Der Planeswalker und Drachenmagier Sarkhan Vol verließ seine Zeit, um über 1.200 Jahre in die Vergangenheit zu reisen und Ugin, den Geisterdrachen, vor dem Tod zu retten. So sorgte er dafür, dass die Drachenstürme weiterhin auf Tarkir tobten und die Drachen gerettet wurden – zumindest hoffte er das. Nachdem er einen magischen Schutzkokon aus Polyedern um den gefallenen Ugin erschaffen hatte, wurde Sarkhan zurück in seine Gegenwart gerissen. Nun wird er sehen, welche Veränderungen seine Handlungen herbeigeführt haben. Wie weit hallte das Echo dieser Ereignisse durch die Geschichte Tarkirs? Und wer wird sich diese neue Welt mit ihm teilen? Wer wird auf einem Tarkir der Drachen zu Ruhm gelangen?


Sarkhan Vol kehrte heim.

Ja. Er spürte es mit unumstößlicher Gewissheit, während er durch die endlosen Ewigkeiten gerissen wurde. Welche Mächte auch immer ihn in der Zeit zurückgeschleudert hatten, hatten sich nun darangemacht, ihn zurückzubringen in die ... wohin eigentlich? Die Zukunft? Die Gegenwart? Das Jetzt? Es war nicht wichtig, wie man es nannte. Es war seine Heimat.

Die Zeit rauschte an ihm vorbei. Zahllose Jahre, ungeahnte Jahrhunderte: Die gesamte Geschichte Tarkirs durchfuhr ihn binnen eines einzigen Herzschlags.

Als sich unter seinen Füßen fester Boden bildete und die Welt um ihn herum Gestalt annahm, atmete Sarkhan zum ersten Mal die Luft des neuen Tarkirs. Sein Magen regte sich ob ihrer reichen Fülle.

Er stand vor dem Polyederkokon, genau dort, wo er auch einen Moment zuvor gewesen war – nein, Hunderte oder gar Tausende Jahre zuvor. Wäre er ein weniger aufmerksamer Mann gewesen, hätte er den Verlauf der Zeit wohl nicht verstanden. Er hätte womöglich angenommen, er wäre nie aufgebrochen. Vielleicht hätte er einen Ohnmachtsanfall vermutet oder auch nur, dass er schlicht die Orientierung verloren hatte. Doch selbst wenn er nicht im Einklang mit den temporalen Kräften und dem Lauf der Geschichte gewesen wäre, hätte er kaum die Hinweise auf dem Kokon selbst übersehen können, die vom Vergehen unzähliger Jahre zeugten.

Hort des Geisterdrachen | Bild von Jung Park

Eis überzog die Seiten der Polyeder, Eiszapfen hingen von den Spitzen und Kanten, Schnee hatte sich in den Zwischenräumen angesammelt, und im frei liegenden Gestein hatten sich im Lauf der Zeit Risse und Rillen gebildet. Alle Anzeichen waren vorhanden und die Wahrheit kaum zu verleugnen: Zeit und Geschichte waren binnen eines Wimpernschlags vor Sarkhans Augen vorübergezogen.

„Ugin.“ Sarkhan sprach den Namen des Geisterdrachen aus. Seine Stimme bebte, als müsste sie in dieser neuen Zeit ihre Zuverlässigkeit erst noch unter Beweis stellen. „Ich bin hier, Ugin. Ich bin hier.“ Mit zitternden Händen tastete er nach dem Kokon.

Einen Augenblick lang antwortete ihm nur das Flüstern des Windes.

Dann erklang über ihm Gebrüll.

Sarkhan richtete den Blick gen Himmel und ein Jauchzen entrang sich seiner Brust – ein ganzer Schwarm! Dort droben kreisten Drachen.

„Haha!“, rief er. „Sieh nur! Sieh sie dir an!“

Seine Hoffnung war nicht vergebens gewesen. Es war geschehen. Der Plan war aufgegangen. Der Splitter des Polyeders, der Ugins Leben gerettet hatte, hatte auch die Drachen von Tarkir gerettet.

Tränen stiegen Sarkhan in die Augen, nass und heiß. Echt. Dies alles war echt.

„Du musst dir das ansehen!“, rief Sarkhan Ugin zu. „Ich habe es geschafft! Die Kette der Ereignisse wurde neu geschmiedet!“

Doch der Geisterdrache rührte sich nicht.

Es war nicht wichtig. Sarkhan war hier. Er warf den Kopf in den Nacken und stieß einen jubelnden Schrei aus, der weithin über das Land hallte. Als sein Echo zu ihm zurückschallte, wurde es zu einem Brüllen. Einem kehligen Brüllen. Dem Brüllen eines Drachen. In seiner Drachengestalt schwang sich Sarkhan Vol zum Himmel hinauf.

Er schoss nach oben – hinauf, hinauf – und gewann so schnell an Höhe, dass es ihm die Haut, die sich ihm übers Maul spannte, schier bis zu den Augen schob. Er schraubte sich mit dem Kopf voran in den Schwarm Drachen über ihm, prallte gegen ihre dicke Haut, flog zwischen ihnen hin und her und wurde von den Luftströmen, die die Schläge ihrer Schwingen aufwühlten, umhergewirbelt.

Er erkannte diese Drachen wieder: Sie hatten Hörner und breite Schultern. Sie gehörten zu jener Brut, die Yasova und ihr Säbelzahntiger angriffen hatten. Damals, vor ... wann? Vor einem Jahrtausend?

Yasova. Die starrsinnige, mächtige Yasova. Was sie getan hatte, war nicht ihre Schuld. Sie hatte nur ihre Rolle gespielt, genau wie er. Er konnte nicht mehr zornig auf sie sein, nicht auf sie und auch auf keinen sonst – jetzt nicht mehr. Nein, dafür fühlte sich alles viel zu richtig an. Sein Geist war klar, seine Gedanken seine eigenen und sein Tarkir voller Drachen.

Drachen!

Bild von Steve Prescott

Sarkhan wollte das Untier neben sich packen, wollte es schütteln und sagen: „Du bist hier! Du bist hier auf Tarkir dank mir!“ Doch seine Drachenlippen vermochten die Worte nicht zu formen. Daher wandte er sich stattdessen zu der Drachin neben ihm um und brüllte mit aller Macht.

Sie blinzelte mit ihrem großen Auge.

Verstand sie? Verstand sie, wie wundervoll, wie berauschend, wie unglaublich es war?

Er stieß triumphierende Laute aus, wieder und wieder, während er kreuz und quer durch den Schwarm flog.

Seine Energie war wie ein Funke in einem Heuhaufen, und er entfachte das Feuer in den anderen Drachen.

Sie fielen in Sarkhans Freudenschreie ein, und ihr Gebrüll vermischte sich mit dem seinen zu einem ohrenbetäubenden Donner. Wo die einen ausatmeten, holten schon die nächsten Luft, und ihr Lärmen gewann immer mehr an Eindringlichkeit und Lautstärke, bis es zu einer alles verzehrenden Kraft wurde, die sich eines jeden Drachen im Schwarm bemächtigte und sie in einem gemeinsamen Augenblick, einem gemeinsamen Atemzug vereinte. Sie brüllten wie ein Drache, und ganz Tarkir erbebte.


Als Sarkhan mit seinem Schwarm durch die Lüfte glitt, nahm er das neue Tarkir in sich auf. So vieles gab es, das er wiedererkannte, so vieles, was ihm vertraut war, und doch war alles anders. Er konnte andere Schwärme in der Ferne sehen. Manche ähnelten jenem gehörnten Schwarm, mit dem er flog, andere unterschieden sich grundlegend von ihm. Es gab schlanke Drachen, die wie Federn auf den Luftströmungen entlangglitten. Es gab Drachen mit dicken Schuppen als Panzerung, die viel tiefer und dicht beieinander flogen. Und dann gab es jene, die sich mehr wie Schlangen verhielten und ihre Zeit in großen Tempeln in den Sümpfen verbrachten, auf die Sarkhan von oben nur flüchtige Blicke erhaschen konnte.

Das Land selbst hatte sich ebenfalls verändert. Wo einst Ruinen und aufgetürmte Drachenknochen gewesen waren, gab es nun Felder und Wälder. Die verschneite Tundra, die in einer anderen Zeit unter einem endlosen Tuch aus Weiß gelegen hatte, war nun nur in Teilen davon bedeckt – große Teile waren schwarz versengt. Drachenfeuer! Sarkhan stieß wirbelnd hinab und sog freudig den Geruch verbrannten Unterholzes in sich ein. Dieses Land hatte sich verändert, weil es hier nun Drachen gab!

Bild von Titus Lunter

Als er zurück zum Schwarm aufstieg, wurde er von nichts Geringerem als dem Anblick eines Drachensturms, der vor ihm losbrach, begrüßt. Aus ihm wurden weitere Drachen geboren.

Sarkhan brüllte ekstatisch auf.

Der Schwarm erwiderte sein Brüllen.

Und die neuen Schlüpflinge fielen in den Ruf ein.

Es war grandios.

Es war alles, was sich Sarkhan je erträumt hatte.

So könnte er ewig leben.

Was für eine Welt! Was für eine Zeit! Was für eine Vollkommenheit!

Doch Sarkhans perfekter Augenblick wurde durch das jähe, harsche Läuten einer Glocke unterbrochen.

Der scharfe, metallische Klang, der unablässig erschallte, schnitt wie eine Klinge durch den Schwarm. Die Drachen stoben auseinander und stießen drängende Schreie aus. Sarkhan wurde von Schnauzen, Flügeln und stämmigen, auskeilenden Beinen umhergestoßen.

Er spürte ihre Angst und konnte nicht verhindern, dass sie auch ihn ergriff. Aber eine Glocke, dachte er, konnte doch einen Schwarm solch mächtiger Drachen nicht derart in Aufruhr versetzen, oder?

Er spähte in die Richtung, aus der das störende Geräusch kam. Dort am Boden, mitten in etwas, das wie ein karges Lager der Mardu aussah, stand jemand und läutete eine Glocke.

Ein einfacher Mensch. Oder war es ein Ork? Selbst wenn. Welche Bedrohung könnte solch ein unbedeutendes Wesen für einen Schwarm wie diesen darstellen?

Die Antwort kam noch im selben Augenblick. Einem Lavaausbruch gleich stieg eine Wolken von Drachen aus dem Lager auf und schoss gen Himmel.

Ihre Schwingen schlugen im Takt der Glocke – der Glocke, die ein Ork der Mardu läutete. Selbst in seinem alarmierten Zustand kam Sarkhan nicht umhin, Begeisterung zu empfinden. Drachen und Klanmitglieder, die in einem Lager zusammenlebten. Drachen und Klanmitglieder, die zusammenarbeiteten! Es war so, wie es sein sollte.

Doch seine Freude währte nicht lange, denn die Drachen des Mardu-Schwarms, eine fünfte, einzigartige Brut, die er noch nie zuvor gesehen hatte, waren schneller als ein Hagel Brandpfeile.

Der Angriff wurde von einer uralten Drachin angeführt, deren Gesicht von ledrigen Fransen umrahmt wurde, und von deren Maul und Rücken Hörner aufragten. Sie war für Schnelligkeit gebaut, denn ihr Körper wirkte sehnig und straff, ihre Schwingen stark .. und sie hielt genau auf Sarkhan zu.

Bild von Jaime Jones

Einen Augenblick lang stand die Zeit still. Sarkhan blickte der großen Drachin in die Augen. Er erkannte ihr Gesicht, die Form ihres Mauls, den Schwung ihres Kiefers. All das wirkte so vertraut. Doch wie konnte das sein? Er hatte diese Drachin nie zuvor gesehen. Wie konnte er auch? Und doch ... als er zu ihr hinunterlugte, rief das Läuten der Glocke ein Bild in ihm wach. Eine Erinnerung aus der Zeit davor. Einen winzigen Moment lang sah Sarkhan die beiden Tarkirs wie ineinandergeflossen vor sich. Das, was da auf ihn zuschoss, war sowohl der Drache dieses Jetzt, aus Fleisch und Blut und Schuppen, und der Drache jenes Jetzt, das für immer verloren war, nichts weiter als ein leerer, verwesender Schädel – der Thron eines Khans. Daher kannte er diese Drachin.

Oh, wie hatte die Welt sich verändert!

Drachenthron von Tarkir | Bild von Daarken

Ein wildes Brüllen ließ beide Geschichten wieder zu einer verschmelzen, und Sarkhan schüttelte den Bann ab – gerade noch rechtzeitig, um aus dem Weg der uralten Drachin zu schlüpfen. Während sie ihren Schwarm höher in den Himmel hinauf führte, trudelte er dem Boden entgehen. Er war klein genug, dass sie ihn übersehen konnte, klein genug, nicht beachtet zu werden, und dafür war er dankbar. Er wollte nicht gegen diese Drachin kämpfen.

Mit pochendem Herzen und rasenden Gedanken landete Sarkhan und nahm am Rand des Lagers seine menschliche Gestalt an. Er suchte unter einem Felsvorsprung Schutz, während die beiden Drachenschwärme über ihm aufeinanderprallten. Während er dem Klang ihrer Leiber lauschte, wie sie gegeneinanderkrachten, sonnte er sich in der dämmernden Erkenntnis dessen, was er vollbracht hatte. Diese Drachen waren nur dank seines Handelns hier. Selbst der mächtigste unter ihnen schuldete sein Dasein Sarkhan Vol. Er hatte dieses Tarkir erschaffen. Er hatte es erschaffen, und es war wundervoll.

„Eindringling! Eindringling!“

Sarkhan schreckte beim Klang der Stimme zusammen. Sie kam von unten statt von oben.

„Eindringling! Greift an!“ Ein wütender Goblin stürmte aus dem Gebüsch zu seiner Rechten. Ein weiblicher Goblin, den Sarkhan wiedererkannte.

„Knöchelkerber?“

Sie war anders gekleidet, als er es in Erinnerung hatte. Sie trug keinen Umhang und hielt eine rundliche Phiole statt ihrer Klinge, aber sie war es. Ohne jeden Zweifel! Sarkhans Herz machte bei ihrem Anblick einen Sprung – sie in dieser Zeit zu sehen! In seinem neuen Tarkir! Lebendig noch dazu!

„Knöchelkerber!“ Sarkhan rannte unter dem Felsvorsprung hervor und öffnete die Arme, sodass die wütende Goblinfrau mitten in sie hineinrannte. Er konnte seine Freude nicht verhehlen. Er wirbelte sie überschwänglich herum. „Du bist hier! Du lebst! Genau wie die Drachin.“

„Lass mich runter! Wahnsinniger! Wahnsinniger! Lass mich runter!“

„War es ein Drache, der dich gerettet hat? So muss es gewesen sein! Oder war dein Leben in dieser Zeit nie in Gefahr?“

„Eine Gefahr! Eine Lebensgefahr!“ Knöchelkerber spuckte Sarkhan ins Gesicht. Ihr warmer Speichel tropfte ihm vom Kinn. „Das Leben des Wahnsinnigen ist zu Ende! Lass Flaschenbrecher los! Sofort!“

„Dein Name! Haha! Selbst dein Name hat sich verändert!“ Sarkhans Gedanken rasten, um das alles zu entwirren. Eine Million Veränderungen, Unterschiede, Einzelheiten ... „Warte mal. Du sagst, ich sei ein Eindringling? Du kennst mich nicht?“

„Eindringling!“ Knöchelkerber alias Flaschenbrecher biss ihn. Sie grub ihm die breiten, flachen Zähne in die Haut an seinem Handgelenk und malmte mit der ganzen Kraft ihrer Kiefer.

Er schleuderte sie von sich und schrie vor Schmerz auf. Doch sein Schrei wandelte sich zu einem freudigen Lachen. „Du bist sogar noch stärker, als du es vorher warst. Du bist stärker! Und du bist am Leben!“

„Irrer! Gestörter! Bleib zurück oder Brecher bricht was!“ Flaschenbrecher schüttelte die Phiole in ihrer Hand. Die Haare auf ihren Armen waren hoch aufgerichtet, als wären sie geladen.

Sarkhan wurde klar, dass dies von der leuchtenden Flüssigkeit in der Phiole herrührte. Er erkannte sie. Sie trug eine Phiole voll ...

„Drachenfeuer“, flüsterte Sarkhan. „Sie teilen es mit euch? Die Drachen geben dem Klan ihr Feuer? Das ist großartig! Alles ist so großartig!“

„Brecher bricht was!“ Sie machte sich zum Wurf bereit.

„Nicht!“, sagte Sarkhan. Doch zu spät.

Die Goblinfrau warf die Phiole.

Bild von Franz Vohwinkel

Als sie am Boden zersprang, nahm Sarkhan seine Drachengestalt an und warf sich vor Flaschenbrecher. Er breitete seine Schwingen wie einen schützenden Schild vor ihr aus.

Ihre Rufe erstarben auf der Stelle und Sarkhan spürte, wie sie unter ihm zitterte. Er blickte auf sie hinab, als er sich wieder in einen Menschen verwandelte.

Sie lag bäuchlings vor ihm. „Drachenmann.“ Sie spähte zu ihm auf und wandte den Blick gleich wieder ab. „Nicht schmettern. Brecher wird Drachenmann nicht brechen. Brecher wusste es nicht. Brecher tut es leid. Tu Brecher nicht weh.“ Sie wich zurück. Ihr Blick huschte umher, als suchte sie nach irgendeiner Fluchtmöglichkeit.

„Was ist denn hier los?“ Die donnernde Stimme eines Orks ließ sie beide herumfahren. „Ich sah einen Blitz aus Drachenfeuer, aber ich weiß, dass alle Drachen am Himmel sind. Was habe ich dir über das Verschwenden von ...“ Der Ork unterbrach sich, als er Sarkhan bemerkte.

Und Sarkhan stockte der Atem. Zurgo.

Zurgo schnaubte. „Sag mir ja nicht, Flaschenwerfer, dass du Drachenfeuer an dieses jämmerliche Abbild eines Räubers verschwendet hast.“

„Brecher! Flaschen-Brecher, nicht Werfer! Zurgo Glockenschläger weiß das!“ Die Goblinfrau ballte die Faust und knurrte. „Zurgo Glockenschläger böser Ork. Böse!“

„Glockenschläger?“ Sarkhan zögerte. „Zurgo Glockenschläger?“ Er blickte von Zurgo zu Flaschenbrecher und wieder zurück. „Er ist ... du bist der Glockenschläger?“ Als sein Blick auf Zurgos Schwert fiel, wusste er, dass es wahr war. Die Klinge war stumpf. Nicht vom Krieg, sondern vom Schlagen einer großen metallenen Glocke. Zurgo war die Gestalt, die Sarkhan von oben gesehen hatte.

„Ha!“, rief Sarkhan aus.

„Du wagst es, mich auszulachen, du Wicht?“

Sarkhan fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, während er die einzelnen Steinchen dieses Mosaiks zusammensetzte. „Aber du warst Helmbrecher. Du warst ...“

„Nicht Brecher. Er Glockenschläger“, unterbrach ihn die Goblinfrau. Sie deutete auf sich selbst. „Ich bin Brecher.“

Sarkhan beachtete sie nicht. Er musterte Zurgos Gesicht. „Einst hast du die Mardu angeführt.“

„Genug!“, grollte Zurgo. „Ich habe genug von deinen Frechheiten.“

„Mardu wer?“, fragte Flaschenbrecher.

„Euren Klan. Unseren Kriegerklan“, sagte Sarkhan. „Wer ist jetzt Khan?“

„Kein Khan! Sag nicht Khan!“ Die Goblinfrau warf sich auf Sarkhan und hielt ihm den Mund zu. „Kolaghan Drachenfürstin tötet Khan-Sager.“

„Drachenfürstin“, wiederholte Sarkhan durch Flaschenbrechers heiße Hand hindurch. Sie klammerte sich nun an seine Seite. „Es gibt Drachenfürsten und keine Khane?“

„Sag nicht Khan!“, flehte die Goblinfrau.

„Geh weg von ihm, Werfer“, spie Zurgo aus und schubste sie weg. „Ich sage, lass den Mann es doch aussprechen, wenn er sterben will. Mach weiter, Fremder, ruf deine Worte in den Himmel. Stoß Kolaghan selbst vor den Kopf.“

Bild von Jason Rainville

Ein mulmiges Gefühl breitete sich in Sarkhans Eingeweiden aus. „Du glaubst auch, dass ich ein Fremder bin?“, fragte er. „Du kennst mich nicht, Zurgo?“

„Woher sollte ich einen nichtsnutzigen Landstreicher kennen?“

„Ich bin kein Landstreicher. Ich bin ... wie kannst du das vergessen haben? Wie kannst du das nicht wissen? Ich bin Sarkhan Vol!“

„Sag nicht Khan, sag nicht Khan.“ Flaschenbrecher hielt sich die langen Ohren zu und wiegte den Oberkörper vor und zurück.

„Vol?“ Zurgo lachte. „Ist das ein schwächlicher Atarka-Name?“

„Nein, es ist mein Name.“ Sarkhans Stimme war leise. „Sagt er dir denn gar nichts?“ Im Gesicht des Orks zeigte sich nicht das geringste Erkennen. Wie konnte das sein? Alles war anders, ja, aber wie anders? Wie konnte niemand ihn kennen? War es möglich, dass dies Sarkhans erste Augenblicke hier in dieser Zeit waren? War seine alte Vergangenheit verloren gegangen, als er sich ein neues Jetzt erschaffen hatte?

„Vol ist ein jämmerlicher Name für einen jämmerlichen Menschen. Vol wird schnell fallen.“

Sarkhan hörte Zurgos Stimme wie von Weitem. Sein Geist war zu beschäftigt, die Knoten der Zeit zu entflechten und die Verwicklungen dessen, was er getan hatte, nachzuvollziehen.

Zurgo hob die Klinge, während Sarkhan seine Drachenform annahm, ohne groß darüber nachzudenken. Seine Aufmerksamkeit blieb kurz an der stumpfen, nutzlosen Waffe des Orks haften. Die Klinge eines Glockenschlägers. „Doch einst warst du Khan“, sagte er, als er sich verwandelte. Oder vielleicht dachte er es auch nur, da Flaschenbrecher nicht protestierte.

Sowohl der Ork als auch die Goblinfrau standen wie erstarrt da, als Sarkhan sich in die Luft schwang.

Erst als er den Gipfel des ersten Berges erreicht hatte, hörte er das Läuten von Zurgos Glocke in der Ferne.


Gedanken schwirrten zusammenhanglos durch Sarkhans Kopf, während er träge über den Himmel Tarkirs zog. Dies war sein Tarkir. Das Tarkir, das er erschaffen hatte. Und dennoch kannte ihn hier niemand.

Es war, als würde er nicht existieren. Als hätte er keine Vergangenheit.

Sein Magen rumorte, und für einen Moment glaubte er, vom Himmel hinabspeien zu müssen. Er schluckte den Drang hinunter und versuchte, seine wirren Gedanken zu ordnen.

War es wichtig?

War es denn tatsächlich von Bedeutung, dass man ihn nicht kannte?

Nun war er hier, oder etwa nicht? Und Tarkir war perfekt. Das war es, was zählte.

Selbst wenn niemand ihn hier kannte und selbst wenn er selbst hier keine Vergangenheit hatte, so hatte doch Tarkir eine wundervolle Geschichte – und das war sein Verdienst.

Die Drachen hatten überlebt – nein, sie waren aufgeblüht. Genau wie die Klane. Flaschenbrecher war der Beweis dafür. Hier war sie am Leben, während sie in einer anderen Zeit den Tod gefunden hatte. Bei diesem Gedanken stockte Sarkhan der Atem und seine Schwingen hörten auf zu schlagen. Wenn Flaschenbrechers Schicksal verändert worden war und das Zurgos und das der großen Drachen, dann vielleicht auch das einer anderen? Vielleicht auch das von ... Narset?

Ja! Narset!

Natürlich. Es lag doch auf der Hand. Warum hatte er nicht früher daran gedacht? Zurgo würde sie in dieser Zeit nicht getötet haben, nicht mit dieser stumpfen, nutzlosen Klinge. Ihre Wege hätten sich nie an dieser Schlucht gekreuzt. Sie hätte Sarkhan nie dorthin geführt. Und sie hätte nie ihr Leben gegeben. Sie würde noch da sein. Am Leben!

Sarkhan riss sich aus dem Sinkflug, in den er in seiner Erstarrung übergegangen war.

Narset! Er rief den Namen über das Land hinaus.

Diese Welt, das Wunder, das Gleichgewicht, die Makellosigkeit – Narset würde das alles kennen. Sie würde sich daran erfreuen. Und er würde ihr sagen können, dass er all dies getan hatte.


Sarkhan machte sich in das Gebiet der Jeskai auf. Er war sicher, Narset dort zu finden, denn in einer anderen Zeit war sie Khanin über all das, was sich entlang des Flusses erstreckte. Doch bei seiner Ankunft erfuhr er, dass ein Drache namens Ojutai an ihrer Stelle herrschte. Drachen schienen über alles in diesem Jetzt zu gebieten. So sollte es sein.

Sarkhan erfuhr von Ojutais Untertanen, dass der schlanke, behände Drache das älteste und weiseste Wesen auf ganz Tarkir war. Jene, die in seinem Gebiet lebten, nannten ihn den Großen Lehrmeister und brachten ihm tiefe Ehrfurcht entgegen, da sie allesamt nach seiner Erleuchtung strebten. Im Gegenzug achtete der Drache seine Schüler. Er lehrte sie, was er wusste, teilte seine Erkenntnisse und seine Weisheit mit ihnen, um einem jeden von ihnen zu helfen, klüger und listenreicher zu werden.

Sarkhan wusste, dass von allen Schülern Ojutais Narset die beste sein würde. Sie würde an der Spitze stehen. Und natürlich hatte er recht. Er folgte ihrem Namen höher und höher, immer näher zu Ojutais Hort. Die Wohnstatt des Drachen befand sich auf der Spitze eines Turms, den Sarkhan als Felsenburg wiedererkannte. In dieser Zeit hieß sie jedoch Drachenaugenzuflucht.

Und je höher er stieg, desto richtiger fühlte sich das alles an. Hier musste sie sein: Narset am höchsten Punkt des Landes, Narset am Himmel mit den Drachen. Sein Innerstes machte einen Freudensprung bei dem bloßen Gedanken daran.

Bild von Florian de Gesincourt

Als Sarkhan die höchste Kammer erreichte, hielt er sie zunächst für leer. Doch aus dem Augenwinkel erhaschte er eine leichte Bewegung – eine Brust, die sich in einem flachen Atemzug hob. Eine Gestalt saß dort am anderen Ende des Raums in meditativer Haltung, reglos wie eine Statue. Beinahe wäre er hinübergerannt, um sie zu umarmen, doch dann bemerkte er, dass es nicht Narset war. Er stockte. „Wer bist du?“ Ohne nachzudenken stieß er die Worte hervor.

Die Gestalt hob den Kopf, und Sarkhan erkannte die Gesichtszüge eines Mannes. Er war makellos – er war genau das, was ein Mensch, der von Drachen ausgebildet worden war, zu sein hatte. Er strahlte Macht aus.

„Ich bin Meister Taigam.“ Die Worte des Mannes klangen so glatt wie die Haut auf seinem Kopf. „Und du bist ein Schüler, der nach Wissen und Weisheit sucht. Du hast einen langen Weg hinter dir, Wanderer. Willkommen in der Drachenaugenzuflucht.“

„Nein, ich ... ich bin kein Schüler. Ich bin hier, um sie zu finden. Wo ist sie?“ Sarkhan blickte sich ein zweites Mal in der Kammer um, doch in dem sauberen, offenen Raum gab es nirgends ein Versteck. „Geht es noch höher?“ Er blickte nach oben.

„Höher?“ Meister Taigam lachte leise vor sich hin. „Höher ist nichts außer Ojutai selbst.“

„Wo ist dann Narset?“

Meister Taigams Augen weiteten sich um eine Winzigkeit und schlossen sich dann langsam. So verharrten sie so lange, bis es sich unbehaglich anfühlte.

Sarkhans Aufregung wurde zu Zweifel und dann zu Sorge. Er wartete, bis er sich schließlich nicht mehr beherrschen konnte. „Kennst du sie? Narset? Ich muss sie finden. Sie wird es verstehen. Sie wird alles verstehen.“

Meister Taigams Augen öffneten sich noch langsamer, als er sie geschlossen hatte. Kaum merklich drehte er den Kopf, um Sarkhan in die Augen zu blicken. „Narset ist auf dem Drachenauge nicht willkommen. Sie war eine Ketzerin und wurde dafür mit aller Härte des Gesetzes zur Rechenschaft gezogen. Suche nicht hier nach ihr. Sie ist längst fort.“

„Fort? Wohin? Du musst es mir sagen.“

Meister Taigam atmete ruhig aus. „Narset ist nicht mehr.“

„Ist nicht mehr?“ Alles Blut wich aus Sarkhans Kopf. Er taumelte. „Aber das kann nicht sein.“

„Es ist, wie es ist.“ Meister Taigams Lippen bebten. „Sie hat ihr Schicksal gefunden. Und jedem, der eine Ketzerin sucht, wird es ebenso ergehen.“

„Sie ist keine Ketzerin. Sie ist ... sie ist alles.“

„Ich will nichts mehr davon hören.“ Meister Taigam schwang seine Hand in einer Geste, die derart mächtig war, dass sie Sarkhan zur Tür schob.

Er griff nach der Wand und versuchte, Meister Taigams Macht standzuhalten. „Du verstehst nicht. Sie muss hier sein. Dies ist ihre Welt. Eine Welt voller Drachen - für sie!!“

„Hinfort, Ketzer!“ Mit einer weiteren Geste wurde Sarkhan zur Tür hinausgeschleudert und taumelte die Stufen hinab.

Bild von David Gaillet

Sarkhans Geist geriet ins Wanken, während ihn seine wackligen Knie weiter vorantrugen – hinab, hinab, hinab. Er wusste nicht, welche Kraft ihn nun antrieb – Meister Taigam oder seine eigene Angst.

Das konnte nicht sein. Narset hätte nicht sterben sollen. Nicht dieses Mal. Nicht auf diesem Tarkir.

Es gab Drachen.

Er stolperte ins Licht hinaus und bahnte sich unbeholfen einen Weg über einen Marktplatz.

Das konnte nicht sein.

„Nein.“ Er schüttelte den Kopf und raufte sich die Haare. „Nein, nein, nein.“ Er begann zu rennen. Er musste laufen. Er musste hier weg. Er musste das ändern. „Nein!“

Mit einem Aufschrei verwandelte sich Sarkhan in einen Drachen und schwang sich in die Luft.

Wenn Flaschenbrecher am Leben war, wenn längst gestorbene Drachen über den Himmel zogen, wenn Khan Zurgo ein Glockenschläger war, dann musste Narset hier sein. Sie musste hier sein.

Als er über Tarkir hinwegflog, vermochte Sarkhan nicht, nach unten zu blicken. Die Welt, die ihm so makellos und so glanzvoll erschienen war, wirkte nun trostlos und leer. Ohne sie war dieser Ort nichts.

Sarkhan brüllte zornig auf. Wie konnte sich das Schicksal so gewandelt haben? Die Kette hätte neu geschmiedet werden sollen. Sein Atem, der Ugin gerettet hatte, sollte ...

Ugin.

Sarkhans aufgewühlter Geist klammerte sich an dem Gedanken an den Geisterdrachen fest.

Ugin würde es wissen. Ugin, dessen Stimme Sarkhan durch die Zeiten geführt hatte. Ugin, dessen Macht in diesem Jetzt aufblühte. Ugin würde es wissen.

Ja.

Ugin würde wissen, wie alles gut werden würde.

Mit neuer Entschlossenheit schlug Sarkhan mit den Schwingen. Es war Zeit, den Geisterdrachen zu wecken.


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