Der Wettlauf, Teil 2
VRASKA
Der Fluss wurde allmählich zu schmal für das kleine Schiff. Vraska beugte sich über die Seite und sah das Flussbett weniger als eine Menschenlänge unter ihnen.
Zwei große Felsbrocken standen zu beiden Seiten des Flusses vor ihnen im Wasser. Ihr Gefährt würde gerade so hindurchpassen.
Ihre Blasen brannten.
Sie ließ dem linken Ruder mehr Spiel und lenkte das kleine Schiff ans Flussufer.
Jace hatte den Unsichtbarkeitszauber schon vor mehreren Stunden aufgegeben. Als die Nacht hereinbrach, erhellten leuchtende Insekten und andere, fremdartige Lichter den Dschungel. Das Flussufer war auf beiden Seiten zu steil, um das kleine Schiff an Land zu bringen. Wären die riesigen Dinosaurier nicht gewesen, die ohne jeden Zweifel im Dschungel lauerten, hätte sie die Atmosphäre hier sehr angenehm gefunden.
„Wir werden im Schiff schlafen“, entschied Vraska. Sie ließ die Ruder sinken und zischte, als sie an ihren Blasen herumfingerte.
Der Thaumaturgische Kompass lag auf der Planke zwischen den beiden Planeswalkern. Jace hob ihn auf und schaute sich an, wohin er zeigte. „Das Ding wäre nützlicher, wenn es uns auch sagen würde, wie weit wir noch gehen müssen", sagte Vraska, während sie ihre Arme ausstreckte. Sie verschränkte ihre Finger und seufzte vor Wonne.
Jace antwortete nicht.
Er sah auf. Die Magie in seinen Augen erleuchtete die Konturen seines Gesichts. Ein großes, blau schimmerndes Zugpferd erschien über ihnen und galoppierte weiter hinauf in den Nachthimmel.
Das geisterhafte Pferd würde Malcolm als Signalfeuer dienen.
Hoffentlich kommt die restliche Mannschaft bald hier an.
Die Luft war stickig und es war nicht einmal der leiseste Windzug zu spüren. Es roch nach Pflanzen. Nach Pflanzensaft, Fäulnis und nach Lebewesen, die auf sterbenden Lebewesen wuchsen und sich von ihnen ernährten. Vraska musste daran denken, dass ihre Mannschaft in windlosen Nächten wie dieser alte Lieder anstimmen würde, wenn sie auf See gefangen waren. Diese gemeinschaftlichen Momente liebte sie am meisten. Sie gehörte zu diesem Stamm, der alle als Feinde ansah, die nicht dazugehörten.
Vraska stimmte ein Lied an: „Ein Schloss wächst in den Tiefen heran“.
Jace sah sie an, als wäre ihr ein zweiter Kopf gewachsen. Vraska sang lächelnd die Strophe zu Ende.
„Mit uralt schimmernden Fenstern daran,
Durch Moder und Morast irret mancher Gast …“
Vraska hielt inne. Jace hörte aufmerksam zu.
„Soll ich weitersingen?“, fragte sie mit einem müden Lächeln. Jace lächelte.
Sie setzte sich gerade hin und sang leise weiter. Vielleicht würde der Gesang die Dinosaurier abschrecken, die sicher irgendwo lauerten.
„… und das Reich der Fäulnis wird leben.“
Jace entfuhr ein müder, kleiner Laut der Anerkennung. „Was für ein munteres Liedchen.“
„Die Golgari haben keinen Grund für allzu viel Frohsinn.“ Vraska lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück.
Jace nuschelte vor Müdigkeit. „Breeches hat mir ein Lied beigebracht.“
„Das über Feigen?“
„Es ist ein unanständiges Lied. Sehr unanständig. Er ist ein ziemlich unanständiger kleiner Goblin.“
Jace wurde still. Einen Moment darauf war er bereits eingeschlafen. Vraska fragte sich, ob er das auf Kommando konnte.
Kleine geflügelte Kreaturen zwitscherten über ihnen und die Nachtvögel riefen tief im Dschungel.
Sie öffnete ein goldschimmerndes Auge und sah Jace an. Den zweitgefährlichsten Telepathen des Multiversums.
Für ihn ist es so einfach, meinen Geist zu brechen, wie es für mich ist, ein Lied zu singen.
Und trotzdem … würde er das nicht tun. Niemals. Nicht, wenn er so zuhörte (wie niemand jemals zugehört hatte).
In diesem Augenblick wurde Vraska klar, dass sie diesem Mann vertrauen konnte, egal, ob er sein Gedächtnis verloren hatte oder nicht. Und dass er ihr im Gegenzug ebenfalls vertrauen würde. Sie brauchte niemanden sonst, um sich vollkommen zu fühlen, und sie brauchte keine andere Bestätigung. Und wenn er kein Interesse an ihr hatte, dann war das auch in Ordnung – sie hatte zu Hause noch ein langes Geschichtsbuch fertigzulesen. Aber wenn er an ihr interessiert wäre, dann würde er ihr ganz sicher einen Tee machen, wenn sie unglücklich wäre. Er würde zuhören, wenn sie sich etwas von der Seele reden müsste und ihre Erfolge bejubeln. Das war eigentlich keine schlechte Aussicht. Vielleicht würde sie ihn um eine Verabredung bitten, wenn all das hier vorbei wäre. Sie war schon lange nicht mehr ausgegangen. Doch im Moment war Vraska ganz zufrieden mit der Situation. Ein einfaches, klares Rennen mit einem guten Freund an ihrer Seite – das hatte sie gebraucht.
Vraska konnte es nicht erwarten, denjenigen zu versteinern, der Jace seine Erinnerungen geraubt hatte.
Das Leuchten der Pflanzen um sie herum und der Sterne am Himmel tauchten das klamme, kleine Schiff im Schatten des Dschungels in ein warmes Licht, und als Vraska ihre Augen schloss, fühlte sie, wie sie die kühle Brise der Unsichtbarkeit erneut umschloss.
JACE
Jace hatte die komplette Nacht durchgeschlafen. Die Ruhe und das Lager im Freien waren willkommene Abwechslungen nach den Monaten in einer Hängematte, umgeben von der restlichen Mannschaft.
Vraska und Jace verließen ihr kleines Schiff am nächsten Morgen. Sie ließen es einfach am Flussufer liegen.
Steine und Dschungelboden bildeten ein unergründliches Durcheinander, und mit dem Tageslicht kehrten auch Lärm und Chaos in den Dschungel zurück, die jeden Gedanken an einen Pfad hinwegfegten. Vraska zückte ihr Schwert und verwendete es als Machete, um ihnen einen Weg zu bahnen.
Schließlich trafen sie auf einen breiten, ebenen Pfad. Vraska steckte erleichtert ihr Schwert ein.
„Na endlich. Vom Schwert schwingen bekommt man an denselben Stellen Blasen wie vom Rudern“, ächzte sie.
Jace zog die Augenbrauen zusammen. „Vielleicht sollten wir diesen Pfad lieber meiden.“
Er deutete nach oben, um zu zeigen, wie hoch der Pfad durch die Bäume schnitt. „Wahrscheinlich ist das ein Dinosaurierpfad.“
Vraska seufzte. „Der ganze Pfad wurde von Dinosauriern so platt getrampelt?“
„Nein, er wurde von Dinosaurier-Holzfällern angelegt“, erklärte Jace todernst. Vraska konnte sich ein kurzes Schnauben nicht verkneifen.
Doch Jace schüttelte nur ernst seinen Kopf. „Du solltest die Forstwirtschaft der Dinosaurier nicht gering schätzen.“
Vraskas Lachen wurde von einem seltsamen Geruch unterbrochen.
Eine dichte Rauchwolke füllte plötzlich den Dschungel um sie herum.
Der Rauch war widerlich. Ein tiefschwarzer Nebel, der entfernt nach Myrrhe roch und die Bäume umhüllte, bis nichts mehr von dem schwachen Licht übrig war, das es durch das dichte Blätterwerk geschafft hatte. Der Tag war plötzlich zur Nacht geworden.
Jace schrie erschrocken auf. Dann konzentrierte er sich, um mit seinem Geist herauszufinden, was überhaupt los war.
Vraska stand in der Mitte des Pfades und rang mit einem kaum sichtbaren Angreifer. Der Nebel war zu dicht, um etwas zu sehen – er suchte nach dem Geist des Feindes, fand den Zauber, der die Dunkelheit verursachte, und schnürte ihn ab.
Der dunkle Rauch verschwand und die Konquistadorin stand offen da. Die Vampirin fletschte die Zähne. Ihr Kinn war blutverkrustet und ihre gold-rote Rüstung glänzte. Ein Siegel mit einer Rose prangte auf ihrem Brustpanzer, und die Spitzen ihres Helms schwebten bedrohlich über der Gorgo. Die Kruste aus getrocknetem Salz auf ihrer Rüstung brachte Jace zu dem Schluss, dass es sich um eine Überlebende des Schiffsunglücks handelte.
Jace erhob eine Hand und erschuf die Illusion eines schweren, chaotischen Sturmes.
Starker Regen brach herein, der leuchtend grüne Pfad wurde dunkel und ein Donnerknall ertönte am Himmel.
Vraska schien das nicht zu irritieren, doch die Vampirin war erschrocken. Sie zuckte leicht zusammen, fing sich aber gerade rechtzeitig wieder, um einen Schwerthieb von Vraska mit der gepanzerten Schulter abzuwehren. Die Vampirin zog ihr Schwert nicht, kam nahe heran und griff stattdessen mit einer Welle aus Tritten und Schlägen an. Vraska versuchte, sich mit ihrem Schwert zu wehren, als sie ein harter Schlag am Kinn traf. Sie begann, die Magie zu sammeln, die sie benötigen würde, um die Vampirin zu versteinern.
Jace erhob wieder seine Hand und suchte nach den Gedanken der Vampirin. Doch die Situation war zu chaotisch und er hatte zu wenig Erfahrung. Ein Panzerhandschuh traf ihn an der Stirn. Seine Konzentration war gebrochen und er fiel hin.
Das Gewitter verschwand und die Sonne flackerte wieder durch die Zweige.
Jace sah erschöpft zu, wie die Vampirin den Dschungelboden abtastete und den Thaumaturgischen Kompass an sich nahm. Dann rannte sie zurück ins Gestrüpp des Regenwaldes.
Vraska kam fluchend wieder auf die Beine, während sie mit einer Hand ihre Augen bedeckte und vor Schmerz zischte. Sie blinzelte, bis ihre eigene Magie aus ihren Augen verschwunden war und knurrte vor Wut.
Sie trat gegen einen Baum.
Jace schloss die Augen und konzentrierte sich.
„Wir können sie verfolgen.“
Er öffnete seine Augen und sah nach oben, als er ein weiteres riesiges Geisterpferd als Signal an die Mannschaft in den Himmel aufsteigen ließ.
Vraska schnaubte immer noch vor Wut. „Diese verdammte Vampirin muss gewusst haben, was ich mit diesem anderen Kapitän gemacht habe. Wir hätten die Mannschaft nicht am Leben lassen dürfen.“
Jace seufzte. „Das mag objektiv betrachtet stimmen.“
Vraska trat noch einmal gegen den Baum.
„Ich kann sie finden und dann können wir ihr den Kompass wieder abnehmen. Und dann kannst du so viele Bäume treten, wie du willst“, sagte Jace bestimmt.
Die Gorgo atmete einmal tief durch, wartete einen Moment und nickte dann. Sie sah Jace mit leicht gerunzelter Stirn an.
„Bist du sicher, dass du sie finden kannst?“
„Absolut sicher.“
Jace schloss die Augen und konzentrierte sich.
Er suchte nach dem Verstand der Vampirin.
Stattdessen hörte er plötzlich zwei aufgebrachte interne Monologe.
Tishana ist zu schnell, wie kann sich dieses Elementarwesen nur so schnell bewegen? Nach links, Ranken ausweichen, dort – weiter vorne – Mann der Tollkühnen Koalition steht mit Rücken zu uns – Ist das die grünhäutige Piratin?!
Langsam und dumm, typische Nachlässigkeit des Imperiums der Sonne. Grünhäutige Frau vor uns, sie soll den Kompass haben. Folge der Illusion, beschwöre eine Schlange, um sie abzuwehren …
Er riss überrascht die Augen auf und drehte sich in einer schnellen Bewegung mit vor der Brust gekreuzten Armen um.
Eine riesige, geisterhafte fliegende Ophis kollidierte mit seinen Armen und wurde an Jace’ psychischen Kräften gespalten.
Die Illusion ging von einem Meervolk aus, das unsicher auf dem Rücken eines riesigen Elementarwesens stand.
Jace sah sich nach der Quelle der zweiten inneren Stimme um und sah eine Frau in Stahlrüstung, die mit demselben Federmuster geschmückt war wie der Dinosaurier, den sie ritt. Eine sichelförmige Klinge hing an ihrer Seite und ihr langer Zopf flog ihr nach, als sie auf ihn zugestürzt kam.
Jace’ Gedanken wurden in Sekundenschnelle von einer Idee zur Gewissheit. Er hielt dem angreifenden Menschen eine Hand entgegen. Ein Kribbeln lief seinen Nacken hinunter und die Frau zerrte energisch an den Zügeln des Dinosauriers. Das Reittier kam aus vollem Lauf rutschend zum Stehen. Die Reiterin sah sich aufgeregt nach allen Seiten um.
„Wo sind sie hin?!“
Die Flossen des Meervolks flatterten. „Das ist eine Illusion!“
Sie streckte eine Hand aus und Ranken, die vorher regungslos auf dem Dschungelboden gelegen hatten, wanden sich um Jace’ Beine.
Er fiel zu Boden und sein Unsichtbarkeitszauber war gebrochen.
Vraska stellte sich schützend vor ihn. Dann wandte sie sich Ritter und Meervolk zu. „Wartet!
Warum verfolgt ihr uns?“, fragte sie.
Jace nutzte die Gelegenheit, einen Blick in die Gedanken des Meervolks zu werfen.
„Das Meervolk weiß über den Kompass Bescheid.“
Die Flossen des Meervolks stellten sich vor Überraschung und Wut auf.
Vraska verzog den Mund. „Wer seid ihr?“
Jace erhob sich und die Ranken um seine Beine zogen sich zurück. Er stellte sich neben Vraska und starrte ihre Gegner an.
Tishanas Elementarwesen bereitete sich auf den Angriff vor. Das Meervolk legte eine besänftigende Hand auf seine riesige Gestalt. „Ich bin Tishana, eine der Ältesten der Flussherolde und die Wächterin über Orazca. Jemandem aus unseren Reihen kamen einige interessante Gerüchte über dich zu Ohren, Pirat.“
Jace schalt sich innerlich. Dann hatte das Meervolk in der Ecke am Hafen am Ende der Welt also doch alles mit angehört.
Die Ritterin neben dem Meervolk richtete sich auf. „Ich bin Huatli vom Imperium der Sonne, Kriegspoetin und Vernichterin aller Eindringlinge.“
Jace bemerkte, wie Huatlis Augen zuckten, als sie das Wort „Kriegspoetin“ aussprach.
Tishana starrte Vraska feindselig an. „Niemand kann die Stadt oder das, was sich darin verbirgt, besitzen. Übergebt den Kompass, sonst werden wir euch auf der Stelle vernichten.“
„Na, wenn das so ist“, gurrte Vraska zuckersüß, während sich ihre Augen mit magischer Energie aufluden.
Jace hielt ihr eine Hand vors Gesicht, um ihren Blick abzuhalten.
„Wir haben ihn nicht mehr“, platzte er heraus.
Vraska ließ ein frustriertes Schnauben hören und nahm seine Hand von ihren Augen. Sie verschränkte ungeduldig die Arme.
Das Meervolk musste ihn gehört haben, doch ihr Gesicht ließ keinen ihrer Gedanken erkennen. Sie neigte nur den Kopf, als würde sie gespannt zuhören.
Jace näherte sich voller Neugier erneut den Gedanken des Meervolks. Mithilfe irgendeiner unsichtbaren Verbindung hatte sie einen Eindringling bemerkt, der sich vor ihnen durch den Dschungel bewegte. Sie hatte eine feine Verbindung zu den Bäumen und zum Boden unter ihren Füßen, und jeder Schritt des Eindringlings hinterließ eine Spur im Regenwald. Es war eine wunderbare Erfahrung, das mitzuerleben – Jace hatte keine Ahnung gehabt, dass diese Form der Macht existierte.
Das Meervolk sah Jace an. „Ein Vampirin hält sich in der Nähe auf. Hat sie euch den Kompass gestohlen?“
Die Dinosaurierreiterin war von einem dezenten bernsteinfarbenen Nebelschleier umhüllt. Ihr Dinosaurier ließ ein tiefes Brummen hören. Jace hörte die Bewegungen der anderen Dinosaurier um sie herum immer besser.
Er fand sein Gleichgewicht und ballte die Fäuste. „Ja, die Vampirin hat uns den Kompass gestohlen.“
Im Dschungel hinter ihnen schnappten mächtige Kieferknochen nach etwas. Vraska und Jace fuhren zusammen.
Die Ritterin lächelte und drehte ihren Dinosaurier zur Seite. Sie lächelte einnehmend. „Danke für die Kooperation.“
Dann verschwanden die beiden Frauen im Grün des Dschungels.
Sobald sie verschwunden waren, wandte sich Vraska Jace zu.
„Kannst du die Vampirin aufspüren?“
Jace nickte und lauschte kurz nach den Gedanken der Vampirin.
Er lächelte.
„Ich kann auch noch mehr aufspüren.“
Vraska nickte und die beiden machten sich auf den Weg durch den Dschungel. Jace hinterließ im Laufen ein weiteres Signal für die restliche Mannschaft, und das geisterhafte Zugpferd verfolgte den Weg seines Schöpfers am Boden.
HUATLI
Huatli berührte ihr Reittier, als sie durch den Dschungel stürmten und übertrug einen kurzen Magiestoß.
Ein Dinosaurier erlebte das, was Menschen mit ihren Augen sahen, über den Geruchssinn. Nach jahrelangem Training wusste Huatli, wie sie am effektivsten mit ihrem Reittier kommunizieren konnte.
Such. Blut. Verwesung. Vampir.
Der Dinosaurier senkte den Kopf und nahm mit neuem Eifer die Spur auf.
Sie stürmten an Ästen und Blättern vorbei, während Huatli die Zeit nutzte, sich an das Licht zu gewöhnen, als die Äste langsam dickeren Bäumen mit lichtdurchlässigeren Baumkronen wichen. Kleinere Kreaturen sprangen aus dem Weg und Huatli konnte Vögel und Dinosaurier in den Ästen hören, die Warnungen ausstießen, als sie mit ihrem räuberischen Reittier vorbeiraste.
„Das könnte eine Weile dauern“, sagte Huatli.
Es dauerte neun Stunden.
Sie rannten steile Hügel hinab und durch leere Täler. Einmal wateten sie mit ihren Reittieren durch die flachen Stellen eines Sees. Jedes Mal, wenn sie ihrem Ziel näher kamen, floh der Vampir noch schneller, und jedes Mal, wenn sie sich eine kurze Ruhepause gönnten, kamen sie nicht umhin, die Zähigkeit ihres Gegners zu bewundern.
„Für eine Tote ist sie ziemlich schnell, nicht wahr?“, keuchte Huatli, während sie einen Krampf in ihrer Wade massierte und ihr Dinosaurier durstig aus einem See trank.
Tishana schien unbeeindruckt. „Dem Universum ist es egal, wie schnell etwas gewebt wird. Nur die letztliche Verbindung der Fasern zählt.“
Huatli rollte zum sechsten Mal an diesem Tag mit den Augen.
Schließlich gelangten das Meervolk und die Ritterin auf die andere Seite des Sees.
Huatli konnte die Freude des Dinosauriers spüren: Ihre Beute war fast in Reichweite. Bald darauf sah sie eine goldgerüstete Gestalt vor ihnen, die an einen Baum gelehnt war und erschöpft keuchte.
„Überlass sie mir, Tishana!“, rief Huatli. Das Meervolk verlangsamte das Elementarwesen und ließ Huatli den Vortritt.
Der Dinosaurier nahm eine lauernde Jagdhaltung ein, als sie sich ihrem Opfer näherten. Die Vampirin drehte ihren Kopf, um zu sehen, was auf sie zukam, doch ihr blieb keine Zeit mehr für eine Reaktion. Der Dinosaurier riss das Maul auf und packte sie um die Taille.
Die Vampirin schrie überrascht auf, als Huatlis Dinosaurier sie in den Stamm eines riesigen Baumes schleuderte.
Huatli stieg ab und ging zu der Vampirin hinüber.
Die Vampirin war größer als sie und ein hässlicher Blutstreifen befleckte ihren Kragen. Das bisschen Spitze, das aus der Rüstung herausragte, war schweißgetränkt. Sie sah aus wie ein Kind, das stur auf seine Lieblingskleidung bestand, egal, wie unbequem diese auch sein mochte.
„Was dir an Blut fehlt, machst du mit Schweiß wett“, sagte Huatli und trat der Vampirin gegen die Brust. Die Vampirin stolperte mit einem atemlosen Grunzen in den Baumstamm hinter ihr. Sie keuchte und zog am Kragen ihrer Rüstung.
Huatli grinste böse. „Gibt es in Torrezon etwa keine Dschungel? Fühlst du dich nicht wohl?“
In ihren Augen lag ein raubtierartiges Funkeln und ihr Dinosaurier ließ ein tiefes Grollen hören.
Auf sie, befahl Huatli. Der Dinosaurier schoss nach vorn und packte die Vampirin wieder mit den Zähnen.
Er biss nicht stark genug zu, um die Rüstung durchzubeißen, aber fest genug, um die Vampirin im Maul aufzuheben. Die Vampirin schlug in wildem Protest um sich und versuchte, ihr Schwert zu ziehen, während sie die dicke Dinosaurierhaut mit Nägeln und Fäusten bearbeitete.
„Schütteln“, sagte Huatli laut.
Der Dinosaurier schüttelte die Vampirin, bis diese jammerte und winselte.
Ein seltsam aussehender Kompass flog aus ihrer Tasche.
Huatli kniete sich hin und hob ihn auf. Er war wunderschön und kunstvoll gearbeitet. Sie konnte seine Energie auf ihrer Handfläche spüren.
Lass los, befahl Huatli.
Die speichelgetränkte Vampirin klatschte nass auf dem Boden auf. Huatli erspürte den nächsten Fleischfresser und rief ihn mit einem Magiestoß und einer Einladung herbei: Futter! Sie fühlte, wie der Raptor ihr aus dem Dschungel entgegeneilte. Huatli stieg schnell in den Sattel und ihr Reittier verschwand im Dschungeldickicht.
Die größten Krieger des Imperiums der Sonne töteten niemals – doch sie würden auch niemals einem hungrigen Geschöpf die Beute versagen.
Huatli trabte grinsend zu Tishana herüber. „Beeilen wir uns, bevor hier noch weitere Vampire auftauchen! Ich habe den Kompass!“
Das Meervolk lächelte. Ihre Zähne sahen aus wie ordentlich aufgereihte Messerklingen. „Wunderbar!“
Tishana nahm den Kompass und sah ihn sich vorsichtig und mit größter Ehrfurcht von allen Seiten an.
Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. Dann beschied sie Huatli mit einem listigen Blick.
Der Kompass sandte einen pulsierenden, bernsteinfarbenen Lichtstrahl aus, der direkt geradeaus wies.
Die Flossen an Tishanas Wangen flatterten aufgeregt und sie schloss ihre Augen.
Huatli wartete mit zusammengekniffenen Lippen. Sie wusste, dass die Flussheroldin etwas spürte, das ihr verborgen blieb. Nach einem kurzen Moment öffnete das Meervolk ihre Augen, die vor Staunen leuchteten.
„Wir nähern uns dem Ende unserer Suche.“
Huatli war zu aufgeregt, um genervt zu reagieren. „Wirklich?“
„Sie ist Teil des Landes um sie herum. Doch gleichzeitig wurde sie abgetrennt, um sie zu verstecken. Sie ist unbeweglich, aber der Weg dorthin wurde verzaubert. Er ändert sich ständig …“ Tishana schloss ihre Augen wieder und zeigte in eine Richtung. Es war dieselbe Richtung, die auch der Kompass vorgab. „Sie liegt eine halbe Tagesreise von hier in dieser Richtung.“
Huatli nickte entschlossen. „Dann dürfen wir keine Zeit verlieren!“
Tishana hielt inne.
Ihr Reittier entfernte sich fast unmerklich ein Stück von Huatli. Ihre Augen zuckten zum Kompass und sie schnappte ihn ihr in einer schnellen Bewegung wieder aus der Hand.
Huatli schien plötzlich defensiv. „Tishana, wir haben abgemacht, dass wir zusammen gehen würden.“
„Ja“, sagte das Meervolk, „das stimmt.“
Huatli hatte keine Zeit, ihr etwas zu entgegnen. Plötzlich flog ihr ein großes Stück Segeltuch ins Gesicht und sie wurde aus dem Sattel gefegt.
Huatli fiel zu Boden. Sie war vollständig in ein riesiges Stück Stoff eingewickelt. Sie versuchte, sich daraus zu befreien, doch der Stoff wand sich immer enger um sie. Sie konnte ihren Dinosaurier schreien und krächzen hören, bis er plötzlich verstummte. Die Stille wurde vom Jubel aus vielleicht einem Dutzend Kehlen durchbrochen.
Die Tollkühne Koalition.
Eine bekannte weibliche Stimme lachte. „Lass sie raus, Amelia.“
Der Stoff stellte Huatli wieder auf die Beine und drehte sie im Kreis, bis ihr schwindelig wurde – doch sie war wieder frei.
Eine Rudermagierin der Piraten stand vor ihr. Das Segeltuch – hatten sie das wirklich vom Strand bis hierher geschleppt? – band sich um Huatlis Handgelenke.
Huatli stockte der Atem. Ihr Klauenfuß stand direkt vor ihr, in Angriffsposition, mit weit aufgerissenem Maul … und vollständig versteinert.
Die grünhäutige Piratin, die sie bereits kannte, ließ eine Hand über den versteinerten Dinosaurier gleiten. Sie beugte sich zu Huatli hinunter und lächelte.
„Dann werde ich mir mal den Kompass zurücknehmen.“ Die seltsamen Schlangenhaare der Frau wanden sich vor selbstgefälliger Schadenfreude. Sie nahm den Kompass an sich, der vor Huatlis Füßen lag.
„Wie habt ihr uns einholen können?“, brach es aus Huatli heraus.
Die grünhäutige Frau schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf. „Die Vampirin, der du gefolgt bist, ist dem Kompass in gerader Linie gefolgt. Das ist in dieser Gegend nicht gerade die effektivste Methode. Es ist viel einfacher, mit einem Auge am Himmel und einem Telepathen Abkürzungen zu finden.“
Die Sirene hinter ihr streckte stolz die Brust heraus, und der blau gekleidete Mann verbeugte sich mit einem sanften Lächeln.
„Noch Fragen?“, fragte die Kapitänin.
Huatli konzentrierte ihre Wut und leitete so viel Energie wie möglich in einen Zauber. Ihre Augen glühten gelblich und hinter ihr kreischte eine Herde Klauenfüße im Dschungel. Hier würden ihr niemals die Reittiere ausgehen.
Als die Dinosaurier sich ihr näherten, flohen die Piraten in die entgegengesetzte Richtung. Huatli befreite sich aus den Fesseln und sah sich nach Tishana um. Verdammtes Meervolk! Wo war die Verräterin bloß hin?!
Die Antwort kam mit einem fernen Donnergrollen.
Huatli wollte nicht warten, bis sie herausfand, was das war.
Sie drehte sich um und sah Tishana, die mit ausgestreckten Armen dastand. Sie rief eine Flut herbei, die sich ihren Weg durch den Dschungel brach und das Holz mächtiger Bäume zum Bersten brachte.
Huatli konnte die Dinosaurier gerade noch hindern, sich weiter zu nähern. Ihr entfuhr ein erleichterter Seufzer, als Tishanas herbeigerufener Fluss an ihr vorbeidonnerte und ihren fliehenden Feinden nachjagte.
Die Piraten schrien und flohen, und Huatli hätte schwören können, dass sie sah, wie die grünhäutige Frau und der Mann in blau entkamen.
„Jetzt bist du auf dich allein gestellt, Kriegspoetin“, sagte Tishana mit dramatischer Stimme. „Ich muss Kumena allein aufhalten.“
Huatli verdrehte noch einmal die Augen, als Tishana im Dschungeldickicht verschwand.
Na gut! Wenn sie unseren Pakt auflösen will, dann ist das ihre Sache! Huatli fluchte derb.
Sie begann noch einmal, ein neues Reittier herbeizurufen. Sie musste dieser grünhäutigen Frau folgen. Das Meervolk hatte Huatli zwar verlassen, aber sie war so nahe an ihrem Ziel, dass sie Tishana nicht mehr brauchen würde.
Eine Stimme ließ sie überrascht nach Luft schnappen.
„PLANESWALKER! HALT!“
Angrath stand da, so groß wie ein Baumstamm und so breit wie ein Stumpfhorn. Er hatte den Kopf einer gehörnten Bestie und sein Körper strotzte vor mühsam gezähmter Kraft. Rotglühende Ketten hingen über seinen Schultern und er schnaubte erschöpft.
Angrath.
Das alles hatte mit dem ersten Angriff dieses Piraten angefangen. Was auch immer dieser Pirat getan hatte, sorgte dafür, dass sie nun sah was sie sah. Huatli verzog das Gesicht und rannte in dieselbe Richtung wie die Piraten vor ihr.
Angrath rannte hinter ihr her.
„WARTE! ICH WILL MIT DIR REDEN!“
„ICH WILL ES NICHT HÖREN!“, schrie Huatli zurück.
Huatli sah nach rechts. Angrath war ihr dicht auf den Fersen.
Sie lief noch schneller, doch eine Kette erwischte sie am Knöchel und riss sie zu Boden.
Sie ließ sich ihre Angst nicht anmerken, streckte eine Hand aus und begann einen Zauber, um so viele Dinosaurier und Bestien zu beschwören, wie sie nur konnte.
„Stopp!“, rief Angrath.
Er machte einige Schritte auf sie zu, kniete nieder und legte die kalten, schwarzen Ketten vor ihr nieder.
Huatlis Herz raste. Sie hatte noch nie solche Angst gehabt. Was wollte dieser Killer eigentlich?
„Du bist wie ich“, sagte er.
„Ich werde nie so sein wie du!“, rief Huatli trotzig und aus vollem Herzen.
„Nicht doch in dem Sinne, du Dummkopf“, erwiderte Angrath ungeduldig. „Ich werde dir nichts tun, Planeswalker.“ Angrath stand da und sah auf sie hinunter.
Huatli wollte gerade ein paar Antworten verlangen, als Angrath ruhig und entschlossen zu sprechen begann. „Was auch immer uns daran hindert, diese Welt zu verlassen, befindet sich in dieser Stadt. Wir können in verschiedene Welten fliehen, wenn wir dieses Etwas finden.“
Zu Huatlis Verwirrung gesellte sich ein kleiner Schimmer Staunen.
Angrath sprach unbeirrt weiter: „… Wir müssen nur alle töten, die versuchen, uns Orazca wegzuschnappen.“
Huatlis Hoffnungsschimmer verschwand und ein dicker Knoten bildete sich in ihrem Magen.
Na wunderbar, dachte sie, das Mördermonster will mein Freund sein.
VRASKA
Der Thaumaturgische Kompass begann, in Vraskas Hand zu vibrieren.
Ihr Herz machte einen Sprung, als sie mit Jace an ihrer Seite und ihrer Mannschaft im Rücken ihrem Ziel entgegeneilte.
Die Flut des Meervolks war eine schlaue Ablenkung, doch die Mannschaft der Streitlustigen ließ sich nicht so einfach davonspülen.
Malcolm war vorausgeflogen und kam keuchend vor Staunen zurück. „Sie ist auf den Hügeln vor uns!“
„Lauft weiter!“, rief Vraska ihrer Mannschaft zu. Sie waren so nahe, so unglaublich nahe.
Die Bäume wuchsen anders in diesem Teil von Ixalan. Vraska und ihre Mannschaft hatten eine Bergkette überquert und liefen nun durch ein Labyrinth aus Nebel und Pflanzen. Ab und zu passierten sie einen Baum mit wunderschönen gelben Blättern. In den Steinen um diese Bäume glitzerten von Flechten und Moosen überwucherte Goldadern.
Das Land selbst schien begierig darauf zu sein, seine Geheimnisse preiszugeben.
Die Mannschaft der Streitlustigen erreichte eine Lichtung, und alle hielten unvermittelt an. Die Türme von Orazca schossen wie goldene Leuchtfeuer in den Himmel.
Ihre Spitzen dominierten den Horizont. Der größte Teil war unter einer endlosen Schicht aus Bäumen begraben, die so dick war, dass Vraska sich fragte, ob die Hügel selbst die vergrabene Stadt waren, die unter einem undurchdringlichen Dickicht verborgen lag.
Sie steckte den Thaumaturgischen Kompass ein, der als Reaktion auf die intensive Magie, die sie nun umgab, pulsierte und leuchtete.
„Hier befindet sich nicht nur die Immerwährende Sonne. Hier befindet sich auch das, was uns daran hindert, von hier zu verschwinden“, hörte sie eine Stimme hinter sich sagen.
Vraska drehte sich um. Jace hatte sie eingeholt, während die Mannschaft eine Pause machte, um sich für den letzten Teil ihrer Suche auszuruhen.
Sie nickte. „Ich habe noch nicht wirklich herausgefunden, was die Immerwährende Sonne genau macht. Es gibt einfach zu viele Gerüchte, um sich auf eine Theorie festzulegen.“
„Es könnte ziemlich wörtlich der Schlüssel zu unserer Abreise sein.“
„Ja, vielleicht“, sagte Vraska. „Sie könnte auch ewiges Leben ohne das Saugen von Blut gewähren. Oder sie könnte das Imperium der Sonne unbesiegbar machen. Sie könnte auch die Quelle unvorstellbarer Macht sein, die zu groß ist, um von einer einzigen Person kontrolliert zu werden.“
„Ich glaube, sie sollte eigentlich gar nicht hier sein“, sagte Jace. „Sie wurde in diese Welt gebracht.“
Jace rieb sich nachdenklich das Kinn. „Es könnte auch einfach nur ein großer Steinbrocken sein, der überhaupt nichts bewirkt. Vielleicht sammelt Fürst Nicolas ja Steine?“
„Also ich würde ihm das zutrauen“, sagte Vraska mit einem Schulterzucken. „Er scheint ziemlich seltsame Hobbys zu haben.“
Jace zuckte ebenfalls mit den Schultern. Amelia rief nach ihm. Er ging hinüber zum Rest der Mannschaft und begann, sich zu unterhalten.
Er sah so anders aus ohne seine Kapuze. Vraska hatte ihn nie ohne sie gesehen, bis sie ihn von der Insel gerettet hatte.
Sie fragte sich insgeheim, ob sein Haar wirklich so weich war, wie es aussah.
„Kommst du, Vraska?“
„Ich ruhe mich nur kurz aus. Du kannst ja schon mal die Mannschaft versammeln.“
Jace rief die Mannschaft herbei und Vraska machte schnell eine entschlossenere Mine.
Als Vraska auf die Mannschaft der Streitlustigen zuging, riss der Boden unter ihren Füßen plötzlich auf.
Ihre Mannschaft schrie überrascht auf. Malcolm flog auf und Breeches kletterte auf Amelias Schulter. Etliche Mannschaftsmitglieder suchten nach Halt, doch es gab kein Entkommen von den Erschütterungen. Die Lichtung bebte immer stärker und ein langer Riss erschien im Boden unter ihnen.
„Seht nur!“ Amelia zeigte auf die Türme in der Ferne.
Sie wuchsen immer höher in den Himmel. Die Stadt selbst erhob sich in einem riesigen Erdbeben aus dem Dschungel. Ranken rissen, Bäume wurden entwurzelt, ganze Sonnenschwingenschwärme flogen davon, und die Stadt wurde immer größer.
Malcolm landete neben Vraska. Seine Augen waren vor Panik weit aufgerissen.
Vraska packte ihn an der Schulter. „Ist das passiert, weil wir uns genähert haben?“
„Jemand muss vor uns in die Stadt gelangt sein.“
Er deutete auf den Thaumaturgischen Kompass in Vraskas Händen. All seine Zeiger leuchteten stärker als jemals zuvor.
Der Schrei einer gigantischen Bestie übertönte das Beben der Erde.
Vraska erstarrte. Dieser Urschrei hatte sie bis ins Mark erschüttert. Ihre Angst wuchs noch weiter, als sie einen weiteren, ebenso lauten Schrei hörte … dann noch einen … und noch einen.
Etwas war erwacht.
Langsam sickerte Wasser in die Lichtung und Vraska schaute sich nach der Quelle um. In der Nähe hatte sich ein Spalt gebildet, der einen Teil des Flusses umlenkte. Dieses Wasser floss nun in die neue Schlucht am Fuße der Stadt.
Die Erde bebte unter Vraskas Füßen und die Goldene Stadt Orazca erhob sich immer weiter.
Sie war nun nicht mehr überwuchert und Vraska hatte freie Sicht. Es war unglaublich.
Die Stadt selbst hatte sich geöffnet wie die Blütenblätter einer Blume. Der Name war wirklich passend gewählt: Die ganze Stadt glänzte golden und war verziert mit Türkisen, Bernsteinen und Jade. Die Rampen und Gehwege führten über reißende Flüsse und Wasserfälle, und hoch oben prangten seltsame Symbole und Motive, die voller Sorgfalt in die Wände gemeißelt worden waren.
Vraska war unglaublich aufgeregt und sie verspürte den starken Drang, zu untersuchen, was in der Ferne erwacht war. Sie rief der Mannschaft zu, ihr zu folgen. Doch als sie sich auf den Weg machen wollte, erschütterte ein weiteres Erdbeben den Boden unter ihren Füßen und sie fiel hin.
„Vraska!“
Sie sah sich um und schnappte nach Luft. Der Rand der Lichtung, in der sie sich befanden, war in zwei Teile gerissen worden, und Jace hielt sich mühsam an einem wankenden Felsbrocken fest, um nicht in den Spalt zu fallen.
Die anderen Piraten wichen aus, als der Fluss immer weiter anstieg. Er führte immer mehr Wasser und kurz darauf drohte eine Sturzflut, die Kante zu überspülen.
Vraska watete so weit in den Fluss hinein wie sie konnte und schwamm dann mit dem Strom zu Jace. Sie spuckte Flusswasser und griff nach seiner ausgestreckten Hand.
Als ihre Finger seine berührten, bebte der Boden erneut, und Jace konnte sich nicht länger halten.
„JACE!“
Vraska sah zu, wie Jace die Seite hinabstürzte. Seine Augen waren vor Angst weit aufgerissen und er griff verzweifelt ins Leere.
Vraska schrie vor Wut und Verzweiflung. Sie konnte den Grund des Wasserfalls nicht einmal sehen.
Sie warf sich nach vorn, um Jace nachzusehen, und der Fels unter ihr gab nach.
Vraska fiel. Der eiskalte Wassernebel brannte auf ihren Armen, als sie hilflos um sich schlug und nach einem Halt suchte.
Sie hatte keine Zeit, zu schreien – ihr blieb gerade genug Zeit, um sich so zu drehen, dass ihre Füße das Wasser zuerst erreichten.
Vraska tauchte in das Becken am Grund des Spalts.
Verzweifelt bemühte sie sich, die Oberfläche zu erreichen.
Das Wildwasser presste ihr die Luft aus den Lungen und der tosende Wasserfall drückte sie immer tiefer unter Wasser, doch Vraska gab nicht so leicht auf. Nicht, wenn ihr Ziel so nahe war.
Sie fühlte, wie ihre Finger die Wasseroberfläche durchstießen und strampelte verzweifelt mit den Beinen. Sie brauchte Luft. Dann tauchte sie endlich auf, spuckte Flusswasser und atmete tief durch. Ihre Füße schmerzten in ihren Schuhen und auch die ersten Beulen waren zu spüren. Riesige Wände aus Stein und Gold hatten auf beiden Seiten das Wasser durchbrochen und Orazca ragte hoch über ihr auf.
Plötzlich raste ein schneidender Schmerz durch ihre Schläfen und sie schrie auf. Blitzartig erschien ein Bild vor ihrem geistigen Auge.
Das Bild verschwand und Vraska keuchte vor Überraschung und Schmerzen.
Wieder ergriff sie pure Panik. Sie schwamm so schnell wie möglich aufs Ufer zu und reckte den Hals, um zu sehen, wo sie war. Vraska war immer noch in Ixalan, doch das Bild in ihrem Kopf war eindeutig aus Ravnica gewesen.
Was war das?!
Sie war beunruhigt und verwirrt und paddelte verzweifelt an die Stelle, an der der neu entstandene Fluss auf die gerade freigelegten Steine der Stadt stieß.
Dann sah Vraska Jace. Er klammerte sich an einen Felsen nahe des Ufers. Blut strömte aus einer Wunde an seinem Kopf und seine Augen sprühten vor Magie. Verwirrung und Schmerzen zeichneten sich in seinem Gesicht ab und seine Augen schienen weit in die Ferne zu blicken.
Hat er das auch gesehen?!
„Jace!“, rief sie, während sie ihre schwere, wassergetränkte Kleidung durch das trübe Nass zog und sich nach Kräften bemühte, die starke Strömung des Wasserfalls zu vermeiden, während sie auf ihn zuschwamm. „Jace, dein Kopf … Aaah!“
Vraska keuchte.
Sie trug einen blauen Umhang mit Kapuze und lag auf der zentralen Empore im Forum von Azor. Niv-Mizzet, der Parun der Izzet, sah auf sie herab, und sie konnte die Gesichter der Labyrinth-Läufer jeder Gilde Ravnicas erkennen. Das ist eine Erinnerung, erkannte Vraska. Die Erinnerung war voller Bedeutung und erweckte Gefühle der Zugehörigkeit und Verantwortung in ihr. Es war die Erinnerung an den Tag, an dem Jace der Lebende Gildenbund wurde.
Plötzlich löste sich das Bild auf und verschwand. Vraska schwamm wieder im Fluss.
Er erinnert sich an alles, dachte Vraska erschrocken.
Jace’ Erinnerungen kamen plötzlich zurück, wie eine Flut, die über die Ufer trat. Bald würde er sich an alles erinnern, was Vraska ausmachte. Er würde sich an ihr Zerwürfnis erinnern, an ihre Gilde, an seinen Auftrag – und dann wäre alles, was in den letzten Monaten passiert war, bedeutungslos. Er würde sich daran erinnern, dass er der Gildenbund und sie eine Assassine war, und ihre Freundschaft würde ganz sicher daran zerbrechen.
Vraska verschluckte sich am Flusswasser, als sie wie besessen auf Jace zuschwamm. Er blutete und stand vollkommen neben sich, doch seine Augen glänzten, während er sich in seinen Erinnerungen verlor.
Es ist vorbei, dachte Vraska schweren Herzens, während sie die letzten Meter durch das flache Wasser auf den Gedankenmagier zuwatete. Ein weiterer Stich in ihren Schläfen kündigte die nächste Erinnerungsflut an und sie kniff ihre Augen zu, um sich darauf vorzubereiten, dass Jace die Kontrolle über seine Vergangenheit verlor und sie mit seinen Gedanken überwältigte.
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