Etwas gänzlich anderes
Jace verbrachte die nächsten Tage im Zustand eines anhaltenden Freudentaumels. Er war ständig umgeben von geschäftigem Treiben und ging zufrieden in seinen Aufgaben und Aktivitäten auf.
Das Holz der Streitlustigen knarrte und ächzte auf den Wellen. Die Mannschaft sang, lachte und gab Anweisungen weiter. Doch all diese Geräusche um ihn herum wurden beständig vom Klang leiser Konversationen begleitet.
Obwohl seine Ohren die Geräusche nicht aufnahmen, konnte Jace endlose Gespräche hören.
Es war irritierend und Jace beschloss letztlich, die Geräusche einfach durch Aktivitäten auszublenden.
Er gab sich die größte Mühe, seinen Platz in der Mannschaft zu finden, und vertiefte sich ganz darin, neue Techniken zu erlernen und Aufgaben zu verrichten. Amelia, die Quartiermeisterin und eine der beiden Rudermagier, war stets bereit, ihm alles zu zeigen. Sie überprüfte das Großsegel und die Takelage mit magischer Leichtigkeit und erzeugte dann mit ihrer Magie Winde, damit Jace üben konnte, den Kurs auszurichten.
Kerrigan, der stämmige Oger, der als Koch auf dem Schiff angeheuert hatte, zeigte ihm, wie man in der Kombüse ein Feuer am Brennen hielt, ohne dabei das ganze Schiff in Brand zu stecken. Gavven, der Bootsmann, zeigte ihm, womit der Schiffsrumpf gefüllt war (allerdings erst nach mehrmaligem vehementem Bitten).
Unterdes widmete sich Jace aber auch jeden Tag eine Stunde lang dem Erproben und Üben seiner eigenen Talente. Nach nur einem Monat auf dem Schiff waren seine Illusionen bereits sehr viel detaillierter und überzeugender geworden.
Fünf Tage nach ihrem erfolgreichen Raubzug legte die Mannschaft am Hafen am Ende der Welt an, ohne jedoch viele Vorräte auffüllen zu müssen. Auf Befehl der Kapitänin hin ging die Mannschaft von Bord der Streitlustigen, um sich auszuruhen, etwas zu entspannen und ausgelassen zu feiern.
Als Jace von Bord ging, erblickte er einen so aufregenden und ungewöhnlichen Ort, wie er ihn sich in seiner wildesten Fantasie nicht hätte ausmalen können.
Die hölzernen Stege, die im Hafen am Ende der Welt als Gehwege dienten, waren aus den Überresten Tausender zerstörter Schiffe der Tollkühnen Koalition zusammengezimmert worden. Die Stadt selbst wurde von diversen Plattformen getragen und war neutraler Boden, auf dem sich Piraten trafen, um mit Waren, Werkzeugen, Schätzen und sogar Informationen zu handeln. Es war das Reich der geflüsterten Gefallen und unausgesprochenen Verbindlichkeiten. Ein Ort, an dem jeder Reisende sein Begehr fand, seinen Lastern frönen und dauerhafte Allianzen schmieden konnte. Man hatte Jace erzählt, dass dieses Land vor der Ankunft der Legion des Zwielichts auf Ixalan vor zwei Jahren vom Krieg auf Torrezon noch unberührt geblieben war.
Amelia klopfte Jace auf die Schulter.
„Jace! Wir gehen jetzt zum Brennenden Hafen, um etwas Ale zu genießen und Karten zu spielen! Bist du dabei?“
Jace zuckte nur mit den Schultern und lächelte. Er spürte, wie ihm jemand auf die Schulter tippte, und als er sich herumdrehte, stand dort Breeches, ein Goblin, dessen Talente Seemannsknoten und lautes Geschrei waren. „ALE UND KARTEN! ALE UND KARTEN!“ Stieß er in überschwänglicher Erwartung aus.
Amelia stupste den Goblin mit ihrem Stiefel an. „Oy, du schuldest mir noch was vom letzten Mal, Breeches, also schraub die Begeisterung etwas runter.“
„ALE UND KARTEN!“
Die Rudermagiern erhob mahnend den Zeigefinger. „Schulden und Ale und Karten, Breeches.“
Breeches hielt für einen Moment inne und zog zwei Münzen unter seinem Hut hervor.
„SCHULDEN UND ALE UND KARTEN!“
Amelia steckte die Münzen ein und nickte ihm wohlwollend zu.
Vraska trat an ihre Mannschaft heran und blickte in die Runde. „Ihr müsst uns entschuldigen, Breeches und Amelia, aber Malcolm und ich müssen uns mal mit unserem neuesten Mannschaftsmitglied unterhalten.“
Amelia und Breeches drückten mit einem kurzen Nicken ihr Verständnis aus. Vraska fuhr fort: „Aber wir stoßen später zu euch und feiern dann ordentlich.“
Breeches schüttelte eine Faust in der Luft. „SCHULDEN UND ALE UND KARTEN UND FEIERN!“
Malcolm ließ sich an ihrer Seite aus den Lüften nieder und hatte dabei ein schelmisches Grinsen auf seinem gefiederten Gesicht. „Kapitänin, Beleren, hier entlang, wenn ich bitten darf.“
Sie verabschiedeten sich und folgten Malcolm.
Die Sirene führte Jace und Vraska durch eine der engen und schrägen Gassen des Hafens am Ende der Welt bis zu seinem bevorzugten Fleckchen der Stadt. Die Luft stank nach Brackwasser und die Möwen kreischten von den Hausdächern. Aus den Läden und Tavernen erklang das tiefe Lachen betrunkener Piraten und die tanzenden Flammen unzähliger Öllampen erhellten ihren Weg.
Malcolm zeigte auf ein unscheinbares Gebäude, welches schon leicht schräg von einem der Docks hing. Ein verwittertes Schild hing am Eingang.
In schon langsam abblätternder Schrift stand dort „DES BOOTSMANNS HECK“.
„Ein echtes Juwel“, säuselte er voller Stolz.
Er öffnete die Tür (die aus einem alten Kombüsentisch bestand, in dem noch ein Messer steckte) und ging freudigen Schrittes zum Tresen hinüber.
Vraska und Jace folgten ihm und ließen sich an einem Tisch nieder. Jace sah sich um und war von der Andersartigkeit dieses Ortes überwältigt.
Die Wände waren von Rauch vergilbt und etliche traurig wirkende Öllampen erleuchteten noch trauriger wirkende abgenutzte Stühle und überfüllte Tische, an denen das degenerierteste Gesindel saß, das man sich nur vorstellen konnte. Der Goblin-Barkeeper sah misstrauisch zu den Neuankömmlingen hinüber und spuckte dann in einen umgedrehten Hut.
Vraska warf Jace einen beunruhigten Blick zu, denn sie wusste nicht genau, wie er auf diese Spelunke reagieren würde. „Ist das hier für dich in Ordnung?“
Jace sah sie mit einem erstaunten Blick an. „Es ist faszinierend.“
Malcolm kam mit gefüllten Krügen an den Tisch und sie stießen gemeinsam auf die gute Zusammenarbeit an.
Nach einer ganzen Weile zog Vraska einen Kompass aus ihrer Manteltasche und legte ihn auf den Tisch.
„Jace, du solltest wissen, dass wir derzeit mit einem ganz speziellen Auftrag unterwegs sind.“
Jace’ Herz machte einen Satz. Die ganze Zeit schon hatte er darauf gebrannt, zu erfahren, worum es bei diesem Auftrag ging.
„Alles begann vor etwa fünf Monaten. Ich wurde von einem wohlhabenden Gönner kontaktiert, der nicht zur Legion des Zwielichts gehört. Sein Name ist Fürst Nicolas und er hat mich angeheuert, einen Gegenstand mit besonderen Kräften zu finden.“
Jace nahm den Kompass vom Tisch. Es gab keine Markierungen, die die Richtung anzeigten, nur mehrere Nadeln aus sanft flackerndem orangefarbenem Licht, die beständig in verschiedene Richtungen zeigten – und keine davon war Norden. Er gab ihn Vraska zurück, die mit ihren Ausführungen fortfuhr.
„Er wies mich an, zum Kontinent Ixalan zu reisen.“ Sie beugte sich etwas vor und sprach leise weiter. „Der Thaumaturgische Kompass wurde verzaubert, damit er einen Ort großer Macht anzeigt: die vergessene Stadt namens Orazca.“
Nein!
Jace drehte sich erschrocken um. Für einen kurzen Moment kreuzte sein Blick den eines grünflossigen Meervolks, das am anderen Ende der Schenke am Tresen saß. Das Meervolk blickte überrascht zurück.
Jace zog die Stirn in Falten. Er hätte schwören können, das gerade jemand laut protestiert hatte.
Er sah wieder zu seinen Freunden, die ihn beide fragend anblickten.
„Ich dachte, ich hätte etwas gehört. Entschuldigt.“ Er faltete die Hände und wartete darauf, dass Vraska fortfuhr.
„Macht doch nichts“, sagte sie.
Malcolm nickte. „Das Objekt, nach dem wir suchen, befindet sich in Orazca und ist als die Immerwährende Sonne bekannt. Sie befand sich einst in den Klöstern von Torrezon, in jenem Königreich, das zur Legion des Zwielichts wurde. Über viele Generationen wurde sie von ihren heiligen Hütern in den Bergen im Osten des Kontinents bewacht.
„Ihre bloße Nähe gab den alten Herrschern unbeschreibliche Macht“, erzählte Malcolm weiter. „Neid keimte auf und die Streitkräfte von Pedron dem Boshaften drangen in die Klöster ein und stahlen die Immerwährende Sonne. Als sie den heiligen Ort mit ihrer Beute verließen, stürzte eine geflügelte Kreatur vom Himmel. Es riss die Immerwährende Sonne an sich und flog mit dem Relikt über das Meer in Richtung Westen. Niemand kennt den genauen Ort, an dem sich das Relikt nun befindet, aber dieser Kompass soll uns zu ihm führen.“
Vraska leerte ihren Krug. „Wir wissen nur nicht wie.“
Jace streckte die Hand aus und Vraska reichte ihm erneut den Kompass.
„Er zeigt ständig eine andere Richtung an. So haben wir übrigens dich gefunden.“
Jace warf ihr einen ausdruckslosen Blick zu. „Ich bin aber keine Goldene Stadt.“
„Offensichtlich nicht“, sagte sie mit einem Lächeln. „Aber vielleicht kannst du herausfinden, wie er funktioniert, damit wir uns nicht wieder mit unnötigen Ablenkungen befassen müssen.“
„Ich hoffe einfach mal, dass ich keine unnötige Ablenkung für euch bin.“
„Nein.“ Vraska wirkte innerlich hin und hergerissen, doch Jace verstand nicht genau wieso. „Bei dir ist das was ganz anderes.“
Malcolm räusperte sich auffällig. „Ich zahl dann mal die Zeche. Ich seh euch dann auf dem Schiff.“
Malcolm ging zurück an den Tresen, um die Getränke zu bezahlen, während Jace und Vraska aufstanden. Jace warf noch einen letzten Blick auf das Meervolk in der Ecke, das sofort den Blick abwandte, als sie die Schenke verließen.
Die Nacht war warm und der Geruch diverser frischer Waren lag in der Luft. Das süße Aroma exotischer Gewürze begleitete sie, als Jace und seine Kapitänin auf den schrägen Holzstegen zurück zum Schiff gingen.
„Vraska, weißt du, ob ich Gedanken lesen kann?“
Die Frage klang so dumm, wie sie ihm vorkam, doch Vraska blieb plötzlich stehen.
Sie gab einen bedeutungsschwangeren Seufzer von sich. Als sie antwortete, bewegten sich ihre Lippen nicht, und doch hörte er die Antwort laut und deutlich.
Ja, das kannst du.
Jace riss schockiert die Augen auf. „Warum hast du mir das nicht gesagt?!“
Weil ich nicht wollte, dass du anfängst, ohne Erlaubnis meinen Verstand zu durchforsten, dachte Sie mit einem müden Blick.
Er hielt inne und löste seinen Verstand von ihren Gedanken. Sein Blick fiel nun auf die vielen fremden Gestalten hier im Hafen am Ende der Welt.
Es war ganz so, als hätte sich ein Zahnrad in seinem Verstand verhakt, das nun wieder an der rechten Stelle greifen konnte. Nun waren die Stimmen und Geräusche alle vollkommen klar.
Die vorbeigehenden Menschen, die Vögel über ihren Köpfen – jeder von ihnen hatte einen Verstand, so zerbrechlich wie feinstes Kristall. Vor seinem geistigen Auge hatten sie feinste Strukturen und wenn er wollte, konnte er einfach hineinblicken, als wären sie aus Glas gemacht.
„Der Verstand ist so zerbrechlich“, sagte er, während er beiseite trat, um eine kleine Gruppe von Reisenden durchzulassen. „Eine Struktur, die gleichermaßen aus Formen und Klängen besteht. Wie ein Orchester in einem Kristall.“
„Wie fühlt es sich an, sie hören zu können?“, wollte Vraska wissen.
Jace konnte es mit Worten kaum beschreiben.
„Es ist … laut. Wie ein Ozean aus Champagnerflöten, und jede gibt beim Anstoßen einen anderen Ton von sich.“
Sie bogen um eine Ecke und gingen Richtung Hafen.
Nun, da er wusste, was all diese Schnipsel aus Stimmen und Gesprächen waren … war er sich sicher, dass er den ganzen Lärm ausblenden konnte.
Jace konzentrierte sich
und die Stimmen in seinem Verstand verstummten.
Er konnte noch immer die delikaten und ausgefeilten aber auch sehr zerbrechlichen Strukturen in den Köpfen derer wahrnehmen, die vorbeigingen, doch sie waren nun zumindest still.
„Du wirst weder meinen Verstand lesen, noch in die Köpfe meiner Mannschaft gucken“, sagte Vraska. „Bei allen anderen kannst du tun und lassen, was du willst. Mal abgesehen von unserem Auftraggeber, aber er ist vermutlich ohnehin ein besserer Telepath also du.“
„Kenne ich ihn?“, fragte Jace.
Vraska schwieg eine Weile.
„Nein“, sagte sie schließlich.
„Du hast gezögert.“
Vraska verschränkte die Arme. „Wir kommen aus einer großen Stadt.“
Er hätte schwören können, dass er ganz entfernt ihre Gedanken wahrgenommen hatte, und sie im Grunde gar nicht wusste, ob sie einander kannten oder nicht.
Die Straße, auf der sie entlang liefen, führte direkt zum großen Hafen, der die Stadt umgab. Die Segel und Masten unzähliger Schiffe stachen in den sternenverzierten Nachthimmel und ein blasser Mond schien auf sie herab.
„Wie heißt die Stadt?“, fragte Jace.
Er sah aus den Augenwinkeln, wie sich ein Lächeln auf ihre Lippen schlich. „Ravnica.“
„Und ich war dort so etwas wie ein Politiker?“
Vraska kicherte. „Du warst schrecklich.“
„Kann ich mir vorstellen. Man muss mich in diese Position gezwungen haben.“
Wieder formte sich ein Lächeln auf ihren Lippen.
„Man hat dich zu gar nichts gezwungen. Du hattest eine richtige Kampagne!“, entgegnete sie. „Flugblätter, Ansprachen und Benefizbankette. ‚Wählt die Gerechtigkeit, wählt Jace‘‚ war dein Slogan.“
Jace war skeptisch.
„Das ist ein furchtbar nichtssagender Slogan.“
„Jupp. Und den hast du dir ganz alleine ausgedacht.“
Jace wurde noch etwas skeptischer, aber er lächelte dennoch.
Er begann, absichtlich etwas langsamer zu gehen. Er wollte das Schiff noch nicht erreichen. Auch Vraska wurde langsamer und sein Herz begann, schneller zu schlagen.
„Wie war unsere alte Stadt so?“, wollte Jace wissen.
Vraska legte den Kopf schräg und dachte darüber nach. „Sie ist riesig. Hohe Türme ragen in den Himmel und Brücken verbinden unzählige Ebenen der Stadt miteinander. Es ist dort kälter als hier und im Winter schneit es.“
Jace wünschte sich, er könnte es sehen. In seinem Verstand formte sich ein vages Bild. Aus den Augenwinkeln nahm er die Eindrücke war, die sich über Vraskas Verstand gelegt hatten und er konnte sie sehen.
Jace blieb stehen und auch Vraska ging nicht weiter.
„Was ist los?“, wollte sie wissen.
Er versuchte, die richtigen Worte zu finden, doch ihm kam nichts in den Sinn. Stattdessen sah Jace mit leuchtenden Augen auf und zeigte es ihr.
Die Sterne am Himmel änderten ihre Position.
Der Mond verschwamm und tauchte am anderen Ende des Horizonts wieder auf.
Die Schiffe wuchsen, wurden von schwarzem Stein bedeckt und ragten immer weiter in den Himmel, bis sie vollständig zu Türmen geworden waren. Die schäbigen kleinen Gebäude des Hafens am Ende der Welt fielen ineinander und wuchsen dann zu riesigen Kathedralen und Kirchen heran, die elegante Bögen und Verzierungen ausformten.
Üppige weiße Flocken begannen langsam aus dem Nachthimmel zu fallen.
„Ist sie das?“, fragte Jace mit einer Stimme so sanft wie der Schnee in seiner Illusion.
Vraskas Antwort darauf war ebenso leise. „Ja. Das ist Ravnica.“
Jace lächelte und beobachtete den fallenden Schnee. Er sah wieder zu Vraska, die noch immer voller Verblüffen die Illusion bestaunte.
Sie verschränkte die Arme vor ihrer Brust. Es war eine Abwehrhaltung.
„Dein Verstand hat es offen gezeigt“, sagte er. „Entschuldige, dass ich mir erlaubt habe, hinzusehen.“
„Mach das einfach nicht nochmal“, sagt sie etwas abweisend; ihr Blick war noch immer an die Illusion ihrer Heimatstadt um sie herum gefesselt. Der raue Ton ihrer Ermahnung passte nicht zu dem traurigen Ausdruck des Heimwehs in ihren Augen.
Es kostete Jace seine gesamte Selbstbeherrschung, ihren Verstand nicht danach abzutasten, was sie gerade empfand.
„Ich wünschte, ich könnte mich daran erinnern“, sagte Jace. „Es sieht wie der schönste Ort der Welt aus.“
„Es ist der schönste Ort der Welt“, murmelte Vraska.
Jace seufzte. Es war besser, nicht zu lange auf eine Illusion zu starren.
Er ließ den Anblick der Stadt verschwinden. Die Türme lösten sich auf und alles fand wieder zu seiner ursprünglichen Form zurück.
Das Trugbild war fort. Aber der Ausdruck zurückhaltenden Erstaunens auf Vraskas Gesicht blieb.
Sie war wunderschön.
Also sagte Jace ihr dies auf seine Weise.
„Wirst du mir mehr über Ravnica erzählen?“, fragte er.
Sie drehte sich um. Ihre Arme waren noch immer verschränkt und ihr Mund war ein schmaler Schlitz.
„Vermutlich“, sagte sie.
Jace lächelte. Es machte ihm nichts aus, zu warten.
Sie kehrten auf ein menschenleeres Schiff zurück und setzten sich auf zwei leere Fässer, die auf dem Deck standen. Sie sprachen kurz darüber, zu „Schulden und Ale und Karten und Feiern“ in die Stadt zurückzukehren, entschieden dann aber, dass die Kombination all dieser Dinge etwas anstrengend klang und beschlossen, besser an Bord zu bleiben.
Jace hatte mittlerweile gelernt, nicht auf Antworten zu drängen, doch das Verlangen nach Antworten hatte nie richtig nachgelassen. Es gab so vieles, was er nicht wusste, und es dürstete ihn nach einfach allem, was ihm Hinweise auf seine Vergangenheit geben konnte.
Vraska legte die Füße auf die Reling. Jace tat es ihr gleich.
„Wie ist es so, zu wissen, dass du ein Telepath bist?“, fragte sie und sah dabei in den Nachthimmel.
„Festzustellen, dass ich ein Illusionist bin, war wundervoll. Die Telepathie ist schon etwas … heikler.“
„Heikler?“
Jace verschränkte die Arme und sah ebenfalls in den Sternenhimmel. „Der Verstand ist eine ziemlich zerbrechliche Sache. Alles, was einen zu der Person macht, die man ist, ist so fragil wie Spinnweben.“
„Du bist ein Vorschlaghammer umgeben von Spinnweben“, sagte sie schlicht. „Das ist dir bewusst, nicht wahr?“
„Ein verdammter Vorschlaghammer“, gab Jace amüsiert von sich, doch in seinem Magen formte sich ein Knoten aus Furcht.
Vraska kicherte. Es war das erste mal, dass sie ihn je hatte fluchen hören.
Und zum ersten Mal, seit er auf dieser Welt erwacht war, blitzte eine schwache Erinnerung in seinem Verstand auf.
Ein großer Löwe mit dem Gesicht eines Mannes hatte die Augen weit aufgerissen und starrte vollkommen schockiert, als er, wie ein Kind, das auf regennassem Wege ausgerutscht war, ungebremst zu Boden stürzte.
Der Anblick machte Jace Angst.
Ein Traum? Eine Vermutung? Es spielte keine Rolle. Es fühlte sich nicht echt an. Eine seltsame Projektion seines Verstandes, die er besser für sich selbst behielt.
„Ich frage mich, wie oft ich bereits jemandes Verstand gebrochen habe“, sagte er laut.
Vraska hielt plötzlich inne und sagte nichts.
Jace stockte der Atem.
„Vraska … weißt du, ob ich so etwas schon einmal getan habe?“
Er sah zu ihr hinüber. Sie starrte stur in die Ferne, ihre Lippen waren aufeinandergepresst.
Dann atmete sie tief ein. Jace hatte sich selbst verboten, ihre Gedanken zu lesen, doch er konnte beinahe fühlen, wie sie um ein altes und furchteinflößendes Gefühl kreisten.
„Könntest du dir je verzeihen, wenn es so wäre?“, fragte sie zurück.
Sie hatte die Frage mit Bedacht formuliert, was so gar nicht ihrem sonst so direkten Wesen entsprach.
Jace war bestürzt.
„Jemandes Verstand zu ruinieren ist in meinen Augen ein schlimmeres Schicksal als der Tod“, sagte er. „Dann willst du also wissen, ob denen verziehen werden kann, die töten.“
„Ich denke schon.“
Jace wählte seine Worte nun auch mit Bedacht.
„Existenz bedeutet die Anpassung an Umstände. Das Selbst ist die Sammlung aller Erfahrungen aus diesen Anpassungen an neue Umstände … Unsere Handlungsfähigkeit gibt uns die Möglichkeit, unseren eigenen Lebenspfad zu gestalten. Du bist, wer du sein willst. Und zu wem du wirst, hängt nur davon ab, wie du dich an die Umstände anpasst.“
Jace fiel nun auf, dass Vraska ihn ansah.
Sein Gesicht wurde warm und er war dankbar dafür, dass man in der Dunkelheit nicht sehen konnte, wie er rot wurde.
Wellen schlugen sanft gegen das Schiff.
„Ist deine Vergangenheit wirklich so unwichtig?“, wollte sie wissen.
Jace zuckte nur mit den Schultern. „Das muss sie wohl sein. Wenn ich wirklich das kann, von dem ich vermute, dass ich es kann, dann habe ich vielen Menschen Leid zugefügt. Aber nur die Zukunft definiert mich, denn meine Entscheidungen werden einen Einfluss darauf haben, zu wem ich werde.“
Vraska war sehr still,
doch das störte Jace nicht. Er hatte entschieden, dass sinnfreie Plaudereien ein überbewertetes soziales Konstrukt waren, weshalb es noch schöner war, seine Zeit mit jemandem zu verbringen, der die Stille zwischen den Unterhaltungen zu schätzen wusste.
„Ich wünschte, ich könnte so vergessen wie du“, flüsterte Vraska.
„Was würdest du gerne vergessen?“, fragte Jace.
Vraskas Blick schweifte in die Ferne und blieb am Horizont hängen.
Jace wusste sofort, dass er sowohl das Falsche als auch das Richtige gesagt hatte.
Ihre Antwort war knapp. „Gefängnisse.“
Der Plural war kein Versehen. Vraska starrte noch immer in die Ferne. Sie wollte die Erinnerungen, die seine Worte aufgewühlt hatten, keinesfalls nochmal durchleben.
Er stand auf, doch Vraska blieb sitzen.
Jace hatte eine Idee.
„Lass uns in die Kombüse gehen“, sagte er zu ihr.
Jace führte Vraska von Deck und hinunter in die Kombüse. Er bat sie, auf einem Stuhl in der Nähe Platz zu nehmen und legte noch ein paar Holzscheite aufs Feuer. Er nahm den Wasserkessel aus dem Schrank, füllte ihn mit frischem Wasser und setzte ihn auf den Herd.
Er machte ihr einen Tee.
Er war nicht sehr geschickt dabei und es dauerte eine Weile, aber Jace führte alle Handgriffe in exakt der richtigen Reihenfolge aus.
Er füllte eine Tasse mit dem Tee, den er soeben zubereitet hatte, und reichte sie Vraska.
Sie saß eine Weile nur so da und starrte auf die Tasse mit Tee, die Jace ihr gegeben hatte, als wäre diese ein kostbares Juwel.
Vraska schlang die Finger um die Tasse und seufzte. Sie nahm einen kleinen Schluck und Jace konnte sehen, wie sich ihre Mundwinkel zufrieden nach oben zogen.
Noch immer schaute sie begeistert auf die Tasse in ihren Händen.
Nach einem Moment begann sie zu sprechen.
„Wir kommen aus einer sehr weit entfernten Stadt.“ Vraska strich sich mit einer Hand über den Nacken. „Sehr weit entfernt. Der Rest der Mannschaft hat noch nie von ihr gehört.“
Jace gab sich allergrößte Mühe, nicht sechs Fragen auf einmal zu stellen. Er entschied sich, die dringlichste zuerst zu stellen. „Warum haben sie noch nie von ihr gehört?“
„Sie ist wirklich sehr, sehr weit entfernt.“ Sie sah kurz zu ihm. „In diesem Punkt musst du mir einfach glauben und das so stehen lassen.“
Da ist noch mehr, aber gut. Jace nickte und Vraska erzählte weiter.
„In der Stadt funktioniert alles so, wie es in einer Stadt eben üblich ist, und verschiedene Gilden haben verschiedene Funktionen inne. Die Orzhov verwalten die Banken, die Azorius verabschieden Gesetze und dergleichen. Es gibt insgesamt zehn Gilden. Die Golgari haben technisch gesehen das Sagen über Verrottungsfarmen, aber in Wirklichkeit sind sie wie ein Auffangbecken für alles, was woanders durch das Raster fällt. Ausgestoßene, Schurken und der ganze Rest.
„Als ich noch jünger war, befahlen die Azorius Massenverhaftungen von Mitgliedern der Golgari. Die Golgari hatten nichts getan, sie existierten einfach, aber die Azorius entschieden, dass sie alle Verbrecher waren. Sie nahmen an, dass auch ich eine Golgari war, da ich eine Gorgo bin. Deshalb nahmen sie auch mich fest. Sie warfen uns alle in ein Gefängnis. Ich war dort … eine ganze Weile. Ich weiß nicht genau, wie lange. Die Azorius machten Witze darüber, dass wir wie Maulwürfe unter der Erde lebten, also brauchten wir auch keine Fenster, um Sonnenlicht zu sehen. Es gab keine Betten und nur wenig zu essen. Gewalt war das bevorzugte Mittel für Verhandlungen. Oh! Und wie ich mir gewünscht hatte, ich hätte all diese Aufstände angeführt. Wir zettelten Aufstände an, sie verlegten uns und dann kassierten wir Schläge. Aufstände, Verlegung, Schläge: Das war ein endloser Kreislauf und irgendwann beschlossen sie, mir die Augen dauerhaft zu verbinden, damit ich die Wärter nicht mehr versteinern konnte.“
Jace hasste einfach alles daran, denn er konnte nichts davon ungeschehen machen. So sehr er es auch hasste, ein Trauma folgte keiner Logik. Er wusste nicht, was er sich eingeredet hätte oder zu welchen Schlüssen er gekommen wäre, um seinen Frieden mit sich zu machen, wäre er damals in ihrer Lage gewesen.
Vraska hatte einen abwesenden Blick. „An solch einem Ort vergisst du schnell die Zeit. Irgendwann wurde ich dann fortgebracht. Sie sperrten mich in einen Raum ohne Pritsche, in dem mir das Wasser bis zu den Knöcheln stand. Sie verprügelten mich weiter, und wenn ich Verletzungen davontrug, entzündeten sich diese und wurden über Wochen nicht besser. Als sie mir dann endlich den Verband wieder von den Augen nahmen, dachte ich daran, mich selbst zu versteinern, nur damit das endlich aufhörte. Aber noch größer als der Wunsch zu sterben war der Wunsch, von dort wegzukommen.“
Jace hatte sich der Magen umgedreht. Er überprüfte ihren Verstand gar nicht erst auf den Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen und er verlangte auch nicht nach Beweisen für ihre Erzählung. Dafür war jetzt nicht die Zeit. Er musste nur zuhören.
Vraska gab sich alle Mühe, keinen Augenkontakt aufzunehmen.
„Ich erinnere mich noch an die Nacht, in der ich beinahe gestorben wäre. Ich war blutüberströmt und vollkommen am Ende und ich wusste, dass ein weiterer Schlag gegen meinen Kopf meinen sicheren Tod bedeutet hätte. Mein Körper wusste, was zu tun war und ich nutzte eine Magie, die ich noch nie zuvor eingesetzt hatte, um zu entkommen. Doch der Ort, an den ich floh, war ebenfalls ein Gefängnis. Ich war dort eine ganze Weile alleine gefangen. Da waren nur ich und all meine Erinnerungen an die Quelle all dieser Grausamkeiten.“
Vraska hatte ihren Tee ausgetrunken. Ein Rest aus Teeblättern klebte noch im Inneren der Tasse. „‚Jeder sollte den Tod sterben, den er verdient.‘ Ich lebte eine ganze Weile nach diesem Leitsatz. Er gab mir Halt.“
„Tut er das noch immer?“, wollte Jace wissen.
Vraskas Miene war wie versteinert. „Ja.“
Einen Moment lang saßen sie beide nur wortlos da.
„Worüber ich mir immer noch unschlüssig bin, ist die Frage, ob sie auch alle den Tod verdienen“, sagte Vraska schließlich. „Meine Magie mag vielleicht die des Todes sein, aber das Töten bereitet mir keine Freude. Ich habe zuvor getötet, weil mir einfach keine Wahl blieb. Nun muss ich für alle, die so sind wie ich, das Richtige tun.“
„Indem du eine Expedition anführst?“
„Nein“, entgegnete sie. „Indem ich die Golgari anführe, wenn ich nach Hause zurückkehre. Unser Auftraggeber versprach, dass ich nach erfolgreicher Ausführung der Mission bei meiner Rückkehr zur Gildenanführerin gemacht werde.“
Jace lächelte. „Du hast bereits bewiesen, dass du das Zeug dazu hast. Die besten Anführer verstehen diejenigen, die sie beschützen wollen. Ich denke, dass du zur Anführerin geboren bist.“
Nach diesen Satz schaute Vraska traurig zu Boden.
„Vraska …?“
„Das hat noch niemand zu mir gesagt.“
Wie konnte sie nicht erkennen, was sie bereits alles geleistet hatte? Jace zog die Augenbrauen zusammen. „Denkst du etwa, du würdest es nicht verdienen?“
Sie seufzte. „Ich weiß nicht, wie die Golgari mich sehen werden, wenn ich zurückkehre.“
Jace zuckte mit den Schultern. „Wie sie dich sehen werden, entscheidest du.“
Sie sah ihn fragend an. Jace fuhr fort. „Wie die Welt auf uns reagiert, hängt auch davon ab, wie wir uns ihr präsentieren. Wir passen uns unaufhörlich an Veränderungen an, denn wenn es uns nicht gelingt, uns anzupassen, können wir auch nicht überleben. Nachdem du einen Ort überlebt hast, der der Hölle gleich kommt, bist du natürlich weiser und stärker geworden. Nachdem du nun schon so lange dieses Schiff befehligst, bist du zu der Anführerin geworden, die du schon immer hättest sein können.“
„Was dich ausmacht, sind weder die Umstände noch deine Vergangenheit, sondern die Entscheidungen, die du in Zukunft triffst. Deine Fähigkeit zu lernen und dich anzupassen ist das, was dich zu der Person macht, die du heute bist, und das allein bestimmt darüber, was aus dir wird. Vraska, du hast bereits dadurch Vergeltung geübt, dass du all das, was dir zugestoßen ist, überlebt hast und daraus als eine noch stärkere Person hervorgegangen bist, als es deine Peiniger je für möglich gehalten hätten. Ist dir bewusst, wie unglaublich das ist?“
Vraska lächelte für ihre Verhältnisse geradezu überschwänglich. Es war ein Lächeln, das man sogar noch in ihren Augen sah.
„Danke“, sagte sie mit sanfter Stimme.
Jace erwiderte das Lächeln mit einem Strahlen. „Es stimmt. All das durchzustehen und nicht nur lebend sondern auch noch stärker daraus hervorzugehen … ich bezweifle, dass ich das geschafft hätte.“
„Da bin ich mir nicht so sicher“, antwortete Vraska. „Man merkt es dir nicht gleich auf den ersten Blick an, aber ich glaube, dass du sehr viel zäher bist, als du denkst.“
„Selbst wenn dem so ist, dann erinnere ich mich nicht daran, es je bewiesen zu haben.“ Jace warf ihr einen ernsten Blick zu. „Danke, dass du mir deine Geschichte erzählt hast. Ich bin stolz darauf, dich zu kennen.“
Er nahm die Ausläufer ihres Verstandes wahr, wagte es jedoch nicht, hineinzusehen. Da waren Kurven und versteckte Ecken und feine Wirbel wie aus zarten Glasfasern. Vraska hatte nicht die geringste Ahnung, wie zerbrechlich ihr Verstand war. Es war ihr einfach nicht bewusst, so wie es ihm auch nicht bewusst war, wie einfach sie ihn zu Stein erstarren lassen konnte.
Vraska grinste. Jace fühlte, wie sein Gesicht sich wieder rötete.
Beide erkannten im selben Moment, dass sie einander nicht verletzen wollten.
Ihr Lächeln war ehrlich und offenherzig. „Ich bin auch stolz darauf, dich zu kennen, Jace.“
Die Wochen vergingen für die Mannschaft in angenehmer Ereignislosigkeit und je näher die Streitlustige dem Kontinent kam, desto aufgeregter wurden die Mannschaftsmitglieder.
Vraskas Geschichte beschäftigte Jace noch immer. An jenem Abend hatte er ihr noch eine Tasse Tee gemacht und sie hatten über fröhlichere Dinge geredet. Sie vertraute ihm genug, um ihm diese Geschehnisse anzuvertrauen. Dieses Vertrauen wärmte Jace’ Brust wie Whiskey.
Und es war genau dieses wärmende Gefühl, dass ihn dazu antrieb, die Funktionsweise des Thaumaturgischen Kompasses so schnell wie möglich zu entschlüsseln.
Wochenlang starrte er ihn an, blätterte durch Navigationshandbücher und befragte Malcolm zu dem Thema. Irgendwann ging ihm dann ein Licht auf: Der Kompass hatte an dem Tag eine andere Richtung angezeigt, an dem er gerettet wurde, also musste er auf einen Stimulus in seiner Nähe reagiert haben. Und es war nur eine Sache in den Stunden vor seiner Rettung geschehen, die einem Stimulus gleichkam.
An einem Nachmittag, einige Stunden bevor sie Land erreichen sollten, nahm Jace den Kompass zur Hand und begab sich zur Schiffsbrigg. Dort stank es und das Wasser stand ihm bis zu den Knöcheln. Aber er brauchte dafür seine Ruhe.
Das Schiff hob und senkte sich auf den Wellen. Das Meer wurde inzwischen wohl von einem Sturm aufgewühlt.
Wie sich herausstellte, war der Thaumaturgische Kompass eine größere Herausforderung, als er zunächst angenommen hatte. Er war eine sehr ausgefeilte kleine Apparatur mit diversen Lichtern, die in verschiedene Richtungen zeigten.
Er schüttelte ihn ein wenig und eines der Lichter begann zu flackern.
Eine Fehlfunktion? Ein Puzzle!
Es war faszinierend und spannend genug, um Jace zu etwas Kopflosem zu verleiten.
Er nahm aus einer Kiste in der Nähe ein kleines Werkzeug zur Hand und begann damit, das Gerät, von dem die gesamte Mission abhing, auseinanderzubauen.
Es ging ganz leicht, so wie das Fernrohr einige Wochen zuvor. Er legte jedes einzelne Teil auf einer Kiste vor sich nach einem ganz bestimmten Prinzip ab. Ganz im Inneren des Kompasses hing ein winziges Teil lose. Er schraubte es fest und setzte den Kompass dann wieder zusammen.
Ein einzelnes Licht schien zu einer Seite hinaus und strahlte nun klar und deutlich in eine bestimmte Richtung.
Nun stand der wichtigste Test an.
Jace legte den Kompass auf die Kiste, schloss seine Augen und konzentrierte sich.
Er tastete sich in seinem Verstand zu dem Teil vor, der ihn definierte.
Er atmete tief ein und griff danach.
Er spürte, wie sein Körper begann, auseinanderzubrechen und zu entrinnen, nur um gleich wieder ineinanderzufallen. Das ihm nun schon altbekannte Dreieck erschien über seinem Kopf.
Jace blinzelte etwas benommen und sah erwartungsvoll auf den Kompass hinab. Er fing vor Freude beinahe an zu jubeln. Die Nadel aus Licht zeigte direkt auf ihn.
Seine Theorie lautete wie folgt: Der Thaumaturgische Kompass deutete auf eine spezielle Form von magischer Präsenz. Kleine Illusionen brachten die Nadel nicht zum Ausschlagen, aber was auch immer Jace unter Einsatz relativer Mühe im Stande war zu tun, ließ sie reagieren.
Falls seine Theorie stimmte, musste es sich bei der Goldenen Stadt um eine Art magischen Knotenpunkt handeln und der Kompass würde sie direkt zur Quelle führen.
Einfach fantastisch!
Jace nahm den Thaumaturgischen Kompass und eilte die Leiter hoch an Deck.
„Vraska! Ich habe herausgefunden, wie der Kompass funktioniert!“ Jace’ Ruf wurde vom lauten Donner in der Ferne verschluckt. Bedrohlich aussehende grauen Wolken hingen tief über ihnen und die Mannschaft beeilte sich, das Schiff auf den herannahenden Sturm vorzubereiten.
Vraska stand auf dem Achterdeck und starrte nach oben. Malcolm war hoch in den Lüften über ihr, um einen besseren Blick in die Ferne werfen zu können. Er glitt wieder hinab und besprach sich mit Vraska.
Jace wollte die beiden nicht stören, also wartete er auf den richtigen Moment, danach zu fragen, was los war.
Einen Augenblick später bemerkte Vraska ihn.
„Jace! Begib dich unter Deck. Ein Schiff der Legion des Zwielichts nähert sich und ein Sturm bricht über uns herein.“
„Ich dachte, wir würden heute landen?“
„Ja. Das auch. Alle drei Dinge. Und ich muss sicherstellen, dass sie nicht alle gleichzeitig passieren.“
Plötzlich öffnete der Himmel seine Schleusen und ein heftiger Platzregen brach über die Streitlustige herein. Vraska packte Jace bei der Schulter. „Begib dich unter Deck!“
Blitze fuhren herab und das Schiff wurde von einer Welle stark zur Seite geworfen.
Eine weitere Welle erhob sich bereits in der Ferne und Jace sah, wie sich das Schiff der Legion des Zwielichts darauf näherte. Es war riesig, sogar noch sehr viel größer als das Schiff, dem sie vor einigen Wochen begegnet waren, und von jeder Seite hingen zwei Beiboote herab.
Die Welle, auf der die Streitlustige ritt, hob sich wieder und warf sie wild umher. Als Jace sich umsah, erkannte er in der Ferne eine massive grüne Wand. Das war die Küste von Ixalan. Eine unberührte, von Sand umrahmte Bucht, deren Ausläufer ins Meer hineinragten. Die dunklen Wolken rumorten über ihnen und der Wellengang wurde immer intensiver und unberechenbarer. Das Schiff drohte zu kentern.
Entweder setzten sie sich den gefährlichen Blitzen und den Konquistadoren aus, oder sie nahmen es in Kauf, vielleicht an den Küstenfelsen zu zerschellen. Sie steckten in einem Dilemma aus zwei ungünstigen Optionen.
Jace versteckte den Kompass in seiner Tasche, während Vraska Befehle in den Sturm rief.
„Sichert die Kanonen und löscht das Feuer in der Kombüse! Refft das Großsegel und zieht an!“
Das Schiff buckelte noch einmal auf den Wellen und ein Mitglied der Mannschaft stürzte ins Meer.
Jace beobachtete Vraska, die nun ihre Optionen abwägte. Sie sah zur Küste und dann zum Rest der Mannschaft.
„Alle Mann von Bord! Verlasst das Schiff!“, schrie sie. „Verlass…“
Eine Wand aus Wasser krachte auf die Seite des Schiffes und riss Jace und Vraska um.
Sie versuchten, einander zu fassen, als sich die Wassermassen mit Gewalt über das Schiff wälzten.
Dann rammte die Streitlustige die Felsen.
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