von Hoffnung. Vielleicht war das hier doch ihre wahre Bestimmung. Alles an dieser Expedition war neu und unangenehm und Huatli hasste es, sich ihre Angst eingestehen zu müssen, doch bisher lief alles mehr oder weniger nach Plan. Ihres Wissens nach hatte noch nie zuvor ein Flussherold eingewilligt, mit einem Krieger des Imperiums der Sonne zusammenzuarbeiten.

Dennoch fühlte sich Tishanas Unterstützung mehr als merkwürdig an. Huatli kam nicht umhin, sich zu fragen, ob das Meervolk sie vielleicht nur ausnutzen wollte. Und obwohl sie andere Personen sonst immer sehr gut lesen konnte, wurde sie aus Tishana nicht schlau.

Huatlis Klauenfuß gab einen aufgeregten Laut von sich. Seine Klauen tappten rhythmisch auf den feuchten Dschungelboden.

„Hat das Imperium der Sonne das Flüstern vernommen?“, rief ihr Tishana durch das raschelnde Blattwerk zu.

„Meinst du tatsächliches Flüstern oder Gerüchte?“

Das Meervolk ignorierte ihre Gegenfrage. „Einer unserer Leute hat im Hafen am Ende der Welt eine Unterhaltung belauscht. Später wurde diese Information durch einen von deinen Leuten bestätigt. Es gibt eine Kapitänin bei der Tollkühnen Koalition, die einen Kompass besitzen soll, welcher den Weg zur Goldenen Stadt weist“, sagte Tishana. „Sie hat smaragdgrüne Haut und … “

„… und schlangenartiges Haar?“, beendete Huatli den Satz.

Das Meervolk sagte nichts. Nur die dumpfen Schritte ihres Elementarwesens aus Stein und Ranken unterbrach jetzt das Rascheln des Unterholzes.

„Ich habe sie beim Wrack gesehen“, sagte Huatli. „Wenn sie wirklich im Besitz eines solchen Kompasses ist, dann muss sie das dort auf dem Fluss sein.“

„Sie muss eine erfahrene Illusionistin sein.“ Tishanas Augen waren noch immer auf die fast unsichtbare Welle im Wasser gerichtet.

Huatli packte die Zügel ihres Reittieres noch etwas fester. „Dann müssen wir in jedem Fall bereit sein. Wenn sich der Flusslauf verengt und sie nicht mehr weiterkommt, schlagen wir zu.“

„Ihren Kompass an uns zu nehmen, ist allerdings wichtiger, als sie zu töten“, sagte Tishana.

„Ich habe auch nicht vor, sie zu töten“, sagte Huatli irritiert und offenkundig auch etwas beleidigt.

Tishana schnalzte nur mit der Zunge. „Der notwendige Nebel des Morgens“, sagte sie mit einem bedeutungsvollen Nicken.

Huatli biss sich frustriert auf die Unterlippe. „Kannst du mir bitte erklären, was Nebel …“

„Der genaue Standort Orazcas ist auch uns vollkommen unbekannt.“

Huatlis Zuversicht schwand.

„Du weißt nicht, wo sie ist? Nicht einmal ungefähr?“

Das Meervolk starrte sie leicht erzürnt an. „Wir wissen ungefähr wo sie liegt.“

Huatli schwieg. Sie atmete einmal tief ein und tat ihr Bestes, ihre wachsende Frustration zu verbergen. „Aber sie befindet sich nicht auf dem Territorium des Imperiums der Sonne, oder?“

„Sie befindet sich hinter der Gebirgskette, die Pachatupa und Quetzatl trennt, und dort noch hinter dem großen See.“

Huatli rief sich dieses Territorium geistig vor Augen. „Nördlich oder südlich des Verlorenen Tals?“

„Südlich.“

„Und das ist alles, was du weißt?“

„Ja.“

Huatli nickte. Ihr wurde bewusst, wie kompliziert das alles war.

Wir brauchen diesen Kompass.


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