Geschichten von Mel Li, Kelly Digges, Alison Luhrs, Doug Beyer und Chris L‘Etoile.

Was bisher geschah: Marionetten

Tezzeret ist besiegt. Dovin Baan ist verschwunden. Rashmis Weltenbrücke – eine Bedrohung für das Leben im gesamten Multiversum – liegt in Trümmern, und die Erfinderin hat ihrer Freundin Saheeli Rai geschworen, dass sie ihr Werk niemals wiederholen wird. Jetzt müssen die Wächter und die Bewohner Kaladeshs über ihre Zukunft entscheiden ... zumindest jene, die eine Zukunft haben.

Chandra und ihrer Mutter Pia, die nach zwölf Jahren, in denen sie einander für tot hielten, endlich wieder vereint sind, scheint jeder Tag zu kurz.


Der Dhund-Komplex war eine Anlage aus verworrenen Tunneln, die sich um ihren innersten Kern unter der Stadt Ghirapur wanden. Dort arbeiteten Scharen von Informanten, Soldaten des Konsulats und Gefangene unter den wachsamen Augen des Obersten Regelüberwachers Dhiren Baral.

Zumindest bis vor einigen Wochen.

Es hatte das Konsulat ausführliche Nachforschungen entlang einer Spur versiegelter Lippen und geschmierter Hände gekostet, um die wahren Ausmaße der geheimen Aktivitäten des Dhunds zu ermitteln. Bald darauf waren Reformpläne ausgearbeitet, beschlossen und begonnen worden.

Die Informanten und Soldaten wurden auf neue Posten innerhalb der Stadt versetzt. Einige wurden nun ihrerseits verhaftet. Hunderte von Gefangenen – die meisten von ihnen Magier und Renegaten, die lange Zeit als „verschollen“ gegolten hatten – wurden binnen weniger Stunden freigelassen. Die Gänge hallten von den kreischenden Protesten der schweren Zellentüren in ihren ungeölten Scharnieren wider, die beinahe den ohrenbetäubenden Jubel der jüngst befreiten Bürger übertönten. Diese gingen fort, ohne sich noch einmal umzuschauen, und ließen das Wenige, das sie in ihren Zellen hatten, gern zurück.

Als Nächstes trafen die Vorarbeiter ein, um den Abriss der gesamten Anlage mit Ausnahme des zentralen Kerns zu überwachen, in dem ein paar vereinzelte Gefangene verblieben. Mächtige pneumatische Hämmer schlugen Löcher in die gewölbten Deckenrippen. Klumpen aus Granit und Messing regneten mit einem derart donnernden Krachen herab, das ganze Blocks der Stadt über ihnen erbebten.

Heute jedoch waren die Gänge leer. Die Bauarbeiten pausierten während der zweitägigen Festivitäten, die die Stadt in ein Meer aus Licht und Farben verwandelten. Die Feierlichkeiten wurden zu Ehren der Führung des neuen Konsulats abgehalten – eine, die versprochen hatte, sich den Interessen der Renegaten zu widmen. Einer, der sogar die Erste Renegatin Pia Nalaar selbst angehörte.

Diese neue Konsulat würde, wie Konsulin Padeem der Menge draußen mit seltener Begeisterung versprochen hatte, ein „großer Schritt nach vorn“ für Ghirapur sein.

Das Geräusch zweier Paar Schritte erfüllte die Leere der Überreste des Dhunds, als Pia und Chandra Nalaar sich ihren Weg durch die verwüsteten Gänge in Richtung des intakten Kerns des Komplexes bahnten. Durch die Löcher in der Decke konnten sie helle Explosionen aus smaragdgrünem, von Metallpartikeln durchsetztem Licht am Himmel aufleuchten sehen – Feuerwerk von den Prozessionen in den Straßen über ihnen.

„Diese Farben! Wie machen sie das nur?“, staunte Chandra. „Selbst im Keralberg-Kloster gab es so was nie!“

Pia legte den Kopf schräg. „Korall-was?“

Keral. Das ist ... eine lange Geschichte. Ich erzähle sie dir später.“

„Was die Farben angeht: Das ist nur ein bisschen Kupferpulver, das in das Feuerwerk gemischt wurde. Ich bin sicher, Frau Pashiri kann dir ein ganzes Säckchen davon besorgen“, sagte Pia und hauchte ihrer Tochter rasch einen Kuss auf die Wange.

Dicke Säulen aus dem Licht der spätnachmittäglichen Sonne schnitten durch das dunkle Innere der Anlage. Gewundene Laufstege über ihnen dienten wuchernden Jasmin- und Madhaviranken als Verankerungen. Häuflein herabgefallener Erde auf dem abgewetzten Boden gewährten den verstreuten Setzlingen Zuflucht, die der Frühlingswind hereingeweht hatte.

Chandra spähte durch eine offene Zellentür auf die Dinge, die der letzte Insasse dort zurückgelassen hatte. Eine Schnitzerei auf einem Holztisch. Eine einzelne, halb abgebrannte Kerze. Ein Paar kleine, mit Drahtgeflecht verzierte Magierhandschellen, die von der Größe her für ein Kind gedacht waren. Chandra strich mit den Fingern über die filigrane Oberfläche der Handschellen und kostete von der düsteren Beschaffenheit ihrer Erinnerungen.

Auf dem Gang drückte Pia die metallenen Spitzen ihrer Handschuhe gegen das Äußere eines Ätherrohrs. Nichts. Es war inzwischen seit Stunden, wenn nicht gar Tagen dunkel. Sie öffnete die Ummantelung und fand nichts im Inneren außer einem Hauch von Ätherrückständen, die ihr einen Augenblick lang in den Nasenlöchern brannten, ehe sie sich verflüchtigten.

„Umgeleitet.“ Pia nickte zufrieden. „Sicher wie geplant zum Bronzeviertel.“ Sie kritzelte ihre Unterschrift auf einen Rasterplan, der mit den Insignien des Konsulats versehen war.

Chandra streckte den Kopf aus einer der Zellen. „Mutter, weißt du, dass du schon klingst wie ...“ Sie räusperte sich. „Du weißt schon ...“, flüsterte sie laut.

„Junge Dame ...“, hob Pia in gespielter Empörung an.

Die Konsulin der Allokation“, deklamierte Chandra. Ihr Versuch ernsthafter Formalität wurde von einem breiten Grinsen untergraben.

„Uff“, keuchte Pia. „Das klang in meinem Kopf nicht einmal ansatzweise so schlimm, wie es sich laut ausgesprochen anhört. Hier. Könntest du deiner Konsulinnen-Mutter wohl mal eben zur Hand gehen?“

Die beiden halfen einander über die skeletthaften Überreste eines herabgefallenen Laufstegs.

„Wie war es da oben mit den Konsuln?“, fragte Chandra, während sie sich niederkniete, um eine duftende Jasminranke zu lösen, die sich um den Laufsteg gewunden hatte. Vorsichtig entfernte sie einen Zweig und schlang ihn sich ums Handgelenk, um ihn mitzunehmen.

Gruselig.“

„Für dich?“, rief Chandra aus. „Ich habe dich da draußen gesehen. Du warst eine verdammte Heldin!“ Sie hielt einen Herzschlag lang inne, bevor sie rot wurde. „Ich meine, das bist du immer noch! Es ist nur ... Wenn ich so gut darin wäre, gegen etwas zu kämpfen ... Dann würde ich nicht wollen, dass sich irgendetwas ändert.“

„Ändert?“ Pia schmeckte das Wort förmlich, als es ihr über die Lippen kam. Könnte ich mich überhaupt noch an die Zeit erinnern, bevor ich die Erste Renegatin war? , dachte sie. Bevor ich vor dem Gesetz auf der Flucht war? Bevor wir alle als Renegaten beschimpft wurden?

Pia warf ihrer Tochter einen Blick zu, während sie durch einen Flecken mit Sonnenlicht gingen, der Chandras Haar und Rüstung in strahlendes Gold verwandelte. Noch immer ihr kleines Mädchen ... doch plötzlich auch etwas völlig anderes. Chandra, eine Vernichterin von Titanen, ein Leuchtfeuer aus Mana und Licht, das vor dem Ätherturm explodierte. Eine Revolutionärin. Eine erwachsene Frau.

„Alles, woran ich mich jetzt noch erinnern kann, ist der Kampf“, sagte Pia mit einem unbehaglichen Lachen. „Aber die Welt hat sich verändert. Zumindest hoffe ich das. Ich werde mich mit ihr verändern und etwas Neues lernen.“

Sie gingen um die Ecke und traten zurück in den Schatten der Gefängnismauern. Mit einem Mal war sie wieder ihre alte Chandra – mit zerbeulter und abgewetzter Rüstung und mit einem Stück Kohl von gestern im wirren Haar verfangen. Pia leckte die Spitze ihres Zeigefingers an und zupfte das Stück Gemüse mit gekonnter Präzision weg.

Der Gang endete unvermittelt, als sie den intakten Kern des Gefängnisses erreichten – das alte, bittere Herz des Dhunds. Die hohe Decke war eng und fensterlos – so fest geschlossen wie eine geballte Faust.

Sie standen vor einer schweren Messingtür. Ihr Metallgitter war von der vielen Benutzung angelaufen und überzog eine dicke Glasscheibe, die einen Blick auf das Innere der Kammer erlaubte. Eine Plakette war neben der Tür befestigt: Name, Inhaftierungsdatum, Schichten der Wachen. Keine Besucher waren vermerkt.

„Der Äther ist verzeichnet. Jetzt ...“ Pia hielt inne und wandte sich zu Chandra. „Du weißt, dass du nicht mitkommen musst, oder?“

Chandra schloss ihre Mutter in eine überraschende, heftige Umarmung. „Ich weiß. Aber zusätzliche Sekunden mit dir ablehnen? Das wäre ja verrückt“, sagte Chandra und vergrub das Gesicht im nach Maschinenöl und Kamille duftenden Haar ihrer Mutter. „Ich bleibe bei dir, Mutter.“

Helle, warme Dinge schwammen durch Pias Blickfeld. Ich habe zwölf Jahre darauf gewartet, dass du das sagst, dachte sie, während sie die Dinge wegblinzelte.

Pia atmete langsam ein und öffnete das Gitter.

Hinter dem Glas war die Zelle geräumig. Makellos sauber. Anders als in den Zellen in den anderen Gängen gab es hier keinerlei persönliche Habseligkeiten. Sie war völlig leer – bis auf ihren einsamen Insassen.

Vielleicht war es das Fehlen seiner Rüstung, seiner Maske oder seiner Waffen, doch er wirkte sehr viel kleiner als die beiden Frauen ihn in Erinnerung hatten.

Seine Hände waren ihm mit Magierhandschellen aus Drahtgeflecht und Gold gefesselt.

Tausend Worte schwirrten ihr durch den Verstand, aber sie konnte nur eines aussprechen. „Baral“, sagte Pia.

Dhiren Baral wandte sich dem Gitter zu. Die Ereignisse am Ätherknoten hatten ihren Tribut gefordert. Einzelne Haarbüschel standen von aufgeplatzten Stellen seiner geröteten Kopfhaut ab. Sein Körper bestand nun mehr aus Narben als aus Haut. Lange, verschlungene Stränge von ihnen zogen sich über seine Gliedmaßen, glänzende, weißrote Massen, die von Flecken aus Purpur und Violett durchzogen waren.

„Die Inspektoren haben also dich geschickt, um mich zu meiner Exekution in die Arena zu bringen“, sagte Baral rau. „Wie passend. Genau, wie ich all die anderen Magier dort hingebracht habe.“

Pia schüttelte den Kopf. „Es gibt keine Arena mehr. Es gibt keine Inspektoren mehr. Deine Strafe beginnt und endet hier.“

Baral schnaubte verächtlich. „Lachhaft. Die Sicherheit des Konsulats – ganz Ghirapurs – obliegt den Inspektoren! Wer sonst soll all die Monster aufspüren?“

„Niemand. Es gab nie Monster“, sagte Pia.

„Es war Baan, oder?“, knurrte Baral. „Diese rückgratlosen Bürokraten haben keine Ahnung, welcher ... Abschaum sich unter ihnen tummelt. Und kein Wunder, wo ich sie doch all die Jahre beschützt habe! Sie schulden mir einen Tod in der Arena – ich fordere, was mir zusteht.“

„Es geht hier nicht darum, was du willst“, sagte Pia leise. „Hier geht es um Gerechtigkeit. Inspektoren, Magierjagden, öffentliche Hinrichtungen ... Wir leben nicht mehr in dieser Welt.“

„Was weißt du schon über ‚diese Welt‘?“ Barals Stimme wurde schrill. „Wurdest du geboren, nur um versteckt zu werden? Als Laune der Natur?“

„Ich wurde das“, sagte Chandra, als sie sich umdrehte, um Baral anzusehen.

Auf der anderen Seite des Glases entrang sich Barals Brust ein keuchendes Lachen.

„Das kleine Monster! Wir beide sind noch nicht fertig miteinander.“

Pias Nerven spannten sich straff wie Sitarsaiten. „Sprich nicht mit ihr.“

„Ich weiß, wie das hier endet. Halte die Hände deiner Mutter sauber und mache einmal in deinem Leben etwas richtig“, brummte Baral Chandra zu. „Stell es dir doch nur vor. Deine Klinge an meiner Kehle. Der Ausdruck auf meinem Gesicht, wenn du dieses Wrack von einem Körper zu Asche verbrennst.“ Seine blauen Augen blitzten in ihren überschatteten Höhlen.

„Chandra“, sagte Pia sanft. „Du musst nicht hierbleiben und dir das anhören. Für uns ist er nur ein Nichts.“

Baral presste das Gesicht so dicht gegen das Fenster der Zelle, wie er nur konnte. Seine dicken Finger drückten gegen das Glas.

„Zahle es mir heim. Fleisch um Fleisch – mein Leichnam für den deines toten Vaters ...“ Langsam breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus.

Die Luft um Chandra herum flirrte und knisterte. Ihre Hände zuckten und ballten sich zu Fäusten.

„Ein Monster für ein anderes“, sagte Baral. Bei seinem Grinsen spannte sich dickes Narbengewebe über zerklüftete Wangen.

„Ich bin kein Monster!“ Orangegoldene Funken flogen aus Chandras geballten Fäusten und gingen wie ein kleiner Platzregen zu ihren Füßen nieder.

Pia legte die Arme um Chandras Schultern und keuchte ob der Hitze, die aus ihnen aufstieg. „Nein, du bist kein Monster. Dein Vater und ich haben mit Freuden unser Leben für die gegeben, die wir lieben. Für dich, Chandra.“

Pia heftete einen steinernen Blick auf Baral. „Ich erwarte nicht, dass er das versteht.“

Chandra schaute auf ihre Hände hinunter, als die letzten Funken zu Boden tanzten und erloschen. Die Hitze hatte den berauschenden Duft der Jasminranke um ihr Handgelenk verstärkt. Ihre kleinen, vollen Blüten waren so bleich wie Sterne in der Finsternis.

„Kühles Wasser. Eine dahintreibende Laterne ...“, murmelte Chandra, als ihre Finger über die Spitzen der Jasminblüten glitten. Ihre Augenlider schlossen sich flatternd, als sie den Duft einatmete.

„Mutter“, sagte sie. „Erinnerst du dich an diesen alten Steinbruch, in den wir immer gegangen sind? Vor der Stadt?“ Ihre Stimme war wehmütig und entrückt.

Pia blinzelte und nickte dann unsicher.

„Lass uns irgendwann wieder dort hingehen, ja?“, sagte Chandra im gleichen entrückten Tonfall.

Chandra erwiderte nun Barals Blick und ihre Züge wurden härter. „Scheiß auf dich“, sagte sie. „Ich schulde dir gar nichts.“

Barals trockenes Lächeln zerbröckelte und verschwand. „Nein! Ich weiß, wie das hier enden muss!“, zischte er. Grelle, violette Adern zeichneten sich scharf gegen die papierne Haut seines Stiernackens ab. Blaue Lichtfunken erwachten und erstarben auf seinen gefesselten Händen.

„Meine Tochter und ich werden dich heute verlassen“, sagte Pia. „Bleibe hier und sei vergessen.“ Sie schlug das Gitter der Zellentür zu. „Es ist dein Ende, nicht unseres.“

Dumpfes Klopfen erklang von der anderen Seite des Glases – die Fäuste des früheren Inspektors hämmerten nutzlos gegen das Fenster.

Chandra zupfte eine einzelne weiße Blüte aus der Jasminranke und legte sie vor der Zellentür ab.

„Was ist das?“ fragte Pia.

„Etwas von ... einer Freundin“, sagte Chandra.

Pia griff nach der Hand ihrer Tochter und hielt sie fest, als sie beide der Zelle den Rücken zukehrten. Vor ihnen waren die verwüsteten Gänge in Sonnenlicht getaucht. Das Heulen der Stimme hinter dem Glas verklang in der endlosen Leere des Dhunds. Die Geräusche der Feier über ihnen schienen alles hinter ihnen zu übertönen.


Auf der Terrasse hinter Yahennis Penthouse saß Gideon auf einer geschwungenen Bank und lächelte.

Seine Freunde und Verbündeten um den Tisch herum waren trübsinnig. Oben richtete sich Yahenni für den Tod her.

Nein. Einen Leichnam richtete man her. Yahenni machte sich für ihre eigene Totenfeier zurecht. Der gedämpften Musik nach zu urteilen, die von unten heraufklang, hatte Yahennis lange aufgeschobene Vorletzte Feier nun endlich begonnen.

Es schien nicht die rechte Zeit zum Lächeln zu sein. Nicht nach all den Kämpfen in den schönen Straßen Kaladeshs, nach Tezzerets Entkommen, nach Chandras leichtsinnigem, törichten ... Nun, nach Chandra ganz im Allgemeinen. Und nun war Yahennis Zeit gekommen. Doch selbst hier, wo nur seine Freunde ihn sehen konnte, lächelte Gideon.

Wenn ein Kamerad fällt, trägt man seine Rüstung nach Hause. Und wenn er mit seinem letztem Atemzug (oder dem, was dem am nächsten kommt) um ein Lächeln bittet, während man das tut?

Dann lächelt man. Als Vorbild für die anderen. Man täuscht es nicht vor – man spürt es, ob man nun will oder nicht.

Nissa schwieg. Sie hatte noch immer vor, auf die Feier zu gehen – was schon einiges zu bedeuten hatte. Einen Mundwinkel hatte sie bereits mit Gewalt nach oben gezogen, und auch das wollte einiges heißen.

Jace und Liliana saßen gemeinsam auf der anderen Seite des Tisches und gaben vor, einander nicht zu beachten. Jace war in sich gekehrt und zeichnete mit einem Finger nervöse Muster auf den Tisch. Liliana lehnte sich zurück und nippte an einem Getränk, das sie irgendwo unten stibitzt hatte, und selbst ihr gewohnt hochmütiges Grinsen wirkte etwas dünn.

Und dann war da Ajani, der neben Gideon saß. Seine katzenhaften Züge waren nicht zu deuten, doch seine gewaltigen Schultern und seine Ohren hingen herab und sein einzelnes blaues Auge war auf etwas weit, weit Entferntes gerichtet.

Wenn man um jemanden trauert, lässt man ihn nicht zurück. Das hatte Hixus Gideon einst gesagt. Man nimmt ihn mit. Und ein Einzelner kann nur eine bestimmte Last tragen.

Ein kleiner Meteor landete auf der Bank neben ihm und knallte schwungvoll ein Glas mit einer dicken, orangegelben Flüssigkeit auf den Tisch.

„Ich habe dir Lassi mitgebracht“, sagte Chandra. „Einfach weil – du weißt schon – die Feier angefangen hat, und ich dachte, du hast vielleicht Durst.“

Er schaute zu ihr hinunter und sie wurde rot. Ihr eigenes Lassi hatte sie bereits zur Hälfte ausgetrunken.

„Es ist, äh, es ist gut für einen. Da ist ... Joghurt drin?“

Er nippte daran.

„Danke“, sagte er. „Es schmeckt gut.“

Es schmeckte gut. Zu süß. Aber gut.

Nissa würde es nicht mögen. Ajani konnte es nicht trinken. Liliana könnte es vielleicht schmecken, aber sie hatte schon etwas zu trinken. Und Chandra hatte bei ihrem Versuch, es Gideon ans Herz zu legen, den Geschmack einfach übersprungen und war gleich auf die gesundheitsfördernden Aspekte zu sprechen gekommen. Sie begannen langsam, einander kennenzulernen.

„Oh“, sagte sie. „Depala meint, wir haben noch etwa zehn Minuten bis zu Yahennis großem Auftritt. Wir werden alle da draußen sein, oder?“

„Natürlich“, sagte Gideon.

Es folgten unterschiedlich ernsthaft nickende Köpfe.

„Das schulden wir Yahenni“, sagte Nissa.

Gideon räusperte sich.

„Wir sind alle hier und wir haben gerade ein paar Minuten Zeit. Wir haben einiges zu bereden, bevor die Feier jeden von uns wieder seines eigenen Weges gehen lässt.“

Gideon hob sein Glas mit Lassi.

„Auf die Freunde, die wir verloren haben“, sagte er. Er wandte sich zu Ajani. „Und auf die, die wir gefunden haben.“

Die Gruppe murmelte zustimmend.

Gideon legte dem Leoniden eine Hand auf die Schulter.

„Wir fünf“, sagte er, „sind durch einen Eid verbunden. Wir alle haben – jeder aus eigenen Gründen – geschworen, Wache zu halten. Vor Bedrohungen. Vor Schurken. Hier haben wir einen gefunden – einen, den du bereits beobachtet hattest.“

Er blickte die anderen einverständnisheischend an. Nissa, Jace und Chandra nickten. Liliana zuckte mit den Schultern.

„Wir wären geehrt“, sagte Gideon, „dich zu den Unseren zählen zu dürfen.“

Der Katzenmann stieß einen schweren Seufzer aus.

„Wenn ...“

Eine Pause. Gideon versuchte, nicht zu erwartungsvoll dreinzublicken, um Ajanis Teil der Entscheidungsfindung nicht vorzugreifen. Er sollte es wollen.

„Ja“, sagte Ajani. „Es wäre ... eine Ehre. Es gibt einen Eid?“

Jace lächelte bei diesen Worten.

„Er ist ziemlich frei formuliert“, sagte er. Er tippte sich gegen die Schläfe. „Ich kann da den Souffleur geben, wenn du möchtest.“

Ajani nickte. Ein Ohr zuckte, als Jace ihm telepathische Anweisungen zuflüsterte, und dann senkte er den Kopf.

„Ich habe gesehen ....“, sagte er, ehe ihm die Stimme brach.

Liliana blickte angeekelt weg. Oder peinlich berührt.

„Wir müssen das nicht gleich hier und jetzt machen“, meinte Nissa.

„Nein“, sagte Ajani. „Nein. So fühlt es sich richtig an.“

Der Leonide holte tief Atem.

„Ich habe Tyrannen gesehen“, sagte er, „deren Ehrgeiz keine Grenzen kannte. Kreaturen, die sich Götter nannten oder Prätoren oder Konsuln, die jedoch nur nach ihren eigenen Begierden herrschten, statt nach den Wünschen derer, über die sie regierten. Ganze Völker wurden getäuscht. Zivilisationen in Kriege gestürzt. Wesen, die einfach nur zu überleben versuchten ... mussten leiden. Mussten ... Mussten sterben.“

Seine linke Hand griff fest nach dem Saum seines weißen Umhangs. Die Stickereien darauf waren im Stil von Bant gehalten, bemerkte Gideon. Und er war dem Leoniden zu klein. Was – und wen – trug die große Katze mit sich?

„Niemals wieder“, sagte Ajani. „Bis jeder seinen Platz gefunden hat, werde ich Wache halten.“

Es erklang zustimmendes und bestätigendes Murmeln.

„Danke“, sagte Ajani. „Und jetzt ... Wie ihr schon sagtet: Wir haben Schurken gefunden. Was habt ihr vor, gegen sie zu unternehmen?“

Liliana hatte ihnen bereits von ihrer Unterhaltung mit Tezzeret und einer Welt namens Amonkhet erzählt.

„Wir müssen sie aufhalten“, sagte Gideon. „Tezzeret ist zu gefährlich, um frei herumzulaufen. Und nach dem, was du gesagt hast, ist Bolas noch viel schlimmer.“

„Ich hasse es, wenn du Sachen sagst, denen ich zustimmen muss“, sagte Liliana. „Das ist höchst verwirrend.“

Gideon nahm die Äußerung als Necken hin. Das war leichter, als beleidigt zu sein.

„Wir müssen etwas tun“, sagte Jace. „Wir mögen Tezzerets Weltenbrücke zerstört haben, aber Bolas‘ Pläne sind nicht so leicht zu unterbinden. Was auch immer er vorhat: Er wird mit Sicherheit Ausweichpläne haben, weil ...“ Jace hielt inne. „Nun ja, weil ich an seiner Stelle auch welche hätte. Und er ist wesentlich schlauer als ich.“

Das jagte Gideon einen Schauer den Rücken hinunter. Das einzige andere Wesen, von dem er Jace das je hatte sagen hören, war Ugin gewesen, ein anderer Drachenältester, dessen Motive – wenngleich wohl weniger selbstsüchtig als die Bolas‘ – ausgesprochen unmenschlich waren.

Gideon wandte sich an Liliana.

„Was kannst du uns über Amonkhet sagen?“

Liliana blinzelte. Ganz langsam. Ein höheres Maß an Überraschung hatte sie noch nie gezeigt. Ja, dachte Gideon. Ich vertraue darauf, dass du uns Informationen gibst.

„Nicht viel“, sagte Liliana. „Bolas hat den Ort völlig unter seiner Herrschaft. Soweit ich weiß, hat er ihn erschaffen.“

„Ihn erschaffen?“, fragte Nissa. „Ist er so mächtig?“

„Wir waren einst Götter“, antwortete Liliana. „So hat er es mir gesagt. Damals, bevor die Dinge sich geändert haben, konnten die mächtigsten Planeswalker im Grunde alles tun, und manchen von ihnen erschufen ihre eigenen Welten. Ich bin dazu leider nie gekommen.“

„Es ist also ein garstiger Ort“, sagte Chandra. „Sei‘s drum. Ich sage, wir gehen da hin und zeigen diesem Drachen, was passiert, wenn man an meiner Heimat herumpfuscht.“

„Nein“, sagte Ajani.

Fünf Köpfe drehten sich in seine Richtung.

„Wir können nicht einfach in Bolas‘ Versteck laufen und hoffen, ihn zu besiegen“, sagte Ajani. „Ich stand ihm bereits gegenüber. Ich habe tatsächlich gewonnen. Doch das nur, weil er chaotische magische Kräfte nutzen und gleichzeitig gegen meine für ihn unbekannten Fertigkeiten bestehen wollte.“

„Du hast ihn unvorbereitet erwischt“, sagte Jace. „Das ist es doch, wofür die anderen sich gerade ausgesprochen haben.“

„Du hast gewonnen?“, fragte Chandra.

„Indem ich gemogelt habe“, sagte Ajani. „Er kennt mich nun und weiß, wozu ich fähig bin. Außerdem kämpften wir in einem ätherischen Chaos namens dem Mahlstrom, einem für uns beide feindseligem Ort. Ihr sprecht davon, ihm im Zentrum seiner Macht entgegenzutreten. Er muss gar nicht eigens auf uns vorbereitet sein, um das zu einer schlechten Idee zu machen.“

„Du bist nicht der Einzige unter uns, der sich ihm entgegengestellt und überlebt hat“, sagte Jace. „Er ist ein unglaublich mächtiger Telepath, und ich habe so viel Angst vor ihm wie jeder andere auch. Ich weiß, wozu er in der Lage ist. Doch du weißt nicht, wozu wir in der Lage sind, und ich bin nicht davon überzeugt, dass er das weiß.“

„Ich war bereits einmal in einem seiner Horte“, sagte Liliana. „Ich kam auch wieder heraus.“

Jace spannte sich bei diesen Worten an, sagte aber nichts. Verbarg er noch immer etwas?

„Wir müssen ihn nicht unbedingt in einem direkten Kampf besiegen“, fuhr Liliana fort. „Wir können seine Pläne zunichtemachen, seine Verbündeten auseinandertreiben –“

„Es gibt eine andere Möglichkeit“, sagte Ajani. „Bolas hat zahlreiche Feinde. Und wir haben zahlreiche Freunde, die hinter den Kulissen auf uns warten. Gebt mir etwas Zeit, einige dieser Freunde zu versammeln. Sucht eure eigenen Verbündeten auf. Findet heraus, was Bolas eigentlich vorhat und welcher Teil seines Plans der schwächste ist.“

Dieses Argument leuchtete Gideon ein. Es würde auch Jace einleuchten. Ajani wusste, was er tat.

„Da hat er recht“, sagte Jace. „Wir wissen rein gar nichts über Bolas‘ Pläne. Vielleicht sollten wir auf Amonkhet erst einige Nachforschungen anstellen und unsere Verbündeten von woanders herbringen ...“

Von oben hörten sie, wie alle Yahennis Namen riefen. Zeit zu gehen.

Alle schauten Gideon an.

„Ich verstehe euch. Euch beide. Aber ich glaube nicht, dass wir eine bessere Gelegenheit erhalten werden, Bolas gegenüberzutreten.“

„Er wird eine ganze Welt gegen euch richten“, sagte Ajani. Seine Stimme wurde lauter und er legte die Ohren an. „Leute werden getötet werden!“

Gideon hielt den Kopf weiter hocherhoben. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Jace zurückwich.

Dreihundert Pfund wütende Katze starrten auf ihn herunter. Fühlte Jace sich so, wenn Gideon ärgerlich wurde?

„Verzeih“, sagte Ajani.

„Schon gut“, sagte Gideon. „Ich werde nicht so tun, als sei das eine einfache Entscheidung.“

Ajani musterte jeden von ihnen mit seinem eisblauen Auge.

„Bitte“, sagte er. „Geht nicht nach Amonkhet. Noch nicht. Bleibt hier oder findet anderswo Verbündete. Morgen früh können wir einen Treffpunkt ausmachen. Wir können uns in paar Wochen zusammenfinden, unsere Verbündeten zählen, Erkenntnisse vergleichen und unseren nächsten Schritt planen.“

Er stand auf.

„Ich würde ein paar Augenblicke allein vor der Feier sehr zu schätzen wissen.“

Er verließ den Tisch, doch Chandra stand auf und lief ihm nach. Sie schloss ihn in eine feste Umarmung, und die große Katze erwiderte sie.

„Ich bin froh, dass du bei uns bist“, sagte sie. „Du kannst gut umarmen. Du bist sogar noch größer als Gids. Und, ähm, pelziger.“

Liliana lachte.

„Und du“, sagte Ajani, „bist ein warmes kleines Herdfeuer. Das Leben deiner Mutter wäre kalt ohne dich, Flämmchen.“

Chandras Lächeln verschwand und Ajani ging davon. Sie ließ sich neben Gideon auf die Bank plumpsen.

„Nun“, sagte Gideon leise. „Was denkt ihr alle? Hat er recht? Brauchen wir mehr Informationen und Verbündete, bevor wir nach Amonkhet gehen?“

Einen Augenblick lang herrschte völliges Schweigen.

„Nein“, sagte Chandra. „Wir haben drei Eldrazi besiegt, und wir haben Tezzeret besiegt. Schlagen wir sofort gegen ihn zu. Mit aller Härte.“

„Nein“, sagte Liliana. „So wenig mir der Gedanke gefallen mag, aber mit Bolas, der Pläne schmiedet, und Tezzeret auf freiem Fuß, bin ich – sind wir – nirgends sicher.“

„Nein“, sagte Jace. „Ich vertraue seinem Urteil und seine Befürchtungen sind berechtigt, aber er irrt sich. Bolas ist schlauer als wir. Wie viel Zeit auch immer wir mit der Vorbereitung verbringen, wird er sie besser zu nutzen wissen. Du hast recht, Gideon. Dies ist unsere Gelegenheit. Sobald Tezzeret ihm erzählt, was hier geschehen ist, verlieren wir den einzigen Vorteil, den wir haben.“

Jace und Chandra waren einer Meinung – nun, das war beunruhigend.

Gideon wandte sich zu Nissa.

„Ich bin nicht sicher“, sagte sie. „Ich kenne Bolas nicht. Ich kenne Amonkhet nicht. Aber ich kenne ... uns. Wenn ihr alle glaubt, dass wir es schaffen können, dann glaube ich das auch.“

„Er hat Angst, Gideon“, sagte Liliana. „Er glaubt, er hat Glück gehabt, seine letzte Begegnung mit Bolas überlebt zu haben, und er fürchtet sich vor einer weiteren.“

Angst ... ? Wenn Liliana nicht erkennen konnte, dass Ajani trauerte, dann würde Gideon die Privatsphäre des Leoniden achten und es ihr auch nicht erzählen.

„Tu das nicht“, sagte er. „Nimm nicht an, wirklich zu wissen, was er erlebt hat.“

Lilianas violette Augen richteten sich auf ihn.

„Wir sind uns also einig?“, fragte Jace, um dem Gespräch Liliana zuliebe eine andere Richtung zu geben.

„Ja“, sagte Gideon. „Was auch immer Bolas auf Amonkhet tut, wird er tun, ganz gleich, ob wir nun dort sind oder nicht. Wir helfen niemandem, indem wir wegbleiben. Und ich glaube, du hast recht, Jace: Wir werden nicht herausfinden, was Bolas vorhat, bevor er seine Pläne der Tatsache anpasst, dass wir wissen, dass er etwas vorhat.“

Gideon stand auf.

„Wir machen morgen früh einen Treffpunkt aus“, sagte er. „Dann treffen wir Ajani dort ... nachdem wir uns Bolas gestellt haben.“

„Kommt schon“, sagte Chandra. „Zeit zum Feiern. Lächelt.“

Gideon folgte ihr nach drinnen und lächelte.


Ich kleide mich das letzte Mal an.

Die fürsorgliche, fähige, teure Depala hüllt mich in meinen Lieblingsumhang und schließt ihn mit meiner allerliebsten Brosche. Die sinkende Sonne draußen erhellt die goldene Truhe auf der anderen Seite meines Zimmers, und das Licht tanzt warm über die Wände. Staubkörnchen fangen sich im schwächer werdenden Licht (was für ein bezaubernder letzter Sonnenuntergang!), und das einzige Geräusch im Raum kommt vom sanften Schnarchen von Depalas Hyäne (Kurbelwelle ist ein braves Mädchen – ja, das ist sie). Ich habe noch vier Stunden zu leben, und meine Vorletzte Feier (mit Essen und allem Drum und Dran) wird beginnen, sobald ich die Treppe hinuntergehe.

„So“, sagt Depala zuversichtlich und rückt meine Brosche zurecht. „Du siehst fantastisch aus, Yahenni.“

„Das tue ich immer“, keuche ich.

Das Lachen meiner besten Freundin klingt etwas hohl. Sie lächelt traurig.

„Meine Zeit ist gekommen“, bekräftige ich.

„Ich habe mir schon Sorgen gemacht, dass du das niemals sagen würdest.“

Ich schätze, darüber habe auch ich mir immer etwas Sorgen gemacht.

„Bist du sicher?“, fragt sie mit besorgter Stimme.

„Ja. Die kurzfristigen Kosten sind die langfristigen Gewinne nicht wert und all das.“

„Ganz der Investor, was?“

Sie lächelt. Mehr muss sie nicht wissen. Immer wieder ein paar zusätzliche Tage hinzuzugewinnen, wiegt das Gefühl nicht auf, selbst dabei zu sterben. Und selbst wenn ich nur Dinge töten würde, die keine fühlenden Personen sind, so könnte ich doch niemals die noch junge Erinnerung an die Schreie meiner besten Freundin vergessen. Ich entscheide, wer ich bin. Und ich bin kein Mörder.

Stirb jung
Stirb jung | Bild von Ryan Yee

„Lassen wir die Musik spielen, Teuerste.“

Depala grinst über beide Ohren, und sie holt meine Stützschienen von der anderen Seite des Zimmers. Sie hebt mich hoch (ich bin sicher, dass ich an diesem Punkt weniger wiege als ein Bandar) und hilft mir in die Schienen. Sie befestigt die Riemen an dem, was von meinen Beinen noch übrig ist, und schon stehe ich aufrecht vor der Tür.

Die Tür ragt über mir auf.

Sie ist aus dunklem Holz, und ich kann mein Spiegelbild im Lack sehen.

Mir ist vorher noch nie aufgefallen, wie groß sie ist.

Depala streckt die Hand aus, um sie zu öffnen. Sie hält inne. Ich spüre eine stumme, zögerliche Frage. Ich verstehe. Ich bin bereit. Ich nicke.

Sie öffnet die Tür, und ich stolpere beinahe über das Gefühl, das auf mich einströmt.

„FROHE VORLETZTE FEIER, YAHENNI!“

Ich treffe auf einen Raum voller fruchtiger, blumiger Begeisterung. Die Liebe meiner Freunde spült über mich hinweg, und ich kann ein entzücktes Lachen nicht unterdrücken.

Zuerst nähert sich mir meine äthergeborene Familie. Wir baden kurz in gemeinsamer, geteilter Freude. Unsere empathische Unterhaltung ist erfreulich kurz und heimlich. Unsere Liebe befeuert unsere Unterstützung, die wiederum unsere Liebe befeuert. Äthergeborenenfamilien sind mehr als alles andere wie ein in sich geschlossener Zirkel, und alle hegen und pflegen einander. Die sauberste Energie, die es gibt.

Als ich mich umsehe, kann ich endlich spüren, wie viele Leute tatsächlich hier sind. Mein Haus ist übervoll, aus dem Hof dringt Musik und alles ist von einer gemeinsamen Freude durchzogen, wie man sie nur auf einer Vorletzten Feier findet.

Dies fühlt sich nach der richtigen Zeit für gute Taten an, denke ich. Ich ziehe eine Liste aus einer verborgenen Tasche. Die Feier wird stiller, und die Gäste schauen mich an, wie ich hoch aufgerichtet (so gut es eben geht) in der Mitte des Raumes stehe.

„Meiner äthergeborenen Familie“, rufe ich, „hinterlasse ich die Hälfte meines Vermögens!“

Meine Familie jubelt und klopft sich gegenseitig auf den Rücken und projiziert ein nach Brot duftendes „Das wäre doch nicht nötig gewesen, aber DANKEEEE!“ in meine Richtung.

Mit dem Testament in einer Hand deute ich mit dem, was von der anderen noch übrig ist (zwei Finger sind weg, drei noch da), über die Menge hinweg.

„Die andere Hälfte meines Vermögens geht an Sie, den menschlichen Erfinder mit dem roten Schal dort in der Ecke!“

Der Mensch in der Ecke neben dem Büfett zuckt zusammen, den Mund voll Gulab Jamun. Er deutet unsicher auf sich selbst.

„Sana Ahir? Neunzehn Jahre alt? Sie waren Dritter in der Aeronautischen Entwicklung, nicht wahr?“, versichere ich mich.

Als er langsam nickt, weiten sich seine Augen.

„Ausgezeichnet! Die andere Hälfte meines Vermögens soll Ihrer Forschung zugutekommen!“

Von Begeisterung überwältigt fällt der Mensch in Ohnmacht. Die Menge um uns herum explodiert in einem Schauer aus Begeisterung und Jubel. Wir sind in einer Dauerschleife aus Feierstimmung.

Ich spüre eine vertraute Präsenz unten eintreten und schicke einen meiner Verwandten aus, den Neuankömmling zu mir zu führen. Die Menge um mich herum löst sich auf, um zu feiern, und einen Augenblick später werde ich von jener Gruppe begrüßt, die ich als die Wächter kennengelernt habe. (Es ist eine Schande, dass ich mir nie die Mühe gemacht habe, sie zu fragen, was genau sie eigentlich bewachen.) Ich gehe ihnen entgegen und stütze mich auf meine linke Schiene.

Chandra bildet die Vorhut. Ihr Sari ist brandneu, doch die Schrammen und Prellungen vergangener Kämpfe werden von diesem Zierrat nur sehr bedingt verhüllt. Ihr Gesicht lächelt vor Stolz und Erschöpfung. Ich kann spüren, dass sie bereits auf einer Vorletzten Feier gewesen ist und weiß, dass es sich um einen fröhlichen Anlass handelt.

Die anderen jedoch ... Urgs. Chandra muss ihnen sehr schlecht erklärt haben, was eine Vorletzte Feier ist. Jaces Stimmung schreit ein nach Regen duftendes „Hallo, ich fühle mich sehr unbehaglich!“ in einer derartigen Lautstärke durch den Raum, dass jeder anwesende Empath sich umdreht und ihn anstarrt. Die zweibeinige Katze dahinter (mit einem wunden Herzen voller frischer Trauer, das arme Ding) scheint bereit, jeden Augenblick in Tränen auszubrechen. Der Rest fühlt sich sichtlich unwohl.

„Ach herrje“, flüstere ich neckisch. „Ist wer gestorben?“

Liliana lacht darüber, aber die anderen schneiden nur verlegene Grimassen.

Ich kichere, als ein Teil meines Gesichts sich auflöst.

Die gewaltige Katze, die hinter der Gruppe steht, nähert sich mir und kniet sich auf Augenhöhe herunter.

„Man nennt mich Ajani. Was können wir für unseren Freund in dieser Stunde der Not tun?“

Oh. Was für ein Herzchen.

„Das hier ist meine Feier, und das bedeutet, dass Sie alle meine Regeln einhalten müssen. Ich möchte, dass alle Spaß haben, und ich möchte mich von allen verabschieden. Aber es muss Spaß machen! Das ist der wichtige Teil!“

Ajani nickt, aufrichtig über meine Worte sinnierend. Ich spüre Chandras Lächeln, bevor es sich zeigt.

„Kann ich dir zur Hand gehen?“, fragt sie.

„Beim Verabschieden, meine ich.“

„Beim Spaßhaben?“

Ich denke eine volle Sekunde darüber nach.

„Sicher. Warum nicht?“

„Na dann hoch mit dir!“

Chandra greift rasch zu mir herunter und hebt mich auf ihre Schultern. Meine Stützschienen fallen zu Boden. Ich jauchze verzückt.

„Wohin, Meister der Feier?“, sagt sie mit einem breiten Grinsen.

„VORWÄRTS!“, rufe ich und deute auf die Menge im Raum.

Chandra trägt mich ein paar Minuten herum. Gelegentlich rennt sie, gelegentlich tut sie so, als würde sie das Gleichgewicht verlieren, und die ganze Zeit über lacht sie mit mir. Als sie genug hat, reicht sie mich an Gideon weiter, der herzlich lacht und mich unter seinem Arm trägt, als sei ich ein Gepäckstück. Dann reicht er mich an Depala weiter, die mich beeindruckenderweise hoch über ihren Kopf hievt.

Während dieses ganzen Schauspiels lache ich wie von Sinnen und schreie weiter meinen letzten Willen hinaus.

„Depala, Teuerste, du bekommt mein Investitionsportfolio!“

Sie jubelt und reicht mich zurück an Gideon, nachdem sie mir einen Kuss auf meine verbleibende Wange gehaucht hat.

„Frau Pashiri, Sie alte Feuerspuckerin! Sie bekommen meinen Turbo-Straßenkreuzer!“ Ich höre Frau Pashiris „Hurraaaaa!“ irgendwo aus der Menge.

Nach einer beachtlichen Zeit des Tragens und Werfens und Rundendrehens erhasche ich den empathischen Geruch von Orangenblütenöl auf der anderen Seite des Raumes. Ich zeige in die Richtung seines Ursprungs und Gideon setzt mich auf ein Sofa neben eine sanft lächelnde Nissa.

„Nissa! Nissanissanissa. Möchtest du mich auch hochheben?“

Nissa schüttelt den Kopf. „Ich möchte neben dir sitzen. Hast du Schmerzen?“

„Ein bisschen“, gebe ich zu. „Aber nicht schlimm genug, als dass sie nicht auszuhalten wären.“

Sie mustert mich von oben bis unten und hebt eine Hand. Der gleiche vertraute, warme Fluss aus Energie strömt durch meine (weitestgehend verschwundenen) Beine. Ich seufze erleichtert. Es fühlt sich gut an – wie schon zuvor. Keine Heilung ... aber Linderung.

Ich spüre, wie sich etwas Eigenartiges in ihr regt.

Nissa spricht nicht gern. Das ist schon in Ordnung so. Ich kann alles, was ich wissen muss, aus dem Schweigen meiner Freundin erraten, während sie sich mit dem Bündeln der Energie befasst.

Kopfnote: Trauer. Vertrauen. Weibliches Orangenblütenöl (normal für ihren psychischen Geruch) und ein kühler Bach (seltsam, das ist neu).
Herznote: Alte, moorige Angst. Eine fremde, kreidige Scham an den Rändern.
Basisnote: Tiefer Dschungel und Familie. Nein, nicht Familie. Verwandtschaft? Eine wortlose Verbindung, aber eine ohne die Herausforderungen und das elektrische Leuchten, wie man sie bei einer Person findet.

Ich verschließe meine Sinne. Sie ist traurig, mich zu verlieren, denn sie hatte nur wenige Freunde wie mich.

Nein, das stimmt nicht. Sie hatte überhaupt keine Freunde wie mich.

Ich kann spüren, dass sie vor langer Zeit allen Leuten misstraute, die sie nicht verstand. Es ist ein altes Echo, doch ich spüre, wie viel Angst sie hatte und wie diese Angst sie daran hinderte, andere an sich heranzulassen.

Bis zu den Wächtern. Bis zu mir.

Ich bin dankbar, dass sie mich nicht offen und laut mit diesen alten, längst verschwundenen Gefühlen konfrontiert hat. Ich bin dankbar, dass sie mich nicht als ein Auffangbecken gesehen hat, in das sie ihre Schuldgefühle wegen ihres früheren Verhaltens hineingießen konnte. Sie würde ihre Probleme lieber allein aufarbeiten, ohne dass sie mich ständig als Rechtfertigung dafür braucht. Jemand, der nicht ihre Größe besitzt, hätte womöglich genau das getan. Aber nicht sie. Sie beobachtet ihre Umgebung und sie wächst von selbst, um zu einer besseren Person zu werden.

Sie ist außergewöhnlich.

Der Energiestrom endet. Meine Schmerzen sind fort, und Nissa blickt mir lächelnd in die Augen, ohne sich meiner Erkenntnisse bewusst zu sein.

„Du bist viel besser geworden, was das Feiern angeht“, necke ich sie.

Sie zuckt mit den Schultern. „Sie sind gar nicht so furchteinflößend, wenn man sich erst einmal an sie gewöhnt hat.“

Ihre Antwort mag unbewusst gewesen sein, doch ich weiß, was sie sagen will.

„Ich habe erkannt ... dass ich mehr über die Dinge erfahren will, die mir fremd sind“, fährt sie fort. „Wenn ich sie verstehe, werde ich keine Angst vor ihnen haben.“

Ihr Herz ist ein weicher Baldachin aus Orangenblüten und Bescheidenheit.

„Ich möchte, dass du etwas bekommst“, sage ich leise. Nissas Stimmung wird etwas säuerlicher. „Ich weiß, dass du keine Geschenke magst, aber das ist albern. Also hier bitte.“

Ich greife unter mein Hemd und ziehe eine Halskette mit einem Anhänger über meinen Kopf.

„Die Kette ist aus Gold aus den Bergen. Ich nehme an, der Saphir in der Mitte des Anhängers stammt ebenfalls aus Lathnu. Trage ihn unter der Kleidung, damit ihn dir keine Taugenichtse vom Hals reißen.“

Nissa streckt eine zierliche Hand aus, um die Halskette an sich zu nehmen. Sie zieht sie vorsichtig über den Kopf und steckt sie unter ihr Hemd.

„Traditionell gibt man solcherlei Dinge jemandem, der sein Zuhause vermisst. Also gern geschehen“, keuche ich. Ich kann spüren, wie viel ihr die Geste bedeutet, und labe mich an unserem kleinen Kreislauf aus positiver Energie.

„Danke, Yahenni. Ich wünschte, ich könnte dir auch etwas geben.“

„Du kannst mir geben, was auch immer du willst, solange ich es nicht tragen muss.“

Sie denkt einen Augenblick nach.

„Möchtest du ein Geheimnis hören?“

„Immer.“

Ich sehe eine Elfe mit einem schelmischen Lächeln vor mir, doch hinter ihrem Gesicht erahne ich den schier unendlich weit ausladenden Baum eines insgeheimen Vergnügens, das in der Erwartung seiner Preisgabe rasch größer wird.

„Deine Welt ist nur eine unter zahllosen anderen.“

Was?

„Sie ist ein einzelnes Weizenkorn auf einem unendlich weiten Feld. Und jedes dieser einzelnen Körner ist sein ganz eigenes Reich.“

In ihren Emotionen schwingt Aufrichtigkeit mit. Alles, was sie sagt, ist die Wahrheit. Woher –

„Manchmal gibt es ... Leute ..., die zwischen diesen Reichen hin und her reisen können.“

Bei dem Worte „Leute“ wirft sie mir einen wissenden Blick zu. Ehrlichkeit, Ehrlichkeit, warme, kupferne Ehrlichkeit. Woher

„Leute, die an Orte reisen, die sehr weit weg und sehr anders als ihre Heimat sind. Und diese Leute wissen, dass wir alle winzige Teile eines großen und unermesslich komplexen Ganzen sind. Doch der Raum zwischen diesen Welten – das, was all diese Universen miteinander verbindet – besteht aus der gleichen Substanz wie die Äthergeborenen. Das, woraus du beschaffen bist, erstreckt sich weit über Kaladesh hinaus. Du bist das, was das Multiversum zusammenhält.“

Einen Augenblick lang schweige ich und nehme die Gewaltigkeit dessen, was Nissa mir gerade offenbart hat, in mich auf. Endlich kann ich mich zu einer Erwiderung durchringen.

Wusste ich‘s doch!“

Nissa grinst. Ich blicke staunend an die Decke. Ich fühle mich winzig. Ich fühle mich riesig. Ich fühle mich, als hätte ich das größte Geschenk meines Lebens erhalten.

„Also ... woher stammst du wirklich?“, frage ich schließlich.

„Die Welt, von der ich stamme, heißt Zendikar.“

„Gibt es Äthergeborene auf Zendikar?“

„Nein, aber es gibt Elementarwesen, die ein wenig so sind wie ihr. Es gibt Vampire, die euch auch ein bisschen ähneln, aber ihr seid sehr viel freundlicher als sie.“

„Wie sieht die Landschaft aus?“

„Sie läuft umher.“

„WAS?“

Wir reden und reden und reden. Irgendwann hat Nissa keine Worte mehr. Die ganze Zeit über schwirrt mir der Kopf vor lauter Aufregung und Triumphgefühl. Ich habe diese unglaubliche, heimatlose Person dazu gebracht, sich so sehr zu Hause zu fühlen, dass sie mir das erstaunlichste Geheimnis von allen anvertraut hat. Welch ein Sieg!

Ich sehe Depala aus dem Augenwinkel und erinnere mich an das, was ich tun muss. Depala führt meine Äthergeborenenfamilie heran, um mich ein letztes Mal aufs Dach zu tragen.

„Nissa, ich fürchte, ich muss nun gehen. Du kannst mich gern aufs Dach begleiten, wenn du magst.“

Ihre Gefühle durchlaufen verschiedenste Regungen. „Nein“, sagt sie schließlich. „Ich sollte hierbleiben. Leb wohl, Yahenni.“

Sie wirkt da so auf dem Sofa sehr klein. Ich brenne das Bild, wie sie mir nachsieht, in mein Gedächtnis ein.

„Also dann, Teuerste.“

Nissa lächelt traurig, und meine Gedanken kreisen wieder und wieder um das Geschenk, das sie mir gerade gemacht hat. Was für ein unglaubliches Vorletztes Geschenk ...

Meine Familie hebt meinen Stuhl an, badet mich in Beileid und Mitgefühl und trägt mich aufs Dach.

Die Große Verbindung kreist strahlend und himmelblau über mir in der Nacht. Hunderte von Sternen leuchten heller als die Lichter der Stadt, und meine engsten Freunde haben sich um ein leeres Bett versammelt und erwarten meine Ankunft. Der Himmel ist unglaublich. Ein Gemälde aus Violett und Blau und Äther und Sternen. Es ist eine wunderschöne Nacht für Abschiede.

Meine Familie um mich herum verströmt Trost und Linderung. Es hilft, und ich befinde mich an einem Ort der Ruhe. Das Universum ist so riesig und ich bin so klein und Nissa hat mir das schönste Geschenk gemacht, das ich je bekommen habe.

Ich schaue den Lieben um mich herum in die Augen. Ich habe ihnen alles gegeben, was ich habe, ihre Freude durchströmt jeden Teil von mir und unser Kreis ist nun vollends geschlossen.

Ich sage jedem von ihnen ein sanftes Lebewohl. Ich lasse mir Zeit, spüre alles, was sie spüren, schwelge in jedem Einzelnem, während ich ihm in die Augen blicke und ihm alles Gute wünsche. Keiner von ihnen weint, und alle versprechen, das, was ich ihnen überlassen habe, zum Wohle eines anderen Äthergeborenen einzusetzen. Ich nutze mein letztes Quäntchen Kraft, um nach unten zu greifen und Depalas Hyäne zwischen den Ohren zu kraulen. Alle sind glücklich. Alle lächeln. Alle versprechen, weiter zu feiern, sobald ich gegangen bin.

Ich spüre den Strom meiner Stadt, der mich in die nächste Ewigkeit trägt. Ich denke an das einzelne Weizenkorn, das ich Heimat nenne, und an jene unendlichen Reiche jenseits all dessen, was mir bekannt ist.

Meine Freunde sagen mir, es ist gut. Es ist an der Zeit. Du kannst jetzt loslassen.

Und das tue ich.

Ich erschaudere

und lasse los

(es fühlt sich wundervoll an)

Ich werde eins mit dem endlosen Himmel über mir

und

voller Triumph

finde ich ein Ende


„Ich hätte nicht so lange wegbleiben sollen“, sagte Chandra.

Chandra drückte den Korb mit Keramiksteinchen an sich, während sie neben ihrer Mutter herging, die sich ihren Werkzeugkoffer über die Schulter gehängt hatte. Pia wies den Weg vom Bahnsteig des Aradara-Bahnhofs zu einer Seitengasse, und sie brachen zu ihrem Ziel auf.

„Es ist nicht deine Schuld. Es ist ja nicht so, dass du so einfach hättest ... zurückreisen können, wann immer du wolltest.“

Chandra schluckte. „Das hätte ich gekonnt.“

„Oh.“ Ihre Mutter zog ihren Werkzeugkoffer ein Stückchen höher, als sie um eine Ecke bogen. „Nun ja. Du hast es ja nicht gewusst.“

„Ich hätte es wissen sollen. Irgendwie. Ich hätte spüren müssen, dass Mutterwellen durch den Äther strömen.“

Ihre Mutter warf ihr einen Blick zu. „Funktioniert das so?“

„Nein!“

„Oh. Na ja. Zu schade. Mutterwellen können sehr beruhigend wirken.“

Chandra trat ein Steinchen vor sich her. „Das wären sie sicher gewesen.“

„Also wie funktioniert es denn dann? Das ... Also das, was du bist. Von zu Hause wegzureisen. Wie ist das möglich?“

Chandra lachte kläglich. „Da fragst du die Falsche.“

„Aber ... du kannst es einfach tun? Oder? Wie dein Feuer.“

„Nicht wie mein Feuer. Also nicht ganz. Aber es lässt mich andere Welten besuchen. Das konnte ich seit diesem Tag in der Arena. Es ist eine andere Gabe.“ Chandra bemerkte, wie ihre Mutter ihr Gesicht aufmerksam studierte. Sie wusste, dass es keine elterliche Sorge war – das war die Thopter-Ingenieurin in ihr. Ihre Mutter hatte schon immer gern den Bauch von Maschinen geöffnet, um herauszufinden, wie sie funktionierten. „Willst du mir unter die Haube schauen, Mutter?“

„Alles, worum ich bitte, ist eine Reihe detaillierter Baupläne.“

„Nun, so ist das nicht. Es ist mehr, wie ... wenn du deine Augen entspannst und du dann all diese Muster siehst, die vorher nicht da waren.“

Ihre Mutter ließ enttäuscht die Schultern hängen.

„Oder wenn du den Geräuschen am Bahnhof kaum zuhörst und dann für einen ganz kurzen Augenblick alles perfekt zusammenpasst und eine Melodie ergibt.“

„Metaphern sind keine Baupläne“, sagte ihre Mutter.

Chandra zuckte die Schultern. „Mehr kann ich nicht bieten. Ich weiß nicht, warum ich so bin. Ich weiß nicht, warum es das ist, was mich jetzt ausmacht.“

Sie bogen um eine weitere Ecke und fanden den Ort. Vaters Ort. Das zerschlagene Mosaik an der Wand war ein altes Porträt ihres Vaters, eines von Dutzenden bekannter Erfinder, wie sie überall in der Stadt hingen und das wahrscheinlich von irgendeinem begeisterten Künstler angefertigt worden war. Es kam einer Begräbnisstätte am nächsten, einem Ort, an dem die Erinnerung an ihn mit der Stadt verschmolzen war.

Das Porträt hatte Löcher und Risse von Jahren der Vernachlässigung. Chandra stellte ihren Korb ab und machte sich an die Arbeit, Keramiksteinchen in den richtigen Farben herauszusuchen.

Ihre Mutter griff mit einer Zange nach den Steinchen und brach sie in die richtige Formen. Mit einem behandschuhten Finger schmierte sie Spachtelmasse in die Ritzen und Chandra drückte die Steinchen an die passenden Stellen.

Eine Zeit lang arbeiten sie schweigend. Es kamen keine Tränen – tatsächlich empfand Chandra eher ein betriebsames Vergnügen. Es fühlte sich gut an, an der Seite ihrer Mutter zu arbeiten und sich die Hände dabei schmutzig zu machen, hier im Herzen Ghirapurs etwas zu erschaffen. Ein ununterbrochener schöpferischer Akt. Chandra drückte ein kleines quadratisches Steinchen über der Augenbraue ihres Vaters fest. Dann hielt sie inne und blickte ihm in die Augen.

„Ich werde hierbleiben“, sagte sie.

„Was?“

„Hierbleiben. Hier. Auf Kaladesh. Bei dir.“

„Aber ich dachte ...“, setzte ihre Mutter an. „Ich ... Das würde mich sehr freuen, Chandra. Aber meinst du nicht ...?“

„Ich werde hier leben und wir werden wieder zusammen sein.“ Chandra füllte einen Teil der Schutzbrille ihres Vaters mit rot gefärbten Steinchen. „Eine Familie.“

Ihre Mutter sagte eine so lange Weile nichts, dass Chandra sich von dem Mosaik abwandte, um sie anzusehen.

„Mutter?“

Das Gesicht ihrer Mutter war wie ein geschlossener Vorhang. „Bitte bringe mich nicht dazu, das alles noch mal durchzumachen, Chandra.“

„Was durchzumachen?“

„Mein Herz kann nicht mehr viel verkraften.“

„Mutter. Deshalb bleibe ich ja!“

„Du bleibst nicht. Sag so was nicht. Du machst es nur schwerer als nötig.“

Was mache ich schwerer?“, fragte Chandra und rammte ein Steinchen so fest in die Brust ihres Vaters, dass es zerbrach.

Das ist jetzt unsere Familie.“ Ihre Mutter deutete mit der Zange zwischen sich und Chandra hin und her. „Das ist es, wer du bist. Das ist es, wer ich bin. Das ist es, was wir zusammen sind. Wir sind eine Mutter und ihre Tochter, die sie besucht.“

„Nein. Ich verlasse dich nicht noch einmal. Niemals.“

„Sag das nicht. Sag das bloss nicht!“, schrie ihre Mutter fast. Sie seufzte und ließ sich schwer zwischen die Steinchen fallen. Sie hob ein bläulich-silbriges Stück mit der Zange auf und legte es vorsichtig beiseite. „Chandra, ich bin deine Mutter und natürlich würde es mich freuen, wenn du länger bleibst. Aber wir wissen beide, dass du nun mehr bist als dieser Ort. Ich könnte es nicht ertragen, wenn du mich über diesen neuen Teil deines Lebens belügen würdest. Ich würde jeden einzelnen Tag ein wenig sterben, wenn ich glauben müsste, das ich es bin, die dich hier hält.“

Chandra spürte einen kratzigen Kloss im Hals. „Ich kann nicht gehen, Mutter. Ich muss gehen – und ich kann es nicht.“

Die Zange richtete sich auf sie. „Du kannst. Du bist eine Reisende. Also wirst du gehen und du wirst zurückkommen und dann unterhalten wir uns, du und ich. Und dein Vater hier. Wir können aufhören, eine Familie zu sein, die fortgeht, und eine Familie werden, die ankommt.“

Chandra war wütend über die Tränen in ihren Augen. „Ich werde diese Worte nicht sagen.“

Ihre Mutter stand auf und sie war ein wilder, wütender und ein wenig kleingeratener Stützpfeiler aus Liebe. „Chandra Nalaar, du wirst ‚Auf Wiedersehen‘ zu mir sagen. Du sagst es mir fünf Mal oder zehn Mal ins Gesicht und damit nimmst du diesen Worten die Macht. Verstehst du mich?“

„Mutter ...“

„Denn ich werde dich hier nicht festhalten und mich darum sorgen müssen, dass ich sie nicht hören werde. Ich werde deine Gaben nicht all diesen Welten vorenthalten, die sie brauchen. Ich werde nicht auf die andere Seite des Gebäudes gehen und alle diese Steinchen brechen und noch einen verdammten Schrein für jemanden bauen, den ich verlor–“ Sie gebot sich Einhalt und nahm eine zitternde Hand vor den Mund.

„Mutter, was?“

„Es gibt ... noch ein Mosaik. Von dir. Als du elf warst.“

Tränen flossen aus Chandras Augen. „Warum?“

„Ich habe es dir schon gesagt. Ein Schrein. Du meinst, irgendein namenloser Verehrer unter den Erfindern hat das hier gemacht? Ich habe sie beide gemacht. Dich und deinen Vater. Sobald ich freigekommen war. Damit ich einen Ort hatte, an dem ich euch beiden Lebwohl sagen konnte.“

Chandra brachte kein Wort heraus. Sie fiel in die Arme ihrer Mutter und schluchzte.

Ihre Mutter gab sie frei und schniefte lächelnd. Sie musterte sie mit dem Blick einer Ingenieurin, glättete das Tuch um Chandras Hüfte und zog den Riemen fest, der ihre Oberarmschiene an ihrer Schulter hielt. „Wann musst du los?“, fragte sie fröhlich.

„Bald.“

„Sehr bald?“ Sie strich eine Haarsträhne aus Chandras Gesicht und klemmte sie ihr hinters Ohr – ein Vorwand, um mit der Hand über ihre Wange zu streichen.

„Ja“, sagte Chandra und rieb sich die Schlieren aus den Augen. „Nach Amonkhet. Ein Ort, an dem ich noch nie war.“

„Nun, du wirst mir wohl alles über ihn erzählen müssen.“

Chandra betrachtete das Mosaik. Es hatte noch immer Lücken und Kratzer. „Vater ist noch nicht fertig.“

„Wir haben sowieso fast keine Steinchen mehr. Wir machen ihn fertig, wenn du zurückkommst.“

„Das könnte eine Weile dauern.“

„Dann habe ich Zeit, mehr Steinchen zu finden.“

„Können wir auch an meinem arbeiten? Nächstes Mal?“

Das Lächeln ihrer Mutter spannte ihre Wangen und grub leichte Lachfalten in sie hinein. Sie schob ihre Schutzbrille hoch, nahm Chandras Hand und blickte ihr erwartungsvoll in die Augen.

Chandra zwang sich, die Worte auszusprechen, damit sie sie und ihr Gegenstück in den Tagen und Jahren, die noch kommen sollten, wieder und wieder sagen konnte.


Es waren Flüsse in der Luft, und sie trugen sie wie ein Samenkorn.

Große Herzen schlugen in den Tiefen des Himmels und sangen bedächtige Sinfonien der Freude. Wortlos beschrieben sie die Sonne, die über dem Wolkenrand hervorbrach, die Klarheit der Sterne über frostigen Gipfeln, das Bewusstsein neuen Lebens, das in ihrem Inneren wuchs und behütet und geduldig auf seinen ersten strahlenden Atem wartete.

Körperlos glitt sie über die Sänger hinweg und lauschte ihnen. Sie riefen einander abwechselnd zu, über Wolken und Strömungen hinweg, und woben geteilte Träume aus Schwerelosigkeit, Regen und Erinnerungen.

Ein Auge von der Größe eines Hauses blinzelte. Gleißende Neugier spülte über sie hinweg wie die Rückkehr des Sonnenlichts vom Rand aller Dinge. Etwas Neues steht an unserem Himmel, sang es in einer Sprache aus reiner Empfindung und Lebenskraft, schneller werdendem Herzschlag und sich anspannenden Muskeln, angehaltenem Atem und Hunderten Tönen von Blau. Wie wundervoll, dass es da etwas geben sollte, was wir noch nicht kennen.

Anderswo zog Leben ihre Aufmerksamkeit auf sich. Der Himmel stob davon.

Sie öffnete ihre Ohren für Schritte auf Stahl, ihre Nase Gebratenem und Schweiß und – zu guter Letzt – ihre Augen.

Chandra lief über die in Zwielicht getauchte Plattform des Turms. Ihre Glieder waren schwer vor Erschöpfung und sie rieb sich die dunklen Schatten unter den Augen. „He, Nissa. Ich dachte, du schläfst.“

Das runde Schwebende von Musik wich den scharfen Kanten von Sprache. Mühsam und bruchstückhaft kehrten die Worte zurück. „Es tut mir leid“, krächzte sie. „Ich war ...“

Chandra hockte sich eine Armlänge entfernt hin. Augen von der Farbe des Sonnenaufgangs huschten vom einen Winkel zum anderen. Nissa versuchte, Chandras warmes und vor rastlosem und nervösem Leben gerötetes Gesicht zu deuten, doch sie fand darin keine Möglichkeit des Verstehens. Keinen Zusammenhang, der Orientierung geboten hätte. Keine Worte der Erklärung.

Dennoch sagte sie: „Ich habe den Himmelswalen zugehört“, und es schien ihr wichtig, das zu tun.

Chandra blickte nach oben. „Was? Wo denn?“

Nissa spürte die Strudel und das Plätschern der Ätherströme. Sie drehte den Kopf und schätzte die Richtung ab. „Weit im Osten und einige Tage im Süden. Der Morgen bricht gerade über ihnen an.“

Chandra gähnte mit einer solchen Hingabe, dass ihr Kiefer zitterte und ihr die Augen feucht wurden. „Du hast sehr gute Ohren.“

„Ich war bei ihnen.“

„Aber du bist hier?“

Sie holte Luft und tauchte ab. „Ich kann Leylinien spüren. Oder Ätherströme. Wenn ich meditiere und manchmal auch, wenn ich nur so dasitze, werde ich ... eins mit ihnen. Meine Wahrnehmung und meine Gedanken entgleiten mir. Ich werde eins mit der Welt.“

Chandra wippte auf den Absätzen und schlang die Finger nervös um die Knie. „Gruselig. Ist das ein Elfending? Ein Zendikarding? Würde ich so davongleiten, wenn ich meditiere?“

„Nein.“ Nissa wandte den Blick ab und spürte Hitze in ihren Wangen aufsteigen. „Das ist nur ein Ding von mir.“

Chandra sprang auf die Füße. Ihr Haar schlug Funken und sträubte sich. „Es tut mir leid! Ich wollte nicht –!“

Nissa streckte die Hand nach oben. „Bitte lauf nicht weg.“

Sie sah, wie Chandras Finger vor dem violetten Himmel zitterten. „Ich habe dich schon wieder verärgert.“ Ihr Haar sprühte und knisterte. Aurorahafte Streifen aus Orange schimmerten auf ihrer Kopfhaut. „Ich scheine immer –“

Nissas Augen schlossen sich und sie zwang Wortfragmente in die Luft. „D-das hast du nicht!“

Chandra wandte sich wieder um, hielt den Atem an und schaffte es nicht, ihren Blick zu erwidern.

Nissa schluckte an der Wüste in ihrer Kehle vorbei. „Ich spreche nicht oft. Ich habe .... jahrzehntelang allein gelebt. Zendikar war mein Gefährte. Wir verstanden einander auf einer Ebene, die tiefer ging als Worte. Ich ... ich weiß nicht, wie ich mit dir sprechen kann. Ich versuche, es zu lernen.“

Chandra blickte mit weiten und erschrockenen Augen auf. „Du weißt nicht, wie du mit mir sprechen kannst?“

„Ich werde Fehler machen“, sagte Nissa. „Die falschen Worte wählen. Die deinen missverstehen. Ich werde mich seltsam verhalten und es nicht bemerken. Aber wenn du Geduld mit mir hast, würde ich gern ...“ Wogen von Erinnerungen an Himmelsgesang brandeten auf, Sinfonien aus Farbe und Wärme, schwingender Bewegung und geteiltem Atem. Sie glättete sie, besänftigte sie und zwang kantige Worte hervor, die in bleiche Schatten annehmbarer Wahrheiten gekleidet waren. „... deine Freundin sein.“

Chandras Hände fuhren heran, um die ihren zu umschließen, so warm wie das Nest eines Vogels. „Ich weiß ja nicht“, schniefte sie, während sich einer ihrer Mundwinkel nach oben zog. „Ich finde, du bist ziemlich gut darin, die richtigen Worte zu wählen.“

„Es hat den ganzen Nachmittag gedauert, zu entscheiden, wie ich das sagen soll.“

Chandra lachte und gähnte dann wieder. Sie ließ Nissas Hand los, um sich den Mund zuzuhalten. „Uff. Tut mir leid.“

Die Schatten unter Chandras Augen waren tiefer geworden. Nissa deutete auf den Platz neben sich. „Möchtest du noch immer lernen, wie man meditiert? Dies ist der ruhigste Ort in der Stadt.“

„Ich weiß nicht.“ Chandra warf einen Blick über die Schulter. „Ich dachte, dies sei unsere letzte Nacht hier? Vielleicht könnte ich alle in der Stadt herumführen? Es wird Luftrennen geben und Feuerwerk, und da ist dieses Speisehaus im Bomat, das das beste Undhiyu macht, und ich habe dieses kleine Mädchen gesehen, das Schnee verkauft, der nach Mango schmeckt ...“ Sie hielt inne. „Aber nichts davon würde dir Spaß machen, oder? Menschenmengen und Lärm.“

„Ich würde mitkommen“, sagte Nissa, während Chandra umhertigerte und die Absätze ihrer Stiefel wie Regen auf Laub pochten.

„Frau Pashiri meinte, ich sollte dich herumführen – nur wir beide –, weil alles, was wir bisher gemacht haben, war, im Gefängnis herumzulaufen und uns in eine Kiste sperren zu lassen.“ Chandra runzelte die Stirn. „Sie hat auch gesagt, dass ich mir einen Sari anziehen soll. Sie hatte sogar schon einen ausgesucht. Und ich so ... ‚Ich soll so sieben Millionen Stufen hinaufklettern, um sie zu treffen?‘ Das ist so ein seltsamer Vorschlag von ihr ... Warte. Was hast du gesagt?“

Nissa spürte, wie ihre Mundwinkel sich von selbst hoben – ganz ohne den bewussten Gedanken Ich sollte jetzt lächeln. „Ich würde mitkommen.“

Chandra blinzelte zu ihr herunter. „Äh, was?“, fragt sie eloquent.

„Ich möchte gern deine Heimat kennenlernen.“

„Ich dachte, du – ?“

„Ich werde mich beklommen fühlen. Ja“, gab sie zu und bewegte unruhig die Finger im Schoß. „Ich muss vielleicht ... zur Seite gehen und Ruhe in mir suchen. Aber ich werde bei dir sein. Nicht allein.“

„Oh“, sagte Chandra. „Nun, es ist noch Zeit. Wir könnten spät zu Abend essen. Oder vielleicht etwas trinken gehen.“

„Ah. Ich habe etwas für dich“, sagte Nissa. Sie griff hinter sich, um den geschlossenen Krug zu nehmen, den sie vorhin, bevor die Sonne hinter die Wolken geschlüpft war, gekauft hatte.

„Was ist das?“, fragte Chandra und glitt neben ihr zu Boden.

„Ich bin mir nicht sicher.“ Nissa nahm den Deckel ab und schnüffelte. „Der Mann, dem ich es abgekauft habe, meinte, es würde beruhigend wirken.“ Sie reichte Chandra, die hinter vorgehaltener Hand gähnte, den Krug. „Ich fürchte, es ist kalt geworden. Es soll wohl warm getrunken werden.“

„Ich mach das schon“, grinste Chandra und stellte den Krug auf eine glühende Handfläche. Vorsichtig atmete sie den heißen Dampf ein. „Gesüßte Milch. Mit Pistazien, Mandeln und Kardamom.“ Ihre Augen funkelten in der Dunkelheit. „Vater hat das oft für mich gemacht. Wenn ich nicht schlafen konnte.“

Nissa legte den Kopf schräg und versuchte zu begreifen, ob das etwas Gutes oder etwas Schlechtes war. Endlich nippte Chandra vorsichtig an der Milch, lächelte und strich sich über die Augen. „Das ist sehr lecker“, sagte sie.

„Ich möchte, dass du dir etwas vorstellst.“

„Wie eine Meditation?“, sagte sie und stellte den Krug beiseite. „Soll ich mich so hinsetzen wie du?“

„Wie auch immer es bequem für dich ist.“

Chandra versuchte, ein Bein unter das andere zu klemmen, aber sie zog eine Grimasse und begann, Rüstungsteile abzulegen und zu einem klappernden, windschiefen Haufen aus lackiertem Stahl neben sich aufzutürmen. „Und ich werde nicht mit den Himmelswalen davonschweben?“ Sie grinste.

„In diesem Fall“, sagte Nissa ernst, „werde ich dich auffangen.“ Sie schloss die Augen. „Ich möchte, dass du dir einen Fluss vorstellst.“

„Welche Art Fluss?“

„Schnell. Er rauscht über Felsen. In der Gischt bilden sich Regenbogen.“

„Welche Farbe?“

Nissa runzelte in der Dunkelheit hinter ihren Augenlidern die Stirn. „Die Regenbogen? Sie haben all–“

„Nein, das Wasser. Der Fluss. Ist er schlammig oder klar oder ... ?“

„Ganz wie du willst. Stell dir vor, wie er vorbeirauscht und über das Ufer zu deinen Füßen schäumt.“

„Trage ich Schuhe?“

„Das ist ni– Du bist barfuß.“

„Was befindet sich am Ufer? Gibt es da Bäume oder ist das eine Schlucht oder ... ?“

„Sch.“

„Aber ...“

Sch." Sie wartete. Stille. „Einfach nur ...“

Sehr leise flüsterte Chandra: „Ichbinjaschonstill.“

„Höre einfach nur auf meine Stimme. Lausche dem Wind. Lausche dem Wasser, das weiß und wild über die Felsen fließt. Lasse den Fluss breiter werden. Tiefer. Als er sich ausbreitet, verlangsamt sich das Strömen des Wassers. Die Gischt über den Felsen wird ruhig. Das Tosen wird zu einem Flüstern.“

Sie hatte einen Fluss ausgewählt, da Chandra besänftigende Erinnerungen daran hatte, sich treiben zu lassen. Ihr Atem war bereits langsamer geworden, das aufgeregte Vogelherz ruhiger.

„Gehe in den Fluss“, murmelte Nissa. „Langsam. Das Wasser umspült deine Füße, still und in der Sonne glitzernd. Einen Schritt nach dem anderen. Es kühlt dich. Deine Knöchel. Deine Knie. Deine Taille. Zwischen deinen Zehen ist weicher Schlamm.“

Sie sprach tief im Rhythmus eines Herzschlags. Ihre Mutter hatte ihr nach der Vertreibung aus einem weiteren Lager der Joraga auf diese Weise Geschichten erzählt, nachdem Nissas quälende Träume und die Blumen, die zu ihrer Begrüßung erblüht waren, die anderen Elfen hatten misstrauisch murmeln und gestikulieren lassen. Geschichten von Bergen, die davonschwebten, schweigend unter dem Sternenlicht. Von Bäumen, die Früchte zu Füßen von Waisen hatten fallen lassen und sie vor anstürmenden Baloths retteten, indem sie sie in sich aufnahmen. Geschichten, in denen die Welt kein Pfad inmitten von Dornen und Zähnen war, sondern ein endloser Garten voller tiefer und wundersamer Schönheit, die sich nach einem Zuhörer sehnte.

Es dauerte viele Jahre, bis sie erkannte, dass es sich um Geschichten von und über Animisten gehandelt hatte, die verloren, unterdrückt und als Ketzerei verboten worden waren. Geschichten, an die sich nun keine lebende Seele mehr erinnerte, mit Ausnahme ihrer selbst.

„Breite deine Finger aus und lasse das Wasser zwischen ihnen hindurchfließen. Es reicht dir jetzt bis zur Brust. Lehne dich zurück. Lass es dich tragen. Du wiegst nichts. Du schwebst zwischen den Wolken. Schweige. Sei ganz ruhig. Du atmest nur.“

Sie lauschte. Chandra atmete langsam und tief. Wärme stieg von ihrer Seite auf. Sie reagierte nicht auf das länger werdende Schweigen.

Nissa öffnete sich erneut dem Sog Kaladeshs.

Äther trug sie über Straßen voller pulsierender Farben. Massen wimmelten und huschten über Brücken und Plätze, die von Musik und Lachen erfüllt waren und farbenfroh schillerten. Funken stoben in den Himmel über dem Fluss auf und zogen Schweife aus fauchendem Glitter hinter sich her. Sie knisterten und zerbarsten und erblühten zu Blumen aus roten und gelben Flammen. Die Menge entlang des Ufers staunte und jubelte.

Unten in den Schatten zwischen den funkelnden Türmen bewegte der Äther sich seltsam.

Ein Wirbel bildete sich, der in eine Gasse abseits des Trubels sank. Sie ließ sich selbst darauf zu tanzen und lenkte ihr Bewusstsein in die Gräser, die sich beharrlich durch die Ritzen zwischen den Pflastersteinen drängten. Sie wurden zu einem Teppich aus Nachtblumen.

Ätherwölkchen stiegen aus entfernten Winkeln der Stadt, von entlegenen Ufern des Himmels und von der blendenden Weite jenseits von Kaladesh auf. Die Energien vermischten sich, verdichteten sich und bauschten sich dann zu einer leuchtenden Wolke aus Blautönen auf – Morgenhimmel, Lagunenwasser, Bergausläufer, Meereis, die Augen eines Neugeborenen. Ein Ausatmen der Welt, ein neuer, junger Stern, der schnell, wild und beständig pulsierte.

Die Ränder einer Wolke verdunkelten und verdichteten sich.

Die knisternde Ladung darin verstummte zu einem Zischen.

Das Äthergeborene schaute auf seine Hände und dann auf Nissas Blumen.

Hallo, Kind. Willkommen auf der Welt. Sie hatte keine Ahnung, ob das Neugeborene die Schwingungen von Wurzeln und Blättern verstehen konnte.

Es hielt seine neuen Hände über eine Blüte, als wäre sie eine Kerzenflamme. Aus dem Zischen der Energien bildeten sich Muster, spontan und eigenartig vertraut. D-du. Du? Du duftest. Du riechst, als ob du ... Riechst wie ... Orangenblütenöl. Es hielt inne. Gedanken wie Blitze zuckten durch seine Gliedmaßen. Was ist Orangenblütenöl?

Ein schwindelerregendes Déjà-vu überkam Nissa. Du hast ein wundervolles Abenteuer vor dir, sagte sie zu ihm.

Das Äthergeborene dachte darüber nach. Was soll ich tun?, fragte es.

Was würde sie tun, wenn sie erneut die Zeit hätte? Wenn sie nicht bei Licht, Lärm und Berührung zusammenzucken oder in Gesten und Bewegungen sprechen würde, die auf andere fremdartig wirkten?

Wie konnte sie dieses neue Leben lehren, rückhaltlos zu lachen und zu weinen und zu bedauern. Zu den Sternen und den Wassern zu singen oder auch zu niemandem. Vorbehaltlos und mit aller Macht zu lieben. Jeden Augenblick mit seinen Lieben zu schätzen. Jede bedauerte Verfehlung zu vergeben. Zu tanzen, wenn ihm danach war. Ein langes Schweigen in guter Gesellschaft zu genießen. Jede Morgendämmerung und jedes Gesicht mit dem Gedanken Das wird ein neues Abenteuer werden willkommen zu heißen. Mutig zu sein und vertrauensvoll und ...

... wie Chandra.

Das Äthergeborene wartete schillernd. Doch warum sollte irgendjemand ihre Gedanken hierzu auch nur ansatzweise wertvoll finden?

Hab keine Angst, deinem Herzen zu folgen, sagte Nissa zu ihm.

Warum sollte mir das Angst machen?

Auf der anderen Seite Ghirapurs entfuhr ihrem Körper ein Lachen in der dunkler werdenden Nacht. Mögest du dich das für immer fragen.

Schwingungen kamen vom anderen Ende der Gasse. Sie konnte sie durch das feine weiße Netz ihrer Wurzeln spüren. Das Kind schaute zu ihnen hin. Es gibt andere wie mich.

Andere Äthergeborene sammelten sich um es herum, hoben es auf wacklige neue Beine und umarmten es. Die Gasse erzitterte von den Begrüßungen, Schwingungen aus Duft und farblosen Energien. Das Strahlen eines jeden Körpers ging auf alle anderen über. Du bist willkommen, du bist geliebt, wundersame Tage stehen dir bevor und du kommst gerade recht, sie zu sehen!

Die Gruppe führte es davon und unterhielt sich in quecksilbernen Gedankenblitzen. Am Ende der Gasse wandte das Kind sich um und blickte zurück auf ihre Blumen.

Du ... Du hast .... Es neigte den Kopf und versuchte, einen Gedanken zu fassen. Du hast wundervolle Augen, Teuerste! Halb vertrautes Lachen zitterte in der Luft.

RUMS.

Nissa erwachte schlagartig in ihrem eigenen Körper.

Chandra war gegen ihre Seite gefallen. Ihr Kopf rollte über ihre Schulter, Strähnen roten Haares kitzelten sie in der Nase, langsamer Atem drang aus ihrem offenen Mund. Und sie sabberte auf ihren Ärmel.

Nissa hatte gehofft, dass das geschehen würde. Chandra brauchte Schlaf. Später würde immer noch Zeit für Meditation sein. Vielleicht würden die Gedanken an Wasser die Feuer ihrer Albträume löschen. Wenn nicht, würde Nissa bleiben, zum Helfen bereit.

Doch diese Position war unbequem. Ihr Arm wurde bereits taub.

Vorsichtig hob Nissa Chandras warmes Federgewicht und legte sie so, dass ihr Kopf in ihrem Schoß ruhte. Chandra regte sich im Schlaf, drehte sich auf die Seite und rollte sich zusammen, zog die Knie ans Kinn und die Hände übers Gesicht. Dann öffnete sie den Mund und ein lautes Schnarchen drang über die Plattform.

Kaladesh feierte seine Wiedergeburt mit wummernder Musik, Farben und Licht sowie Essen in unzähligen Variationen. Freudenfeuer schimmerten auf den Plätzen und in den Parks und warfen Schatten auf Tänzer in bunter Körperbemalung. Menschenmengen überquerten die Brücken und warfen Beutel mit Farben in den Vinday, um den Fluss zu einem wirbelnden Regenbogen werden zu lassen. Auf den Straßen drängten sich wiegende und schwankende Körper, die einander mit Lachen und Jubel, Tränen, offenen Armen und Vergebung begrüßten.

In der Stille des Himmels bewachte Nissa Chandras Schlaf.

Es fühlte sich richtig an.


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Weltbeschreibung: Kaladesh