Die Chensal-Zwillinge
Ein Dieb steht vor Gericht. Ein Dorf der Jeskai ist bereit, Gerechtigkeit walten zu lassen. Doch wahre Gerechtigkeit kennt nur einen Ursprung.
„Sie sind hier! Sie sind hier!“
„Die Zwillinge!“
„Schnell!“
Der Singsang von Stimmen und das Trappeln kleiner Füße weckten Kelas Aufmerksamkeit. Sie ließ den Blick wandern, wobei sie den Kopf kerzengerade hielt und Schritt für Schritt an Dars Seite blieb.
Eine Handvoll Kinder aus dem Dorf Jigme rannte am anderen Ufer des plätschernden Flusses auf sie zu.
„Glaubt ihr, sie sagen, er ist schuldig?“, fragte der Junge ganz vorn die anderen hinter ihm.
„Er ist schuldig!“, sagte ein pausbäckiger Junge mit roten Wangen. Er lief an dem anderen Jungen vorbei.
„Woher willst du das wissen?“, fragte ein keuchendes Mädchen, dem glatte, schwarze Strähnen in die Stirn hingen.
„Ich weiß es eben, weil ...“ Der pausbäckige Junge blieb plötzlich stehen. „Ohhh!“ Staunend zeigte er Kela und Dar auf die Stirn. „Seht mal!“
Die anderen schlossen zu ihm auf und starrten unverhohlen.
„Das Auge des Drachen““, sagte der erste Junge ehrfürchtig.
„Die Male sind so hell!“, sagte das Mädchen mit den Strähnen.
„Sie tun mir in den Augen weh!“ Der pummelige Junge hielt sich schützend die Hände vors Gesicht.
„Das ist doch lächerlich.“ Diese Stimme, ein verärgertes Murmeln, kam irgendwo von Kelas anderer Seite.
Kela schaute hin, ohne den Kopf zu bewegen. Fast hätte sie das Mädchen im Baum nicht gesehen, wären da nicht die glitzernden Augen des Kindes gewesen. Sie waren klar und klug und folgten jeder von Kelas und Dars Bewegungen.
„Das ist ein Symbol für Strategie“, sagte eines der Kinder am anderen Ufer.
Das Mädchen im Baum verdrehte die Augen. „Listigkeit. Das Auge des Drachen ist ein Symbol für Listigkeit.“ Es flüsterte, kaum laut genug, dass Kela die Worte hörte.
„Es bedeutet, dass sie richtig gut kämpfen können“, sagte eines der anderen Kinder.
„Falsch“, sagte das Mädchen im Baum. „Es bedeutet, sie beschreiten einen Pfad der Erleuchtung.“ Es berührte die eigene Stirn, eine Geste, die vertraut und geübt wirkte. „Einen Pfad, der sie hierherführte. Einen Pfad, der uns alle an jene Orte und in jene Zeiten führen wird, wo man uns am dringendsten braucht." Es schloss die Augen und senkte den Kopf zu einer Verneigung.
Wie sehr Kela sich wünschte, diese Worte wären wahr gewesen. Sie fühlte sich nicht, als wäre sie auf einem Pfad. Vielmehr schien es ihr, als wanderte sie nur ziellos Dar hinterher.
Plötzlich gab der Ast unter dem Mädchen mit einem scharfen Knacken nach.
Kela stockte der Atem.
Das Mädchen reagierte noch vor Kela. Es schnellte herum und schlug einen Purzelbaum, als wäre das ganze Schauspiel geplant gewesen. Lautlos und geduckt wie eine Katze landete es am Wegesrand. Sein stechender Blick traf den Kelas. Ertappt stand es auf und lächelte schüchtern.
Kela zwang die Lippen in diese für sie ungewohnte Haltung und erwiderte die Geste.
„Was machst du denn?“ Dars Stimme riss Kela aus ihrem Grinsen.
Ihr Blick richtete sich nach vorn. „Nichts. Ich habe nur ...“
„Sei. Still.“
„Wir sind noch nicht einmal im Dorf.“
„Es sind doch Dörfler hier, oder nicht?“
„Das sind doch nur Kinder, Dar.“
„Und sie können sehen, wie du sprichst.“
„Sie können sehen, wie du sprichst. Du hast zuerst ...“
„Genug. Du sollst keine Gefühle zeigen. Bei dem, was wir tun, geht es allein darum, wie man uns wahrnimmt, Kela. Wann begreifst du das endlich?“
„Bei dem, was wir tun, geht es um Gerechtigkeit, Bruder.“
„Eine Gerechtigkeit, die die Jeskai nur wegen der Art und Weise annehmen, wie wir wahrgenommen werden. Wird diese Wahrnehmung erst einmal befleckt, so werden es auch bald unsere Erlasse sein. Ist es das, was du willst?“
Die Frage fühlte sich nach einer Falle an. Kela wagte es nicht, den Kopf zu schütteln oder eine Antwort zu geben, denn auch dies wirkte auf sie wie ein Teil der Falle. Glücklicherweise nahm ihr ihre Ankunft an den Toren des Dorfes die Entscheidung ab.
Die Bewohner Jigmes hatten sich zu beiden Seiten der Brücke jenseits der Tore aufgereiht. Augen wurden weit aufgerissen und Münder standen nicht minder weit offen, als sich Kela und Dar näherten.
Es war eine schmale Brücke, und ob der Dörfler zu beiden Seiten war sie nur breit genug für einen von ihnen. Dar ging voran. Dar ging immer voran. Seit dem Tag ihrer Geburt tat er alles zuerst. Obwohl sie Zwillinge waren, war er zuerst geboren, einen ganzen Tag vor ihr. Er am Abend des einen Tages und Kela am Morgen des folgenden.
Im Morgenlicht geboren worden zu sein, war der Grund, weshalb sie die Unschuld war. Und Dars Geburt im Dunkel der Nacht machte ihn zur Schuld. Zumindest sollte es so sein. So und nicht anders.
Ein Gongschlag ertönte vom Dorfplatz her. Kela fühlte seinen Nachhall in der Brust. Sie folgte ihrem Bruder durch das Spalier schnatternder Dörfler zum größten Platz in Jigme. Auf dem Weg dorthin schnappte sie Bruchstücke von Klatsch, Verunglimpfungen und Misstrauen auf.
„... so schuldig, wie das Wasser nach Süden fließt ...“
„... brauchen keine Schlichter-Zwillinge, um uns das zu sagen ...“
„... er hat nicht mal die Stufen der Initiation erklommen.“
„Welche Art von Mensch ...“
Gemeinsam stiegen Kela und Dar drei flache Stufen hinauf und standen auf einer niedrigen hölzernen Plattform auf dem Dorfplatz.
Die Dorfälteste – eine Frau mit einem strengen, weißen Zopf, der ihr bis zu den Fersen reichte – verneigte sich vor ihnen. Eine atemlose Stille legte sich über die Dörfler.
„Willkommen in Jigme.“ Die Stimme der Ältesten war brüchig. „Ich bin die Älteste Ngabo. Ihr ehrt uns mit eurer Anwesenheit, Schlichter-Zwillinge.“ Sie verneigte sich lang und tief. „Möge der Gerechtigkeit heute Genüge getan werden.“
„So verlangen es die Regeln des Schilfs.“ Dar und Kela erwiderten die Verneigung, Dar ein wenig tiefer als Kela.
Kela entrüstete sich stumm.
Sie sollten einander ebenbürtig und im Gleichgewicht sein. So wurde schließlich die Gerechtigkeit gewahrt: indem die Unschuld der Schuld in jeder Hinsicht glich. So wie sich der einen Tag vor ihr geborene Dar jedoch ständig über sie erhob, war es ein Wunder, dass sie überhaupt der Gerechtigkeit dienen konnten. Kela dachte oft, dass sie das vielleicht in Wahrheit auch gar nicht tun sollten, weder gemeinsam noch sie für sich allein.
„Kommt“, sagte die Älteste Ngabo, als sie sich erhob. „Es ist Zeit.“
Wie alle Gerichtsgebäude in den kleinen Dörfern der Jeskai war jenes in Jigme sorgfältig gepflegt. Die Böden sahen aus, als wären sie erst vor Kurzem gefegt worden, und die passenden Kissen, die man für Kela und Dar bereitgelegt hatte, wirkten, als hätte man sie frisch bestickt. Kela hatte gehört, dass Jigme für die Anfertigung erlesener Stoffe bekannt war.
Während sie sich in das weiche Kissen niederließ, schweifte ihr Blick durch den Gerichtssaal. Er war klein und bot nur einem Dutzend Dörflern Platz, die Geschehnisse zu verfolgen. Das störte sie kaum. Unter der genauen Beobachtung zu vieler Augenpaare fühlte sie sich ohnehin nur wie eine Betrügerin.
„Diese Verhandlung wurde unter den Augen des Drachen der Chensal-Zwillinge eröffnet“, wandte sich die Älteste Ngabo an die kleine Zuschauerschaft. „Heute hören wir den Fall von Lotse Taring gegen das Dorf Jigme.“ Sie streckte den Arm aus und winkte einem bulligen, hochgewachsenen Mann zu, der mit gesenktem Kopf an der Wand stand. „Möge der Gerechtigkeit heute Genüge getan werden.“
„So verlangen es die Regelns des Schilfs“, riefen die Dörfler aus.
Dann senkte sich Stille über den Raum. Kela und Dar begannen des Ritual der Schlichter-Zwillinge. Durch eine Reihe langsamer, präziser Bewegungen und einen kehligen, sonoren Singsang versetzten sie sich in tiefe Meditation. In diesem Zustand würden sie dem Verfahren beiwohnen, verbunden miteinander, mit der Wahrheit, mit der Gerechtigkeit und mit dem Weg der Drachen.
Die Verhandlung fuhr um sie herum fort. Lotse Taring wurde angeklagt und verteidigte sich. Der Fall schien recht eindeutig. Der Mann wurde des Diebstahls bezichtigt. Neun Körbe voll Äpfel waren aus der Vorratskammer des Dorfes entwendet worden. Drei davon hatte man in Lotses Unterkunft gefunden, weniger als eine halbe Tagesreise von Jigme entfernt. Sechs weitere waren nicht allzu weit vom Dorf entfernt leer wieder aufgetaucht, und viele wandernde Jeskai, die oft Hunger litten, hatten in den darauffolgenden Tagen an so manchem Wegesrand Kerngehäuse fallen lassen.
Lotse gab zu, den Hungernden Nahrung gegeben zu haben, behauptete jedoch auch, dass das Obst ihm zur freien Verfügung gestanden hätte.
Die Stimmen wuschen über Kela hinweg und wiegten sie sanft, als sie noch tiefer in ihrer Meditation versank.
Träge wirbelte Lotses Stimme um sie herum.
Kela fiel noch tiefer.
Die Worte der Ältesten Ngabo tanzten ihr auf den Augenlidern.
Ihre Gedanken begannen abzuschweifen.
Die Dörfler rumorten.
Und Kela fand sich an jenem Ort wieder, an dem die Gerechtigkeit wandelte.
Als sie aus ihrer Meditation erwachte, wurde sich Kela langsam ihrer Umgebung gewahr. Sie befand sich im Turm der Unschuld von Jigme. Die Verhandlung war beendet. Man hatte sie in die Spitze des Turmes hinaufgetragen, während sie noch in ihrer Meditation versunken gewesen war, ganz wie es dem alten Brauch entsprach.
Sie stand vor dem Augenblick der Urteilsfindung.
Dieser Augenblick sollte von reinster Klarheit bestimmt sein, ein Moment, den allein Schlichter-Zwillinge zu erfahren vermochten. Sie sollte die Augen öffnen und das Urteil kennen, da sie Lotses Schuld oder Unschuld in ihrer Seele spürte.
Doch das Einzige, was sie spürte, war die Last der Täuschung. Ihrer Täuschung. Sie fühlte sie in jedem Turm der Unschuld in jedem Dorf der Jeskai, das sie mit Dar besuchte. Sie war eine Betrügerin.
Als sie zu der Öllampe in der Mitte des Turmes blickte, zog sich ihr der Magen zusammen. Es war an ihr, darüber zu entscheiden, ob sie die Lampe entzünden wollte oder nicht. Nein, es war an ihr, genau darüber Gewissheit zu haben. Doch das hatte sie nicht.
Sie stand auf und begann, in dem kleinen Raum umherzugehen. Es war nicht viel Zeit. Bald würde der Gong ertönen, und dann würde sie handeln müssen. Dar würde ebenfalls handeln. Er würde die Lampe im Turm der Schuld entzünden oder eben nicht. Doch anders als sie würde Dar unzweifelhaft wissen, was er zu tun hatte. Er wusste es immer.
Kela versuchte, an die Verhandlung zurückzudenken und all die Einzelheiten zu sortieren, die ihr durch den Kopf schwirrten. War Lotse unschuldig? Es schien möglich. Vielleicht. Vielleicht sollte sie ihre Lampe entzünden. Ja, das würde sie tun.
Sie versuchte, Vertrauen in ihre Entscheidung zu fassen. Das war das ganze Geheimnis, wie ihr Mentor in der Cori-Bergfeste nicht müde geworden war zu betonen. „Du musst an dich glauben, an das, was du in deinem Innersten fühlst, denn dort liegt die Wahrheit.“
Sie versuchte zu glauben. Sie musste daran glauben, denn wenn sie sich irrte ...
Nur eine Flamme konnte brennen. Solange es sie gab, hatten Schlichter-Zwillinge bei jeder Verhandlung immer nur eine Flamme entzündet. Zwillinge sprachen nicht miteinander; es war ihnen nicht erlaubt, einander zu sehen; ihre Türmen waren getrennt; und dennoch wurde immer nur eine Flamme entzündet. Niemals zwei, niemals keine. So wussten die Dörfler, dass Gerechtigkeit waltete.
Der Gong ertönte.
Kela griff nach dem Feuerstein, um ihn zu benutzen, doch dann hielt sie inne.
Nein, sie sollte die Lampe nicht entzünden. Nein, er war schuldig.
Oder?
„Ach, ich weiß es nicht.“ Sie hielt den Atem an und umklammerte den Feuerstein in ihrer Faust. „Bitte, bitte, bitte.“
„Schuldig! Er ist schuldig!“, erklangen die Rufen der Dörfler von unten.
„Gib uns die Äpfel zurück!“
Kela holte tief Luft.
Lotse war schuldig. Dar hatte seine Lampe entzündet.
Es war richtig gewesen, die ihre dunkel zu lassen.
Die anschließende Feier fand zu gleichen Teilen für die Bewohner Jigmes als auch für deren Gäste statt. Man spielte auf handgeschnitzten Flöten auf, magische Lichter tanzten am Himmel, und die Dörfler sangen und klatschten, als sie rings um ihre Feuer saßen.
Am Rand der Menge machte Kela das Mädchen aus dem Baum aus. Aufmerksam beobachtete es die Feierlichkeiten, schien sich jedoch nicht daran beteiligen zu wollen. Als es Kelas Blick bemerkte, zeigte es dasselbe schüchterne Lächeln wie zuvor. Seine Bewunderung für Kela spiegelte sich unverhohlen in ihrem Blick, und Kela war froh, dass Dar und sie den Erwartungen des Mädchens heute gerecht geworden waren.
Es war eine weitere Verhandlung, die sie erfolgreich geschlichtet hatten. Ein weiteres Mal, dass trotz ihres Ungleichgewichts und trotz ihrer betrügerischen Geburt der Gerechtigkeit Genüge getan worden war. Sie warf Dar einen Blick zu. War es möglich, dass dies am Ende doch ihr Weg war? War es möglich, dass es einen Platz gab, an den sie gehörte?
Das Abendmahl wurde der Ältesten zuerst gereicht, ganz wie es die Tradition gebot. Es bestand aus Fladenbrot und – passend, wenn auch unangemessen – einer dicken Apfelsuppe.
„Danke.“ Die Älteste Ngabo nickte dem jungen Mann zu, der sie bedient hatte. Alle Blicke waren auf die alte Frau gerichtet, die auf der hölzernen Plattform saß und sich eine Strähne ihres weißen Haars hinters Ohr strich. Sie sog das Aroma der Suppe durch die Nase ein und nickte. „Riecht gut.“
Kurz erklang höfliches Gelächter. Kela bemerkte den Hunger dahinter. Sie würden nichts bekommen, bevor die Älteste gegessen hatte.
Endlich hob die Älteste Ngabo die Schüssel an die Lippen und trank die Suppe. Sie schluckte. Einmal, zweimal. Dann ließ sie die Schüssel sinken und lächelte. „Das ist köst...“ Die Worte blieben ihr im Hals stecken. Ihr Kopf neigte sich leicht zur Seite, als wäre sie über etwas sehr verwundert, ehe sie jäh die Augen aufriss. Sie griff sich an den Hals, kratzte sich wild an der Kehle. Ihr Gesicht wurde grau.
Die Musik erstarb.
Die tanzenden Lichter fielen vom Himmel.
„Sie erstickt!“, rief jemand.
„So hilf ihr doch wer!“, flehte ein anderer.
Dörfler drängten sich die flachen Stufen hinauf, um der Ältesten zu Hilfe zu eilen: Heiler und Mystiker.
Die Aufregung schwoll zu einem Aufruhr an und ebbte dann ebenso schnell wieder ab. Schweigen.
Ein Heiler aus Jigme trat von der Ältesten zurück. Er schüttelte den Kopf.
„Was ist geschehen?“, fragte eine einzelne Stimme.
„Ich weiß es nicht“, antwortete eine andere. „Sie ... sie ist einfach ...“
„Sie wurde vergiftet!“ Diese Stimme klang laut und überzeugt. „Die Äpfel waren es!“
Kela war nicht die Einzige, der der Atem stockte.
„Es war Lotse!“
Die Dörfler setzten sich in Bewegung, und ehe Kela sichs versah, waren sie bei den Türen des Kerkers und schlugen sie ein.
„Mörder!“, schrien sie.
„Tötet ihn!“
Sie brachen Lotses Zelle auf und zerrten ihn daraus hervor. Ein Mob, den es nach Blut dürstete.
„Nicht!“, bettelte Lotse. „Haltet ein, bitte!“
„Für das, was du getan hast, bezahlst du mit deinem Kopf!“ Ein Krieger der Jeskai zog seine Klinge.
„Nein!“ Kela sprang vor das Schwert. Ihr war nicht einmal bewusst, dass sie handelte, bis es zu spät war und sie auf die scharfe Schwertspitze blickte. Sie atmete kurz und stoßweise.
„Aus dem Weg!“, rief der Krieger.
„Was tust du denn?“
Kela erkannte die zweite Stimme als die Dars. Er stand hinter der Menge und funkelte sie an. Sie wusste, was er dachte, ohne dass er es aussprechen musste. Das war nicht die Art und Weise, wie die Dörfler sie wahrnehmen sollten. Seine Augen befahlen ihr, aufzustehen und aus dem Weg zu gehen, um die Dörfler den Mann einfach töten zu lassen.
Doch sie konnte sich nicht rühren. Irgendetwas hielt sie an diesem Ort, in diesem Augenblick, gefangen. Es war, als wäre sie einen sehr weiten Weg gegangen, nur um zu begreifen, dass dies die ganze Zeit über ihr Ziel gewesen war.
„Aus dem Weg! Sonst vergesse ich mich!“ Der Krieger presste die Klinge an Kelas Kehle.
„Er sollte eine Verhandlung bekommen“, flüsterte sie.
„Was hat sie gesagt?“, erklang eine Frage von weiter hinten aus der Menge.
„Was hast du gesagt?“, fragte der Krieger.
„Er sollte eine Verhandlung bekommen“, sagte Kela, dieses Mal etwas lauter.
„Aber er ist ein Mörder!“, rief einer der Dörfler.
„Mörder!“, nahmen die Stimmen der anderen den Ruf auf.
„Kannst du sagen, er ist keiner?“, fragte der Krieger Kela.
Kela blickte zu Lotse. In seinen Augen spiegelte sich Angst. Angst und Flehen. Sie versuchte, mehr zu sehen, doch da war nichts. Sie wusste nicht, ob er schuldig war oder nicht. Sie konnte es nicht erkennen.
„Nun?“, drängte der Krieger sie. „Sag es, Schlichterin. Wenn du kannst. Sag, dass er unschuldig ist.“
Sie konnte nicht.
Kela sah Dar hinter dem Krieger, die Lippen zu einem spöttischen Grinsen verzogen. Um ihn herum, so schien es, ahmten all die Dörfler seine Miene nach.
Kela fühlte sich wie eine Närrin. Was hatte sie getan? Was hatte sie sich nur gedacht? Sie schaute weg, hinunter zum schlammigen Boden, weil sie sich nicht mehr traute, irgendetwas anderes anzublicken. Und dann sah sie das Mädchen aus dem Baum.
Das Mädchen schaute aus dem Schutz eines umgestürzten Karrens mit großen Augen zu Kela hinauf. Ihre Blicke trafen sich, und in diesem Moment verstand Kela etwas, was sie zuvor nie vollkommen begriffen hatte. Es stand mehr auf dem Spiel, als die Schuld oder Unschuld eines einzigen Mannes: die Gerechtigkeit der Jeskai. Und das Mädchen aus dem Baum gemahnte sie in diesem Moment daran.
„Seht! Sie kann es nicht sagen!“, rief eine Stimme aus der Menge. „Sie kann nicht sagen, dass er unschuldig ist!“
„Dann ist er schuldig!“
„Mörder!“
„Tötet ihn!“
„Genug!“ Kela fand die Stimme wieder, wenngleich sie auch zitterte. Angst spielte keine Rolle. Sie nickte dem Mädchen aus dem Baum zu und schob die Klinge des Kriegers beiseite. Sie rappelte sich auf und stellte sich Dar und den wilden Dörflern Jigmes.
„Ich werde das nicht zulassen!“ Nie zuvor hatte sie sich so gefühlt. Flammen loderten in ihren Adern und leckten an ihrer Seele. Anstatt sie zurückzuhalten, gab sie sich ihnen hin und ließ sie frei aus ihrem Inneren hinausströmen – im Namen der Gerechtigkeit. „Die Regeln des Schilfs gebieten, dass jedem Jeskai, der des Mordes bezichtigt wird, eine Verhandlung zusteht. Also soll dieser Mann eine erhalten. Ich werde kein Urteil sprechen, solange ich nicht in meinem Turm bin!“
„Das ist ungeheuerlich!“
„Er ist schuldig!“
„Erkennst du das denn nicht?“
„Ist dies auch nach deinem Willen, Zwilling?“ Der Krieger wandte sich Dar zu.
Kela verspürte in diesem Moment ein wenig Mitleid für ihren Bruder. Er hatte keine andere Wahl, als ihr zuzustimmen – sowohl des Anscheins als auch der Regeln des Schilfs wegen.
Dar nickte bedächtig. „Ja.“
Die Menge hielt den Atem an.
„Aber ...“ Dar hob die Hände, noch ehe die Menge erneut ihre Rufe anstimmen konnte. „Aber wir werden das schnell hinter uns bringen. Lasst uns in unsere Türme gehen und unsere Urteile fällen, wie es meine Schwester wünscht. Erlaubt uns, dies zu tun, bevor ihr ihm den Kopf abschlagt. Erlaubt uns, dies zu tun, und euer Dorf macht sich nicht schuldig, die Regeln des Schilfs gebrochen zu haben.“
„So sei es!“, rief der Krieger. „Entzündet eure Flammen, wenn ihr müsst. Ein wenig Licht schadet nicht bei der Hinrichtung dieses Mörders!“
Die Dörfler johlten und bewegten sich wie ein Mann auf Kela und Dar zu.
Kela rief etwas, doch ihre Stimme vermochte die ihren nicht zu übertönen. Sie wurde in Richtung des Turms gedrängt und auf Schultern die Stufen hinaufgetragen. So behandelte man keine Schlichterin. So führte man keine Verhandlung.
Sie schaute zu Dar.
Er schüttelte den Kopf. Einmal. Deutlich und bedeutungsschwer. Sie wusste, was er ihr sagte: „Entzünde nicht deine Flamme.“
Er würde die seine entzünden, um die Überzeugungen der Dörfler zu stärken und den Anschein der Gerechtigkeit zu wahren.
Doch Gerechtigkeit war mehr als nur ein Anschein.
Kela wurde in den Raum oben im Turm geworfen. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.
Kaum hatte sie Zeit, sich aufzurappeln, als bereits der Gong ertönte.
Noch immer von dem Feuer in ihrem Inneren angetrieben griff sie nach dem Feuerstein. Dann entzündete sie den Docht. Die Lampe der Unschuld flammte auf.
„Was soll das?“ Der Ruf von unten erschallte beinahe sofort.
Kela rannte zum Fenster. Ganz Jigme starrte zu Dar und ihr hinauf.
„Zwei Flammen!“
„Das ist keine Gerechtigkeit!“
„Wir fordern ein Urteil!“
Der Mob wandte sich den Türmen zu, und sein Blutdurst mit ihm.
Kelas Turm schwankte, als die Dörfler ihn erklommen. Im nächsten Augenblick waren sie bereits an ihrer Tür und versuchten, sie einzuschlagen.
Kela sprang aus dem Fenster. Von Luftströmen getragen rannte sie nach unten. Sie durfte ihnen nicht in die Hände fallen, nicht heute Nacht.
„Was hast du getan?“ Dar stürmte auf den Luftstrom, der sie trug und der unter ihrer beider Gewicht nachgab. „Du ruinierst uns, Schwester. Sie werden uns nie wieder vertrauen.“
„Ich ruiniere uns nicht. Ich rette uns. Wir kennen das Urteil nicht. Das hier war unsere einzige Möglichkeit.“
„Ich kenne das Urteil.“
Kela zögerte und wurde langsamer. Der Luftstrom zitterte unter ihren Füßen. Dar klang so sicher. Sie blickte über die Schulter zu ihm zurück. Sein Gesicht war eine undurchdringliche Maske.
„Ich kenne das Urteil“, sagte er erneut. „Und das sollte dir genügen, Schwester. Komm schon, du wusstest es doch ohnehin nie, oder? Das weiß ich schon lange. Es war stets nur Glück. Ein Ratespiel. ‚Wird Dar seine Flamme entzünden?‘ Wie oft hast du dich das gefragt?“
Kela schwankte, und der Luftstrom sackte ein Stück nach unten. Sie verlor den Halt und stürzte taumelnd zu Boden.
Einen Moment lang war alles schwarz. Als sie die Welt um sich herum wieder klar sehen konnte, stand Dar über ihr. Er hatte sein Schwert gezogen. „Zwing mich nicht dazu, das zu tun, Schwester. Ergib dich mir. Der Dieb ist des Mordes schuldig. Ich weiß es.“
Doch Dar wusste es nicht. Dessen war sich Kela sicher. Sehr sicher. Dieses eine Gefühl brandete in ihr auf, und sie erkannte es. Sie hatte es schon zuvor gespürt, so viele Male, in all den Dörfern, in all den Türmen der Unschuld, in ebenjenem Dorf früher am heutigen Tage, als es ihr geraten hatte, ihre Flamme nicht zu entzünden. Zuvor war es nur ein Flüstern gewesen, eine Stimme, der sie kein Gewicht beimaß. Doch nun, da sie ihm lauschte, schrie es sie förmlich an. Und so schrie auch sie. „Nein!“ Sie rollte sich aus der Reichweite von Dars Schwert und sprang auf die Beine. „Du kannst es nicht wissen, wenn ich es nicht weiß.“
Sie zog ihr Schwert.
„Sei doch keine Närrin, Kela. Wenn du versuchst, gegen mich zu kämpfen, werde ich dich töten. Leg deine Klinge nieder.“
„Es gibt nur eine Gerechtigkeit, die mir die Klinge aus der Hand zwingen wird.“ Kela schwang ihr Schwert. Dar parierte. „Wir werden kämpfen, Bruder. Um das Urteil über diesen Augenblick. Darum werden wir kämpfen.“
Ihre Klingen trafen mit einem lauten Klirren aufeinander.
Und so begann der Kampf der Klarheit, ein alter, kaum noch angewandter Brauch der Schlichter-Zwillinge. Falls sie jemals über ein Urteil uneins waren, so sollten sie sich in einem Zweikampf gegenüberstehen. Die Schriftrollen besagten, die Zwillinge würden sich aufgrund ihrer sonstigen Ebenbürtigkeit nur in der Klarheit ihres Urteils unterscheiden. Jener Zwilling, der für die Gerechtigkeit stritt und die Wahrheit verteidigte, wäre im Vorteil, so klein dieser auch sein möge, und würde daher den Kampf für sich entscheiden.
In diesem Kampf besaß Kela die Klarheit, und sie wusste es. Sie sah alles. Es war, als würde sie die Welt im Hier und Jetzt von vier Punkten aus gleichzeitig betrachten und noch aus zwei weiteren in der Zukunft. Sie sah zwei Dinge auf einmal: wie ihr Bruder herumrollte und wie er aufsprang. Doch als sie ihn aufzuhalten versuchte, sah sie ihn zurücktaumeln und nie dort ankommen, wo er gewesen wäre, hätte er sich tatsächlich über den Boden gerollt.
Es war mit jeder ihrer Bewegungen so. Sie wusste, wohin sie ihre Klinge führen musste und wann. Sie wusste, wie hart sie zuschlagen und wann sie sich umdrehen musste.
Sie spürte die Blicke des gesamten Dorfes auf sich ruhen, während ihr Bruder und sie einander umkreisten. Und mit jedem Schlag spürte sie die Veränderung im Blick der Dörfler. Ihre Stimmung wechselte von Schrecken zu Unglauben zu Staunen. Jene um sie herum begriffen, was sie begriff. Sie sahen es, vielleicht weniger klar, aber sie sahen, was sie sah. Sie sahen ihre Beweggründe, sie sahen ihre Wahrheit und sie sahen ihre Gerechtigkeit.
Als der Augenblick gekommen war, setzte Kela zu einem wirbelnden Sprung an. Sie landete geduckt am Boden, ein Knie auf Dars Brust und ihre Klinge an seiner Kehle.
Er blickte ihr in die Augen. Und dann sah er es auch. Er sah es alles.
„Was wirst du tun, Kela?“, flüsterte er. „Welches Urteil wirst du sprechen? Ich bin schuldig.“
Kela wurde gewahr, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben die Macht hatte. Und ihr wurde gewahr, dass sie sie nicht wollte. Macht über Dar war nicht, wonach sie gestrebt hatte. Was sie brauchten, war ein Gleichgewicht.
Sie lächelte zu ihrem Bruder hinab. „Ebenso wie es kein Licht ohne Schatten und keinen Tag ohne Nacht geben kann, so kann es keine Unschuld ohne Schuld geben.“ Sie nahm die Klinge von Dars Kehle und richtete sich auf. „Allein bin ich nur eine Seite der Klinge. Gemeinsam sind wir das Schwert der Gerechtigkeit.“ Sie reichte Dar die Hand. „Wirst du dich mir anschließen?“
Er blickte ihr fest in die Augen. Dann ergriff er ihre Hand und gestattete ihr, ihm aufzuhelfen.
Das erste Mal standen sie einander ebenbürtig vor den Dörflern.
„Dieser Mann soll eine gerechte Verhandlung erhalten“, sagte Dar. „Der Gerechtigkeit wird heute hier Genüge getan werden.“
„So verlangen es die Regeln des Schilfs!“, riefen die Dörfler aus.
Der Gong ertönte.
Kela wandte sich dem Klang zu. Das junge Mädchen aus dem Baum stand neben der Metallscheibe, den Schlägel in der Hand. Sie lächelte Kela zu.
Kela erwiderte das Grinsen.