HAUS DER OCHRAN, RAVNICA

Vraska fand die Einladung des Drachen zwischen den Seiten eines Buches, das sie gerade las.

Ihr Name stand in goldenen Lettern auf der Vorderseite und das Papier roch leicht nach Sandelholz, Zedern und Magie. Wer auch immer den Brief hier hatte auftauchen lassen, war jedenfalls umsichtig genug, um zu wissen, wie man sie am besten erreichte.

Zuerst war sie verärgert gewesen – die Ochran waren einem neuen Klienten zugeteilt worden und sie hatte für heute genug Schatten und Geheimnisse in den düstersten Winkeln von Ravnica gehabt. Sie hatte sich darauf gefreut, zu Hause gemütlich am Kamin zu sitzen und ein Buch zu lesen, welches sie aus ihrem letzten Urlaub mitgebracht hatte. Doch als Sie die Einladung las, verschwand dieser Anflug von Verärgerung.

MEDITATIONSWELT

Vraskas Augen wurden zu Schlitzen. Sie hielt sich das Papier dicht vor die Augen und kippte die Einladung. Das Licht des Feuers lies einen leichten, blauen Schleier über den Buchstaben erkennen und sie begriff, dass die Tinte mit irgendwelchen Informationen verzaubert worden war.

Sie hielt eine Hand über die Buchstaben und wusste sofort, wohin sie gehen sollte und was sie tun musste, sobald sie dort ankam.

Die Informationen drangen blitzartig in ihren Kopf: eine weit entfernte Welt, deren Oberfläche irgendwie künstlich schien, blaues Wasser und Hügel, die steil und plötzlich anstiegen. Auch die genaue Position dieses Ortes im Multiversum war sorgfältig in ihrem Kopf abgelegt worden. Sobald sie dort ankäme, würde ein Zauberspruch ihre Identität beweisen und ihr Einlass verschaffen.

Vraska war neugierig. Alles an dieser Einladung roch nach einer Falle, und um ihre eventuelle Flucht nicht zusätzlich zu erschweren, zog sie schon mal ihre bequemsten Stiefel an.

Sie konzentrierte sich auf den Ort in ihrem Kopf. Das Zimmer verdunkelte sich und sie weltenwanderte durch einen dunklen Spalt in der Luft.

Sie fand sich auf einem Innenhof wieder, der mit einer dünnen Wasserschicht überzogen und auf allen Seiten mit einem Käfig aus violetten Lichtbögen abgeriegelt war.

Der Anblick war beängstigend, doch Vraska erinnerte sich daran, was in der zweiten Hälfte der Einladung gestanden hatte. Sie bemühte sich nach Kräften, sich richtig an den Zauberspruch zu erinnern, der ihr Einlass gewähren würde.

Sie streckte eine Hand aus und zeichnete damit einen großen Kreis in die Luft vor ihr. Die andere Hand zuckte in vielen kleinen Bewegungen. Vraska ließ genug Mana in den Zauberspruch fließen, um ein leichtes Leuchten dunkler Energie zu erzeugen, als die Finger ihrer ausgestreckten Hand den Kreis vollendeten.

Das Leuchten verschwand und der magische Käfig löste sich auf. Das Passwort war richtig gewesen.

Dann erschien ein Drache vor ihr.

Er war golden, riesig und gewunden, sein Gesichtsausdruck war nicht zu deuten und seine Präsenz strahlte eine seltsame Ruhe aus. Vraska watete voller Selbstvertrauen durch das knöcheltiefe Wasser in die Welt.

Sie hatte noch nie einen so riesigen und gleichzeitig so menschlichen Drachen gesehen. Er beunruhigte sie, aber sie ließ sich keinerlei Furcht anmerken.

„Vraska, Assassine der Ochran“, sagte er mit einer Stimme, die wie Donnergrollen klang, „schön, dass du meine Einladung bekommen hast. Ich bin Nicol Bolas, und ich kann deine Talente gebrauchen.“

Vraska verschränkte unbeeindruckt die Arme. „Ich brauche keine neuen Klienten“, sagte sie mit einem gelangweilten Unterton in der Stimme.

„Deine Fähigkeiten als Assassine interessieren mich auch nicht.“

Sie hielt inne.

Vraskas Fähigkeiten waren noch nie für etwas anderes in Anspruch genommen worden als zum Töten.

In ihren Ohren begann es zu sausen und sie hatte den seltsamen Eindruck, dass der Drache diesen Gedanken mitgehört hatte.

Er richtete seinen massiven Körper vollständig auf. Nicol Bolas ragte vor ihr auf wie ein Goldstreifen am Himmel – seine Haltung war so weit von der eines Reptils entfernt, wie es sein Körperbau zuließ.

„Du willst eine Anführerin sein …“, sinnierte er zu Vraskas Entsetzen. „… du sehnst dich nach einer besseren Welt für die, die dir wichtig sind. Du würdest alles tun, um ihnen den Respekt zu verschaffen, den sie verdienen.“

Du kannst meine Gedanken lesen?

Ich lese jetzt gerade deine Gedanken.

Vraskas Arme hingen schlaff herab. Ihr Mund war vor Schreck halb geöffnet und in ihren Ohren war immer noch das Sausen, das der Drache bei seinem Eindringen in ihren Kopf ausgelöst hatte. Sie begann, die Magie zu sammeln, die notwendig war, um einen so großen Gegner zu versteinern.

Der Drache senkte seinen Kopf. Seine Augen waren so groß wie Teller, seine Zähne so lang wie Dolche. Nicol Bolas lächelte.

„Ich kann dich zur Gildenmeisterin der Golgari machen, Vraska.“

Ihr Atem stockte.

Sie dachte an Mazirek, an die Kraul, an den Rest der Ochran-Assassinen und an den heimtückischen Jarad, der die Ärmsten der Armen wie eine Belanglosigkeit in den endgültigen Ruin trieb. Sie dachte an die Jahre der Einsamkeit, an die abscheuliche Grausamkeit der Azorius und daran, dass niemand es so sehr verdient hatte zu leiden, wie jene, die ihre eigenen Leute unterjochten.

Diese Hölle für immer zu beseitigen, war ihr größter und einziger Wunsch.

Sie reagierte vorsichtig. „Was verlangst du im Gegenzug von mir?“

„Es gibt einen Ort auf dem Kontinent Ixalan, in einer weit entfernten Welt. Dieser Ort ist als die Goldene Stadt Orazca bekannt. Finde den Gegenstand, der dort liegt, und rufe meinen Helfer zum Transport. Dann sorge ich dafür, dass du deine Gilde zu dem Ruhm führen kannst, den sie verdient. Dir wird ein Imperium gehören, Vraska, wenn du deine Mission erfolgreich abschließt.“

Der Gedanke erfüllte sie mit Demut, Misstrauen und freudiger Erwartung zugleich. Niemand hatte ihre Dienste jemals für etwas anderes als Mordaufträge beansprucht.

Alles an diesem Angebot roch geradezu nach Gefahr. Nichts an dieser Bestie war vertrauenswürdig. Doch Vraska dachte an ihr bisheriges Leben: an die endlose Reihe an Aufträgen und Morden und daran, dass sie ohne jede Hoffnung auf einen Ausweg ihre Rolle spielen musste.

Der Drache starrte sie an.

Er wartete auf ihre Antwort.

Und sie wollte etwas bewegen.

Wider besseres Wissen verneigte sie sich.

„Ich nehme die Bedingungen an“, sagte Vraska.

Ich kann ihn hintergehen, falls es schlecht läuft.

„Nein“, sagte Nicol Bolas. „Das kannst du nicht.“

Er bewegte eine Klaue, und das Sausen in ihren Ohren verschwand. Der Drache war aus ihrem Kopf verschwunden.

„Du wirst das hier brauchen“, sagte er und erhob seine Klaue erneut. Etwas sehr Schweres fiel in ihre Tasche.

„Das ist der Thaumaturgische Kompass“, sagte der Drache. „Er wird dich zur Goldenen Stadt führen. Er wird dir außerdem das Wissen zu zwei Konzepten verleihen.“

Der Drache hielt seine ausgestreckte Klaue aufrecht.

„Du wirst diesen Zauber verwenden, um meinen Helfer zu rufen, wenn du ins Zentrum der Goldenen Stadt vorgedrungen bist …“

Ein stechender Schmerz durchfuhr Vraskas Schläfen. Ihre Beine gaben unter dem plötzlichen Wissensansturm nach. Der Zauber sollte Welten überwinden und war entsprechend kompliziert – aber wer war der Empfänger? Im Grunde war das egal. Der Zauber war darauf zugeschnitten, nur einen Empfänger an einem ganz bestimmten Ort zu haben. Sie hatte nicht das Recht, die Identität dieses Empfängers zu erfahren.

Sie fühlte sich benommen und war voller Ehrfurcht. Vraska hatte keine Ahnung gehabt, dass so ein Zauber überhaupt möglich war, doch sie kannte ihn in- und auswendig. Eine Verbindung zu einem einzelnen Individuum auf einer anderen Welt. Sie würde keine Nachricht senden können, aber der Empfänger würde wissen, was zu tun war, wenn sie an der metaphysischen Leine zog. Es war unglaublich und durchaus beängstigend.

Aber der Drache war noch nicht fertig.

„… Du wirst außerdem wissen müssen, wie man ein Segelschiff steuert.“

Dieses Mal zwang die psychische Belastung Vraska auf die Knie.

Sie fiel auf Ihre Hände und Knie und landete in der dünnen Wasserschicht, die diese Welt bedeckte. Das einströmende Wissen brachte sie zum Keuchen. Spinnaker Pinne leewärts backbord Vorderschiff Endspleiß Mondsegel Vorwärtsfahrt querschiffs – Vraskas Kopf wurde überflutet mit einem Ozean an Wissen. Sie biss die Zähne zusammen und senkte ihren schmerzenden Kopf, bis ihre Stirn das Wasser berührte.

Sie atmete ein. Atmete aus.

Richtete sich schlaff auf. Die riesigen Mengen an Seemannswissen in ihrem Kopf fühlten sich an wie eine Kombination aus einem üblem Kater und einer sehr intensiven Unterrichtsstunde. Doch sie schaffte es, sich nicht zu übergeben.

„Du wärst überrascht, was man in Jahrtausenden voller Langeweile so alles lernen kann“, sinnierte der Drache. „Ich konnte noch nie einen Nutzen aus all dem Wissen ziehen, aber da du keine Flügel hast, wirst du es brauchen, wenn du das Meer überqueren willst.“

Vraska zitterte und ihr Kopf tat weh. Palstek Schotstek Achterknoten Webleinstek – die Begriffe und Techniken und das Wissen, das ganze Bibliotheken gefüllt hätte, brachen über sie herein und purzelten durcheinander, als sie versuchte, alles zu katalogisieren.

Dem Drachen war das egal.

„Brich nun auf. Du wirst erst zurückkehren können, wenn du deine Aufgabe erfüllt hast.“

Der Zweck heiligt die Mittel, sagte sich Vraska, während sie im Kopf immer noch versuchte, all die Techniken und Begriffe zu ordnen, die der Drache ihrem Gehirn eingeflößt hatte. Wenn ich das durchziehe, bekomme ich alles, was ich mir jemals für mich und meine Leute erträumt habe.

Die Umgebung um sie herum verdunkelte sich. Vraska schlüpfte durch einen Spalt aus Nacht in der Mittagssonne und weltenwanderte zurück in ihre Welt.

Sie musste sich vorbereiten.


STURMWRACK-SEE, IXALAN

Die gleißende Mittagssonne hatte die sonst schiefergraue See in helles Türkis getaucht. Die laue Luft spielte über die Kuppen der kleinen türkisen Wellen und ein großer Schoner glitt über die Wasseroberfläche. Stimmen hallten über das Rascheln des Segeltuchs und in Kapitänin Vraskas Hand zuckte das größte Licht ihres verzauberten Kompasses heftig in Richtung Süden.

Sie erhob eine smaragdgrüne Hand. „Steuermann!“

Der Steuermann, Malcolm, eilte zum Achterdeck und näherte sich Kapitänin Vraska. Als Sirene war er ein Naturtalent im Navigieren. Außerdem war er ein lebenslanges Mitglied der Tollkühnen Koalition. Er war auf die Himmelskörper spezialisiert und nutzte Tabellen, Kompasse und Astrolabien – sowie Zaubersprüche –, um den Sternen mehr Informationen zu entlocken.

Sirenen-Späher
Sirenen-Späher | Illustration von Chris Rallis

„Was gibt es, Kapitänin?“

Vraska hielt ihm den Thaumaturgischen Kompass hin. „Wir müssen nach Süden.“

Malcolm, dem gewissenhaften Steuermann, entfuhr ein besorgter Laut. „Bist du sicher?“

Vraska nickte. „Wir folgen diesem Kompass, er führt uns ans Ziel unserer Suche.“

Sie gab Malcolm den Kompass. Er hielt ihn dicht an seine Augen, als könnte er so den Zweck dieses geheimnisvollen Geräts erkennen. Er seufzte und sah wieder seine Kapitänin an. „Dein Gönner hat dir nie gesagt, wohin genau dieses Ding zeigt?“

Vraska seufzte. „Fürst Nicolas sah keine Notwendigkeit, diese Information mit mir zu teilen. Ich wurde lediglich angewiesen, das Objekt zu finden, zu dem dieser Kompass mich führen würde.“

Die Quartiermeisterin erklomm die Treppe und wandte sich an Vraska. „Kapitänin, die Mannschaft erwartet deine Befehle.“

Amelia, die Quartiermeisterin der Streitlustigen, war so groß und robust wie ein Fockmast. Als Quartiermeisterin oblagen ihr die tägliche Schiffsführung und die Aufsicht über die Verteilung von Beute und Heuer. Außerdem war sie eine talentierte Rudermagierin mit einem Talent für Schiffsmagie. Ihre Zaubersprüche verstärkten den Wind und die Segel, und sie konnte Knoten mit einer einzigen Berührung festigen. Sie gewann die Wahl zum Quartiermeister mit überwältigender Mehrheit, und die Mannschaft wusste, dass man sich besser nicht mit ihr anlegte. Amelia neigte dazu, ihre Segelfähigkeiten auch für Strafen einzusetzen, und es war keine angenehme Strafe, seine Pflichten in Segeltuch eingewickelt erledigen zu müssen.

Malcolm starrte den seltsamen Kompass an. „Aber die Richtung, die er angibt, führt uns weg vom Kontinent Ixalan. Die Goldene Stadt ist nicht auf einer Insel …“

Vraska redete ihm beruhigend zu: „Bei allem Respekt, Malcolm, du bist der Steuermann. Wenn du nicht damit einverstanden bist, dass wir unserer Mission und damit diesem Kompass folgen sollten, dann ist das deine Entscheidung. Aber ich bitte dich inständig, mir ebenso zu vertrauen wie ich dir.“

Der Steuermann presste seine Lippen zusammen. Er blickte in Richtung Wetterfahne und nickte gedankenversunken.

„Kurs in Richtung Süden setzen", sagte er entschieden zu Vraska. Vraska wandte sich an die Quartiermeisterin und bestätigte: „Kurs in Richtung Süden setzen.“ Amelia nickte und wandte sich an die restliche Mannschaft auf dem Hauptdeck. „Kurs nach Süden setzen!“, gab sie den Befehl weiter.

Der Befehlt der Quartiermeisterin hallte über das gesamte Schiff, als jedes Mitglied der Mannschaft ihn wiederholte. Es hörte sich an wie ein Kanon, bei dem der Refrain mit vielen Wiederholungen und Überlappungen durch die gesamte Mannschaft der Streitlustigen hindurchwogte. Vraska konnte sich ein Lächeln darüber nicht verkneifen.

Die Mannschaft begann augenblicklich mit dem Hissen des Segels, dem Anholen der Leinen und der Vorbereitung des Kurswechsels. Der Steuermann ging an die Ruderpinne, setzte sich und drehte das große Ruder. Die Streitlustige begann mit dem Wendemanöver. Sie arbeiteten gewissenhaft: eine kunterbunte Truppe aus Menschen, Ogern und Goblins. Alle fähig, alle erfahren, alle nur ihren Mannschaftskameraden treu.

Vielleicht ist unser Ziel näher, als wir glauben, überlegte Vraska.

„Wo hat Fürst Nicolas diesen Kompass eigentlich her?“, fragte Malcolm. Das Schiff hatte die Wende vollzogen und er brachte das Ruder wieder in seine Ausgangsposition.

„Unser Klient handelt mit seltenen Raritäten. Der Kompass ist eine Leihgabe aus seiner Privatsammlung magischer Navigationsgeräte.“

Amelia nickte, während sie sich eine Pfeife anzündete, die sie zuvor aus einer Tasche in ihrem Mantel geholt hatte. „Hast du schon einmal für ihn gearbeitet?“

„Nein. Er hat mich erst zu diesem Auftrag kontaktiert. Ich war nicht gleich sicher, ob ich das Angebot annehmen sollte, aber er war sicher, dass ich die Richtige für den Auftrag wäre.“

„Dann kann er Leute gut einschätzen“, meinte Malcolm mit einem anerkennenden Lächeln.

Vraska rümpfte die Nase. Gut wäre zu viel gesagt.

„Er hat ziemlich hohe Erwartungen“, antwortete sie. „Hohes Risiko, prächtige Belohnung.“

Malcolm grinste. „Mit Risiken kann ich leben. Dann werde ich meine Liebste mal wissen lassen, dass sie sich bei meiner Rückkehr auf eine Schiffsladung voller Gold freuen kann.“

„Die Schiffsladung sollst du haben, mein Freund“, sagte Vraska nickend.

Und sie meinte es ernst.

Dank des bedingungslosen Vertrauens zwischen Vraska und ihrer Mannschaft war aus dieser beängstigenden Herausforderung ihrer unerprobten Fähigkeiten die zufriedenstellendste Zeit ihres Lebens geworden. Sie hatte die letzten Monate damit verbracht, ihre Mannschaft aufzustellen. Anfangs war es schwer gewesen, Fremde davon zu überzeugen, der Mannschaft einer unbekannten Kapitänin beizutreten, doch Vraska hatte sich durch die gerechte Bezahlung, ihr phänomenales Wissen über Segeltechniken und einen unglaublichen Schutzinstinkt für ihre Leute einen Namen gemacht. Die Einwohner dieser Welt waren stur, fluchten gern und hatten keine allzu festen Moralvorstellungen – und Vraska liebte sie dafür. Eine Menge Geld und einiges an Verhandlungsgeschick verschafften ihr ein eigenes Schiff und schon bald konnte ihre Reise beginnen.

Gorgos konnten auf Ravnica nur eins werden. Aber hier? Hier konnte eine Gorgo sein, was auch immer sie wollte. Vraska genoss diese neue Freiheit und strahlte vor Stolz, wenn sie daran dachte, dass sie die Golgari führen würde, wenn sie nach Hause zurückkehrte.

Vraska, Malcolm und Amelia – Kapitänin, Steuermann und Quartiermeisterin – begannen, die logistischen Herausforderungen ihrer Expedition zu diskutieren und die Karten und Aufzeichnungen nach dem besten Weg landeinwärts zu durchsuchen, den sie einschlagen wollten, sobald sie den Kontinent Ixalan erreichten.

Der Kompass war nicht leicht zu deuten. Manchmal änderte er plötzlich die Richtung, nur um wenige Stunden später wieder die alte Richtung anzuzeigen, und die verschiedenen Zeiger wiesen in unterschiedliche Richtungen. Vraska hatte argumentiert, dass der größte Zeiger wahrscheinlich ihr Ziel anzeigen würde, doch diese Vermutung stellte sich als fragwürdig heraus.

Sie fragte sich, was der Drache mit ihr vorhatte, falls sie scheitern würde.

Einige Stunden später rief ein Mannschaftsmitglied aus dem Krähennest:

„Halt! Mann an Land!“

Edgar, der zweite Rudermagier auf dem Schiff, ballte seine Hände zu Fäusten und holte die Segel des Schiffs in einem sanften, blauen Lichtschimmer ein. Die Streitlustige trimmte zum zweiten Mal an diesem Tag ihre Segel und unterbrach die Fahrt.

In der Nähe ragte ein Felsbrocken aus dem Wasser. Dessen Spitzen waren mit einer dicken, weißen Schicht überzogen und hunderte Seevögel nisteten darauf. Außerdem lag ein Bündel aus blauer Kleidung und sonnenverbrannter, heller Haut auf den Steinen.

Amelia reckte sich über die Reling und wandte Vraska ihr rundes Gesicht zu. „Sollen wir Malcolm rüberschicken?“

„Nein“, sagte Vraska. Sie mochte die Vorstellung nicht, noch jemanden auf der Reise durchfüttern zu müssen. „Bereitet das Beiboot vor. Ich will ihn mir erst genau ansehen.“ Der Bootsführer, ein mürrisch dreinblickender Mann namens Gavven, bereitete ein kleines Boot vor, um den Schiffbrüchigen zu bergen, und Vraska lehnte sich über die Reling, um zu sehen, wen sie gefunden hatten.

Er lag mit seinem Rücken auf dem einzigen Stück, das nicht von Vogelkot bedeckt war. Er hatte dunkles Haar und verwendete all seine verbleibende Energie dazu, verzweifelt die vielen Fliegen zu vertreiben. Unter seinem Kopf lag ein Bündel blauer Kleidung, während ein Stück blauer Stoff, auf das vertraute weiße Symbole aufgestickt waren, halb im Wasser hing.

Vraskas Herz setzte aus.

Nein.

Es war Jace Beleren.

Wie zum Teufel hat er mich gefunden?

Vraska bemühte sich gar nicht um eine Antwort. Panik und Wut entbrannten in ihrem Kopf, und sie bereitete sich mental darauf vor, den Mann zu töten, sobald sie ihm in die Augen sehen konnte. Sie hatte jede Vorsichtsmaßnahme ergriffen, jeden Assassinentrick angewendet, um unentdeckt zu bleiben. Niemand aus Ravnica wusste, wo sie war, und kein Planeswalker hätte in der Lage sein sollen, sie zu finden. Was zur Hölle machte Jace hier?

Vraska drückte ihr Fernrohr in Malcolms fedrige Hand. „Ich werde mich um ihn kümmern.“

Sie kletterte in das Beiboot und schrie Gavven an, er sollte einsteigen und sie zu Wasser lassen. Edgar, der Rudermagier, folgte der Anweisung und griff zu den Rudern.

Mit den Worten „Lasst das Beiboot zu Wasser!“ kündigte Edgar das Manöver an. Die drei Insassen setzten sich und Edgar machte eine zackige Geste, die das Beiboot in Richtung Wasser sinken ließ. Das Beiboot kam klatschend auf der Wasseroberfläche auf und Vraska löste schnell die Haken, die das Boot hielten.

Sie lehnte sich zurück, während Edgar und Gavven das Beiboot auf Jace zusteuerten. Mit jedem Ruderschlag stand ihre Entscheidung fester.

Er muss mir von Anfang an gefolgt sein. Sobald wir da sind, muss ich ihn versteinern, bevor er diese Finte sein lässt und mein Gedächtnis löscht. Natürlich musste es von allen unausstehlichen Störenfrieden im ganzen Multiversum ausgerechnet er sein.

„Ich würde dir ja sagen, dass du nicht entkommen kannst, aber das erübrigt sich. Es fühlt sich an, als würde man mit dem Gesicht in eine Glasscheibe weltenwandern, nicht wahr?“, rief Vraska.

Edgar und Gavven sahen sie verwirrt an, doch Vraska hielt sich nicht damit auf, zu erklären, was sie damit genau meinte. Sie war zu wütend.

„Mein Schiff braucht eine neue Galionsfigur, Beleren! Sag mir, für wen du arbeitest, und dein Tod wird schnell und schmerzlos sein!“

Vraska suchte nach diesem kleinen Flimmern tief in ihren Gedanken und fühlte, wie sich ihr Blick mit der Versteinerungsmagie auflud, die nur Gorgos besaßen. Sie stand auf und fühlte ihre eigene Magie wie eine Wärme auf der Innenseite ihres Gesichts. Mit einer schnellen Bewegung drehte sie sich um, um ihrem Gegner in die Augen zu sehen.

Doch seine Lider waren geschlossen, verklebt von Salz und Schlaf, und seine hohlen Wangen waren von einem dunklen Bart überwachsen, der die Tätowierungen auf seinem Gesicht verdeckte. Seine Arme waren schlank und muskulös, doch Vraska konnte die Rippen an seinem sonnenverbrannten Oberkörper zählen.

Meine Güte, was ist mit ihm passiert?

Er sah unheimlich krank aus. Auf der Insel war kein Süßwasser zu finden und es gab nichts, was darauf hinwies, dass man hier überleben könnte. Sein Anblick ließ sie innehalten.

Er hätte ebenso gut schon tot sein können.

Jace hustete und öffnete blinzelnd seine Augen. Vraska löschte die brennenden Mordgedanken und sah ihn ohne Magie in den Augen an.

Ich kann ihn immer noch töten, nachdem er mir ein paar verdammte Antworten gegeben hat.

„Jace, was zur Hölle ist mit dir passiert?“

Ihre Worte klangen mehr nach einer Feststellung als nach einer Frage. Sie hätte ihn sofort töten sollen, doch was aller Logik nach so einfach hätte sein sollen wurde dadurch erschwert … dass er es war.

Warum war es immer er?


Jace schlang die erste Schale Haferbrei in knapp zwei Minuten hinunter. Die Flasche Wasser trank er noch schneller leer. Er hatte seit seiner Ankunft kein Wort gesagt. Er sah sich mit großem Interesse und völlig überwältigt in der Kombüse der Streitlustigen um. Bei näherem Hinsehen fand Vraska es beeindruckend, wie sehr er sich seit ihrer letzten Begegnung verändert hatte. Diese Muskeln konnte er unmöglich die ganze Zeit unter seinem Umhang versteckt haben.

Sie saßen nun in der Kombüse, eine leere Schale stand Jace zu Füßen. Vraska nickte ihrer Mannschaft zu, um zu signalisieren, dass sie allein gelassen werden wollte, und zog einen Hocker direkt vor den Gedankenmagier.

Vraskas schlangenhafte Haare zuckten um ihr Gesicht. „Du hast zwei Minuten Zeit, mir zu erklären, wie du mich gefunden hast, bevor ich dich in Stein verwandle und als Briefbeschwerer benutze, Jace.“

Er blinzelte kurz.

Sie hob ihre Augenbrauen.

Jace schüttelte den Kopf. „Ich habe nicht nach dir gesucht. Ich weiß gar nicht, wer du bist.“

Vraska zog beide Augenbrauen so hoch, wie sie konnte.

„Soll das ein Witz sein, Beleren?“

Er schloss seinen Mund und schüttelte wieder den Kopf. „Ich erinnere mich an nichts, was passiert ist, bevor ich auf der ersten Insel aufgewacht bin.“

Der ersten Insel?

Vraska nahm seinen Löffel und warf ihn ihm gegen seine Brust. Er versuchte, ihn abzuwehren und traf nicht.

„He!“

Diese Unbeholfenheit konnte er unmöglich vortäuschen. „Also keine Illusion“, bemerkte sie.

Diese Bemerkung verwandelte Jace’ Irritation in frohe Überraschung. „Du weißt, dass ich so etwas kann?“ Seine Mundwinkel hoben sich zu einem halben Lächeln.

Vraska konnte es kaum fassen. Warum war er so aufgeweckt? Wo war der käsige, launische Gildenbund, den sie kannte und verabscheute?

Sie presste ihre Lippen zusammen. „Du bist ein Illusionist. Kein Schauspieler. Warum lügst du mich immer noch an?“

„Du weißt mehr über mich als ich selbst. Was hätte ich davon, dich anzulügen?“

„Eine ganze Menge“, sagte Vraska ausdruckslos. „Ich glaube, dass du mir das nur vorspielst.“

„Wie heißt du?“

Das ist die Hölle. Ich bin definitiv in der Hölle gelandet.

„… Ich heiße Vraska.“

„Vraska.“ Jace lächelte leicht. „Dein Name klingt, als stamme er aus einer anderen Sprache als meiner. Woher kommst du?“

„Du weißt ganz genau, wo ich herkomme, du Dreckskerl.“

Jace wirkte richtig verletzt.

Oh.

Vraska fühlte sich … schlecht?

Er ist wie ein Hund, dachte Vraska. Ein Retriever in Menschengestalt. Was ist mit ihm passiert?

Es wäre am besten, wenn Jace tot wäre, aber in seinem derzeitigen Zustand ist er eindeutig harmlos. Sie hatte sich vorgenommen, niemals jemanden zu töten, der es nicht auf irgendeine Art verdient hatte. Und nun saß hier ein Mann ohne Vergangenheit im Kopf, mit reinstem Herzen und mit einem Fuß im Grab.

Sie stand unbeholfen auf und ging zum Herd. Alles an dieser Situation war seltsam, unerwartet und eine Abweichung von ihrer eigentlichen Aufgabe.

Vraska war sich überhaupt nicht sicher, was zu tun war, und so tat sie das Einzige, von dem sie wusste, dass es das Gefühl der Hilflosigkeit abmildern würde.

„Nimmst du Zucker, Jace?“

„Das werden wir wohl gleich herausfinden“, sagte er mit einem schelmischen Blick.

Vraska seufzte. Langsam wurde der Witz alt.

Jace beschäftigte sich und sie beobachtete ihn, während sie den Tee zubereitete.

Seine Bewegungen hatten nichts Mysteriöses, er existierte nur im Hier und Jetzt. Der verklemmte Gildenbund, der Unsicherheiten mit Gezappel verbarg und sich in seiner Melancholie verlor, war verschwunden. Da saß eine schlanke, ernste und unglaublich freundliche Version des zweitgefährlichsten Gedankenmagiers im Multiversum.

„Woher kennen wir uns?“, fragte Jace mit überschäumender Neugierde.

Vraska rief sich die verblichene Erinnerung an die Morde schrecklicher Leute mit passenden Namen vor so vielen Jahren ins Gedächtnis. Sie hatte sie verübt, um die Aufmerksamkeit des Gildenbundes zu erregen.

Zugegebenermaßen ein eher ungeschickter Versuch.

„Ich habe dich gebeten, mit mir zusammenzuarbeiten, und du hast abgelehnt.“

„Wofür brauchtest du meine Hilfe?“

Vraska legte sich die Worte vorsichtig zurecht. „Ich hatte gehofft, dass du mir helfen würdest, einige sehr schlimme Personen mit hohen Ämtern loszuwerden.“ Dann goss sie den Tee in eine Tasse und reichte sie Jace.

Jace schlürfte vorsichtig etwas Tee. „Was hatten diese schlimmen Personen getan?“

Vraska kniff die Lippen zusammen und wandte sich von ihm ab. Mich festgenommen. Geschlagen. Eingesperrt, obwohl ich nichts falsch gemacht hatte.

Jace schnappte nach Luft. „Im Ernst?“

Vraska wandte sich ihm erschrocken zu.

Er hatte ihre Gedanken gelesen … aber es war ihm nicht bewusst. Jace musste gedacht haben, dass sie es laut ausgesprochen hatte.

Er starrte sie mit ehrlichem Entsetzen und Mitleid an.

„Das hätte nie passieren dürfen, Vraska.“

Sein Gesichtsausdruck war völlig offen, die Gefühle in seiner Stimme waren sanft und ehrlich.

Vraska begann, in Gedanken laut vor sich hin zu summen, um alle anderen Gedanken zu unterdrücken, die sie vielleicht projizieren könnte. Schließlich fand sie die richtigen Worte. „Meine Vergangenheit ist ein Teil von mir, aber sie definiert mich nicht.“

Jace lächelte.

„Das Gefühl kenne ich allzu gut“, sagte er mit trockenem Humor.

Vraska war erstaunt. Der Mann hat also doch Humor.

Sie goss auch sich Tee in eine abgenutzte Tasse. „Woran erinnerst du dich noch, Jace?“

Er öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, doch dann schlossen sich seine Lippen schnell wieder. Er sah sie verlegen an.

„Darf ich es dir zeigen?“

Vraska rutschte beunruhigt hin und her. „Wie meinst du das?“

„Ich möchte ein bisschen üben, wenn das für dich in Ordnung ist.“

Vraska hatte das Gefühl zu wissen, was als Nächstes kommen würde. „Ja. Das ist in Ordnung.“

Die Kombüse um sie herum verschwand. Vraska blieb auf ihrem Stuhl sitzen, doch dieser befand sich nun in einem Bambuswäldchen, in dem der Bambus höher war als die Masten ihres Schiffes. Jace saß mit glänzenden Augen auf seinem Stuhl und begann mit der illusorischen Zusammenfassung seiner letzten vierzig Tage. Vraska sah zu, wie sich der Bambus in unberührten Sand verwandelte. Regen fiel auf ein imaginäres Feuer und einen sehr toten Fisch. Sie sah zu, wie er das Sammeln, Jagen, Bauen und Überleben lernte. Die Gorgo nippte an ihrem Tee und staunte sowohl über die Schönheit der Insel als auch darüber, wie viel Jace auf dieser Insel gelernt hatte. Er lächelte, als er ihr zeigte, was er gelernt und gebaut hatte. Es machte ihm offensichtlich großen Spaß, seine Wissenslücken zu füllen, und seine Begeisterung war ansteckend. Es war unglaublich, dass er Angelhaken, eine Plattform und ein Floß gebaut hatte. Vraska hatte am Ende der Tour ihren Tee ausgetrunken. Die Insel verwandelte sich wieder in die vertrauten Holzwände der Kombüse.

Jace’ Magie ebbte ab. Vraska schüttelte den Kopf. Natürlich würde er von allen Leuten es genießen, allein und ohne Gedächtnis auf einer Insel zu stranden. Aber seine Illusionen hatten nicht die Frage beantwortet, wie er überhaupt hierher gekommen war.

„Du erinnerst dich wirklich an gar nichts?“, fragte sie.

Er sah Vraska mit bittersüßer Miene an und wiederholte ihre eigenen Worte: „Meine Vergangenheit ist ein Teil von mir, aber sie definiert mich nicht.“

Jace hatte seine illusorischen Fähigkeiten wiederentdeckt, doch bisher wohl nicht die wirklich beängstigenden. Es war beunruhigend. Sie allein wusste auf dieser Welt, wozu er fähig war.

Sie blickte auf die leere Tasse in ihrer Hand und seufzte. Sie würde ihn am Leben lassen. Seine Talente konnten ihr vorerst von Nutzen sein. Unwissenheit schützte nicht vorm Sterben, erst recht nicht nach den Regeln der Assassinen. Doch das hier war anders …

Dieser Mann war nicht Jace. Nicht wirklich. Der Gildenbund, den sie gekannt hatte, war fort.

Wenn ich nicht dafür bezahlt werde, töte ich keine Fremden.

Sie hatte sich entschieden.

„Wir werden dir eine Hängematte auf dem Vordeck aufhängen“, sagte Vraska. „Wenn wir den nächsten Hafen anlaufen, lassen wir dich dort gehen.“

Jace nickte zustimmend und stellte seine Tasse beiseite.

Was für ein Zustand, dachte Vraska. Er ist hilflos. Ist es ein Fehler, ihn am Leben zu lassen?

„Hast du etwas gesagt?“, fragte Jace.

Vraskas Herz setzte einen Schlag aus; sie schüttelte den Kopf, und Jace runzelte die Stirn.

„Seltsam“, murmelte er, „dann war es wohl das Schiff.“


Jace hatte bisher acht Tage an Bord des Schiffes verbracht und es fiel ihm offenbar schwer, sich an Bord der Streitlustigen wie ein Gast zu benehmen.

Obwohl der Schiffsarzt ihm Ruhe unter Deck verordnet hatte, war Jace schon bald dafür bekannt, nicht lange an einem Ort bleiben zu können.

An einem Flautetag beobachtete Vraska ihn dabei, wie er ein Fernrohr auseinandernahm und dann wieder zusammensetzte.

Das Ganze dauerte nicht länger als 15 Minuten.

Erst hatte er sich das Äußere genau angesehen und alle Ritzen abgesucht. Dann borgte er sich das passende Werkzeug, um es behutsam zu zerlegen. Dabei ordnete er die Einzelteile und organisierte sie akribisch in einem Raster an Deck des Schiffes. Als das ganze Fernrohr zerlegt war, arbeitete er sich rückwärts vor und setzte alle Stücke in der umgekehrten Reihenfolge wieder zusammen.

Eine kleine Menge sah ihm fasziniert dabei zu. Vraska stand weiter hinten. Sie war ebenso beeindruckt wie beunruhigt. Sie flüsterte ihrer gebannten Quartiermeisterin etwas zu, die sich schnell entschuldigte und die Mannschaft ermahnte, sich wieder an die Arbeit zu machen.

Jace stand peinlich berührt da und gab Vraska das zusammengebaute Fernrohr zurück.

„Ich bin in der Kombüse. Kapitänin.“ Er sah schuldbewusst nach unten.

Vraska drehte das Fernrohr in ihren Händen. Sie wandte sich Jace zu und rief, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.

„He!“

Er sah auf. Vraska warf ihm ein zweites Fernrohr zu. Jace fing es auf und sah sie verwirrt an. Er ging auf sie zu. „Was soll ich damit machen?“

„Kannst du meines auch reparieren?“, fragte Vraska.

Jace grinste und klopfte Vraska auf den Rücken.

„NICHT!“, rief sie und zuckte merklich zusammen.

Jace erstarrte. Amelia schritt auf langen, kräftigen Beinen zu ihnen herüber und sah den Gedankenmagier mit ihrem schärfsten Quartiermeisterblick an. „Niemand berührt die Kapitänin!“, knurrte sie.

„Schon gut“, sagte Vraska und versuchte, so ihre eigenen Nerven zu beruhigen. „Er hat es nicht gewusst, Amelia.“

Vraskas Herz schlug in wilder Panik, und sie atmete tief durch, um den Schrecken zu überwinden. Sie hatte seit Jahren niemanden mehr berührt. Die Mannschaft brauchte den Grund nicht zu kennen. Sie hatte ihre Gründe, die alten Narben aus dem Gefängnis zu verstecken.

„Tut mir leid, Kapitänin“, sagte Jace zu seinen Schuhen.

„Es muss dir nicht leidtun“, sagte Vraska. In ihrer Stimme lag etwas Scharfes. „Mach es einfach nur nicht noch einmal.“


Der Himmel war bewölkt und die Luft war schwer und kündigte Regen an. Der Wind war beständig und stark; Malcolm hatte geschätzt, dass sie im Laufe des kommenden Tages in den Hafen am Ende der Welt einlaufen würden. Der größte Teil der Mannschaft war unter Deck, aß und vertrieb sich die Zeit.

Der Matrose im Krähennest rief etwas, und Malcolm eilte ihm entgegen. Auf der Mastspitze hielt er kurz inne, bevor er weit hinauf flog. Er kehrte in einem schnellen Sinkflug wieder zurück und landete direkt neben Vraska.

Er flüsterte eindringlich: „Da ist ein Schiff gleich hinterm Horizont. Es hat schwarze Segel.“

Vraska presste ihre Lippen zusammen. Die Legion des Zwielichts.

Das feindliche Schiff erschien langsam am Horizont. Es tauchte nach und nach aus einem dunklen, magischen Nebel auf. Seine Seitenwände waren aus dichtem, dunklem und von Zeit und Reisen verwittertem Holz. Die Segel des Schiffes waren ebenso dunkel wie der Rauch, den es hinter sich herzog, und sein Kapitänsquartier war so groß und beeindruckend wie ein Kathedrale.

Vraska hatte schon Schlimmeres überlebt.

Sie dachte an ihre erste Begegnung mit den Vampiren der Legion des Zwielichts zurück. Sie hatte Die Streitlustige erst wenige Wochen und die Mannschaft war sich noch ebenso fremd wie ihr dieser Gegner war. Beim Herannahen machten die Vampire den Tag zum Abend und das Schiff wurde in eine dunkle Wolke eingehüllt. Vraska war zuerst verwirrt, wie ein größeres Schiff ihres überholen konnte, doch es war schnell klar, dass nicht ihre Beute das Ziel des Angriffs war, sondern die Mannschaft. Die Konquistadoren mussten nicht einmal ihre Waffen einsetzen. Sie riefen ihre Heiligen an und veranstalteten ein Gelage, wie es Vraska noch nie zuvor gesehen hatte. Sie verlor an diesem Tag vier Mitglieder der Mannschaft. Sie wurden alle im religiösen Eifer leergesaugt, bevor sie ihre Mörder zu Stein verwandeln konnte.

Malcolm war damals dabei. „Sie haben das Ende der Blutentsagung gefeiert“, hatte er gesagt. Die Legion des Zwielichts rechtfertigte ihre Blutlust damit, dass sie nur sündige Kriminelle umbrachte. Es war kein Zufall, das sie die Tollkühne Koalition als Allianz der Sünder ansah.

Vraska erinnerte sich auch daran, wie Amelia ihr erzählte, was die Vampire eigentlich wollten. „Sie wollen ihren Vampirismus beenden“, hatte sie gesagt. „Sie wollen ewig leben, ohne auf Blut angewiesen zu sein. Die Immerwährende Sonne wurde aus ihren Klostern gestohlen, und sie sind zur See gefahren, um sie wieder zurückzuholen. Sie nahmen uns unser angestammtes Land auf Torrezon, und am Ende werden sie jedes Zuhause nehmen.“

Vraska konzentrierte sich wieder auf das Hier und Jetzt.

Sie verengte ihre Augen zu Schlitzen und erwog ihre Möglichkeiten.

Sie konnte versuchen, dem Schiff zu entkommen und am Hafen am Ende der Welt Nachschub zu laden … oder die Schiffskasse schonen und Vorräte von den Konquistadoren stehlen.

Vraska entschied sich für die spannendere Variante.

„Alle Mann an Deck!“, rief sie der Mannschaft zu.

Die Mannschaft reagierte sofort und kam über die Leiter aus den Mannschaftsquartieren an Deck. Jeder eilte sofort an seinen Platz, als Vraska sie rief.

Ihr Herz schlug vor Befehlslust schneller.

Sie sah sich den Himmel an. Die Wolken waren regenschwer und Die Streitlustige kreuzte gegen den Wind. Die Segel des anderen Schiffes waren gerafft, und wenn Vraska schnell angriff, würden sie ihre Windwärtsposition ausnutzen können.

„Kampfpositionen! Abfallen und Flagge hissen!“

Während Vraska die Befehle schrie, hörte sie, wie ihre Mannschaft diese über das ganze Schiff weitergab. Malcolm eilte zur Pinne und riss sie herum, als die Mannschaft weit oben die Stage dichtholte. Amelia und Edgar standen Rücken an Rücken und stellten den Groß- und Besanmast mit einem starken Magieschub auf. Das Schiff wendete scharf nach steuerbord, während sich seine Segel mit einer schnell herbeigerufenen Brise füllten.

Jace kam, erschreckt durch den plötzlichen Tumult und sichtbar unsicher, wohin er gehen sollte, an Deck.

In dem Moment hatte Vraska eine Eingebung.

„Jace! Hier oben!“ Sie rief ihn vom Achterdeck und wies ihn an, die schmale Leiter zu erklimmen und zu ihr und der Quartiermeisterin zu kommen. Seine Augen waren vor Aufregung und Sorge geweitet.

Vraska sah ihn an. „Jace, wir wollen an Bord dieses Schiffes gehen und Vorräte stehlen. Kannst du die Annäherung der Streitlustigen tarnen?“

Jace verzog seine Lippen zum Anflug eines Lächelns. Dann nahm sein Gesicht einen Ausdruck voller Entschlossenheit an. „Ja, Kapitänin.“

Vraska nickte. „Dann fang an.“

Jace sah hinauf zum Himmel, seine Augen glänzten und seine Magie floss wie Wasser über eine gebogene Oberfläche um Die Streitlustige herum. Sie schien das Schiff langsam aufzulösen.

Die Mannschaft konnte sich gegenseitig und das Schiff sehen. Jace konzentrierte sich und nickte der Kapitänin kurz zu. Vraska grinste und wandte sich an ihre Schiffskameraden.

„Mannschaft! Wir werden leise fortfahren, bis das Schiff in der richtigen Position zum Entern ist! Sobald wir in Reichweite sind, wird Jace die Tarnung aufheben und wir entern. Nehmt nur Vorräte mit.“

Mehrere Mannschaftsmitglieder stöhnten hörbar auf.

„Das war ein Scherz, meine Freunde“, lächelte Vraska, „nehmt euch von diesen blutsaugenden Dieben, was ihr wollt.“

Die Mannschaft jubelte und begann, die Takelage anzupassen, um die Annäherung zu beschleunigen.

Jace wandte sich an Vraska. „Was meinst du mit ‚leise‘?“

„Das ist eine Spezialität meines Schiffes.“ Vraska ging zur Schiffsglocke und zog ein Bündel kleiner Flaggen aus einer Box nahe der Reling. „Ich habe noch keinen guten Namen für diese Taktik gefunden.“

Sie hielt eine der kleinen Flaggen hoch, um der eingeweihten Mannschaft zu signalisieren, was nun folgen würde, und erhob eine Hand, um den Zauberspruch zu beginnen.

Sie führte einige feine Gesten aus und die Lautstärke auf dem Schiff begann, reiner Stille zu weichen. Es war ein alter Assassinenzauber, den sie gelernt hatte, als sie für die Golgari arbeitete, und sie hatte ihn seitdem bei unzähligen Aufträgen verwendet. Der Zauber selbst machte keine Geräusche, war unsichtbar und wirkte sofort. Selbst wenn sie nun so laut schrie, wie sie konnte: Der Zauber würde jedes Geräusch unterdrücken.

Die Streitlustige war nun für jeden außerhalb des Schiffes nicht mehr wahrnehmbar.

Vraska verwendete ihre Signalflaggen, um Befehle an ihre Mannschaft weiterzugeben, statt sie zu rufen. Das Schiff schlug auf ihr Kommando einen Kurs in weitem Bogen um das feindliche Schiff herum ein. Die Legion des Zwielichts hatte sie sicher am Horizont entdeckt, bevor Die Streitlustige verschwunden war, doch nun war ihr Ziel nicht mehr zu sehen und sie segelten in die falsche Richtung.

Vraska grinste Jace an und wandte sich wieder dem Schiff zu. Hervorragende Arbeit, dachte sie.

Jace lächelte und antwortete automatisch mit „Danke, Kapitänin“, dessen Laute jedoch vom Zauberspruch unterdrückt wurden.

Vraska dachte still, dass sie vorsichtiger sein musste. Sie wollte nicht, dass er jetzt schon erfuhr, welche angsteinflößenden Fähigkeiten er noch besaß.

Die Legion des Zwielichts strich die Segel. Vraska hielt zwei Flaggen auf einmal hoch, und Die Streitlustige vollführte auf ihrem Annäherungskurs auf das bewegungslose feindliche Schiff eine scharfe Wende.

Die Streitlustige näherte sich auf eine Schiffslänge der Legion des Zwielichts. Vraska tippte Jace auf die Schulter und erhob eine Hand wie der Dirigent eines Orchesters. Er verstand, was sie meinte und hielt die Illusion aufrecht, die das Schiff unsichtbar machte.

Vraska ballte gleichzeitig die Hand, die in Richtung Jace wies, und erhob eine schwarze Flagge mit der anderen Hand.

Plötzlich war der Stillezauber gebrochen, das Schiff wurde sichtbar und ein Drittel der Mannschaft schrie einen Schlachtruf, während es sich mit Enterhaken an Deck des Schiffs der Konquistadoren schwang.

Die Vampire waren völlig überrumpelt.

Draufgängertum
Draufgängertum | Illustration von Josu Hernaiz

Aus dem Schweigen wurden Chaos und Lärm, als die Mannschaft der Streitlustigen sich auf das Schiff der Legion des Zwielichts schwang. Die Mannschaft des Vampirschiffs zuckte voller Überraschung über den Angriff zusammen. Die meisten Mannschaftsmitglieder wurden schnell überwältigt. Sie schauten die Angreifer ungeschützt und mit weit aufgerissenen Augen an, als die Piraten an Bord des Schiffs kamen. Manche waren schlau genug, ihre Waffe zu ziehen. Sie versuchten verzweifelt, unter dem Angriff von Vraskas Mannschaft Haltung zu bewahren. Das Klirren von Stahl auf Stahl durchschnitt die Luft, und das Deck wurde zu einer Bühne voller Panik und Piraten.

Dann kamen die Vampire an Deck. Ihre Rüstungen glänzten und funkelten, waren akribisch geputzt und von besserer Qualität als die Rüstungen der Mannschaft. Diese Konquistadoren hatten Legenden und Mythen inspiriert: gebildet und grausam, für immer verflucht. Ihre hellen Augen stachen unter goldenen Helmen hervor und ihre Zähne funkelten im Sonnenlicht.

„Was für Vampire sind das?“, rief Jace über den Schlachtlärm hinweg.

Vraska sah ihn mit einem Blick an, als könne das nur ein Scherz gewesen sein. „Du erinnerst dich an Vampire, aber nicht einmal an deinen eigenen Namen?“

„Ich erinnere mich an die wichtigen Dinge“, antwortete er mit dem Anflug eines Lächelns.

Von ihrem Blickwinkel aus konnte Vraska eine Stimme hören, die über all den Lärm hinweg ertönte.

„Heilige Elenda! Verleihe mit die Entschlossenheit, um dieses Meer von allen Sündern zu befreien!“

Sie hört nicht zu, dachte Vraska. Aber ich schon.

Sie rannte das Achterdeck entlang und schoss über den Steg, schob sich durch Vampire und Menschen. Sie hatte einen Entersäbel in der Hand und ihre Haare wanden sich vor Aufregung. Jace folgte ihr in den Kampf. Er beschwor mehrere Kopien seiner selbst, die zügellos durch die Menge der verwirrten Konquistadoren der Legion des Zwielichts rannten.

Die Illusionen dienten als Ablenkung und beschäftigten die Vampire gerade lange genug, dass die Piraten Zeit hatten, sie zu überwältigen.

Nachdem sie sich durch einige angreifende Vampire gekämpft hatte, rief Vraska über all den Lärm: „Bringt mir den Kapitän!“

Als Antwort auf ihren Ruf trat ein Vampir in strahlend goldener Rüstung hervor. Seine Rüstung war aufwendig und überladen, eine Beleidigung für das tropische Klima, in dem sie sich befanden. Er sah Vraska direkt in die Augen und griff mit erhobenem Schwert und gefletschten Zähnen an. Die Gorgo lächelte.

Vraska wich dem Schwert des Vampirs aus und begann, die notwendige Energie zu sammeln, um ihren Gegner zu versteinern. Sie verschaffte sich Zeit, indem sie den Kapitän mit dem Säbel bedrängte.

Der Vampir zischte und spuckte, während er jeden Hieb von Vraskas Säbel mit seiner eigenen Waffe abwehrte.

Vraska zuckte überrascht zusammen, als Jace auf ihrer linken und plötzlich auch auf ihrer rechten Seite erschien. Die zwei Illusionen verwirrten den Vampirkapitän gerade lange genug, um Vraska einen Treffer mit dem Säbel zu ermöglichen. Einem Jace gelang ein Schlag, und Vraska erkannte, dass er wirklich an ihrer Seite kämpfte.

Der Vampir wich aus, parierte und schlug zurück, während er eifrig ein Gebet murmelte und gleichzeitig die Jace-Kopien beobachtete, um herauszufinden, welche Version die echte war.

Jace schrie auf, als der Vampir seinen echten Hals zu fassen bekam. Die andere Version verschwand mit einem Lichtblitz, während der echte Jace die Augen zukniff und versuchte, sich zu befreien. Der Vampir öffnete gerade seinen Mund, als Vraska ihn packte. Sie drängte sich zwischen ihn und Jace und starrte den Kapitän an, während sie die Magie ausströmen ließ, die sie aufgebaut hatte.

Haut und Kleidung des Vampirs wurden unter ihrem Blick zu Stein.

Sie senkte ihren Blick für einen Moment, um die Augen ihrer Mannschaft zu vermeiden, solange der Rest ihrer Magie entwich. Dann sah sie Jace an.

Er hatte sich aus dem Griff des versteinerten Vampirs befreit und sah sie nun voller Überraschung an. Vraska war überrumpelt – nicht etwa, weil sie ihr wahres Ich gezeigt hatte, sondern weil sein Gesicht sie nicht schreckensverzerrt anstarrte; es war vielmehr voller Bewunderung.

Jace hatte keine Angst. Er war erstaunt.

Die überlebenden Vampire gaben auf und knieten unter den wachsamen Augen von Malcolm und Amelia nieder, die sie schnell mithilfe ihrer Magie und einiger Seile und zerrissener Segel fesselten.

„Räumt den Laderaum leer, versenkt alle Waffen und tragt den da zur Streitlustigen“, rief Vraska mit einem Tritt gegen den versteinerten Kapitän. „Ich glaube, wir könnten eine Galionsfigur gebrauchen.“

Die Mannschaft lachte, und Vraska lächelte kurz. Sie drehte sich um und machte sich auf dem Weg auf ihr eigenes Schiff, als die Mannschaft damit begann, die Beute wegzuschaffen.

Der Gedankenmagier hatte sich als geradezu lächerlich hilfreich erwiesen.

Sie ging über den Steg, der die zwei Schiffe miteinander verband, und Jace folgte ihr. Als sie auf ihrem eigenen Schiff angekommen waren, wandte er sich an Vraska.

„Ich hatte keine Ahnung, dass du das kannst!“, bemerkte er.

„Tja … Überraschung“, sagte Vraska und zuckte mit den Schultern.

„Vraska", sagte Jace mit ernster Stimme. „Ich war in Schwierigkeiten und du hast mich gerettet. Vielen Dank.“

Die Gorgo sah ihn verwirrt an. „Du hattest keine Angst?“

Jace schüttelte seinen Kopf.

„Ich glaube, du hast Talent.“

Vraska wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.

Komplimente waren ihr so fremd wie das Fliegen.

Jace war so absurd nützlich gewesen. Vielleicht wäre es das Beste, wenn sie ihn mitnahm und seine Fähigkeiten nutzte.

Damit stand Vraskas Entschluss fest. „Vor langer Zeit dachte ich einmal, dass wir ein gutes Team wären, Beleren, und es sieht aus, als hätte ich recht gehabt. Würdest du dich meiner Mannschaft anschließen und mir bei meiner Mission helfen?“

Jace grinste bis über beide Ohren. Die Neugier des Reisenden verstärkte sein Grinsen noch weiter. „Liebend gern.“


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