Vor über tausend Jahren stand nur noch eine einzige Frau zwischen ihrer Welt und deren drohender Vernichtung.

Die Kor Nahiri – jene Planeswalkerin, die man auch die Lithomagierin nennt – half vor mehr als 6000 Jahren dabei, die Eldrazi auf ihrer Heimatwelt Zendikar einzukerkern. Die Planeswalker jener Zeit waren alterslos und unsterblich, und Nahiri hatte nicht die Absicht, Zendikar schutzlos zurückzulassen. Also ließ sie sich dort nieder, um über den Kerker der urgewaltigen Eldrazi zu wachen, und wartete.

Und wartete.

Und wartete.

Bis die Dinge sich änderten. Die Eldrazi regten sich. Nahiri erwachte.

Dies war nicht jenes große Wiedererwachen, dessen Zeugen wir mit dem Aufstieg der Eldrazi wurden: Die Titanen blieben selbst dann noch eingesperrt, als ihre Nachkommenschaft auf Zendikar wütete. Dies trug sich etwa tausend Jahre zuvor zu, und vielleicht hätte es zu jenem großen Aufstieg geführt ... hätte nicht Nahiri ihm den Weg versperrt.


Nahiri war eins mit der Welt.

Mit geschlossenen Augen saß sie in einem steinernen Kokon. Jede Faser ihres Körpers war mit dem Felsgestein, dem festen Fundament Zendikars, verbunden. Alles, was die Erde berührte, berührte auch sie in einem endlosen Strom unbedeutender Bewegungen, während die Welt und sie sich einer einfachen Existenz ohne jegliches Handeln hingaben. Wie lange wohl schon? Wie viele Generationen von Menschen und Tieren hatten gelebt und waren wieder vergangen, seit sie sich in diese Kammer zurückgezogen und den Fels um sich herum aufgeworfen hatte wie einen Grabhügel? Es war nicht wichtig. Sie war unsterblich, so alterslos wie die Welt selbst.

Bin ich überhaupt noch am Leben?

Sie hatte Zendikar seit jenem Tag nicht mehr verlassen, als sie Sorin und den Geisterdrachen Ugin hierhergebracht und ihr gemeinsames schicksalhaftes Werk, die Eldrazi einzukerkern, seinen Anfang genommen hatte. Zunächst war sie nur zurückgeblieben, um Wache zu halten. Ihr Plan schien aufgegangen zu sein: Der Kerker hielt stand, und die Eldrazi gerieten in Vergessenheit. Doch Zendikar gefiel es nicht, sie festhalten zu müssen. Um ihren Kerker herum zitterte und schauderte Akoum noch immer, als würde es versuchen, sie wieder hervorzuwürgen. Wenn sie fortginge, so hatte sie es sich einst überlegt, wie hätte sie dann wissen sollen, dass ihre Welt sicher war?

Und in jenen ersten Jahrhunderten hatte sie unter ihrem eigenen Volk als eine der Kor gelebt – wahrhaftig gelebt. Sie hatte Säuglinge liebkost und auf Begräbnissen geweint, an Tischen voller gutem Essen gelacht und sich verliebt ... gleich zweimal. Sie hatte eine sehr, sehr lange Reihe von Schülern die Lithomagie gelehrt und ihnen gezeigt, wie sie den Fels und das Metall in ihm verwenden konnten, um Gegenstände und Waffen zu formen.

Sie hatte die Kor gelehrt, über den Kerker der Eldrazi zu wachen, und Gruppen von ihnen auf langen Pilgerreisen über die ganze Welt geführt. Sie zeigte ihnen die Fokuspunkte der Macht des Polyedernetzwerks und lehrte die Steinmetze unter ihnen, die Mauern des Gefängnisses zu prüfen, um sicherzustellen, dass die „Götter“ – so hatte sie sie genannt, um es den Kor leichter machen, sie zu verstehen – nicht entkommen konnten, um die Welt zu verwüsten.

Versammlung der Nomaden | Bild von Erica Yang

Doch ihre Schüler lernten und zogen weiter. Ihre Liebsten alterten und starben. Geburt folgte auf Geburt, immer und immer wieder, und ein Begräbnis folgte auf das nächste, bis sie sich schließlich nicht mehr erinnern konnte, warum eines von ihnen – oder auch nur irgendetwas anderes – überhaupt wichtig war.

Also kehrte sie hierher zurück, zur Kammer des Geisterdrachen, an jenen Ort, den Sorin und sie scherzhaft Das Auge von Ugin genannt hatten. Als ihre Schritte durch die weite, steinerne Kammer gehallt waren, hatte sie kurz erwogen, Sorin zu rufen, den Einzigen, von dem sie wusste, dass er schon länger existierte als sie selbst, und der vielleicht jene triste Leere verstand, die sie da empfand. Er hatte sie seit Jahrzehnten nicht mehr besucht, doch sie hatten sich darauf geeinigt, jene Macht, die Das Auge von Ugin in sich barg, nur dann einzusetzen, falls der Kerker der Eldrazi Risse zeigte.

Also hatte sie sich vor all diesen Jahren niedergelassen und die Augen geschlossen. Sie spürte, wie die Welt sich weiterdrehte und ihre sämtlichen Bewohner in verzweifelter Dringlichkeit ihrer Wege gingen, als besäße ihr kurzes Leben auch nur den Hauch einer Bedeutung. Doch sie verweilte auf Zendikar, da ihr kein Grund einfiel, irgendwo anders hinzugehen.

Wie lange mochte es wohl gewesen sein? Es war nicht wichtig. Warum sollte es auch wichtig sein?


Als die Welt zerbrach, spürte es Nahiri wie eine Klinge in den Eingeweiden.

Akoum zappelte wie ein Fisch am Haken, den man aus dem Wasser zog. Durch Wellen lähmender Übelkeit hindurch versuchte Nahiri, den Ursprung für den Schmerz der Welt zu finden und zu erfahren, welcher Biss oder Stich auch immer eine solch heftige Regung hervorgerufen hatte. Als Zendikar um sie herum bebte, fand ihr Geist seinen Weg zum Rand eines Abgrunds, einer allumfassenden Leere: zum Kerker der Eldrazi. Er stand offen.

Dies entspann sich alles natürlich nur auf einer bildlichen Ebene. Die Eldrazi waren nicht eingesperrt, denn es handelte sich bei ihnen nicht um körperliche Wesen, die man auf diese Weise hätte festsetzen können. Sie waren Geschöpfe der Blinden Ewigkeiten, und ihre Manifestation auf Zendikar war lediglich eine Projektion, der Schatten einer Marionette an einer Wand. Der große Zauber, den sie, Sorin und der Geisterdrache gewoben hatten, war kein schlichter Käfig. Er band die Eldrazi an Zendikar, indem er ihre Schatten selbst fesselte, sodass sie sich weder durch die Welt noch von ihr fort zu bewegen vermochten.

Doch etwas hatte sich verschoben ... ganz leicht. Sie spürte das rastlose Tasten der Titanen, als würden sie die Stärke ihrer Fesseln prüfen, und die brodelnde Bewegung ihrer Brut, die um sie herum ins Diesseits sprudelte. Der Geisterdrache hatte einst erklärt, dass diese wimmelnden Ableger kleinerer Eldrazi eine Art Auswüchse der drei Titanen waren: Sinnes- und Verdauungsorgane, die alle mit denselben extraplanaren Wesen verbunden waren. Als die Titanen gebunden worden waren, hatten die Ableger ihrer Brut noch eine Weile in der Welt gewütet, doch aufgrund der Starre, in der die Titanen nun lagen, waren die niederen Eldrazi nicht mehr gewesen als im Todeskampf zuckende Leiber, denen man die Köpfe abgeschlagen hatte. Die Bewohner Zendikars hatten sie restlos ausgelöscht. Und so lange, wie die Mauern des Kerkers gehalten hatten, waren auch keine neuen Eldrazi erschaffen worden.

Emrakuls Amme | Bild von Jaime Jones

Nun jedoch brachen sie aus dem Boden hervor, und jede ihrer Bewegungen war ein schmerzhafter Stich in Nahiris Fleisch: eine Empfindung, wie sie seit Jahrhunderten nicht mehr kannte. Neugierig kostete sie dieses Gefühl aus und bemerkte auch die Verärgerung, die sich seinetwegen in ihrem Geist zusammenbraute. Sie dachte darüber nach, all diese Gefühle abzuschütteln und den Eldrazi zu erlauben, sich zu befreien und Zendikar samt seinen Bewohnern auszulöschen – und sie selbst mit ihnen. So wäre der gleichtönigen Ewigkeit ihres Daseins und dem bedeutungslosen Verstreichen der Zeit ein Ende bereitet.

Doch sie empfand diesen Schmerz und diesen Ärger, und mit ihnen erwachte ein Verlangen: das Verlangen nach dem Ende dieser Gefühle.

Und so zerschmetterte sie den Felsen, den sie um sich herum aufgeschichtet hatte, erhob sich langsam und streckte ihre so lange ungenutzt gebliebenen Gliedmaßen. Sie machte vorsichtig einige Schritte auf dem bebenden Steinboden, wobei sie mithilfe ihrer Lithomagie die Füße im Fels verankerte. Sie begab sich ins Zentrum der Kammer, dorthin, wo der große, leuchtende Polyeder stand: der Nexuspunkt des gesamten Netzwerks aus Polyedern, das den Kerker der Eldrazi bildete.

Nun endlich war es an der Zeit, Sorin herbeizurufen.

Der Geisterdrache hatte einen Zauber in Das Auge von Ugin eingewoben, der ihr Verständnis überstieg und der eine besondere Verbindung zwischen ihnen und diesem Ort erschuf: eine Verbindung, die selbst die Blinden Ewigkeiten überspannte. Jeder von ihnen, der an diesem Ort stand, konnte den anderen eine Botschaft senden, die von der Magie des Auges verstärkt wurde und die anderen erreichte, ganz gleich, auf welcher Welt sie sich gerade aufhielten. Dieser Zauber war für genau diese Art von Umständen vorgesehen, damit Nahiri die anderen herbeirufen konnte, sollte es den Eldrazi je gelingen, ihre Fesseln abzustreifen.

Das Auge von Ugin | Bild von James Paick

Sie schloss die Augen und drängte das Grollen des Gesteins um sie herum in den Hintergrund, um ihre Botschaft in den Äther zu schicken: einen wortlosen Ruf, den der Empfänger wie ein Drängen wahrnehmen würde, welches ihn nach Zendikar zog.

Als ihre Botschaft ausgesandt war, ließ sie sich auf dem Boden nieder, hüllte sich wieder in Stein und wimmerte, als der Fels das durch die Bewegungen der Eldrazi verursachte Stechen auf nahezu ihre gesamte Haut übertrug. Sie drängte den Schmerz beiseite, während sie auf die anderen wartete, und verfolgte das Ausschwärmen der wimmelnden Heerscharen, die sich von Akoum aus immer weiter ausbreiteten.

Sie blinzelte und spürte das Trappeln schneller Schritte, als die Bewohner Zendikars flohen, und danach das gleichmäßige Marschieren der Armeen, die man zusammenzog, um sich den Eldrazi zu stellen.

Sie blinzelte erneut und spürte, wie sich Zendikar unter Schmerzen wand, als die größeren Vertreter der Eldrazi-Brut auf ihrem Weg Leben und Mana auslöschten und die Kraft der grünenden Natur in sich aufsogen.

Sie blinzelte ein drittes Mal.

Wie lange war ich hier?

Der plötzliche Gedanke brachte sie wieder ganz zu klarem Bewusstsein. Einen Augenblick lang glaubte sie, der Ausbruch der Eldrazi wäre wohl nur ein Traum gewesen, doch der Schmerz, der über ihre Haut hinwegkroch, bewies ihr, dass die Eldrazi-Brut noch immer über die Welt ausschwärmte – und wie weit die Kreaturen bereits in alle Richtungen vorgedrungen waren, während sie auf Sorin und den Geisterdrachen gewartet hatte.

Sie waren nicht gekommen. Sorin war nicht gekommen. Sie war allein.

Sie wollte ... sie wollte, dass der Schmerz aufhörte. Sie wollte Sorin wiedersehen, und sie wollte, wie sie sehr zu ihrer Überraschung feststellte, Zendikar vor dem Untergang bewahren. Die Welt und all ihre verlorenen, bedeutungslosen, verzweifelten Bewohner. Doch während ihres Wartens war die Lage nur umso schlimmer geworden.

Sie zog sich ihren steinernen Kokon über den Kopf und verschwand im Fels, um gleich darauf am Gipfel eines Berges in der Nähe wieder aufzutauchen.

In den Tälern unter ihr wuselten die Massen der Eldrazi umeinander und verwandelten den Boden nach und nach in weißen Staub. Schaudernd stampfte sie mit dem Fuß auf den felsigen Berghang und sandte eine Lawine, um die Ungeheuer zu zerschmettern. Anschließend verschwand sie erneut im Fels und tauchte in Ondu unweit einer Stadt der Kor wieder auf, die sie während der frühen Jahre ihrer Wacht viele Male besucht hatte.

Die Eldrazi waren auch hier, doch die Stadt lag in Trümmern: staubige Ruinen, die gewiss schon lange vor dem Erscheinen der Eldrazi verlassen gewesen waren. Mit einem Wink schloss sie die Schlucht und die Eldrazi wurden von der Erde verschlungen, während sie die Stadt durch ein Loch in der zerfallenden Mauer betrat.

Demolieren | Bild von John Avon

„Ich kenne diese Straße“, murmelte sie. Ihre Stimme klang rau wie brüchiges Papier, so lange hatte sie sie nicht benutzt. Sie erinnerte sich an das Feilschen auf dem Marktplatz dort vorn zur Linken, wo sie etwas gekauft hatte ... Was war es doch gleich gewesen? Etwas Helles und Blaues, was sie zum Lächeln gebracht hatte. Weich.

„Ein Schal“, sagte sie und beschloss, dass es so und nicht anders gewesen sein musste.

Sämtliches Vergnügen und sämtlicher Schmerz, die das Leben bot, brandeten binnen eines Wimpernschlags über sie hinweg. Erinnerungen überfluteten ihren Geist: der Anblick, die Geräusche und Gerüche des belebten Marktplatzes; die Heiterkeit in ihrem Herzen; der Geschmack des Kusses ihres Liebsten; das bittere Leid ihrer Tränen. Dies war einst ein Ort des Lebens gewesen. Ein Ort, an dem sie gelebt und dessen Untergang sie nie gesehen hatte.

Die Stadt hatte sich schon verändert, noch ehe sie aufgegeben worden war. Größere Gebäude hatten hier und da Vertrautes abgelöst, und ein ganzer Block war seit ihrem letzten Besuch zerstört und wiederaufgebaut worden. Ein hohes, weitgehend unversehrtes Gebäude aus Stein stand dort, wo sich zuvor kleinere Wohnstätten befunden hatten. Neugierig trat sie durch seinen Torbogen.

Gleich nach dem Eingang sah sie sich selbst, in Stein gemeißelt und die Arme einladend ausgebreitet.

Sie hielt inne und starrte. Das war fraglos sie. Die Figur war als Relief aus der Wand gehauen worden, ein Bein ausgestreckt, als würde sie jeden Moment aus dem Stein heraustreten wollen. Dies musste das Werk eines Steinschmelz-Mystikers sein, wahrscheinlich sogar eines ihrer Schüler, der ihre Gestalt dort aus dem Stein geformt hatte. Sie strich mit den Finger sachte über die Wange ihres steinernen Ebenbilds, ehe ihr Blick auf die Wand selbst fiel, die das Relief trug.

Sie trat zurück, um sie besser betrachten zu können. Um und hinter dem Relief war eine weitere Gestalt eingemeißelt worden.

„Kozilek?“, sagte sie. „Was ... ?“

Doch dies war nicht der Eldrazi-Titan – zumindest nicht ganz. Von ihrem allgemeinen Umriss her hätte die Gestalt Kozilek sein können, doch die Züge waren die eines männlichen Kors mit einer seltsam geformten Krone, die an jene eigentümlichen Obsidianplatten erinnerte, die über den Köpfen der Titanen schwebten. Die Arme des Kors waren über der steinernen Nahiri ausgebreitet. Jede Hand umfasste das Heft eines Schwertes, dessen breite Klinge entlang des Unterarms bis zurück nach oben zum Ellenborgen reichte, um so die doppelgelenkigen Arme des Eldrazi anzudeuten.

Über dem Kopf der männlichen Figur verkündete ein gewundenes Banner den Namen des Werks: „Nahiri die Prophetin, Stimme des Talib.“

Sie wandte sich von der Skulptur ab und verließ das Gebäude. Draußen angekommen hob sie die Hände und ballte sie zu Fäusten, und eine Staubwolke umfing sie, als das Gebäude hinter ihr in sich zusammenstürzte.

Es war ihre Schuld. Sie war die Erste gewesen, die Kozilek einen Gott genannt hatte, und offenbar hatten die Kor sich mehr an dieses Wort und weniger an ihre eindringliche Warnung erinnert, dass die Götter die Welt vernichten würden. Ihr wurde übel.


Einen nach dem anderen besuchte sie die Orte entlang jenes Weges, auf dem sie den alten Kor die Fokuspunkte des Polyedernetzwerks gezeigt hatte. Wo auch immer sie aus dem Stein auftauchte, fand sie Eldrazi. Jedes Mal öffnete sie die Erde, um sie verschlingen zu lassen, oder sandte Felshagel hinab, unter denen sie begraben wurden. Die Ausgeburten der Eldrazi zu töten, war nicht schwierig – jeder gewöhnliche Sterbliche war dazu in der Lage. Doch nur sie konnte sie davon abhalten, überhaupt ins Diesseits zu gelangen das hieß natürlich sie, Sorin und der Geisterdrache. Doch sie war allein, und sie würde es allein tun. Sie würde es allein tun müssen.

Um ein Haar hätte sie sich gar nicht erst mit einem Abstecher nach Akoum aufgehalten. So nahe an ihrer Ruhestätte im Auge von Ugin hätte sie doch sicherlich wahrgenommen, wenn etwas das Polyedernetzwerk unterbrochen hätte, weshalb es wenig Sinn ergab, die Orte dort zu untersuchen. Sie beschloss jedoch, gründlich zu sein, denn immerhin bot jeder dieser Orte ihr die Gelegenheit, jene Welt noch einmal zu sehen, die sie beinahe vergessen hatte, und von den Erinnerungen zu kosten, die jeder dieser Orte ihr ins Bewusstsein rief.

Dann jedoch besuchte sie einen Ort hoch droben in den Bergen nahe des Auges von Ugin. Und an ebenjener Stelle, an der sie die Kor gelehrt hatte, die Stärke des Polyedernetzwerks zu prüfen, stand nun ein unbekanntes Gebilde aus Stein. Anders als die glatten Gebäude der Kor war es aus scharfkantigen, grob behauenen Steinblöcken geschaffen worden. Aus dem Mörtel in den Fugen wanden sich gewaltige Stacheln aus Metall gen Himmel. Der Boden wies Verwerfungen auf, als hätte das Bauwerk mächtige Wurzeln ausgebildet, die den Stein nach oben drückten.

Schon als sie sich näherte, wusste sie, dass dies der Punkt war, an dem man das Netz aus Polyedern gestört hatte – unmittelbar vor ihrer Nase, während sie im Auge von Ugin saß. Wut kochte in ihr hoch, auf sich selbst ebenso wie auf denjenigen, der dies getan hatte.

Wut ... Noch so eine Empfindung, die sie vergessen hatte. Sie fühlte sich gut an.

Sie schlenderte auf das Gebäude zu. Jeder ihrer Schritte ließ den Boden erzittern und Geröll und Staub von den Wänden rieseln. Als sie näherkam, lösten sich drei dunkle Gestalten von der Rückseite des Gebäudes und begaben sich in Kampfstellung, sobald sie sie erblickten.

Sie hielt inne, ließ sich auf ein Knie fallen und griff mit einer Hand in die Erde unter ihr. Die vorrückenden Gestalten wurden langsamer und vorsichtiger. Dann zog sie mit einem Schrei ein glühend heißes Schwert aus dem Boden und stürmte vor.

Nahiri die Lithomagierin | Bild von Eric Deschamps

Die Gestalten wirkten menschlich, doch ihre Kleidung ließ sich keiner ihr bekannten Kultur zuordnen. Dünner Flor bedeckte ihre Brust nur spärlich und gab den Blick auf die dunkelrote Bemalung frei, die ihre aschfahle Haut zierte. Scharfe Haken entsprangen ihren Schultern und Oberarmen, und als sie bei Nahiris Herannahen fauchten, sah sie leicht hervorstehende Fangzähne.

Vampire?, dachte sie. Es gibt keine Vampire auf Zendikar.

Dann war sie bei ihnen, und ihr glühendes Schwert schnitt durch kaltes Fleisch und ließ Tropfen rubinroten Blutes dampfend gen Himmel spritzen.

Sie trat über ihre Leichen hinweg und riss sich ihren eigenen Durchgang in die raue Steinwand. Weitere der vampirischen Wesenheiten huschten überrascht davon, um einen Wimpernschlag später reglos ihren Weg zu säumen, bis sie schließlich in einem großen Hauptraum stand.

In der Mitte dieses Raumes, genau dort, wo sich die Linien der Polyedermatrix kreuzten, befand sich ein großer Altar aus Stein. Die abgenutzte Platte, die seine Oberseite bildete, war von altem Blut befleckt.

Nahiri blickte sich rasch in der Kammer um und sah weitere Vampire – konnten das wirklich Vampire sein? – aus der Halle huschen. Zu einer Seite stand eine riesige Statue aus Stein, die wohl eine halb vergessene Vision von Ulamog darstellen sollte. Sie hatte scharfe, menschliche Gesichtszüge unter einem Helm, der ebenfalls an die merkwürdige Gesichtsplatte des Eldrazi-Titanen angelehnt schien. Statt Beinen besaß sie sich windende Tentakel, die dem tatsächlichen Erscheinungsbild des Eldrazi schon recht nahekamen. Ihre beiden menschenähnlichen Hände umfassten die Schulterhörner einer knienden, vampirischen Gestalt, die unter ihr in den Stein gemeißelt war.

„Noch mehr verfluchte Götter!“, rief sie aus. „Was auch immer ihr Tölpel gedacht habt, was ein Gott ist, die Titanen der Eldrazi sind zweifellos keine.“

Doch welche Opferrituale auch immer auf diesem Altar durchgeführt worden waren: Sie hatten Wirkung gezeigt. Ob Ulamog nun die Gebete der Vampire erhört hatte oder nicht: Ihre Riten hatten das Netzwerk aus Polyedern ausreichend gestört, damit die Eldrazi-Brut entwischen konnte.

Sie legte die Hände auf den steinernen Altar und strengte all ihre Sinne an, um den Schaden zu begutachten. Es war nur eine winzige, kaum merkliche Veränderung an dem Kerker aus Polyedern. Sie hatte den Eldrazi-Titanen jedoch genug Platz geschenkt, sich zu bewegen und ihre Präsenz erneut auf Zendikar auszuweiten. Natürlich ließ sich alles wieder instand setzen, doch das würde Zeit brauchen. Und es wäre wesentlich leichter, wenn sie Hilfe hätte.

„Doch Hilfe wird nicht kommen“, sagte sie laut. „Also fange ich besser an.“

Seufzend blickte sie sich in dem Gebäude nach einem Stein von angemessener Größe um. Ihr Blick fiel auf die groteske Statue, und sie lächelte. „Perfekt.“

Sie ging zu der Statue hinüber und hob beide Arme hoch über den Kopf, sodass sie gerade an die Schultern des Vampirs heranreichte, auf denen die Hände des bizarren Ulamogs lagen. Dann riss sie die Arme wieder nach unten, und die gesamte Statue veränderte sich.

Es hatte vierzig Jahre gedauert, das Polyedernetzwerk zu errichten – wie ein ganzes Leben war es ihr damals vorgekommen, als sie noch in Verbindungen zu einfachen Sterblichen verstrickt gewesen war. Das Anfertigen eines einzelnen Polyeders würde nicht annähernd so lange dauern, selbst wenn sie es alleine tat. Am schwierigsten würde es sein, der Oberfläche ohne Ugins Anleitung die richtige Form zu verleihen.

Das, was einst eine Statue war, wurde nun unter Nahiris Händen zu einer formlosen Masse aus Stein, ehe es acht dreieckige Seiten mit scharfen Kanten erhielt. Sie atmete tief ein und schloss die Augen, als sie sich auf die Muster zu konzentrieren versuchte, die sie auf die Oberfläche aufbringen musste, um den Manafluss in der richtigen Weise umzuleiten.

Das Stampfen von Schritten auf dem Boden um sie herum störte ihre Konzentration. Sie seufzte. Sie war von weiteren Vampiren umringt, die sich ihr mit gezogenen, langen Krummschwertern näherten.

„Muss das denn sein?“, seufzte sie. „Das wird langsam ermüdend.“

Meuchler aus Guul Draz | Bild von James Ryman

Einer von ihnen zischte: „Du entweihst unseren ...“

„Nun gut“, sagte sie und ließ die Mauern über ihnen einstürzen, um danach zurück an die Arbeit zu gehen.

Sorgfältig fuhr sie mit der Hand jeden Fingerbreit der Oberfläche des Polyeders ab und formte jene exakten Muster, die der Geisterdrache sie gelehrt hatte. Als ein Schwarm Eldrazi über das Geröll auf sie zuhuschte, zog sie den Felsen in die Höhe und formte eine feste Kuppel um sich herum, um die Eldrazi auszusperren. Als die zersetzende Aura der Eldrazi den Stein schwächte und die Kuppel zum Bröckeln brachte, ließ sie sie über ihnen einstürzen und formte eine neue.

Es schien ewig zu dauern, was ihr seltsam vorkam. Sie war nicht ganz sicher, wie viel Zeit sie im Auge von Ugin verbracht hatte, in tiefe Meditation versunken, während die Eindrücke der Welt über sie hinwegspülten. Sie hatte ihr Leben hinter sich gelassen und sich in den schützenden Stein eingeschlossen. Doch nun, da die Eldrazi erneut über ihre Welt gekommen waren, fühlte sie sich gehetzt. Natürlich wollte sie den Kerker der Eldrazi wieder versiegeln, ehe zu viele ihr Leben im Kampf gegen sie verloren. Doch ihr wurde auch bewusst, dass sie diese Aufgabe zum Teil auch deshalb so schnell beenden wollte, damit sie ihr eigenes Leben wieder fortsetzen konnte.

Vielleicht war sie lange genug in ihren Kokon eingehüllt gewesen und nun bereit, ein neues Leben zu beginnen, wie ein ausgewachsener Geoped. Vielleicht war es auch der Geschmack bitterer Erinnerungen – an sehnsüchtige Erwartung und besonders an leidenschaftliche Wut –, der sie aus ihrem jahrhundertelangen Schlummer erweckt und den Funken einer neuen Wachheit in ihr entzündet hatte. In jedem Fall wollte sie dies hier beenden, um den nächsten Schritt in ihrem Leben zu gehen – wohin dieser sie auch immer führen mochte.

Endlich war der Polyeder fertig. Sie breitete die Arme aus und zerschmetterte die steinerne Kuppel um sich herum, um endlich einen tiefen Atemzug frischer Luft zu nehmen.

Gefährliches Behältnis | Bild von Sam Burley

Wie lange war ich wohl hier?, fragte sie sich.

Sie schüttelte den flüchtigen Gedanken ab und nahm erneut die Arme in die Höhe, um den Polyeder in einer geschmeidigen Bewegung anzuheben. Nur ein Gedanke war nötig, um ihn so zu drehen, dass die unterbrochenen Linien des Polyedernetzwerkes wieder miteinander in Verbindung standen und der Kerker der Eldrazi instand gesetzt war.

Sie sank auf ein Knie und presste die Hände flach auf den Boden. Sie konnte spüren, wie die Bewegungen der Titanen träger wurden, als sie erneut in Starre verfielen. Ihre Brut schwärmte noch immer über das Land, doch dies war nun die Sache der einfachen Sterblichen. Besorgniserregender war jedoch, dass Zendikar selbst nach wie vor eine Regung zeigte: nicht nur Akoum, wie damals, als die Eldrazi das erste Mal eingesperrt worden waren, sondern allerorten. Die Erde wurde von Beben erschüttert und neu geformt, hoch aufgetürmte Wogen veränderten den Verlauf der Küsten und heftige Winde trugen die Schluchten ab. Zendikar wand sich unter dem Stachel der Eldrazi, und sie vermutete, dass es eine Weile dauern würde, bis es wieder zur Ruhe kam.

Sie ließ sich in die Erde sinken und tauchte erneut im Auge von Ugin auf. Sie legte die Hände auf den Schlüsselstein und vergewisserte sich, dass das Netzwerk wiederhergestellt war. Sie dachte daran, erneut nach Sorin und dem Geisterdrachen zu rufen, doch die Lage war unter Kontrolle. Dank ihrer Bemühungen war Zendikar wieder sicher. Sie brauchte die anderen nicht.

Dies änderte jedoch nichts daran, dass sie nicht gekommen waren. Sie hatten versprochen, nach Zendikar zurückzukehren, sobald sie zu Hilfe gerufen wurden, um jenen Kerker instand zu halten, den Nahiri über zahllose Jahrhunderte hinweg bewacht hatte. Doch Sorin hatte sie verlassen, und erneut waren die Eldrazi über Zendikar hinweggefegt.

Andere Gefühle, die sie längst vergessen geglaubt hatte – Sorge und Angst –, schwollen in ihrem Herzen an und ließen sie lächeln, obgleich sie sie schmerzten. Sie sorgten dafür, dass sie sich lebendig fühlte: das Gefühl ihres Herzens, das in ihrer Brust schlug. Das Pochen in den Ohren, das es hervorrief. Die Bewegung ihrer Muskeln, als sie die Stirn in Falten legte und die Zähne aufeinanderbiss.

Was hatte Sorin all die Jahre getan, in denen sie hier im Auge von Ugin eingeschlossen gewesen war? War er noch am Leben? Hatte er sie und ihre Wacht über Zendikar vergessen? War er derselben Teilnahmslosigkeit anheim gefallen, die sie so lange gefangen gehalten hatte?

Sie würde ausziehen, ihn zu finden. Ihn aufzuwecken, wenn sie es denn musste. Ihn an sie und Zendikar erinnern und an die Freundschaft, die sie dereinst verbunden hatte. Ihn daran erinnern, wie es war, zu leben, etwas zu fühlen und sich zu sorgen. Sie hatte Zendikar gerettet, und nun würde sie ihn retten. Und dann würde sie zurückkehren und wieder unter ihrem Volk wandeln. Sie würde wieder lehren und lachen und lieben, und es wäre wieder wichtig. Alles wäre wichtig.

Sanft legte Nahiri eine Hand an die Wand der Kammer, die sich auflöste, als sie einen Pfad durch die Blinden Ewigkeiten öffnete. Die Wände der Kammer wurden zu den kahlen Hängen einer einsamen Bergkette. Tief sog sie die fremde Luft ein, ehe sie diese andere Welt betrat, nur allzu bereit, ihren ältesten Freund zu finden.