Was bisher geschah: Eine Zeit der Innovationen

Ein Planeswalker aus Kaladesh besuchte Ravnica, um die Wächter um Unterstützung zu bitten. Diese stimmten jedoch darin überein, dass sie sich nur in interplanare Angelegenheiten einmischen sollten und eine mögliche Bedrohung der Erfindermesse auf Kaladesh daher nicht in ihren Aufgabenbereich fällt. Für Chandra Nalaar jedoch handelt es sich bei Kaladesh um etwas Persönliches – um ihre Heimatwelt nämlich, auf der sie nicht mehr gewesen ist, seit sich vor zwölf Jahren ihr Funke entzündete und sie ihre erste Weltenreise unternahm. Ohne Absprache mit den anderen ist sie in ihre Heimat Kaladesh zurückgekehrt.


Ihre Heimat war für sie wie ein durch mangelnde Benutzung verkümmerter Muskel. Der Weg zurück nach Kaladesh glich einem überwucherten Pfad, den das Gras mit der Zeit für sich zurückerobert hatte, und für einen Augenblick fragte sich Chandra, ob sie sich überhaupt noch an ihn erinnerte. Doch noch ehe sie einen tiefen, beruhigenden Atemzug tun konnte, war sie auch schon angekommen.

Chandra stand in der Mitte eines Platzes aus sonnenwarmem Pflaster und geriet ob des Gefühls einer geradezu unwirklich scheinenden Vertrautheit schier ins Wanken. Kardamom und Räucherstäbchen, geschmolzenes Kupfer und Schmieröl, der aromatische Duft vorbeiziehender Baumrücken und der scharfe Geruch von Bandarfell. Spuren von Äther in der Luft, frisch und offen wie sonnengetränktes Leinen, aber mit einem prickelnden Hauch der Verheißung großer Taten. Es war der Äthergeruch, der ihr endlich verriet, dass sie daheim war – das rohe Potenzial, das die Wolken am Himmel umherwirbeln ließ, in den Herzen von Luftschiffen aufwallte und in dicken Glasrohren durch die Stadt geleitet wurde.

Bild von Jonas De Ro

Der letzte Tag, den sie auf dieser Welt verbracht hatte, war bruchstückhaft und unvollendet in ihrer Vergangenheit eingefroren gewesen. Nun ging dieser Tag mit einem Mal weiter, nur dass alles geschäftiger wirkte – und sie um so vieles kleiner. Sollte man sich denn nicht eigentlich größer fühlen, wenn man das Zuhause seiner Kindheit besuchte?

Die Leute rauschten in der üblichen Geschäftigkeit Kaladeshs an ihr vorüber. Die Melodie ihrer Stimmen durchzuckte sie. Sie hörte Gesprächsfetzen, die geradewegs aus dem Haus ihrer Familie hätten stammen können: eifrige Vorhersagen über irgendeinen berühmten Erfinder auf dem Wettstreit, unwirsche Meinungen zu den Vorteilen dieser oder jener Luftschiffschiffbauweise, knappe Wortwechsel über sich rasch nähernde Liefertermine.

Chandra hielt sich an den eigenen Ellenbogen umklammert. Sie wollte sich in ihrer Hängematte aus Kindertagen zusammenrollen, die an den Laufgängen der alten Mine aus der Zeit vor dem Ätherboom festgemacht gewesen war, über der Maschinenwerkstatt, in der ihre Eltern über neuen Erfindungen gebrütet hatten. Sie wollte nur noch dort liegen und ihren Stimmen lauschen, während sie das Metall formten. Sie sehnte sich danach, einfach heimzukehren – doch sie war daheim und es war nicht mehr ihre Heimat und sie war nicht mehr elf und ihre Mutter würde sie nie wieder in die Arme schließen –

Sie knurrte und stampfte mit dem Fuß auf. Sie wischte sich die Hände an den Oberschenkeln ab und dann damit über die Augen. Nein.

Irgendwo in dieser Menge war der Renegat, nach dem sie suchte. Der Erfinder, der in Gefahr war – und den Rest der Wächter kümmerte das nicht. Ihre Familie hatte gegen das Konsulat gearbeitet, als sie noch ein Kind gewesen war. Sie hatten Patrouillen umgangen, um brillanten Erfindern Äther zu liefern. Sie wusste nicht, warum ihr diese Person so wichtig war oder warum es gerade diese Mission hatte sein müssen, die sie zurück nach Kaladesh geführt hatte. Sie wusste nur, dass sie diesen Erfinder aufspüren musste. Und zwar bald.

Ghirapur toste um sie herum, eine Stadt voll von Tausenden von Gesichtern. Sie wusste nicht einmal, wie dieser Renegat aussehen sollte. Chandra spürte einen Stich eines vertrauten Gefühls – das Gefühl, sich völlig kopflos in etwas gestürzt zu haben und nicht zu wissen, wie man wieder aus ihm herauskommen sollte. Sie hatte das Bedürfnis, sofort umzukehren und sich zurück nach Ravnica aufzumachen.

Ein paar Gesetzeshüter des Konsulats warfen ihr einen raschen, prüfenden Blick zu und gingen weiter – und ein Anflug von sturem Trotz vertrieb ihren Wunsch, die Flucht anzutreten. Instinktiv hatte sie die Hand zur Faust geballt und nach einem Banner in der Nähe gegriffen. Sie setzte einen Fuß auf ein verziertes Kupfergeländer, fasste nach einer herabhängenden Flagge des Konsulats und schwang sich auf einen Balkon ein Stockwerk über ihr.

Beim Hinaufklettern bereitete sich die Stadt unter ihr aus. Fahrzeuge und Menschen strömten durch die Straßen und versammelten sich zur Erfindermesse. Dachgärten unter Glas drehten sich im Einklang mit dem Lauf der Sonne. Im Zentrum der Stadt erhob sich ein einzelner, gewaltiger Turm hoch in den Himmel. Von Äther angetriebene Luftschiffe umkreisten ihn wie Monde. Sie fragte sich, ob sie jemals jenes wüste Knäuel aus Gefühlen würde entwirren können, das Kaladesh für sie war. Doch selbst wenn sie einen Freund hier gehabt hätte – jemanden, der das alles hätte verstehen können –, so wäre sie nie in der Lage gewesen, ihm zu erklären –

„Das ist also deine Heimat“, sagte eine Frau neben ihr.

Chandra fuhr zusammen und setzte dann eine düstere Miene auf. Auf dem bislang leeren Balkon stand nun Liliana neben ihr, die sich mit verschränkten Armen auf die Brüstung lehnte und den Blick über Ghirapur schweifen ließ.

Bild von Jonas De Ro

Ein grauhaariger Mann huschte in einer Abfolge verstohlener Manöver durch Ghirapur. Er hielt sich von den Hauptstraßen fern, mied den fahrscheinpflichtigen Express, duckte sich in Ersatzteilläden hinein und wieder hinaus, stahl sich an Ätheradern entlang und eilte über schattenverhangene Höfe. Er raffte sich die Kapuze vor dem Gesicht zusammen, um es vor Patrouillen und Thoptern zu verbergen. Niemand trat auch nur auf seinen Schatten, als er sich näher und näher an die Erfindermesse herantastete.


Chandra packte das Balkongeländer und funkelte Liliana an. „Wenn du hier bist, um mich nach Hause zu holen, dann kannst du gleich wieder gehen.“

Liliana schnaubte verächtlich. „Daran würde ich im Traum nicht denken. Du bist zu Hause.“

„Ich gehe nicht eher zurück, bis ich denjenigen gefunden habe, nach dem dieser Baan gesucht hat.“ Chandra knirschte mit den Zähnen und knotete sich den Schal ihrer Mutter um die Hüfte. „Mir ist egal, was du oder die anderen wollen.“

„Es ist nur wichtig, was du willst. Zum Teufel mit den anderen, wenn sie nicht sehen, was dir deine Heimat bedeutet.“

„Sie meinen es bloß gut“, gab Chandra zurück. „Sie würden nur ... Sie würden das alles nicht verstehen.“ Hundert Erklärungen, was Kaladesh bedeutete, drängten sich in den Vordergrund ihres Bewusstseins, doch keine von ihnen war umfassend oder kompliziert genug. Was bedeutete einem die Heimat seiner Kindheit, wenn sie einem die eigene Kindheit geraubt hatte? Wie konnte Heimat überhaupt etwas bedeuten, wenn man zu demjenigen geworden war, der man war, indem man seine Heimat verlassen hatte?

„Erzähl mir davon“, sagte Liliana. „Vielleicht kann ich dir helfen.“

„Du würdest es auch nicht verstehen“, sagte Chandra.

„Ich verstehe, dass Heimat etwas ist, was schmerzhaft für einen sein kann“, sagte Liliana. Ihr Gesicht war eine Anordnung nicht zu deutender Falten. „Ich verstehe, dass Baan nur ein Sammelsurium langweiliger Vorschriften in einer schicken Uniform ist.“

„Baan ist einer von ihnen. Vom Konsulat. Sie halten die Stadt am Laufen, doch sie hassen alle, die versuchen, Dinge anders zu machen als vorgesehen. Ausgestoßene. Renegaten.“

„Spaßige Leute also.“

„Ich meine einfach nur Leute wie mich. Und meine Eltern.“ Chandra legte die Hände auf die Brüstung. Ein Rauchfädchen stieg von dem Holz auf.

Liliana beschwor ein violettes Leuchten um ihre Fingerspitzen, und ihre Lippen öffneten sich zu einem Grinsen. „Dann glaube ich, dass es höchste Zeit ist, deine Rückkehr in deine Heimatstadt gebührend zu feiern.“

Chandra hob eine Augenbraue. „Ich bin hier, um etwas zu erreichen.“

„Wir können unterwegs immer noch nach deinem ach so wichtigen Renegaten suchen. Aber schau dich doch nur an! Du hast ja nicht einmal Freude an dieser riesigen Feier, die dort unten stattfindet. Und außerdem: Wir beide? In dieser Stadt? Ich glaube, wir könnten hier in einige äußerst befriedigende Schwierigkeiten geraten.“

Bild von Mark Winters

Chandra musste unwillkürlich grinsen. „Liliana, du bist zwei Jahrhunderte älter als ich. Wer von uns beiden sollte noch gleich die Vernünftige sein?“

„Lass mich dir ein Geheimnis verraten.“ Liliana legte spielerisch eine Hand an Chandras Ohr und sprach in einem Theaterflüstern weiter. „Es muss gar nicht unbedingt eine Vernünftige geben.“


Der Mann unter der Kapuze ließ sich vom bunten Trubel der Erfindermesse einhüllen und lauschte. Er hielt sein Gesicht und seinen rechten Arm verborgen – nicht länger, um den Soldaten des Konsulats oder den suchenden, hellen Linsenaugen der Thopter zu entgehen, sondern nur, um sich frei unter den Messebesuchern bewegen zu können. Erfinder hätten ihn nämlich sofort erkannt und sein Tun unterbrochen. Das konnte er nicht zulassen. Er musste seine Aufgabe zu Ende bringen, ehe irgendjemand auch nur die Gelegenheit dazu hatte, ihn zu bemerken.

Er ließ sich von der Masse treiben und lauschte weiter, während er den Worten der Leute zu seinem Ziel folgte.


Die Ätherstreifen am Himmel verwuschen von zartem Blau und Weiß zu Gold und Kupfer, zu Lachs und Purpur und schließlich zu leuchtendem Türkis vor schimmerndem Schwarz. Ketten äthergetriebener Lampen erwachten funkelnd zum Leben, und Licht und Musik drangen aus jedem Fenster und jeder Tür in der Stadt. Chandras und Lilianas Suche nach dem Renegaten war zunächst zu einer Reihe von Plaudereien mit Sympathisanten der Renegaten geworden. Darauf waren Stunden gefolgt, in denen sie sich unter die Erfinder in den Gesellschaftshäusern und Ballsälen gemischt hatten. Zu guter Letzt hatten sie das Tanzen begonnen. Chandra fand sich in wirbelnde Drehungen und akrobatische Sprünge hineingezogen und vollführte zeremonielle Tänze, die die Errungenschaften großer Erfinder und Piloten feierten – und hier da zeigte sie auch nur ein ausdrucksstarkes Gezappel, das aus ihrer Zeit als Mönchin auf Regatha stammte.

Chandras Wangen glühten. Sie warf Liliana einen Blick zu, die irritierenderweise wirkte, als wäre sie hier zu Hause, obwohl sie nicht einmal einen ganzen Tag auf dieser Welt zugebracht hatte. Liliana lehnte mit einem Getränk in der Hand an einer Wand und bezirzte stumm einen Vedalken in einer Konsulatsuniform. Sie sah dabei ein wenig wie eine Löwin aus, die mit einer verwundeten Antilope spielte.

Als das blaue Gesicht des Soldaten schlagartig purpurn wurde und sich sein Lächeln in eine mürrische Miene verkehrte, setzte Chandras Reflex ein, entweder fliehen oder kämpfen zu wollen. Sie eilte in seine Nähe und hörte, wie der Mann des Konsulats einen anklagenden Tonfall anschlug.

Die Augen des Vedalken waren nur noch Schlitze. „Und selbst wenn ich von Drohungen gegen die Messe wüsste“, sagte er, „was ginge Sie das an, werte Dame? Falls Sie etwas beobachtet haben, so ist es Ihre Pflicht, es zu melden.“

Lilianas dreiste Erwiderung war ausgefeilt. „Nun, ich glaube, es ist Ihre Pflicht, sich kräftig in den –“ Dann ließ sie eine Obszönität fallen, die derart schockierend war, als hätte sie dem Vedalken ihr Getränk ins Gesicht geschüttet – und genau das tat sie dann auch noch prompt. Nass lief die Flüssigkeit dem verdatterten Mann übers Gesicht und rann die scharfen Falten seiner Konsulatsuniform entlang.

Chandras Mund formte ein O. Sie war sich nicht sicher, ob sie entsetzt sein oder in Gelächter ausbrechen sollte.

„Geschieht ihm ganz recht, oder, Chandra?“ Liliana zwinkerte ihr zu. „Dies ist meine Kollegin Chandra. Eine stolze Sympathisantin der Renegaten.“

Alarmglocken begannen in Chandras Kopf zu schrillen.

Renegaten“, sagte der Vedalken-Soldat auf eine Weise, wie man den Namen einer Sorte von Ungeziefer aussprach, von der man gerade entdeckt hatte, dass sie bei einem unter den Dielen hauste. Er wischte sich das Gesicht mit einem Tuch ab und suchte nach irgendetwas in seiner Tasche. „Sie beide“, sagte er. „Sie kommen mit.“

Als Chandra sah, was der Vedalken vom Konsulat aus seiner Tasche geholt hatte – ein an sich einfaches Paar Handfesseln, das in seinem künstlerischen Glanz dennoch an fein geschliffene Juwelen heranreichte –, kam die Wut. Ihr Haar wurde zu Feuer. Ihre Finger zu einer Faust. Sie war wieder elf Jahre alt und ritt auf einer anschwellenden Woge des Zorns.

Der Soldat blickte erschrocken auf Chandras Haar, und allein das wäre womöglich schon Antrieb genug für sie gewesen. Doch erst, als er höhnisch sagte: „Strecken Sie die Fäuste vor!“, beschrieb Chandras Faust einen weiten Bogen und erwischte ihn in einer fließenden Bewegung am Kiefer. Das Gesicht des Mannes fuhr zur Wand des Nachtlokals herum, von der ein Zahn abprallte. Dann brach er zusammen.

Liliana lachte in einer Art von Beifall – wie jemand, der dabei zusah, wie nacheinander eine Reihe von Dominosteinen umfiel. Sie hob ihr Glas.

Chandra spürte, wie jedes Gesicht in dem Lokal sich zu ihr umwandte. „Lass uns von hier verschwinden“, sagte sie.

„Aber möchtest du diesen Leuten nicht zeigen, wozu du fähig bist? Es diesem Gecken heimzahlen?“

„Lass uns gehen. Sofort!

Chandra sprang über ein Geländer und huschte durch das Nachtlokal. Sie stieß die Hintertür auf. Liliana folgte ihr in eine Gasse. Sie wichen zwei Erfindern aus, die ihre Automaten gegeneinander antreten ließen. Eines der Geräte spreizte seine beeindruckenden Kupferfedern, während das andere sich auf einem gyroskopischen Rad drehte.


Es war schon dunkel, als der Mann mit der Kapuze endlich die Ziele, nach denen er auf der Suche war, gefunden hatte. Eine Schlange junger Leute eilte aus den überschatteten Ständen am Ovalhatz hinaus. Aus ihren Rucksäcken ragten die kupfernen Arme und Greifer ihrer nicht ganz legalen Automaten. Renegaten-Erfinder.

Er bewegte sich wie beiläufig in ihren Weg. Er hielt die Strähnen seines silbernen Haares unter der Kapuze verborgen, doch er hielt ihnen eine Hand – nicht die Hand, die andere – auf eine Weise hin, mit der er ihnen das Symbol eines undichten Turms auf der Innenseite seines Handschuhs deutlich sichtbar präsentierte.

Eine Zwergenfrau bemerkte das Symbol und schlug ein, um es mit ihrem eigenen zu verbinden. „Ich fürchte, wir sitzen für heute Nacht auf dem Trockenen, mein Freund.“

„Ich suche nicht nach Äther“, sagte er. Er wirkte einen versteckten Zauber, um den Inhalt ihres Rucksacks zu untersuchen. Im Inneren ihres Automaten befand sich ein Abhörmodul. Perfekt. Nun musste er sie nur noch am Reden halten. „Ich suche nach einer Verbündeten. Ich hatte gehofft, dass Sie vielleicht wissen, wo Ihre kleine Vorführung morgen stattfinden soll.“

„Es finden eine Menge Vorführungen statt. Wissen Sie den Namen?“ Sie versuchte, Blickkontakt zu ihm aufzubauen und sein Gesicht zu erkennen. Angemessen vorsichtig.

Seine Informationen waren eher fragmentarisch, doch das passte zu seiner Maskerade als vorsichtiger Renegat. „Sie sagte, wir sollten keine Namen verwenden. Ich soll sie einfach nur treffen. Sie haben nichts davon gehört?“ Zwischenzeitlich begann sein nächster Zauber zu wirken. Das kleine metallene Abhörmodul befolgte seine Befehle und löste sich aus ihrem Automaten. Es schwebte still aus ihrem Rucksack und in seine Jackentasche.

„Tut mir leid“, sagte sie schulterzuckend. „Ich weiß nicht, über wen oder was Sie da sprechen.“

Doch er wusste, dass sie eine Verbündete seines Ziels war. Er lächelte entschuldigend. „Tut mir sehr leid. Ich werde Sie nicht weiter belästigen.“

„Nichts passiert“, sagte die Zwergin. „Wie kann ich Sie erreichen, wenn ich etwas über Ihre Freundin höre? Wie nennt man Sie denn?“

Er drehte sich um und winkte. „Einen schönen Abend noch.“

Er raffte seine Kapuze zusammen und ging weiter. Er blickte auf seine Hand – die Hand –, in der er das kleine, reich verzierte Kupfermodul hielt. Im Gehen aktivierte er es, und als seine Zahnräder sich zu drehen begannen, verriet es ihm nach und nach alles, was es gehört hatte: Unterhaltungen, Zeiten, Daten. Und einen Ort.


Jedes Mal, wenn Chandra und Liliana eine Patrouille sahen, bogen sie um eine Ecke, und jedes Abbiegen führte sie weiter auf ihrer verwinkelten Reise durch die Stadt. Sie duckten sich durch ein Marktzelt und sprinteten eine elegante Treppe hinauf. Aus einem Fenster blickten sie nach unten, und unten war eine stille Gasse, die außerhalb der Patrouillenrouten der Wachen lag.

„Da runter“, sagte Chandra. Lilianas Missfallen war offensichtlich, doch sie rutschten gemeinsam an den Holmen einer Reihe von Leitern in die Gasse hinunter.

An gegenüberliegenden Wänden lehnend holten sie Luft. Zaghaftes Tageslicht streifte die Dächer der Gebäude. Die Leute begannen, in den jungen Morgen hinauszuströmen.

„Ich habe wirklich keine Lust mehr auf dieses ‚Atemlos durch die Nacht‘-Gehetze.“ Liliana runzelte kläglich die Stirn. „Ich bin eher der Typ für ein dramatisches Daherschreiten.“

Doch Chandra betrachtete lediglich das Mosaik an der Wand hinter ihr.

Das Mosaik war teilweise herausgebrochen und verwittert. Der Erfinder, der in dem runden Rahmen abgebildet war, trug seine Schutzbrille auf der Stirn und blickte zu einer Seite. Er wirkte so sanftmütig wie eh und je. Leicht belustigt, so wie er sie immer angesehen hatte. Chandra fand ein farbiges Mosaikteilchen im Staub der Gasse und versuchte, es wieder an seinen Platz zu setzen, doch es weigerte sich beharrlich.

Liliana stand an ihrer Seite und betrachtete das Mosaik.

„Das war mein Vater“, sagte Chandra. „Kiran.“

„Du hast seine Nase. Und seine Schutzbrille.“

„Meine Mutter und er waren beide großartige Erfinder. Sie wurden getötet, als ich noch ein Kind war.“

„Das tut mir leid. Von wem denn? Dem Konsulat?“

Chandra kniff einen Augenblick lang die Augen zu. „Von einem Psychopathen in Uniform. Baral. Meine Eltern starben seinetwegen. Weil er mich gehasst hat. Weil sie versucht haben, mich zu beschützen.“

Liliana blickte sie mit neugierigem Interesse an. Chandra wünschte sich, sie täte es nicht.

„Das ist doch nicht deine Schuld. Sondern seine.“

„Ich hätte nicht hierher zurückkommen sollen. Warum bin ich nur hierher zurückgekommen?“

„Weil du glaubst, dass du ihnen etwas schuldest. Wir alle müssen uns den Entscheidungen, die wir getroffen haben, als wir noch jünger waren, irgendwann stellen.“ Liliana blickte das Mosaik an und wischte Staub von dem Porträt. „Vielleicht sollten wir versuchen, diesen Baral zu finden.“

„Dieser Ort ... Hier habe ich gelernt, immer nur mit Tragödien zu rechnen. Leuten immer nur zu misstrauen.“

„Hier hast du auch gelernt, dich zu wehren. Gefährlich zu sein.“

„Du sagst das, als sei das etwas Gutes.“

„Die meisten Leute sind damit zufrieden, das Leben so zu nehmen, wie es kommt. Die Welt sagt ihnen, dass sie schwach sind, und sie stimmen ihr zu. Sie fressen ihre Enttäuschung in sich hinein, lassen sie in ihrem Inneren vor sich hin faulen und dann legen sie sich hin und sterben. Aber wir anderen? Wir lernen, uns zu wehren. Wir lernen, wie man spuckt und Sachen wirft. Wir lernen, wie man überlebt. Und du bist jemand, der das Überleben gelernt hat, Chandra.“

Chandra blickte in die Augen ihres Vaters. Sie griff nach dem Saum des Schals – des Schals ihrer Mutter –, den sie sich um die Hüfte geschlungen hatte.

Liliana grinste schief. „Wenn Baral deine Familie so sehr gehasst hat, sollten wir herausfinden, ob es ihn noch gibt. Nur zur Sicherheit. Und außerdem: Falls wir ihm über den Weg laufen, kannst du ihm in die Augen sehen anstelle von diesem Porträt und ihm sagen, was du von ihm hältst. Das steht dir zu.“

„Ich weiß nicht“, sagte Chandra. „Baral glaubt wahrscheinlich, dass ich an diesem Tag gestorben bin.“

„Dann stell dir nur mal seinen Gesichtsausdruck vor, wenn er merkt, dass dem nicht so ist. Wenn er merkt, dass du überlebt hast.“

Chandra musste bei dem Gedanken ein wenig schmunzeln.

Liliana sah ihr in die Augen. Ihr Gesicht war ernst. „Wenn du ihn zu Asche verbrennst.“

Chandra zuckte entsetzt zurück, doch gleichzeitig wallte eine düstere Form der Erregung in ihr auf. Baral hatte ihren Vater vor ihren Augen getötet. Und sie wusste, dass Baral der Befehlshaber jener Soldaten gewesen war, die die Feuer entzündet hatten, welche ihr Dorf zerstört und ihre Mutter getötet haben mussten. Ihre gesamte Familie ausgelöscht wegen eines Mannes. Wie befriedigend es sein würde, ihnbrennen zu sehen.

„Wenn er noch am Leben ist“, sagte Chandra, „wird er für das, was er getan hat, bezahlen.“

Lilianas Stimme war ein leises Flüstern. „Es ist nur recht und billig, ihm den Schmerz, den er dir zugefügt hat, zurückzuzahlen.“

„Es ist nur recht und billig“, sagte Chandra, und ihr Haar fing Feuer.

„Da sind sie!“, riefen zwei Uniformierte an einem Ende der Gasse und eilten auf die beiden Planeswalker zu. Entdeckt.

Chandra setzte zum Spurt in die entgegensetzte Richtung an, doch Liliana hielt sie fest. „Wir müssen nicht fliehen“, sagte die Nekromagierin und blickte den Wachen gelassen entgegen. „Diese Hetzjagd lässt sich auch auf andere Weise beenden.“

„Nein. So etwas tun wir nicht.“

„Wir tun alles, was nötig ist“, sagte Liliana. Ihre Worte wurden vom Pfeifen eines Zuges ein paar Straßen weiter untermalt.

Chandra schüttelte Lilianas Hand ab. Sie nahm die beiden Männer in den Blick und rief einen wirbelnden Flammenstoß herbei. Anstatt jedoch in die Wachen des Konsulats hineinzufahren, prallte der Zauber auf den gepflasterten Boden und breitete sich zu einer Flammenwand aus, die die Gasse versperrte. Die Wachen blieben wie angewurzelt stehen.

Sie schaute Liliana an. „Schreib mir nicht vor, was ich tun soll“, sagte sie. „Komm schon. Ich habe eine Idee.“

Sie gelangten auf eine der Hauptstraßen. Der Aradara-Dämmerungszug war gewaltig groß, ruhte jedoch sehr elegant in einer einzelnen Fahrrinne zwischen den Steinen. Sonnenlicht spiegelte sich auf seinen polierten, hölzernen Flanken. Passagiere hasteten auf seiner gesamten gewundenen Länge durch seine Türen. Chandra rannte los, sprang auf und legte eine Hand in die sich schließende Tür.

Sie und Liliana waren an Bord, als der Zug fauchend anfuhr. Durch die Fenster konnten sie die Wachen des Konsulats sehen, die die Verfolgung aufgaben und kleiner und kleiner wurden.

Ein komplizierter Apparat am Eingang verlangte klappernd, ihre Fahrscheine zu sehen. Chandra rammte die Faust in ihn hinein und schuf so einen glühenden Krater. Der Apparat stellte das Klappern ein.

Sie setzten sich hin. Chandra lehnte den Kopf an die Scheibe und sah zu, wie die Gebäude ihrer Kindheit an ihr vorüberzogen. Keiner der beiden Planeswalker sprach.


Der Zug ruckte und Bremsen kreischten. Chandra griff nach ihrem Sitz und stand auf, nur um sofort in den Sitz vor ihr geschleudert zu werden. Der Zug pfiff wiederholt, die Räder unter ihnen blockierten und rote Warnleuchten begannen, an der Decke des Waggons aufzublinken.

Chandra schaute aus dem Fenster, als der Zug sich aufbäumte. Draußen herrschte kontrolliertes Chaos. Ein Trupp Sonderinspektoren des Konsulats winkte Menschenmengen in verschiedene Zonen. In der Ferne sprühten zerborstene Ätherleitungen schillernde Gase in die Luft und Luftschiffbesatzungen warfen Fangnetze nach verirrten Thoptern aus. Ganze Gebäude waren dunkel, abgeschnitten von der Ätherversorgung. Messebesucher plapperten und deuteten aufgeregt zum Himmel, doch was auch immer dort gewesen war, war bereits wieder verschwunden.

Eine Störung. Die Nachwehen irgendeines Schauspiels am Himmel. Das musste das Werk des Renegaten gewesen sein – jenes Renegaten, dessentwegen sich Baan solche Sorgen gemacht hatte.

Eine Ansage krächzte über das Zischen der Rohrleitungen der Ätherbahn hinweg. „Dieser Zug hat einen unplanmäßigen Halt eingelegt. Bitte bleiben Sie auf Ihren Sitzen –“

„Gehen wir“, sagte Chandra über die Schulter zu Liliana und eilte an einer Reihe sitzender Passagiere vorbei auf die Tür zu.

„– bis Sie anderslautende Anweisungen durch einen Aradara-Schaffner oder einen Beamten des Konsulats erhalten. Vielen Dank.“

Chandra schlug auf den Türgriff ein. Er verschwand in einer nahezu lautlosen Feuersbrunst und hinterließ nur ein leuchtendes, weiß glühendes Loch. Sie trat nach der Tür, und diese sprang auf. Noch immer sauste draußen die Straße vorbei.

„Das könnte der Renegat sein“, sagte Chandra. „Das muss er sein.“

Liliana nickte, und sie machten einen Satz aus dem Waggon. Ihre Füße kamen auf der Straße auf, noch ehe der Zug vollständig angehalten hatte. Überall um sie herum versuchten Wachen des Konsulats, die Menschen von der Quelle der Störung wegzubewegen. Chandra tauchte in der Menge unter und kämpfte sich durch einen steten Strom aus Leibern, die sich von dem Unglück wegbewegen wollten, wohingegen sie versuchte, genau dorthin zu gelangen.

„Chandra“, sagte Liliana. Ihr war etwas ins Auge gefallen.

„Was?“

„Dort. Der mit der Kapuze.“

Bild von Daarken

Chandra folgte Lilianas Blick. Eine Gestalt bahnte sich geschickt einen Weg durch die Menge und hielt dabei das Gesicht sorgsam von einer dunklen Kapuze bedeckt. Der Mann hatte sie nicht bemerkt. Er schlug einen Kurs um den abgesperrten Bereich herum ein und behielt die Quelle der Störung im Blick.

„Verdächtig unverdächtig, findest du nicht?“

Chandra nickte ernst. Ihr Renegat. Sie mussten ihn warnen. „He!“, rief sie. „He, du!“

Entweder hörte er sie nicht oder ein in seine Richtung gebrülltes „He, du!“ war genau das, was der die Messe störende Erfinder der Renegaten auf einem belebten Platz voller Offizieller nicht hören wollte. So oder so stob er vor ihnen über eine Bank voller Schaulustiger und um einen Kontrollpunkt des Konsulats herum davon.

Chandra und Liliana nahmen die Verfolgung auf und holten ihn nur ein, als er anhielt, um eine ältere Frau anzuschnauzen.

Die Kapuze des Mannes war nun zurückgezogen und entblößte einen Schopf grauer Locken. Seine rechte Hand, die aus seinem Ärmel ragte, war eine metallene Klaue, die er auf die Frau gerichtet hielt.

Sie hatten ihn eingeholt und traten aus der Menge hinter ihm. Es war jedoch die Frau, die Chandras Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie hatte kastanienbraunes Haar wie Chandra, wenn auch etwas dunkler und hier da von grauen Strähnen durchsetzt. Sie trug eine Schweißerbrille und ein Handschweißgerät und funkelte den Mann mit der Klauenhand an.

Chandras Herz hörte auf zu schlagen, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie fand keine Worte.

„Endlich habe ich Sie gefunden, Erste Renegatin“, sagte der Mann und richtete seine Metallhand auf sie, als wäre sie eine Waffe. „Glauben Sie, dass Ihr kleines Spektakel meine Messe auch nur im Geringsten schert?“

Die Frau schnaubte höhnisch. „Wir werden Sie aufhalten, Oberster Preisrichter. Wenn nicht heute, dann eines Tages, der sehr bald kommen wird.“

Liliana griff sich den Mann und drehte ihn zu sich um. Mit einer Abscheu, die Chandra so noch nicht bei ihr gehört hatte, stieß sie einen Namen aus, den Chandra nicht kannte:

Tezzeret.

Und dann, während sie die Frau mit Haar wie dem ihren anstarrte, fand Chandra endlich ein Wort in sich. Sie zwang es durch ein Meer aus blankem Schock an die Oberfläche ihres Verstandes, und schließlich gelang es ihr, es ächzend über die Lippen zu bringen:

„... Mutter?

 


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