KOPALA

Hier haben wir unseren Ursprung.

Bevor die ersten Füße ohne Schwimmhäute durch den Schlamm patschten, schwamm mein Volk durch die Gewässer von Ixalan und lauschte. Die Neun Nebenflüsse lehrten uns deren geheime Namen, und wir versprachen ihnen dafür, sie nur in Zeiten der Not anzurufen. Wir flüsterten den Wurzeln zu, während wir zwischen ihnen wandelten, und sie wanden sich, um uns den Weg frei zu machen – nicht, weil wir ihre Herren waren, sondern weil nur wir sie darum bitten konnten. Wir redeten mit Wind und Wellen und mit dem dichten Netz aus Zweigen. Wir formten sie nach unseren Bedürfnissen, und sie uns nach ihren.

Auch wenn sie es einst wussten, vergessen die Bändiger, dass wir vor ihnen hier waren. Die Blutsauger und die Briganten wussten es vielleicht nie – doch auch sie haben vieles vergessen, woran nur wir uns erinnern.

Wir sind mächtig, und doch haben wir so vieles eingebüßt.

Ich frage mich manchmal, wie es wohl war, bevor die Bändiger die Macht ergriffen. Wir herrschten über dieses Land und formten einst sein Schicksal. Ich frage mich, was für ein Wandler ich wohl gewesen wäre, wenn ich in diesen Tagen gelebt und ihr Wissen gehabt hätte.

Natürlich ist es müßig, darüber nachzudenken. Ich kann nur meine Gegenwart wirklich kennen. Tishana hat sich alle Mühe gegeben, mir das beizubringen. Fragen nach dem „Warum“ und jedes „Wenn“ können den Lauf eines Flusses nicht ändern.

Wir sind neun Wandler und wir führen die neun großen Stämme. Die Nebenflüsse teilen gütig ihre Namen mit uns, und jeder Stamm spricht für einen von ihnen, jeder von ihnen lenkt einen von uns. Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich einen anderen Namen, als ich noch einer von vielen Schamanen war, der durch diese Flüsse schwamm. Doch der Fluss Kopala hat mich erwählt, wie er vor mir Kopala erwählt hat, und nun sind Kopala und ich eins.

Kopala ist ein ruhiger kleiner Fluss, der sich aus dem Hochland herab windet; auf dem Weg zum Meer hält er in kleinen Seen inne und reflektiert über die Welt. Wir gehören zusammen. Ich meditierte, als die Wasser mich fanden, auf mich zuflossen und die kleine Lichtung füllten, in der ich saß. Ich öffnete meine Augen und sah mein Spiegelbild auf der Wasseroberfläche, als der Fluss und ich eins wurden.

Es ist müßig, sich zu fragen, was hätte sein können. Ich bin ein Wandler, und das ist der einzige Weg, den ich jemals gehen werde. Ich bin stolz darauf. Ich bin der jüngste Wandler, der unbedeutendste unter den bedeutendsten Vertretern meines Volkes. Ich muss noch so vieles lernen. Mein Stamm braucht mich. Die anderen Wandler brauchen mich. Ixalan selbst braucht mich.

Deswegen schwebe ich hier in den mystischen Wassern der Urtümlichen Quelle und meditiere. Tishana, meine Mentorin, ist bei mir; sie leitet mich, obwohl ihr Körper weit über mir im Schutz einer Baumkrone sitzt.

Urtümliche Quelle
Urtümliche Quelle | Illustration von John Avon

Ich kann alles fühlen: den Großen Fluss, die Neun Nebenflüsse, das Schwanken des Urwurzelbaumes in der Ferne, die sanften Bewegungen der Gezeiten und des Windes. Ich fühle den Herzschlag von Ixalan an einem Ort, den nie eine lebendige Seele zu Gesicht bekommen hat, das beständige Surren der Goldenen Stadt Orazca.

Orazcas Macht ist unvergleichlich. Sie ist anders als die von Wind und Wellen, anders als die flüchtigen Anstrengungen des Lebens und das tiefe, langsame Mahlen in der Tiefe. Diese Macht scheint von Person zu Person anders – und die Wahrheit bleibt verborgen. Aber was es ist, kann niemand mit Worten beschreiben. Es ist ein stetiger Puls, ein Rhythmus, der auf der ganzen Welt hörbar ist, wenn man nur hinhört.

Dieser Puls setzt für einen Schlag aus.

Meine Augen öffnen sich.

Dann ist Tishana bei mir. Sie begleitet mich zurück, erinnert mich ohne Worte daran, dass ich das Seltsame sehen soll, es fühlen und darüber reflektieren soll – und es, wie das Wasser im Großen Fluss, über mich hinwegfließen lassen soll, den Kanal entlang bis zum Meer, wohin schließlich alles zurückkehren muss.

Meine Augen schließen sich. Wir meditieren weiter. Ich warte unwillkürlich auf einen weiteren Schlag, der aussetzt. Vergeblich. Bald darauf verblasst Tishanas Gegenwart und unsere Meditation ist beendet.

Meine Augen öffnen sich und mein Körper kehrt zu mir zurück. Ich schwimme hinab auf den Grund des Flusses, stoße mich mit einer Schlammwolke ab und bewege mich von unten nach oben. Die Luft in der Lichtung um die Quelle herum ist so feucht, dass ich das Gefühl habe, meine Lungen kaum zu brauchen, obwohl natürlich der Nebel, der durch meine Kiemen streicht, nicht ausreicht, um zu atmen. Ich atme ein und aus – im Imperium der Sonne konzentriert man sich so auf das Meditieren, habe ich gehört. Unsere Techniken müssen sowohl über als auch unter Wasser funktionieren. Daher konzentrieren wir uns auf den Herzschlag.

Tishana schreitet einen Pfad aus gebogenen Zweigen herab, die sich sanft neigen, um sie sicher am Ufer abzusetzen. Sie geht gebeugt und wirkt alt und runzelig. Sie ist das älteste Mitglied unseres Volkes, alt genug, um sich an die Zeit zu erinnern, als die Bäume um diese Lichtung herum noch Schösslinge waren.

„Du hast es gefühlt“, sagt sie.

„Ja“, antworte ich. „Was war das?“

„Eine Störung des Ungreifbaren“, lautet ihre Antwort. „Wie ein Delfin, der versucht, die Wasseroberfläche des Flusses zu durchstoßen, obwohl es ihm nicht gelingt. Ich weiß nicht, was es bedeutet. Aber …“

Sie hält inne, gibt mir die Chance, zu sprechen. Als ich begann, mit Tishana zu üben, habe ich mich vor lauter Hochachtung nicht getraut, dieses Schweigen zu beenden, doch schließlich begriff ich, dass sie ewig schweigen würde, wenn sie wusste, dass ich die Antwort kannte.

„Aber es hat etwas mit Orazca zu tun“, vervollständige ich ihren Satz.

Orazca. Die Goldene Stadt. Unser Volk hat geschworen, diesen Ort geheim zu halten, sogar vor uns selbst.

„Und alles, was mit Orazca zu tun hat, ist für die ganze Welt von Bedeutung“, sagt Tishana.

Plötzlich dreht sich Tishana um – und dann fühle ich es auch: eine Flut aus Magie aus dem Norden. Etwas wogt durch den Dschungel, eine große Gruppe in Bewegung. Und sie nähert sich.

Dann sind sie am Rande der Lichtung: eine Gruppe aus rund zwanzig Flussherolden. Sie stehen in Formation, umgeben etwas, das ich nicht sehen kann, bewachen es. Kumena, ihr Wandler, führt die Gruppe an. Er ist schlank und geschmeidig, hat stechende Augen und eine gebieterische Ausstrahlung.

Der Fluss Kumena fließt schnell über scharfkantige Steine. Er ist ein ernst zu nehmendes Hindernis für unsere Feinde – und sogar für uns nicht ganz ungefährlich. Der Wandler Kumena ist ebenso, und abgesehen von Tishana ist er wahrscheinlich der mächtigste unter uns.

„Wandlerin Tishana“, sagt er mit dröhnender Stimme. Mir nickt er beiläufig zu. „Wandler Kopala.“

Die Völker von Tishana und mir stehen um die Quelle herum und beobachten das Geschehen.

Tishana neigt ihren Kopf. Ich verbeuge mich.

„Wandler Kumena“, sagt Tishana. „Wie gut, dass der Große Fluss dich hierher gebracht hat.“

„Er leitet uns alle“, erwidert Kumena unwillkürlich. In seiner Stimme ist keine Ehrfurcht zu erkennen – weder gegenüber dem Großen Fluss, der uns leitet, noch gegenüber der Wandlerin, die uns anführt.

„Was bringt dich zur Quelle, Wandler Kumena?“, fragt Tishana.

Kumena weist in die Mitte seiner Gefolgschaft, und die Gruppe teilt sich. Am Boden wird ein Bündel sichtbar. Nein, kein Bündel – ein Mann. Ein Soldat des Imperiums der Sonne, schmutzig aber unverletzt, gefesselt mit einem Knäuel aus Ranken. Seine Augen sind hasserfüllt.

„Ich habe das da“, faucht Kumena, „am Westufer des Großen Flusses gefangen, zusammen mit einer Kompanie Begleiter und ihren Bestien. Und du weißt, wonach sie gesucht haben.“

Tishana wischt eine Hand durch die Luft.

„Sie suchen schon lange nach Orazca“, erwidert sie. „Eine Patrouille auf der anderen Seite des Flusses bedeutet wohl kaum, dass sie die Stadt gefunden haben. Es ist wie mit den Blutsaugern: Ihr Eifer wird ihnen nicht zum Erfolg verhelfen.“

Kumena wendet sich seinem Gefangenen zu. Sie starren sich mit hasserfüllten Blicken an.

„Sag ihnen, was du mir erzählt hast.“

Der Mann grinst höhnisch, bevor er redet. Ich weiß nicht, was Kumena ihm oder seinen Freunden angetan hat, aber unter dem Hass ist auch Angst zu erkennen.

„Truppen nähern sich eurer Goldenen Stadt“, sagt der Mann. „Unsere Spione haben uns von zwei Piratenkapitänen berichtet … die Geschichten hören sich unglaublich an, aber sie scheinen wahr zu sein. Einer ist ein Mann mit dem Kopf eines Stiers. Dann ist da noch eine Frau mit schlangenhaften Haaren, die mit einem einzigen Blick töten kann. Die Frau hat ein Gerät, einen Kompass, der angeblich den Weg zur Goldenen Stadt zeigt. Sie hat in ihrer schwimmenden Stadt offen darüber gesprochen.“

Unter den versammelten Flussherolden geht ein Murmeln durch die Menge. Sie haben selbst Spione, die ähnliche Schreckensnachrichten überbracht haben. Doch Kumena sieht den Mann nur finster an.

„Und?“, fragt er. Der Mann zuckt zusammen.

„Eine von uns, eine Auserwählte der Sonne, hat einen Zauber gewirkt, der die Position der Goldenen Stadt offenbart hat.“, sagt er. Er kann seinen Stolz nicht ganz verbergen. „Sie wird die Stadt finden.“

Kumena breitet seine Arme aus und dreht sich zu Tishana um.

„Die Situation hat sich geändert“, stellt er fest. Er spricht mit Tishana, doch laut genug, dass alle in der Lichtung ihn hören können. „Orazca ist in Gefahr. Du verlangst von uns, dass wir die Stadt beschützen, ohne überhaupt zu wissen, wo sie ist.“

Tishanas Augen verengen sich zu Schlitzen. Sie spricht nicht lauter, doch ihre Stimme übertönt seine mit Leichtigkeit. Sie nennen sie die Stimme des Donners. Wenn sie will, kann sie selbst mit einem Flüstern ganze Bäume fällen. Nun setzt sie einen winzigen Bruchteil dieser Macht frei.

„Ich sorge dafür, dass Orazca vor allen sicher ist, die die Stadt missbrauchen würden“, dröhnt Tishana. „Auch vor uns selbst.“

„Dafür ist es jetzt zu spät“, entgegnet Kumena. „Wir wissen bereits, dass die Blutsauger sich von einem Visionär führen lassen. Jetzt haben die Reiter auch einen, und die Plünderer haben dieses Ding. Wir sind hoffnungslos in der Unterzahl, und sie sind gieriger als je zuvor. Wenn wir dieser Strömung nicht entgegenwirken, wird Orazca entdeckt.“

„Und was würdest du vorschlagen, Wandler Kumena?“, fragt Tishana. „Bitte, wir sind ganz gespannt auf deine weisen Worte.“

Kumena befindet sich in unruhigen Gewässern – und er weiß es ganz genau. Er fährt fort.

„Die Zeit ist gekommen“, sagt Kumena. „Wir müssen die Macht der Immerwährenden Sonne selbst nutzen, wenn wir sie nicht in feindliche Hände gelangen lassen wollen. Die Sonne wird vom Himmel fallen, die Gewässer werden erkalten, und dieses Land, das uns erschaffen hat, wird zu unserem Grab werden. Es sei denn, wir reagieren endlich. Wir haben keine Wahl!“

Kein Laut ist auf der Lichtung zu hören.

Tishana bleibt ruhig. Sie ist entschlossen, furchtlos und unnachgiebig. Ein weiteres „Wenn“ kommt mir in den Sinn. Was wäre aber, wenn ich Kumena so gegenüberstehen würde? Was, wenn ich das jetzt tun muss?

„Erinnere uns doch bitte daran, Kumena, warum es unser Untergang wäre, wenn Fremde Orazca finden würden.“

Türme von Orazca
Türme von Orazca | Illustration von Yeong-Hao Han

Nun wird Tishanas Stimme lauter. Ihre Augen sind wie zwei Sterne, und ihre Stimme hört sich an wie eine brechende Welle. Ich gehe einen Schritt zurück, doch Kumena weicht nicht.

„Sie würden sie missbrauchen!“, zischt er. „Der letzte Wächter hat sie uns überantwortet, und wenn wir sie in die Hände von Fremden fallen lassen, dann haben wir unsere Pflicht nicht erfüllt. Sie werden uns und mit uns die ganze Welt zerstören!“

„Er hat uns damit beauftragt, sie versteckt zu halten“, sagt Tishana mit der Unausweichlichkeit eines Tropensturms. „Sie soll nicht verwendet werden, Kumena. Du hast vergessen, wo du stehst. Du hast vergessen, was unsere Pflicht ist.“

Das Wasser in der Quelle beginnt, um Tishana herum zu wirbeln. Die Luft bewegt sich immer schneller über meine Kiemen. Nun weicht Kumena doch zurück, doch nur, um sich den versammelten Herolden zuzuwenden. Sich mir zuzuwenden.

„Du musst es doch sehen!“, sagt er – direkt zu mir. „Diese Taktik des Nichtstuns bringt gar nichts, wenn die Stadt in den Händen unserer Feinde zur Waffe wird! Wirst du mir helfen, unser Volk zu verteidigen?“

Er starrt mich an. Tishana schaut mich ebenfalls an.

Nun muss ich meine Spekulationen in die Tat umsetzen. Ich weiß, dass ich eine Entscheidung treffen muss, dass ich das Zünglein an der Waage bin. Ein Anführer ist entschlossen und gerecht. Das muss ich nun beweisen.

Meine Worte spiegeln mich wider. Sie sind ausgeglichen und gerecht. „Ich kann nicht abstreiten, dass Kumenas Worte wahr sind. Wenn Fremde die Stadt erobern, kann es nur Leid geben. Die Immerwährende Sonne hat dieses Land schon einmal ruiniert. Wir hätten fast nicht überlebt. Wenn sie noch einmal benutzt wird, egal von wem, wird alles zerstört, was wir aufgebaut haben, und unsere Wache war umsonst.

Doch auch das ist wahr: Wenn der letzte Wächter gewollt hätte, dass wir sie verwenden, dann hätte er sie uns direkt anvertrauen können. Die Geschichte der Immerwährenden Sonne ist eine Geschichte des Missbrauchs durch Sterbliche. Ich bin nicht so arrogant, dass ich uns allein zutraue, dieser Verantwortung gewachsen zu sein.

Wandlerin Tishana hat recht“, sage ich voller Überzeugung, „wir müssen alles in unserer Macht stehende tun, um zu verhindern, dass irgendjemand die Goldene Stadt erobert. Das gilt auch für uns selbst. Und ich kann niemandem vertrauen, der so begierig darauf ist, solch eine Macht an sich zu reißen.“

Ich fühle den Stolz meines Volkes in meiner Stimme. Ich sehe den Stolz in Tishanas Augen. Doch ich fühle, dass ich mich für die falsche Seite entschieden habe.

Kumenas Augen blitzen auf, und dann passiert alles auf einmal.

Kumena fährt mit einer Hand durch die Luft. Der Sonnenkrieger wird mit einem erstickten Aufschrei unter die Wasseroberfläche der Quelle gezogen. Kumenas Leute bleiben zurück – sie wollen seine Rebellion nicht unterstützen. Tishanas und meine Leute stürmen auf die Lichtung. Wind und Wasser tanzen um uns herum.

Plötzlich erstarrt Tishana, und wenige Augenblicke darauf auch Kumena.

Ich fühle einen Sog in meiner Brust: eine Verbindung, etwas, das sich anfühlt, als würde man an einem auf einen Bogen gespannten Spinnfaden zupfen. Einen Moment lang warten wir alle, fühlen es, wissen in unserem Inneren, dass jemand auf das Ufer zusteuert.

Tishana legt ihre Hand auf die Wasseroberfläche. Sie reißt ihre Augen auf. „Schiffe steuern auf unsere Küste zu. Kumena, wenn das deine Eindringlinge sind …“

Kumena schaut finster drein.

„Ich werde das erledigen, aber diese Strategie wird nicht für die nächsten paar Jahrhunderte ausreichen. Nicht mal einhundert Jahre. Ich habe euch alle gewarnt.“

Kumena sagt noch ein letztes Wort, bevor eine Hülle aus Wasser und Lianen ihn umhüllt. Mit einem magischen Aufblitzen und einem Wasserwirbel verschwindet er aus der Lichtung und eilt auf einer Welle aus verwobenen Wurzeln und rauschendem Wasser durch den Dschungel.

Ich taste mich mit meiner Magie unter die Wasseroberfläche vor und suche nach dem Sonnenkrieger. Doch sein Körper ist leblos und mit Wasser getränkt.

„Will er nach Orazca?“

Tishana schüttelt ihren Kopf.

„Wenn Kumena Orazca allein finden könnte, dann hätte er das schon längst getan“, erklärt sie. „Und selbst wenn er das könnte, würde er zuerst versuchen, seine Rivalen auszustechen.“

„Du glaubst, dass er die anderen finden will, die den Weg zu kennen scheinen?“, frage ich.

„Ja“, entgegnet Tishana. „Ich werde ihm folgen.“

„Du? Aber Wandlerin, du bist …“

„Alt“, sagt sie mit funkelnden Augen. „Ich weiß.“ Aber ich bin nicht klapprig, Wandler Kopala. Noch nicht. Ich werde gehen. Nur ich habe eine Chance, ihn zu überwältigen.“

„Ich komme mit“, entfährt es mir.

„Bleib besser hier“, weist mich Tishana an. „Ich brauche dich hier. Versammle unsere Leute und halte dich bereit. Wenn Kumena Orazca einnimmt – oder irgendjemand sonst –, dann werden wir jeden einzelnen brauchen, um die Stadt zurückzuerobern.“

„Nein“, antworte ich. „Wandlerin, bitte. Du hast das Geheimnis nicht ohne Grund bewahrt.“

Tishana legt mir eine Hand auf die Schulter.

„Kumena hat in einem Punkt recht“, erwidert sie. „Ich glaube nicht, dass wir die Goldene Stadt noch lange verstecken können. Und wenn wir sie nicht verstecken können, dann müssen wir hoffen, dass der Große Fluss uns all die Weisheit gewähren wird, die wir brauchen, um die Stadt zu schützen, ohne die Macht darin zu nutzen.“

„Eine Weisheit, die einem der größten aus unseren Reihen fehlt“, gebe ich zu bedenken. „Ich kann das nicht als Hoffnung bezeichnen.“

„Du kannst es nennen, wie du willst“, antwortet sie. „Wir haben einen Weg vor uns und die Strömung im Rücken.“

Dann hüllen Wasser und Ranken sie ein, die Bäume neigen ihre Zweige aus ihrem Weg – und sie ist verschwunden.

Unsere Leute sehen mich an.

„Ruht euch aus“, weise ich sie an. „Meditiert darüber, was gerade passiert ist. Morgen früh werde ich Boten an alle Stämme aussenden. Wir werden tun, was Wandlerin Tishana gesagt hat.“

Die meisten murmeln zustimmend. Manche murren. Kumenas Leute sind bereits verschwunden.

Ich veranlasse die Wurzeln und Ranken unter mir, den Körper des Sonnenkriegers zu umschlingen und unter den Grund des kleinen Quellteichs zu ziehen, wo er als Nahrung für die Bäume dienen kann. Es ist nicht das Ende, das er sich gewünscht hätte, aber mehr kann ich nicht für ihn tun.

Ich sinke unter die Wasseroberfläche der Quelle. Ich fühle alles: den Großen Fluss, die Neun Nebenflüsse und das Schwanken des Urwurzel-Baumes in der Ferne. Unsere zwei größten Beschützer eilen durch den Dschungel fort von mir, Richtung Osten.

Was wäre passiert, wenn ich meiner Mentorin gefolgt wäre?

Was ist, wenn sie scheitert?


TISHANA

Der Wind peitscht die Membranen meiner Flossen und der Duft der Ebbe umweht meine Zehen, als ich an den einen Schüler herantrete, bei dem ich am meisten versagt habe.

Ich finde Kumena schnell und ohne Probleme – folge dem direkten Weg zwischen unserem Ausgangspunkt und unserem jetzigen Standpunkt. Kumenas Unreife ist ebenso offensichtlich wie sein Stolz. Er ist ein mächtiger Wandler, ja, doch er ist auch unaufmerksam, naiv, und so impulsiv wie sein Namensgeber. Im besten Fall sind die Auserwählten von Kumena unbekümmert, leidenschaftlich und handlungsorientiert. Dieser Kumena ist alles davon, doch er hat noch etwas an sich, das ihn gefährlich macht. Als er mein Schüler war, stellte er jede Grenze auf die Probe.

An die meisten Schüler erinnere ich mich gern, doch wenn ich an ihn denke, kommen lauter Erinnerungen von Kopfschmerzen und Ärger auf. Ich denke nicht, dass ich als Mentor versagt habe – ich war nur so erfolgreich, wie es eben möglich war. Reife kann man nicht lehren; jeder muss selbst reifen.

Vor mir dehnt sich die endlose Weite des Meeres aus. Wunderschön, unheilvoll, gemieden – wir bevorzugen trübes Süßwasser ohne das raue Salz der See. Er steht mit erhobenen Armen vor mir und bringt Himmel und Wellen zum brodeln.

„Wir können tausendmal eintausend Stürme herbeirufen oder nur einmal eine Stadt erwecken“, sagt Kumena über das Toben der See hinweg. „Was ist deiner Meinung nach der effektivere Weg? Was wäre der bessere Führungsstil, Tishana?“

„Die Erweckung von Orazca steht nicht zur Debatte.“

Ich nehme seinen Zauber in meine eigene Magie auf. Meine Wellen treiben die feindlichen Schiffe in unsere Richtung, und mein Regen peitscht ihre Segel.

„Ich werde nicht zulassen, dass du noch mehr Leben aufs Spiel setzt. Ich werde nicht zulassen, dass du Ungewissheiten mit Ungewissheiten und Gewalttaten mit Gewalttaten beantwortest.“

Ich fühle, wie er sich aus dem Zauber windet, einen Schritt zurückweicht und beeindruckt zusieht, wie meine Magie die Schiffe in der Ferne umherwirft wie trockene Blätter auf einem Wildwasserfluss.

„Du warst schon immer geschickter als ich“, sagt er leise.

Ich ramme eines der Schiffe gegen einen Brandungspfeiler.

„Du glaubst, weiser zu sein als die Ältesten“, bemerke ich. „Das wird dein Untergang sein.“

„Und dein Alter wird dein Untergang.“

Ich sehe mich gerade rechtzeitig um, um zu sehen, wie Kumenas Faust auf mein Gesicht zurast.

Dann wird alles schwarz.


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