Diener
Was bisher geschah: Dunkle Verheißungen
Ihre Tage damit zuzubringen, von Scharen von Untoten bedient und umsorgt zu werden, entspricht genau Lilianas Vorstellung vom Paradies. Sie kann es sich allerdings nicht leisten, auf Amonkhet zu sterben. Sie war nach Amonkhet gekommen, um einen weiteren ihrer dämonischen Schuldherrn zu finden ... und ihn zu töten.
Schatten in der Wüste war etwas ganz Besonderes, sinnierte Liliana.
Es war selbstredend immer schön, an einem Ort mit mildem Klima zu sein, an dem eine Brise ohne jedes Zutun stets angenehm kühl war. Doch auf einem Eiland sanfter Dunkelheit zu verweilen, die sengende Luft überall um sich herum zu spüren, liebkost von Brisen, die niemals die reglosen und sonnenverbrannten Bäume berührten – dies war etwas wahrlich Exquisites.
Nachdenklich kaute sie einen Bissen Feige. Neben ihr balancierte ein in weißes Leinen gehüllter, untoter Diener ein Tablett mit Obst in vollendeter Haltung auf dem Kopf. Hinter ihr wedelte eine weitere dieser sonderbaren, eilfertigen Mumien einen großen, gefiederten Fächer – die Quelle jener angenehmen Brise, die Liliana durchs Haar strich. Sie hatte einer Reihe weiterer Mumien befohlen, bei ihr zu warten, falls sie noch etwas wünschte, und nun knieten die Geschöpfe vor ihr, still und ausdruckslos. Sie war an untote Diener gewöhnt, doch diese hier waren außergewöhnlich effizient – sie erfüllten ihre Bedürfnisse nicht nur, nein, sie sahen sie voraus.
An diesen Ort hätte sie sich wirklich gewöhnen können.
Wäre da nicht ...
Wären da nicht die allgegenwärtigen Erinnerungen an Nicol Bolas gewesen, der hier in Abwesenheit als eine Art Gott-Pharao herrschte. Wäre da nicht die Art und Weise gewesen, wie jeder hier von Göttern und Prüfungen und irgendeinem wundersamen Leben nach dem Tod besessen war, anstatt sich der Annehmlichkeiten der Stadt zu erfreuen. Wäre da nicht die Tatsache gewesen, dass sie noch keine Nekromagie eingesetzt hatte, um diese Untoten zu befehligen, die so anders waren als die, an die sie gewöhnt war, und sie nicht wusste, was geschehen würde, wenn sie es versuchte.
Wäre da nicht – und das war der eigentlich springende Punkt – Razaketh gewesen.
Zwei der Dämonen, die Rechte an ihrer Seele innegehabt hatten, waren tot, dank überraschender Angriffe mit der tödlichen Macht des Kettenschleiers. Kothoped hatte sie nach dem Schleier ausgesandt, ein finsteres Relikt mit beachtlicher Macht, und ihr dann gestattet, damit geradewegs auf ihn zuzugehen – und somit bewiesen, dass auch Dämonen zu dumm sein konnten, um dauerhaft am Leben bleiben zu wollen. Griselbrand indes war weitaus gefährlicher gewesen, doch er war in einem Kerker aus magischem Silber gefangen worden. Liliana hatte einen ahnungslosen Einheimischen dazu gebracht, das Ding in die Luft zu jagen, während er noch orientierungslos gewesen war.
Razaketh wäre der Dritte. Doch anders als bei den anderen beiden hatte sie keine Ahnung, ob sie ihn überraschen konnte – keine Ahnung, wo auf dieser Welt er sich befand und ob er sich ihrer Anwesenheit bewusst war.
Razaketh war irgendwo auf dieser Welt, einer Welt unter der Knechtschaft Nicol Bolas‘. Bolas war es, der Lilianas Verträge überhaupt ausgehandelt hatte, und Liliana wusste nicht, wie er über ihre Bemühungen, sie auf eigene Faust wieder loszuwerden, urteilen würde. Ungeachtet des Ausgangs des Sturmangriffs der Wächter auf einen Drachenältesten wollte Liliana sichergehen, dass sie ihr zuerst halfen, Razaketh zu töten.
„Solltest du nicht nach irgendjemandem suchen?“, fragte eine dünne, höfliche Stimme hinter ihr.
Das konnte sie gerade noch gebrauchen. Der Rabenmann. Ein Geist aus der Vergangenheit, sprichwörtlich und buchstäblich, der immer wusste, wo sie war und was sie tat. Er mochte nicht einmal körperliche Gestalt haben. Er mochte eine Einbildung ihres Verstandes sein, ein Fluch oder ein geistiger Parasit. Doch er war echt. Er musste echt sein. Sie weigerte sich, etwas anderes in Betracht zu ziehen.
Wer oder was auch immer er war: Seit sie jung war, hatte er sie immer wieder heimgesucht. In den vergangenen Jahren war er geradezu geschwätzig geworden.
„Hast du nichts Besseres zu tun?“, fragte sie, ohne sich umzudrehen.
Lilianas Beine baumelten im warmen Sonnenlicht, und sie wusste, dass der Rabenmann den Schatten bevorzugte. Er musste ihr also nicht ins Gesicht sehen. Er erschien jedoch neben ihr in seiner altertümlichen schwarzen Kleidung. Er lehnte sich an eine der Zeltstangen und musterte sie mit seinen leeren goldenen Augen.
„Ich mache mir Sorgen um dich, Liliana. Einer deiner Dämonen ist in greifbarer Nähe, und die Zeit läuft dir davon.“ Er machte eine Handbewegung in Richtung der zweiten Sonne, die ihrem endgültigen Ruhepunkt bereits sehr nahe gekommen war. „Und doch sitzt du hier und isst Obst.“
„Es mag dir aufgefallen sein, dass ich keineswegs untätig gewesen bin.“
Sie hatte es nicht gewagt, einen ihrer eigenen Zombies auszusenden – nicht ohne ein tieferes Verständnis dafür, wie fremde Nekromagie an einem Ort aufgenommen wurde, an dem untote Diener derart zahlreich und geordnet vorkamen. Stattdessen hatte sie ein paar Schatten heraufbeschworen, körperlose Untote aus Dunkelheit und Tod. Sie hatte sie in die dunklen Gassen und Straßen zwischen den gewaltigen Monumenten ausgesandt, wo sie nicht weiter auffielen, um nach Hinweisen auf Razaketh zu suchen.
Und wie lange er auch fort war: Der Rabenmann schien immer genau zu wissen, was sie tat.
„Ah, natürlich“, sagte der Rabenmann. „Du hast Diener ausgesandt, anstatt selbst nachzusehen. Zweifellos aus dem Wunsch heraus, unauffällig zu erscheinen. Sicherlich nicht aus Furcht, nicht wahr?“
„Deine Schelte ist zur Kenntnis genommen“, sagte Liliana. „Und jetzt verschwinde.“
„Ich bin sehr geduldig gewesen. Ich ließ dich während all der Monate allein, die du auf Ravnica zugebracht hast, wo du in deinem Klubheim herumlungertest und Gutes tatest, wenn es dir gefiel. Ebenso schwieg ich während deines kleinen Ausflugs nach Kaladesh, selbst nachdem er zu einer gefährlichen Ablenkung wurde. Ich vertraute darauf, dass du wusstest, was du tatest. Dass du die Bande der Zuneigung festigen wolltest, mit denen du diese Narren dazu bringen willst, dir zu Diensten zu sein.“
„Zuneigung ist mir zu Diensten“, sagte Liliana. „Es hat geklappt, oder?“
„Bei wem?“, fragte der Rabenmann. „Du hast dir mit Jace eine Flasche geteilt und mehr als einmal in Erinnerungen an alte Zeiten geschwelgt. Willst du mir sagen, dass dies nur dazu diente, ihn dir wieder gefügig zu machen?“
Das war ein bis drei Male geschehen – in ihrer privaten Residenz auf Ravnica, nachdem sie sich den Wächtern angeschlossen hatte. Dann hatte Gideon bei irgendeiner Strategiebesprechung beißend angemerkt, dass er Jace in den frühen Morgenstunden niemals finden konnte, und das war das stumme, unausgesprochene Ende von all dem gewesen.
„Das“, sagte Liliana, „geht dich rein gar nichts an.“
„Lass dich nicht von deiner Zuneigung übertölpeln“, sagte er. „Hier sind deine treuen Narren – geradewegs auf der Türschwelle deiner Feinde. Und dennoch tust du nichts. Sie stöbern mehr als auffällig herum, und du sitzt hier und setzt alles aufs Spiel, worauf wir hingearbeitet haben. Bist du weich geworden?“
Lilianas Blickfeld wurde dunkler.
„Sie haben mehr für mich getan, als du es jemals könntest, du wertloses Phantom.“
„Wie verletzend“, sagte der Rabenmann süffisant. „Habe ich dir nicht auf deinem Weg geholfen? Habe ich nicht deinen Geist geschützt, damals auf Innistrad, als dein Spielzeug den seinen unter seiner Kapuze verlor? Habe ich nicht die Kontrolle über den Kettenschleier übernommen, um dich aus dem Bauch dieses Wurms zu befreien, als du hier ankamst?“
„Wie bitte?“
Nun blickte Liliana ihn an. Sie hatte gedacht, sie wäre tot, als sie die Kehle des Dings hinuntergerutscht war. Sie war sich nicht sicher gewesen, wie sie wieder herausgekommen war. Die Kontrolle übernehmen ... Konnte er das wirklich tun? Hatte er es bereits vorher schon getan?
„Ich versuche, dir zu helfen“, sagte der Rabenmann lächelnd. „Razaketh weiß vielleicht nicht, dass du hier bist. Je früher du deine Schergen um dich sammelst und ihn lötest, desto besser für dich. Es ist Zeit, dir deine nützlichen Narren auch tatsächlich zunutze zu machen.“
Ein blaues Blitzen, das sich aus der Menge auf sie zubewegte, zog Lilianas Blick auf sich.
„Wo wir gerade von meinen Schergen sprechen“, sagte sie lächelnd, „Unser Lieblingstelepath ist gleich dort drüben. Du solltest dich vielleicht rar machen.“
„Hast du Angst, dass er mich sieht?“, fragte der Rabenmann.
„Hast du Angst vor dem, was er dir dann antun könnte?“, sagte Liliana.
Die goldenen Augen des Rabenmannes verengten sich. Wie entzückend.
„Vergiss nicht, weshalb du hier bist“, sagte er und verschwand entrüstet.
Liliana lehnte sich zurück, fest entschlossen, entspannt zu wirken, wenn Jace eintraf. Sie zupfte eine runde, purpurne Weintraube aus der Schale neben sich und biss die Hälfte davon ab. Sie kräuselte die Unterlippe – gerade so viel, um zu verhindern, dass der Saft ihr übers Kinn tropfte. Es war eine ausgezeichnete Traube, saftig und süß.
„Da bist du ja“, sagte Jace und blinzelte unter seiner Kapuze ins Sonnenlicht.
Als er noch unglücklich an einem Becher dicken, bitteren Biers genippt hatte, war Liliana aus ihren Raum in der ihnen zur Verfügung gestellten Unterkunft geschlüpft, um sich allein aufzumachen, die Stadt zu erkunden. Sie hatte sich schließlich in diesem kleinen Zelt am Flussufer niedergelassen, ihre Sucher ausgesandt und sich etwas zu essen bestellt.
Sie schluckte die Traube herunter – mitsamt den Samen natürlich, denn es war so würdelos, sie auszuspucken.
„Hallo, Jace“, sagte sie. „Gabelfrühstück?“
„Es ist weit nach der Mittagsstunde“, sagte er.
„Es ist ein spätes Frühstück.“
Er knirschte mit den Zähnen.
„Das wäre dann einfach nur ... Mittagessen.“
Niedlich.
„Wie du meinst“, sagte sie. „Mehr Feigen für mich.“
Jace zuckte die Schultern und griff nach einer Feige, zuckte jedoch zurück, als er sah, worauf das Tablett abgestellt war.
„Ich würde Essen bevorzugen, das nicht von Leichen hergerichtet wurde.“
„Jace, du überraschst mich. Ich wusste ja, dass die anderen mäklig sein würden, aber ich hätte gedacht, dass du den Komfort klagloser untoter Diener zu schätzen wüsstest. Diese Bandagen sind äußerst sauber, weißt du?“
„Hast du jemals eine Gesellschaft wie diese gesehen?“, fragte Jace. „Die Toten werden weggeschafft und mumifiziert, um allen zu dienen? Zombies, die sämtliche Arbeiten verrichten?“
„Nein“, sagte Liliana. „Keine solche. Und die in der Stadt sind anders als die in der Wüste, falls es dir nicht aufgefallen ist.“
„Sie sind zweifellos ordentlicher“, sagte er. „Aber ja, das ist mir aufgefallen. Draußen im Sand ist einer dieser Würmer ganz von selbst wieder aufgestanden. Du warst ... indisponiert. Und ich hätte bemerkt, wenn ein weiterer Nekromagier in der Gegend gewesen wäre.“
War das Besorgnis in seiner Stimme?
„Diese Zombies standen lange nicht unter der Kontrolle von irgendjemandem“, sagte sie. „Wenn das, was du über den Wurm sagst, stimmt, dann ist es möglich, dass sie von irgendeiner Art Nekromagie in der Umgebung wieder erhoben werden.“
„Nekromagische Hintergrundstrahlung? Gibt es so etwas?“
Sie zuckte die Schultern.
„Vielleicht ist es genau das, was hier geschieht“, sagte sie. „Das ist kein schöner Ort.“
„Was ist mit denen hier drinnen?“
„Sie sind ... seltsam“, sagte sie. Tatsächlich jagten ihr die Mumien in der Stadt Schauer über den Rücken. „Welche Magie sie auch immer erhoben hat, sie ähnelt nicht der meinen. Und sie hält sie streng unter Kontrolle. Ich habe so etwas noch nie gesehen.“
„Wenn wir mehr darüber wüssten, bekämen wir vielleicht eine bessere Vorstellung von dem, was hier vor sich geht.“
Liliana spürte den vertrauten Schauder, als sich ihr ein Schatten näherte. Er schlängelte sich über die sonnenabgewandten Straßenseiten und huschte von einem Baum zum nächsten.
Jace erschauerte und musterte die Umgebung. Kluger Junge.
„Das ist meiner“, sagte sie. Er entspannte sich, wenn auch nicht vollständig. Kluger, paranoider Junge.
Der Schatten verweilte in einigem Abstand, denn er hatte keine Möglichkeit, Lilianas Unterschlupf zu erreichen.
Komm, wisperte er ihr zu. Gefunden. Schatten waren nicht gerade Unterhaltungskünstler.
„Nun“, sagte sie laut. „Es scheint, ich habe etwas gefunden.“
Sie entließ die Dienermumien mit einer knappen Handbewegung, raffte ihre Rücke und wandte sich zu Jace.
„Du hast vor, mir zu folgen?“, fragte sie.
„Freilich.“
„Und wenn ich dir sagen würde, dass du mir nicht folgen sollst“, sagte sie, „dann machst du dich unsichtbar und tust es trotzdem?“
Jace zuckte die Schultern. „Der Gedanke war mir gekommen.“
„Der einzige Unterschied ist also, ob ich dich unterwegs ansehen muss?“
„Ähm ... ich schätze schon.“
„Na schön“, sagte Liliana. „Dann komm mit.“
Sie ging davon und folgte dem Schatten.
Jace seufzte und folgte ihr. Im Gehen murmelte er: „Heißt das also, dass du mich ansehen willst, oder ... ?“
Sie lächelte und ging weiter.
Sie schlenderten die sonnigen Straßen entlang, vorbei an gestählten jungen Erwachsenen und schauderhaft wohlerzogenen Kindern. Rufe der Anstrengung und der Geruch nach sauberem Schweiß stiegen von den Übungsplätzen aus auf, auf denen sich Hunderte der „Geweihten“ der Stadt im Kampf übten.
Solch wunderbare Körper! Sie konnte nicht anders, als sie sich tot und in ihren Diensten vorzustellen – vorausgesetzt, sie starben sauber ...
Oh.
„Jace ...“, sagte sie. „Ist dir aufgefallen, dass alle Mumien in der Stadt verstümmelt sind?“
„Hm?“, machte er. „Mir ist aufgefallen, dass einige es sind. Fehlende Hände und dergleichen. Alle von ihnen? Wirklich?“
„Selbst diejenigen, denen keine Körperteile fehlen, haben durchtrennte Sehnen oder gebrochene Knochen. Ich sehe das daran, wie sie laufen. Stirbt jeder hier einen gewaltsamen Tod?“
„Oder“, gab Jace zurück, „man macht etwas anderes mit denen, bei denen das nicht der Fall ist?“
Sie runzelte die Stirn.
„Dieser Ort ist merkwürdig“, sagte sie.
„Richtig merkwürdig“, sagte er.
„Und es scheint fast so, als würde es Gideon ... “
„... hier gefallen“, beendete er den Satz. „Ich weiß.“
Beide machten ein verächtliches Geräusch.
„Also, wonach genau suchen wir?“, fragte er.
„Ich suche danach“, sagte Liliana lächelnd. „Du folgst mir. Wie auch immer ... Es ist ein Geheimnis.“
„Ich hasse Geheimnisse.“
„Sie zu kennen oder sie nicht zu kennen?“
„In beiden Fällen bedeuten sie Scherereien“, sagte er. „Obwohl es schlimmer ist, sie nicht zu kennen. Ganz offensichtlich.“
Offensichtlich. Auf manche Weise war er noch so unschuldig.
Sie seufzte.
„Versprichst du mir, nicht sauer zu werden?“
„Nein.“
„Versprichst du mir, es nicht Gideon zu sagen?“
„Ähm. Ganz klar nein.“
„Dann musst du es selbst herausfinden, Kapuzenjunge.“
Nachdenklich ging er neben ihr her.
„Du versuchst, Nicol Bolas zu finden“, sagte er.
„Das möchte ich lieber nicht so bald.“
„Du hast vor, uns an Nicol Bolas zu verraten.“
„Verlockend, aber nein.“
„Du ... suchst nach etwas, was du hier vergessen hast, als du das letzte Mal hier warst.“
Sie lächelte.
„Hm“, sagte sie. „Interessante Vermutung. Aber vage.“
Der Schatten huschte an die Wand eines Gebäudes und verharrte dort. Die Wand war von Schriftzeichen bedeckt. Es handelte sich um die hier übliche Schrift. Einige Zeichen erkannte sie nicht ... und andere erkannte sie.
Razaketh.
Die Schriftzeichen verschwammen ihr vor den Augen, und ein Flüstern zupfte am Rande ihres Bewusstseins. Sie wankte und fing sich an der Wand ab. Die Hitze. Es musste die Hitze sein.
Jace streckte nicht die Hand aus, um sie zu stützen, doch er sah ihr Wanken.
„Geht es dir gut?“, fragte er.
„Mir geht es immer gut.“
Er warf ihr einen Blick zu.
„Langfristig betrachtet“, sagte sie.
Der Schatten führte sie um die Ecke herum zum Eingang. Er begann, an Substanz zu verlieren, da er nun zu lange den Wüstensonnen ausgesetzt gewesen war. Sie entließ ihn mit einer Handbewegung.
Das Gebäude schien nicht für die Öffentlichkeit zugänglich zu sein. Es hatte kein Schloss oder auch nur eine Tür, doch nach allem, was sie bislang gesehen hatte, war das charakteristisch für die Stadt.
Sie gingen eine steinerne Rampe hinauf und betraten einen langen Flur, der von Fackeln erhellt wurde. In die Wände war etwas eingraviert – Geweihte, die einander im Kampf gegenüberstanden. Einige von ihnen lagen tot am Boden.
Hinter ihnen war eine schlurfende Bewegung zu vernehmen. Schritte kamen die Rampe hinauf. Sie fuhren herum. Nirgends ein Versteck. Hoffentlich betrachtete man sie nicht als Einbrecher.
Das leere Gesicht einer Dienermumie, die einen Stapel Lumpen auf dem Arm trug, kam in Sicht. Jace und Liliana fanden einen Alkoven und drückten sich hinein, doch die Mumie nahm keinerlei Notiz von ihnen. Hinter ihr folgte eine weitere und dann noch eine und danach noch mehr. Manche schleiften ihre Last, andere arbeiteten zu zweit, um schwerere Dinge zu tragen.
Nein, keine Dinge.
Die Mumien trugen die Leichen der Geweihten, die im Kampf gefallen waren. Sie waren in Lumpen gewickelt, aus denen Blut tropfte. Einigen fehlten Körperteile. Dem Geruch nach zu urteilen, waren sie gerade erst gestorben. Vielleicht vor ein oder zwei Stunden.
Jace neben ihr würgte.
Als die Mumien vorbeigegangen waren, huschte sie erneut hinaus auf den Korridor.
„Pass auf, wo du hintrittst“, sagte sie. „Es ist jetzt rutschig.“
„Wir sollten nicht hier sein“, sagte er. „Warum sind wir hier? Wonach suchst du?“
„Du sagtest doch selbst, dass wir vielleicht etwas darüber erfahren, was hier vor sich geht, wenn wir diese Mumien verstehen.“
So weit entsprach das der Wahrheit. Aber was hatte all das mit Razaketh zu tun?
Sie folgten den Mumien den Gang entlang. Die Schriftzeichen um sie herum hatten sich verändert und zeigten nun Mumien, die tote Geweihte davontrugen, um diese dann auf Totenbänken einzubalsamieren und so weitere Mumien zu erschaffen.
Sie betraten eine große, hell erleuchtete Kammer und sahen den Inhalt der Schriftzeichen zum Leben erwacht. Der Raum war von geschäftigem Treiben erfüllt, die Leichen auf steinernen Totenbänken neben Tischen voller Utensilien und Urnen aufgebahrt. Der Geruch hier drinnen war anders: Der Gestank des Todes vermischte sich mit dem beißenden Geruch der Konservierungsmittel.
Die Mumien arbeiteten in nahezu vollkommener Stille, die lediglich durch das Schlurfen bandagierter Füße und das gelegentliche Klicken, Knirschen oder Glucksen der zu präparierenden Leichen unterbrochen wurde.
So viel Aufwand! Es war wie die Mumifizierung auf anderen Welten, von der sie schon gelesen hatte, jedoch in einem viel größeren Umfang. Die Mumien entfernten die meisten der inneren Organe der Geweihten, die in schmucklose Gefäße gelegt wurden. Die Leichen selbst wurden auf Regalen gestapelt, um auf den Bandagierungsprozess zu warten – alles war so effizient wie ein Webstuhl.
Das war kein religiöser Ritus. Das war eine rein praktische Angelegenheit.
Jace sprach in ihrem Geist: Das machen sie also mit den ganzen toten Geweihten. Sie störte sich an diesem Eindringen seinerseits, wohingegen die Mumien wiederum sich nicht für die Lebenden zu interessieren schienen und ihr entsetzliches Werk mit bedachtsamer Effizienz fortzusetzen.
Warum starben so viele bei den Übungen?
Sie stieß ihn an und deutete zum anderen Ende des Raumes, dessen Wand ein aufwendiges Relief zierte. Er nickte, und die beiden schlichen an der Wand des Raumes entlang.
Eine der Leichen begann sich zu regen, bevor sie vollkommen bandagiert war. Sie schlug um sich und zuckte, und der Prozess geriet ins Stocken. Es war das Erste, was sie sahen, was nicht effizient und geordnet ablief, und sie hielten an, um es sich anzusehen. Es gab hier keinen Nekromagier außer Liliana selbst und auch keine Nekromagie – nur ein Aufwallen von Todesmagie, die von überallher zu kommen schien.
Die Mumien, die das Bandagieren beaufsichtigten, näherten sich der Leiche und hielten sie fest, während eine weitere eine große metallene Plakette herbeischaffte – eine Kartusche. Sie drückten die Kartusche auf die Brust der Leiche.
Der um sich schlagende Leib wurde ruhig.
Liliana und Jace tauschten einen Blick aus. Sie bewegten sich weiter durch den Raum, während die Balsamierungsmumien weitere Kartuschen auf die einbalsamierten Leichen drückten. Manche regten sich, bevor dies geschah. Andere lagen noch eine ganze Zeit danach still.
Liliana und Jace hielten vor einem Relief an, das in dunklen Stein gehauen war und die gesamte hintere Wand der Kammer bedeckte. Sie musterten es, während das entsetzliche Werk hinter ihnen fortgesetzt wurde.
Es war eine Abbildung des Lebens nach dem Tod, dessen Ikonografie ihnen durch die überall in der Stadt zu findenden Schriftzeichen inzwischen vertraut geworden war. Da war die zweite Sonne, die zwischen den Hörnern am Horizont stand, und jenes gewaltige Tor, das – wie die Einheimischen sagten – den Weg zum Leben nach dem Tod versperrte. Auf dieser Abbildung stand das Tor offen und das Leben dahinter war verlockend sichtbar – aber es wurde von einem gewaltigen Dämon bewacht.
Razaketh.
Die letzte Prüfung, gab die Inschrift preis. Der letzte ruhmlose Tod, der die verbliebenen Unwürdigen ausmerzt.
Razakeths Hände waren voller Blut, ein Leichenberg erhob sich zu seinen Füßen. Blut strömte in das Wasser des Flusses.
Hinter dem Tor: Razaketh. Hinter Razaketh: Das Paradies.
Das Bild Razakeths bereitete Liliana Unbehagen. Es war, als würde es sie anstarren.
„Du bist hier, um nach einem deiner verdammten Dämonen zu suchen?“, zischte Jace.
„Zwei hab ich schon“, sagte Liliana. Sie hatte einen Kloß im Hals. Das Relief schien drohend über ihr aufzuragen. „Er ist der nächste.“
„Das hättest du uns sagen sollen!“, meinte Jace. „Wir hätten dir geholfen!“
„Du wusstest doch von Anfang an von meinen Dämonen“, erwiderte Liliana. „Du bist willens, gegen sie zu kämpfen. Glaubst du wirklich, dass Gideon mitgekommen wäre, wenn ich es euch allen gesagt hätte? Oder Nissa?“
„Weiß ich nicht“, blaffte Jace. „Ich wäre dir beigestanden. Aber jetzt wo du darüber gelogen hast, glaube ich nicht –“
„Ich habe über gar nichts gelogen“, sagte Liliana. Ihr Kopf wummerte.
„Du hast auch nicht die Wahrheit erzählt“, sagte Jace. „Du hast unser Vertrauen missbraucht.“
„Ich habe euch nie gebeten, mir zu vertrauen.“
Jace erwiderte etwas – etwas Verärgertes –, aber sie konnte es nicht verstehen. Sie hatte ein Dröhnen in den Ohren, und ihr Blick verschwamm. Der Kettenschleier wurde in ihrer Tasche warm. Er schützte sie.
Das Bild von Razaketh ... öffnete die Augen. Sie waren rot – blutrot – und das Einzige, was sie noch sah.
Die Geräusche hinter ihnen verstummten, und aus einem Dutzend verdorrter Kehlen wisperte es:
„Liliana.“
Nein, nein, nein, nein, nein
Die Mumien starrten sie an. Sie hatten die Arbeit niedergelegt. Die Ergebnisse ihrer Bemühungen standen neben ihnen, ein paar von ihnen nur halb umwickelt und mit hastig angebrachten Kartuschen. Nun hörte Liliana von überallher ihren Namen – von den Wänden selbst.
Machst du das?, sprach Jaces Stimme in ihrem Kopf.
Hilflos schüttelte sie den Kopf.
„Liliana ...“, flüsterten sie.
Die Mumien stürzten nach vorn. Sie waren überall um sie herum, ein Gewirr aus Fleisch und zupackenden Händen. Und noch immer schweigend. Vollkommen schweigend. Ein stummer Kampf. Nur ein gelegentliches Grunzen und das Flüstern seidener Bänder. Jace wirkte neben ihr Zauber und zog die Mumien mit einem illusionären Seil eine nach der anderen weg. Doch der Raum war so klein, und es waren so viele.
Lilianas Kopf wurde wieder klar. Wie in der Wüste griff sie nach ihnen, um sie zu beherrschen. Es waren nur Leichen, nicht anders als andere.
Nichts geschah.
Magische Hintergrundstrahlung. Mit einem Mal verstand sie alles. Es gab etwas auf dieser Welt – natürlich oder künstlich und das spielte auch gar keine Rolle –, was die Toten wieder auferstehen ließ. Alle Toten, innerhalb und außerhalb der Stadt. Diejenigen, die die Dienermumien erschaffen hatten, brauchten keine Nekromagie – nur ein Mittel, um sie zu beherrschen. Und diese Herrschaft war eine direkte, körperliche – weitaus schwerer zu überwinden als die Launen eines niederen Nekromagiers.
„Ich kann sie nicht kontrollieren“, sagte sie. „Die Kartuschen –“
Sie schnappte sich die nächste Mumie, grub ihre Finger um die Ränder der Kartusche und zog, so fest sie konnte. Jace sah, was sie tun wollte, und half ihr, indem er die Mumie um den Hals nahm und sie von ihr wegzog.
Mit einem fleischigen Schmatzen löste sich die Kartusche.
Dann gab es einen Knall und danach ein Zischen. Das Loch, das die Kartusche hinterlassen hatte, brannte in einem gleißenden, weißen Licht und die Mumie zerfiel.
Na wundervoll.
Und dann waren die Mumien überall um sie herum, zu viele, die nach ihren Gliedern und ihren Kehlen griffen. Liliana ihrerseits griff nach dem Kettenschleier. Das hatte sie verzweifelt zu vermeiden versucht, doch wenn das nötig war, um zu überleben ...
Die Mumien erstarrten und hielten sie an Ort und Stelle fest. Dann schlurften einige von ihnen beiseite, um jemanden vorbeizulassen.
„Ihr seid wahrlich Fremde“, sagte er.
Temmet.
Liliana hatte den aufgeblasenen jungen Wesir, der sie so freundlich in der Stadt willkommen geheißen hatte, von Anfang an nicht leiden können. Zu selbstsicher, zu überheblich. Sie hatte sich anfangs sogar gefragt, ob er älter war, als er aussah – viel älter, so wie sie. Aber nein. Er war nur ein Jugendlicher. Wie jeder andere hier auch, war er bereits in jungem Alter zu einer scharfen Klinge geschliffen worden. Und nun richtete sich diese Klinge gegen sie – mit genug Kraft, dass Liliana ihn nicht ganz als ein Kind abtun konnte, das Autorität vorspielte.
„Ich habe es zuerst nicht glauben wollen. Wer hat denn so etwas schon jemals gehört?“
Er kam näher und musterte sie.
Sorge dafür, dass er weiterredet, sagte Jace in ihrem Geist. Er hat irgendeine Art von Schutz. Ich brauche einen Augenblick.
„Aber ich habe die Geburtsurkunden im Monument des Wissens überprüft“, fuhr Temmet fort. „Kefnet weiß alles, aber seine Wesire kennen Euch nicht. Und nun seid ihr hier unten und schnüffelt in den heiligen Einbalsamierungskammern herum. Unsere Gepflogenheiten sind Euch wahrlich fremd. Ihr wisst nichts über den Gehörnten – möge seine Rückkehr bald bevorstehen und mögen wir –“
„Genau genommen sind wir ihm schon begegnet“, sagte Liliana.
Jace und Temmet blickten gleichermaßen erschüttert drein.
„Schweigt!“, sagte Temmet.
„Und nur dass du Bescheid weißt: Er ist wahrlich ein –“
Mumienhände legten sich ihr um die Kehle und schnitten ihr das Wort ab.
„LÜGEN!“, schrie Temmet mit rotem Gesicht.
Dann leuchteten seine Augen blau auf und sein Gesicht erschlaffte. Einen Augenblick später lockerte sich der Griff der Mumienhände.
Jace packte ihren Arm. Auch seine Augen leuchteten. Blaues Licht sickerte an den Rändern heraus, und sein Gesicht war verzerrt.
„Lauf“, hauchte er.
„Was – ?“
„Kann das nicht ...“, sagte Jace, „... viel ... länger ...“
Oh. Jace beherrschte Temmet, und Temmet beherrschte die Mumien, und das musste dem Geist des armen Jungen ziemlich zusetzen. Nicht alle Mumien waren reglos. Wahrscheinlich waren es zu viele. Jace behielt nur mühsam die Kontrolle.
Liliana stieß die nächste Mumie beiseite und rannte – fort von den roten Augen des Bildes und der Einbalsamierungskammer und dem Gestank nach Tod und Stille. Sie rannte.
Draußen. Gleißende Sonnen. Ihr Herz raste.
Jaces Augen wurden klar. Liliana blickte sich um, aber es waren keine Verfolger zu sehen. Noch nicht.
„Das ...“, keuchte Jace, „... war deine Vorstellung davon, ihn am Reden zu halten? Blasphemie?“
„Es war witzig“, sagte sie.
Einen Augenblick lang atmeten und rannten sie einfach nur.
„Was ... war da eben los?“, fragte er.
„Razaketh“, erwiderte sie. „Der Dämon. Ich glaube, er hat irgendwie mit diesem ... Leben nach dem Tod zu tun. Und er weiß ... dass ich hier bin. Der Kettenschleier ist der einzige Grund, aus dem er meinen Vertrag nicht ... aktivieren kann.“
„Wundervoll“, sagte Jace.
„Hast du wenigstens Temmets Erinnerungen ausgelöscht?“
Jace verzog das Gesicht.
„Nein“, sagte er. „Ich konnte nicht mehr tun, als uns die Mumien vom Leib zu halten. Er wird eine Weile bewusstlos sein und mit einem gewaltigen ... Kater aufwachen. Aber er wird sich daran erinnern.“
„Dann müssen wir die anderen finden“, sagte Liliana.
Es ist Zeit, dir deine nützlichen Narren auch tatsächlich zunutze zu machen, hatte der Rabenmann gesagt.
Ob sie nun Freunde oder Narren waren: Liliana brauchte sie. Sie rannte vor ihrem Dämon davon und auf Hilfe zu.
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Planeswalker-Profil: Jace Beleren
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