Was bisher geschah: Gewissenlos

Jahre vor der Ankunft der Wächter auf Amonkhet hatten das Los und die Zukunft dreier Kinder einen unvorhergesehenen Einfluss auf das Schicksal der Welt.


Sie fand ihm am Rande des Wassers.

Das Kreischen der Kraniche, die sich in die Lüfte schwangen, kündigte ihr Kommen an. Er drehte sich um und sah sie inmitten des Schilfs. Ihre weit auseinanderstehenden Füße steckten in Sandalen, die Hände lagen auf den Hüften und sie grinste frech.

„Du kannst dich vielleicht an den anderen vorbeischleichen, Nakhit, aber mir entwischst du nicht.“ Ihre Stimme drang mühelos zu ihm herüber.

Der junge Avior lupfte leicht die Flügel, als das Glück des Mädchens über ihn hinwegspülte.

„Ich konnte nicht schlafen“, sagte er und watete aus dem Wasser.

Sie nickte. „Ich weiß. Ich auch nicht.“

Nakhit schnaubte, als er sie erreichte. Seine nackten Füße schmatzten im zähen Uferschlick. „Bitte. Ich habe dich wie einen brausenden Sandsturm schnarchen hören, als ich an deiner Liege vorbeigelaufen bin.“

Sie lachte. „He! Ich habe doch nur, ähm, so getan, als würde ich schlafen, du Dummkopf!“

Nakhit warf ihr seine beste Nachahmung eines strengen Wesirblicks zu. „Samut: Die Königin der Schnarcher, die überhaupt nicht lügen kann.“

Samut gab ihm einen spielerischen Knuff, der ihn zurück ins Wasser taumeln und ihn mit den Flügeln schlagen ließ, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Ein überraschter Aufschrei wurde zu einem verspielten Trillern, und er duckte sich zur Verteidigung, während ihm das Wasser an die Knie schwappte. Samuts Augen leuchteten bei der Einladung auf. Ihre Füße bewegten sich instinktiv, als sie eine Haltung für einen Ringkampf einnahm und sich zum Raufen bereit machte.

Obwohl sie gleich alt waren, war Samut mindestens einen Kopf größer als er. Schneller und stärker war sie auch noch, und sie hatte die höhere Position. Nakhit wusste, dass es töricht gewesen wäre, sich bei jedem anderen Gegner unter diesen Bedingungen auf ein Gerangel einzulassen.

Doch er kannte Samut.

Sie sprang los, stürmte auf ihn zu und überwand die kurze Distanz zwischen ihnen mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Wasser spritzte, als sie sich auf ihn stürzte. Nakhit duckte sich. Sein Oberkörper tauchte kurz zum Fluss ab, sein Gewicht war gut verteilt und er hatte einen sicheren Stand. Samut stolperte in ihrer Hast und versuchte mit rudernden Armen, im Schlick nicht auszugleiten. Nakhit stieß die Hände ins Wasser, packte ihr Bein und zog. Mit einem Kreischen und einem Platschen verschwand Samut in den Fluten.

Nakhits Vorteil war jedoch nur von kurzer Dauer, denn er fühlte eine starke Hand nach seinem Arm greifen und versank kurz darauf ebenfalls im Nass. Einen Augenblick lang gab es nur Blasen und schäumendes Wasser. Dann stießen zwei Köpfe durch die Oberfläche, und Nakhit schüttelte sich das Wasser aus dem Gefieder, während Samut schallend lachte. Sie stand auf, und ihr kurzes, dunkles Haar umrahmte triefend und verfilzt ihr rundes Gesicht.

„Verdammt, Nakhit! Eines Tages erwische ich dich als Erstes!“

„Unwahrscheinlich.“ Nakhits Necken wurde ihm mit einer Handvoll Wasser im Gesicht heimgezahlt.

„Du würdest ihn immer als Erstes untertauchen, wenn du nur einmal nachdenken würdest, bevor du handelst.“

Samut und Nakhit drehten sich überrascht um. Am Ufer stand Djeru und sah sie an. Sein Versuch, streng zu wirken, wurde von dem Lächeln in seinen Augen zunichtegemacht.

Samut spritzte Wasser nach ihm. „Hör auf, so erwachsen wirken zu wollen, Djeru.“

Djeru trat flink zurück aus der Reichweite von Samut. „Wir sollten uns vorbereiten und nicht im Fluss herumtollen.“

„He, niemand hat dich gebeten, uns nachzulaufen“, sagte Samut.

„Irgendwer muss doch aufpassen, dass ihr beide nicht in Schwierigkeiten geratet.“

Samut verdrehte die Augen, während sie aus dem Wasser watete. Mit ein, zwei Flügelschlägen glitt Nakhit vor ihr ans Ufer.

„Ich wollte nur ... meine Ruhe haben und nachdenken“, sagte er beim Landen. „Ganz allein. Nur für einen Augenblick.“ Er ging in das Schilf, um seine Sandalen zu holen, die er dort versteckt hatte, und als er sich wieder umdrehte, sah er dort Samut mit enttäuschter Miene stehen.

„Oh“, sagte sie. „Entschuldige bitte. Ich wollte dich nicht stören ...“

„Nein, nein, schon gut. So habe ich das nicht gemeint. Es macht mir nichts aus, dass ihr beide hier seid. Ganz ehrlich. Es ist ... Es ist gut zu wissen, dass ihr auf mich aufpasst.“ Nakhit schüttelte den Kopf. „Es ist nur ... Heute ist unsere Ernte.“ Sein Blick schweifte über den Fluss zum Rest der Stadt.

Naktamun breitete sich vor ihnen aus: Stolze Monumente und hoch aufragende Gebäude erstreckten sich bis weit in die Ferne. Der gelbrote Schein der tief hängenden zweiten Sonne glänzte auf den Bauwerken. Kleine Feluken trieben auf dem Fluss, und ihre weißen Segel schnitten scharfe Kanten in das Stadtbild. Die erste Sonne lugte gerade über den Horizont und war noch immer hinter dem Tempel von Hazoret verborgen. Ihre goldenen Strahlen erzeugten einen Lichthof um die dunkle Silhouette des Baus.

Jeden Tag, so lange sich Nakhit zurückerinnern konnte, brachten die Gesalbten ihn und die anderen Kinder in die hohen Gärten, damit sie sich die Stadt ansahen. Jeden Tag brachten ihre Wesirlehrer ihnen etwas bei. „Lernt, die Wunder und die Schönheit Naktamuns zu schätzen!“, sagten die Wesire. „Werdet Zeuge der Segnungen der Götter, die all dies ermöglicht haben.“ Jeden Tag, so schien es, wurde ein neuer Tempel oder Schrein fertiggestellt: ein Bekenntnis zu den Göttern und den sehnlich erwarteten Stunden. Die Lektionen der Wesire sprachen immer vom wahren Zweck der Menschen. Und nun am Tag der Ernte, da sie zwölf wurden, würden er, Djeru und Samut ihre ersten Schritte auf dem ihnen bestimmten Pfad machen, um ihr Schicksal und ihren Platz in dieser großen Stadt zu entdecken.

Samut wuschelte die Federn auf Nakhits Kopf. „Es ist ein aufregender Tag, Nakhit! Endlich sind wir an der Reihe! Heute lassen wir unsere Kindheit zurück und gesellen uns zu denen, die vor uns kamen. Es ist ein Tag des Neubeginns, der Zielstrebigkeit und der Einigkeit!“

Nakhit nickte. Er war vertraut mit den Worten des Wesirs Ahmose. Und dennoch wurde er die quälende Besorgnis nicht los, die sich bei ihm in der Magengrube eingenistet hatte, seit er heute Morgen aus den Schlafsälen herausgetreten war.

Djeru seufzte. „Ihr beide solltet zurückgehen. Die anderen wachen sicher gleich auf. Ich kann mir vorstellen, dass noch sehr viel vorbereitet werden muss.“ Flink wich er dem Schlammklumpen aus, den Samut in seine Richtung warf, und drehte sich um, um entlang des Flussufers auf die Stadt zuzustapfen.

Nakhit blieb zurück. Samut, von deren Fingern noch immer der Matsch tropfte, ging zu ihm hin und grinste ihn frech an. „Du machst dir Sorgen“, behauptete sie.

Nakhit lachte. „Du bist ziemlich unverblümt.“

„Du denkst zu viel nach.“

„Du handelst zu überstürzt.“

Die beiden verfielen in ihr übliches Nachahmen von Wesir Heqet und wackelten kopfschüttelnd mit den Zeigefingern.

„Ich hoffe, du zeigst dich in deiner Ausbildung zielstrebiger.“

„Ich hoffe, du lernst, deinen Instinkten zu vertrauen.“

„Ich hoffe, wir können zusammenbleiben.“ Eine seiner Ängste entfuhr Nakhit und hing zwischen ihnen in der Luft. Samut hielt mitten im Wedeln ihres Zeigefingers inne und hob überrascht die Augenbrauen. Nakhit stammelte weiter. „Du, Djeru und ich ... Ich glaube, wir sind zusammen richtig gut. Und ... ich würde euch beide vermissen.“

Samut richtete sich auf und nickte, und Nakhit spürte, wie die Last auf seiner Brust ein klein wenig leichter wurde.

„Ich auch.“ Samuts Blick huschte zurück zur Stadt. „Ich möchte gemeinsam mit Djeru und dir dieses Leben nach dem Tod erreichen. Aber selbst wenn nicht ... Selbst wenn wir in anderen Saaten landen, wird Oketra uns leiten. ‚Ich glaube fest an die Götter, die an den Gott-Pharao glauben.‘“

Nakhit nickte ob der vertrauten Anrufung. „Möge seine Rückkehr bald bevorstehen, und mögen wir uns als würdig erweisen“, sagte er. Dann sprudelten angespornt durch das Aussprechen seiner Angst die nächsten Worte nur so aus ihm heraus. „Aber was, wenn ... Wenn ich Fragen habe?“ Er wich Samuts Blick aus.

„Was, wenn mein Glaube wankt?“

Die Stille zwischen ihnen breitete sich aus, und Nakhit fragte sich, ob er einen schrecklichen Fehler gemacht hatte. Endlich sagte sie: „Du bist kein Abtrünniger, Nakhit.“ Ihre Stimme war tief und leise. „Wir alle haben Angst. Wir alle zweifeln. Auch ich hatte Fragen.“ Samut deutete auf die Sanddünen ein kurzes Stück voraus. „Doch selbst das große Hekma ist nicht undurchdringlich. Wir alle haben Geschichten von Untieren gehört, die manchmal hindurchkommen.“ Nakhit nickte. Sein Blick verfolgte das Schimmern der Barriere, die sie vor der Wüste draußen schützte. Heißer, von Stürmen aufgewirbelter Sand türmte sich außerhalb der Barriere auf und wurde nur von der mächtigen Magie daran gehindert, in die Stadt zu gelangen. Nur Schritte von den trockenen und toten Dünen entfernt erblühte vom Fluss Luxa genährtes, üppiges Grün.

Samut holte langsam Luft. „Aber ich weiß, dass die Götter aufrichtig sind. Sie schützen uns vor diesen Schrecken. Und sie führen uns zum Ruhm. Es ist so, wie Wesir Heqet sagt. Ich meine, es ist so, wie er sagt, wenn er uns nicht gerade anschreit. ‚Glauben heißt Zweifel hegen, den Zweifeln ins Gesicht blicken und wieder zur Wahrheit finden.“

Nakhit schüttelte den Kopf. „Du hast bei den Lektionen besser aufgepasst, als ich dachte.“

Ein Lächeln schlich sich auf Samuts Gesicht. „Wie ich gesagt habe: Ich tue nur so, als würde ich schlafen.“

Nakhit gab ihr einen Schubs und rannte los, um Djeru einzuholen, der an der Brücke vor ihnen angehalten hatte und geduldig auf sie wartete. Samut spurtete schnell an den beiden Jungen vorbei, als die erste Sonne sich über den Tempeln in der Ferne erhob. Selbst Djeru rannte mit ihnen zurück, und Nakhits Ängste schmolzen in der Hitze des Tages dahin.


„Pst. Nakhit."

Nakhit öffnete die Augen.

„Nakhit. He, Nakhit.“ Ein bisschen lauter, ein bisschen drängender. Er blieb reglos und still.

„Nakhit. Nakhit. Nakhit. Ich sagte Nakhit.“ Nakhits Bettstatt wackelte hin und her, bis er sich schließlich auf seiner Liege umdrehte. Seine Flügel lagen gefaltet unter ihm, während er in Samuts aufgeregtes Gesicht blickte.

„Bist du wach, Nakhit?“

Nakhit unterdrückte ob dieser ernsten Frage ein Lachen. „Nein“, sagte er und rollte sich wieder auf die Seite.

„Ach, hör doch auf“, sagte sie und zupfte ihn am Arm. Nakhit rollte sich zurück und setzte sich auf.

„Ich konnte nicht schlafen“, sagte Samut, als sie sich neben ihm niederließ.

„Das können dank dir alle nicht, Samut“, grummelte eine Stimme in dem düsteren Raum. Djerus Gesicht tauchte im Halbdunkel auf – mürrisch und zu einem Gähnen verzogen.

Als wollte sie seinen Punkt noch unterstreichen, murmelte eine Stimme von einer nahen Liege aus: „Seid doch mal leise!“ Einige andere Stimmen tuschelten bekräftigend, und hinter Djeru erkannte Nakhit die Gestalten einiger Gesalbter, die langsam auf sie zukamen. Er legte einen Finger an den Schnabel und griff nach Djerus und Samuts Händen. Die drei duckten sich und krochen unter den Liegen und Pritschen entlang, wobei sie hier und da innehielten, um darauf zu warten, bis bandagierte Füße vorbeigeschlurft waren. Kaum waren sie so nahe wie möglich an die Tür herangekommen, rollten sie sich unter dem letzten Bett hervor und flitzten der Freiheit entgegen. Die gesalbten Ammen nahmen keinerlei Notiz von ihnen, als sie die Tür öffneten und das rote Licht der Nacht über die Bettenreihen tanzte, ehe die drei nach draußen entschlüpften.

Hinter ihnen ragten die Kinderquartiere hoch und ein wenig unheimlich auf, und das blutrote Licht der zweiten Sonne warf dunkle Schatten auf ihre Fassade. Rasch eilten sie in eine Seitengasse und erreichten einen Springbrunnen, der mit einer Statue von Kefnet verziert war. Dies war ihr üblicher Treffpunkt, an dem sie sich in den kühlen Nächten, wenn sie sich aus ihren Betten schlichen, gemeinsam versteckten.

Djeru gähnte erneut, und Samut gab ihm eine Kopfnuss. „Hast du wirklich geschlafen? Wie kannst du denn nicht aufgeregt sein?“ Sie blickte ihn ungläubig an.

„Nur damit du es weißt: Ich kann schlafen und aufgeregt sein“, sagte Djeru.

Samut verdrehte die Augen. „Du bist so fad, Djeru.“

„Es tut mir leid, Samut, aber ich bin auf Djerus Seite“, warf Nakhit ein. „Morgen beginnen wir unsere Ausbildung als Schüler. Ich wäre dafür gern ausgeruht.“

„Schlaf ist für Leute, die keinen Ehrgeiz kennen! Wir sind Djeru, Nakhit und Samut von der Saat der Tah!“ Samut warf sich in die Brust. Die Jungen stöhnten, doch unter ihrer vorgeblichen Gleichgültigkeit lag eine prickelnde Spannung. Samut fuhr fort. „Setha und Basetha sind ebenfalls in unserer Saat. Ich kann es kaum erwarten, alle kennenzulernen und mich gemeinsam mit ihnen ausbilden zu lassen!“

Djeru nickte. „Das klingt alles prima, aber ich kann mir vorstellen, dass Nakhits weitere Ausbildung auch stärker ohne uns stattfindet.“

Samut runzelte die Stirn. „Was? Meinst du etwa noch mehr Flugstunden und so was?“

„Hast du bei der Ernte nicht aufgepasst? Nakhit hat einen Stab bekommen und wir Chepeschs.“ Djeru lächelte Nakhit an. „Es scheint, als hast du Geheimnisse vor uns.“

Samut warf Nakhit einen belustigten Blick zu, und Nakhits Kopffedern sträubten sich peinlich berührt. „Es ist nicht wirklich ein Geheimnis. Ich hatte nur noch keine Gelegenheit, euch davon zu erzählen. Und es ist auch nicht so, dass ich es schon beherrschen könnte.“ Mit einem Seitenblick auf Djeru wandte Nakhit seine Aufmerksamkeit dem Springbrunnen hinter ihnen zu.

Er streckte eine Hand aus, holte tief Luft und schloss die Augen. Im Dunkeln hörte er das Gluckern von Wasser, gefolgt vom überraschten Keuchen Djerus und Samuts. Er zog mit seiner Hand und zog mit seinem Geist und öffnete die Augen, als ein kleiner Wasserwirbel von dem Springbrunnen auf seine Fingerspitzen hüpfte. Das Wasser tanzte in wogenden Bändern, ohne dabei jemals seine Haut zu berühren, und bildete eine kleine Kugel in seiner Handfläche, die leicht auf und ab hüpfte, ehe sie wie eine reife Traube aufplatzte.

Samut stieß einen leisen Pfiff aus. „Das ist unglaublich! Wie hast du ... ? Wann hast du es gemerkt?“

Nakhit legte seine Hand in den Springbrunnen und genoss das kühle Wasser. „Erst vor Kurzem. Ich habe gemerkt, dass wenn ich mich im Fluss bewegt habe, der Fluss manchmal ... zugehört hat und mir gefolgt ist.“

Djeru lächelte. „Alle sagen, es ist wichtig, Magier in der Saat zu haben. Du wirst unsere mit deinen Fähigkeiten nur umso stärker machen.“

„Ich bin so froh, dass wir zusammenbleiben können. Wir drei werden unaufhaltsam sein!“ Samut nahm Nakhit in den Schwitzkasten und zerzauste ihm die Federn. Nakhit lachte und wand sich aus ihrem Griff, nur um dann in Djeru zu stolpern und ihn aus Versehen in den Brunnen zu schubsen. Djeru kletterte tropfnass und mit verärgerter, mürrischer Miene wieder heraus. Samut duckte sich und kicherte – bis Djeru sie sich griff und sie ebenfalls in den Springbrunnen warf. Die drei verfielen in ein Gewirr aus spielerischem Knuffen und Schubsen und versuchten, ihr Gelächter in der Stille der Nacht zu unterdrücken.

Nachdem sie sich ausgebtobt hatten, saßen sie nebeneinander auf dem Rand des Springbrunnens und schnappten nach Luft. Plötzlich stand Samut auf und drehte sich zu den beiden Jungen um.

„Ich habe auch ein Geheimnis“, erklärte sie.

Und damit rannte sie in die Nacht. Djeru und Nakhit blickten einander an, zuckten mit den Schultern und folgten ihr.


Nakhit war noch nie zuvor in diesem Teil der Stadt gewesen. Samut hatte sie durch eine lange Reihe von Abzweigungen hierhergeführt. Sie war in schmale Gassen geschlüpft, die in ein vergessenes Viertel führten, das weit vom Stadtzentrum und den Monumenten entfernt war. Einst, so vermutete Nakhit, hatte es in diesem Gebiet wohl Barracken gegeben, doch mit dem Bau neuer Wohnquartiere waren augenscheinlich viele der alten Behausungen einfach aufgegeben worden. Die Gebäude, die hier noch standen, waren alt und von Sonne und Zeit verwittert. Neue Ebenen voller Räume und neue Dächer verbargen die baufälligeren Überreste vergangener Zeiten. Als sie tiefer hineingingen, sahen selbst die Hieroglyphen an den Wänden anders aus als die, die Nakhit gelernt hatte, und viele der Symbole kannte er gar nicht.

Er hatte sich in die Luft geschwungen, um mitzuhalten. Samut rannte mit einer Geschwindigkeit und Ausdauer, mit der sich nur die wenigsten der älteren Kinder messen konnten. Djeru war einer von ihnen. Nakhit wusste, dass Samut seinetwegen langsamer geworden war, aber dennoch war er außer Atem, als sie den engen Durchgang zu einem kleinen Platz erreichten.

„Was ist das für ein Ort, Samut?“ Djeru keuchte ein wenig und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Samut winkte zu einem gewaltigen Bild an einer alten, verfallenen Wand am anderen Ende des Platzes. Die Malereien waren verblasst und die Reliefs beinahe flach. „Das weiß ich nicht, aber er ist alt. Richtig alt. Wahrscheinlich älter als alles, was wir kennen.“

Nakhit ging auf das Wandbild zu und kniff bei dem Versuch, seine Bedeutung zu enträtseln, die Augen zusammen. Das Bild zeigte Gestalten in verschiedenen Posen. Manche wirkten beinahe vertraut – wie einige der Kampfhaltungen, die die Wesire ihnen beibrachten –, aber viele andere ergaben überhaupt keinen Sinn. Außerdem waren da noch weitere Glyphen und Runen, die Nakhit nicht lesen konnte und die sich mit vertrauten Zeichen vermischten. Selbst die, die er kannte, hatten eigenartige Verzierungen und Abweichungen, was zu einem völlig anderen Stil und Gesamteindruck führte.

„Wie seltsam“, murmelte er.

Djeru schien ein gewisses Unbehagen zu verspüren. „Die Götter lehren uns, uns nicht mit dem Alten und mit den Dingen aufzuhalten, die vergangen sind. Die Prüfungen und das Leben nach dem Tod liegen vor, nicht hinter uns.“

„Aber sieh doch nur – die Götter sind auch hier! Auf diesen alten Wandbildern. Da ist Hazoret.“ Samut deutete mit einem langen Finger auf eine hoch gewachsene Gestalt auf einem Gemälde, und Nakhit erkannte, dass es sich tatsächlich um Hazoret handelte – aber irgendwie sah sie anders aus und war in einem fremdartigeren Stil gehalten, als er ihn je woanders gesehen hatte. Hazoret blickte über kleinere Gestalten hinweg: Menschen, Aviore, Ainok, Minotauren und Naja, die alle in verschiedenen Posen dastanden.

„Was glaubst du, was sie da machen?“, fragte Nakhit und deutete auf die seltsamen Verrenkungen.

Samut lächelte. „Das ist mein Geheimnis. Ich habe versucht, das herauszufinden. Ich glaube, das sind alte Kampfhaltungen oder Bewegungsabfolgen oder so was.“

Damit nahm Samut die erste Haltung auf dem Wandbild ein: eine feste, vertraute Stellung mit weit auseinanderstehenden Füßen, um gut das Gleichgewicht zu halten. Doch dann begann sie, sich fließend und in einem Rhythmus und in einem Takt zu bewegen, der keiner der anderen Kampfübungen glich: geschmeidig und biegsam, stark und dennoch nachgiebig – wie ein Schilfrohr im Wind. Sie nahm jede Haltung ein, die auf dem Gemälde abgebildet war, und ihre Füße wirbelten Staub auf, während ihre Gesten eine flüchtige Erinnerung in Nakhit wachriefen. Sie bewegt sich so, wie ich fliege

, erkannte er – die Muskeln mehr von Urinstinkten gesteuert als von bewusstem Denken, Erinnerungen der Ahnen, die durch etwas Tieferes als Worte oder gar Blut weitergegeben wurden.

Plötzlich hielt Samut inne. „Weiter bin ich noch nicht gekommen“, gestand sie.

„Das war ... wundervoll.“ Nakhit lächelte. Samut wurde rot. Djeru hustete.

„Ich frage mich, ob das ein alter Tempel von Hazoret ist“, wechselte Samut das Thema. „Er fühlt sich irgendwie ... wichtig an, wisst ihr?“

„Ich weiß nicht“, warf Djeru ein. Er ging zu Samut und starrte eher misstrauisch als staunend auf das Wandbild. „Wenn ja, warum ist er dann verlassen? Warum sehen die Zeichnungen und Glyphen so merkwürdig aus? Vielleicht ... Vielleicht sollten wir gar nicht hier sein.“

„Du bist immer so ein Spielverderber.“ Samut knuffte Djeru in den Arm.

„Ich meine nur, dass du vorsichtig sein solltest“, sagte er und rieb sich den bereits entstehenden blauen Fleck.

Samut schnaubte. „Du musst wirklich entspannter werden, Djeru. Kefnet verlangt, dass die Geweihten wissbegierig sind und Fragen stellen.“

„Oketra lehrt, dass eine Saat Disziplin besitzen sollte.“

Die beiden gerieten ins Zanken, sagten die Worte der Götter auf und gaben einander kindische Namen. Nakhit schenkte ihnen keine Beachtung und fuhr mit der Hand über das verblasste Gemälde. Er verharrte zu Füßen der gemalten Hazoret.

„Man fragt sich“, sinnierte er laut, „ob es jemals eine Zeit vor den Göttern gab.“

Die plötzliche Stille riss ihn aus seinen Gedanken. Er drehte sich um und merkte, dass Samut und Djeru ihn anstarrten.

„Der Gott-Pharao ist ewig.“ Djeru hob eine Augenbraue.

„Natürlich“, sagte Nakhit.

Ein peinliches Schweigen breitete sich aus.

„Möge seine Rückkehr bald bevorstehen, und mögen wir uns als würdig erweisen“, sagte Samut.

„Ich danke dir. Ja.“ Nakhit raschelte mit den Flügeln. Djeru runzelte die Stirn.

„Es ist nur ... Na ja, der Gott-Pharao ist gerade nicht hier. Gab es also auch eine Zeit vor seiner ersten Ankunft?“ Nakhit spürte das wachsende Unbehagen Djerus und Samuts, doch er fuhr fort. „Wenn er die Götter gelehrt hat und die Götter uns lehren – wer hat ihn dann gelehrt?“

„Der Gott-Pharao braucht keine Lehre. Er ist die Quelle von allem“, antwortete Djeru. „Das ist das Erste, was wir in unseren Lektionen gelernt haben.“

Samut stöhnte. „Bitte ermutige ihn nicht noch, Nakhit. Ich habe diese Lektion von Wesir Heqet gerade so überstanden. Ich glaube nicht, dass ich es aushalte, mir anhören zu müssen, wie Djeru sie schlecht erklärt.“

Die Spannung löste sich auf, und Djeru lachte, während Nakhit schwach lächelte.

„Wie auch immer. Jetzt kennt ihr mein Geheimnis.“ Samut boxte Djeru. „Du bist dran.“

Djeru blinzelte. „Ich bin dran?“

„Nakhit und ich haben ein Geheimnis verraten.“ Samut nickte feierlich. „Jetzt musst du auch eins erzählen.“

Djeru blickte verwirrt drein. „Ich habe aber keine Geheimnisse“, sagte er.

„Das stimmt nicht“, sagte Samut. „Ich weiß, dass selbst du nicht so langweilig bist, Djeru.“

Djeru dachte einen Augenblick lang nach, und dann strahlte er.

„Na ja“, sagte er, „es ist nicht wirklich ein Geheimnis. Ich meine, schon irgendwie, aber nur weil ich noch keine Gelegenheit hatte, es euch zu erzählen.“

„Jetzt hör schon auf, so geheimnisvoll zu tun, und zeig es uns!“ Samut pikste Djeru in die Brust. Djeru lächelte und verließ rasch den Platz. Samut hielt gleich hinter ihm Schritt.

„Also ... ich schätze, wir schlafen heute Nacht gar nicht“, sagte Nakhit zu ihren Hinterköpfen.


Nakhit starrte. Er konnte nicht glauben, was er sah. Er streckte eine Hand aus und spürte die halb durchsichtige Barriere des Hekma, schimmernd und funkelnd. Obwohl sie aus mächtiger Wassermagie gewoben war, fühlte die Barriere sich fest und undurchdringlich an, ein Wall, der stark genug war, den Sand und die Schatten, die in der Wüste umherschlichen, fernzuhalten.

Von der anderen Seite winkte Djeru und grinste schelmisch.

Samut und Nakhit sahen zu, wie er sich bäuchlings hinlegte und auf sie zurobbte, um sich einen Weg durch das beinahe unsichtbare Loch im Hekma zu bahnen. Bald darauf stand er wieder neben ihnen. Nur eine kleine Spur im Sand und der sengende Wind an ihren Schienbeinen zeugten von seinem Ausflug.

„Wir müssen da rausgehen“, sagte Nakhit.

Seine Worte wischten augenblicklich das Lächeln aus Djerus Gesicht.

„Auf keinen Fall“, sagte er. „Wir sollten es den Wesiren Kefnets sagen, damit sie das Loch flicken können.“

„Was nützt denn ein Geheimnis, wenn man es gleich verraten muss?“, fragte Samut.

Djeru schüttelte entschieden den Kopf. „Ich hab’s euch doch gesagt: Das ist kein richtiges Geheimnis. Ich habe die Stelle gestern gefunden, als ich euch beide gesucht habe, und hatte einfach noch keine Gelegenheit, wem Bescheid zu sagen.“

„Na, dann kommt es auf eine oder zwei Stunden mehr auch nicht an.“ Selbst Nakhit war ein wenig überrascht von den Worten, die aus seinem Schnabel kamen. Doch Samuts Wandgemälde hatte etwas in ihm aufgewühlt. „Ich will wissen, was auf der anderen Seite ist.“

Djerus Augen verengten sich. „Wir wissen, was auf der anderen Seite ist. Ungeheuer, wandelnde Tote, Leere und Ödnis. Dorthin bringen die Engel Abtrünnige, damit unsere Zielstrebigkeit und unsere Hingabe ungetrübt bleiben.“

„Wir wissen, was man uns darüber gesagt hat, was auf der anderen Seite ist“, erwiderte Nakhit. Er wusste, wie seine Worte klingen mussten, doch er fuhr fort. „Ich will es selbst sehen. Bevor wir unseren Pfad der Prüfungen beginnen.“

„Ich glaube nicht, dass du weißt, was du da sagst.“ Djerus Augen waren weit geworden, als Nakhit gesprochen hatte, und er schüttelte entschieden den Kopf. „Du klingst wie ... Wie ein ...“

„Ein Abtrünniger. Ich weiß.“ Nakhit blinzelte und war überrascht, dass ihm Tränen in die Augen traten – unterdrückte Angst, die an die Oberfläche geschwemmt wurde. „Das bin ich aber nicht. Zumindest glaube ich das. Ich liebe die Götter: Als Oketra in unserer Klasse herumgelaufen ist, war ich so glücklich. Als Rhonas uns an diesem einen Nachmittag bei den Übungen zugesehen hat, habe ich mich so stolz und stark gefühlt wie niemals zuvor.“

Er blickte an der Barriere vorbei und spürte die heißen Winde um seine Füße wehen. „Aber mein Herz ist voller Fragen. Dieses Wandgemälde hat so viele Zweifel aufgeworfen. Überall um uns herum – dort, wo die Götter und Wesire uns Antworten geben – sehe ich immer nur noch mehr Fragen. Ich bin bis zum Bersten voll davon, und ... ich muss es wissen. Ich muss es selbst sehen. Selbst finden.“

„Was glaubst du denn, was du findest?“ Djeru versuchte, streng zu klingen, doch Nakhit bemerkte das Zittern in seiner Stimme.

„Das weiß ich nicht.“ Nakhit lachte und rieb sich die Augen. „Wahrscheinlich ist es dumm ... Es ist wahrscheinlich gar nichts, aber ... wann haben wir denn je wieder die Gelegenheit, selbst nachsehen zu können?“

Die drei standen am Rand des Hekma und sahen dem Wirbeln des Sandes zu. Schließlich ergriff Samut das Wort.

„Du bist das am wenigsten dumme Wesen, das ich kenne, Nakhit. Und ... ich will es auch wissen.“ Sie wandte sich Djeru zu. „Wir werden vorsichtig sein. Und schnell. Und lange vor dem Morgen zurück. Und wer weiß? Vielleicht finden wir etwas, was wir zum Beginn unserer Ausbildung als Schüler der Saat des Tah mitbringen können.“

Sie drückte Nakhits Schulter, lächelte flüchtig und ließ sich dann auf den Bauch fallen, um auf die andere Seite zu kriechen. Djeru sah ihr mit sorgenvollem Gesicht nach, versuchte aber nicht, sie zurückzurufen. Nakhit legte seinem Freund eine Hand auf die Schulter. „Du musst nicht mitkommen, Djeru. Ich würde es dir nicht verübeln.“ Er drehte sich um und kroch Samut nach.

Hinter ihm hörte er Djeru aufseufzen. „Wesir Heqet würde uns dafür umbringen.“

„Gut, dass er nicht mehr unser Lehrer ist“, rief Samut von vorn.


Unbarmherzig drückte die Hitze auf die drei herab. Obwohl es noch immer Nacht war, waren sie von den Strahlen der zweiten Sonne schweißgebadet.

Sie waren etwas mehr als eine Stunde durch den Sand gestapft und hatten Naktamun dabei hinter sich stets im Blick behalten. Djeru wirkte angespannt, aber Samut hingegen tatendurstig, und ihre Energie half dabei, die Unbehaglichkeit zu mildern, die von der Gruppe Besitz ergriffen hatte. Eine Zeit lang schien alles wahr, was die Wesire sie gelehrt hatten. Sie wanderten durch eine tote Welt mit nichts als Sand unter den Füßen und sengenden Winden im Nacken. Dennoch blieben sie wachsam. Geschichten von Ungeheuern und verfluchten Untoten, die sich gegen das Hekma pressten, spukten ihnen in den Köpfen umher.

Und dann fanden sie es.

Nakhit sah es zuerst. Zunächst schien es nichts weiter als ein steiniger Vorsprung im Sand zu sein. Irgendein Felsen, der wie ein verirrter Splitter hervorstand. Sie gingen darauf zu – hauptsächlich deshalb, um überhaupt auf irgendwas zugehen zu können. Als sie den Fels erreicht hatten, kletterte Samut hinauf, rannte ihn entlang, sprang auf der anderen Seite herunter – und stieß einen überraschten Schrei aus. Djeru und Nakhit rannten auf sie zu und sahen, was sie so erschreckt hatte: Ein gewaltiges Auge starrte geradewegs aus dem Sand heraus – das halb vergrabene Gesicht einer riesigen Steinstatue, die auf ewig in die Ferne blickte.

Hinter der Statue ragte ein Irrgarten aus Ruinen aus dem Sand. Die meisten Steine waren von Sonne und Wind verwittert. Auf einigen waren jedoch noch Überreste von Glyphen und Schrift zu erkennen. Sie liefen zwischen ihnen umher, hielten an einigen Steinen an und versuchten herauszufinden, was sie wohl einst gewesen waren. Das Dach eines Gebäudes, vielleicht eines Übungsquartiers. Irgendein verlassener Tempel eines Gottes, dessen Gestalt noch auf einer zerbrochenen Säule zu erkennen war. Hoch erhob er sich über die Menschen, doch sein Gesicht war vom Sand zur Unkenntlichkeit abgeschliffen worden. Bei den meisten Splittern und Steinteilen war es unmöglich auszumachen, welchem Zweck sie einmal gedient haben mochten. Samut verfiel bald darauf, sich für jede Ruine, auf die sie stießen, die wildesten Dinge einfallen zu lassen.

„Nun“, sagte Djeru und schüttelte den Kopf bei Samuts Vorschlag, dass eine Steinplatte der Boden eines Raumes gewesen war, der nur aus Nachttöpfen bestand. „Immerhin ist das der Beweis, dass ohne den Segen des Gott-Pharaos alles verwittert.“

Nakhit sah sich um und konnte Djeru nicht widersprechen.

Plötzlich schubste Samut die anderen beiden hinter die Überreste einer Mauer und drückte sie eng gegen den heißen Stein. Jede Gegenwehr versiegte ob Samuts gehetztem und ängstlichem Blick und dem unerwarteten Geräusch ins Rutschen geratenen Sandes. Nakhit schlüpfte leise zum Rand der Mauer und spähte um die Ecke.

In weiter Ferne schlurfte ein ... Ding über den Sand. Größer noch als selbst die Götter schienen sich seine bizarren Gliedmaßen endlos weit auszudehnen. Sie glätteten Dünen und formten den Sand neu, während es dem Horizont entgegenstapfte. Ein seltsames, tiefes Stöhnen drang durch die Luft und sandte Schockwellen durch den Sand, die in ihren Knochen und Eingeweiden widerhallten.

Nakhit drehte sich zu Samut und Djeru um. „Was im Namen der Götter ist das für ein Ding?“, flüsterte er mit weit aufgerissenen Augen.

„Weiß ich nicht. Will ich auch nicht wissen.“ Samut spähte auf ihrer Seite um die Mauer und beobachtete die Bewegungen des Dings. Plötzlich stürmte sie vor. Djeru und Nakhit stolperten ihr hinterher, und alle drei schlidderten eine Düne hinunter in einen flachen Teich aus stinkendem Wasser – Überreste dessen, was wohl einst eine Oase gewesen sein musste.

Sie hörten erst zu rennen auf, als sie die andere Seite erreicht und sich in die Ruine eines Schreins geflüchtet hatten. Das winzige Steingebäude besaß noch alle vier Wände, doch sein Dach war verschwunden – wahrscheinlich war es bei irgendeinem lange zurückliegenden Unglück zerstört worden. Samut und Djeru standen am Eingang und hielten die verwitterte Holztür offen – nur einen Spalt und gerade weit genug, um dorthin spähen zu können, wo sie das Ungeheuer gesehen hatten.

„Also schön. Endlose Hitze. Sand. Verwüstung. Ödnis. Irre Ungeheuer und Dämonen.“ Djeru zählte die Dinge an seinen Fingern ab. „Die Wüste ist genau so, wie man es uns beigebracht hat. Seid ihr jetzt zufrieden? Können wir zurückgehen?“

Nakhit setzte zu einer Antwort an, doch etwas neben Djerus Kopf lenkte ihn ab. Die Hieroglyphen in diesem Schrein waren viel deutlicher lesbar und ähnelten der Schrift, die sie in ihrer Ausbildung gelernt hatten, wesentlich stärker. An der Wand hinter Djeru ragte das Symbol für den Gott-Pharao wie eine Krone auf und umrahmte sein besorgtes Gesicht. Anders als alles andere, was sie in diesen Ruinen gesehen hatten, wirkte es, als sei es gerade frisch in den Stein geschlagen worden, wenn auch von verzweifelter Hand. Gleich unter dem Symbol war ein einziges Wort in krakeliger Schrift eingeritzt.

Eindringling.

Auch Samut hatte es gesehen und blickte Nakhit fragend an. Nakhit erschauderte. Das Wort fühlte sich wie ein böses Omen an, ein Fluch, der seine Wirkung vom Gott-Pharao selbst aus über die Meere der Zeit hinweg entfaltete. Wir sollten nicht hier sein, dachte er.

„Es tut mir leid, Djeru. Du hattest recht. Wir hätten nicht herkommen sollen.“ Ein weiterer unwillkürlicher Schauer lief ihm trotz der drückenden Hitze über den Rücken.

Samut richtete ihre Aufmerksamkeit wieder nach draußen. „Gehen wir nach Naktamun zurück bevor – Was ist das denn?!

Samut öffnete die Tür einen Spaltbreit weiter, damit sie es auch sehen konnten. Sofort wünschte sich Nakhit, Samut hätte es nicht getan. Aus dem fauligen Wasser und dem umgebenden Sand erhoben sich verweste Leichen. Menschen, Schakale, Aviore. Zorniges Stöhnen grollte aus ihren trockenen, verdorrten Kehlen, als sie aus dem Wasser und dem Sand schlurften und auf die drei Kinder eindrangen.

„Abtrünnige.“ Djeru wich vom Eingang zurück, sein Gesicht eine versteinerte Maske des Schreckens. „Zurückgebracht durch den Fluch des Umherirrens.“

Samut warf die Tür zu, gerade als die erste Leiche sie erreicht hatte. Das dünne Holt knarzte und klapperte beim Aufprall, und Djeru sprang vor, um dabei zu helfen, die Tür zuzuhalten. Klauen und tote Hände scharrten und zerrten an dem Holz, und das Stöhnen wurde zu einem dumpfen Brüllen, als sich weitere von ihnen draußen versammelten.

„Wir sitzen in der Falle!“, rief Samut. Nakhit wich von der Tür zurück, als eine klauenbewehrte Hand durch sie hindurchstieß. Djeru schrie auf und duckte sich, als die Hand auf der Suche nach Fleisch wild umhertastete.

Nakhit breitete die Flügel aus und schwang sich in die Luft. Mit ein paar Flügelschlägen ließ er die Mauern des Schreins hinter sich zurück und erhaschte einen klaren Blick auf die Massen an auferstandenen Toten unter sich.

So viele.

Er spähte hinab, als weitere der Auferstandenen gegen den winzigen, steinernen Schrein anstürmten. Samut und Djeru würden ihre Stellung auf keinen Fall halten können. Er musste etwas tun. Durch den Schleier aus Furcht und Zweifel und Panik huschte der Ansatz eines Plans durch seine Gedanken, und er ergriff ihn.

Es war kein guter Plan. Doch die Verzweiflung erlaubte keinen anderen Ausweg.

Nakhit stieß herab und flog durch die Klauen der Auferstandenen, dicht genug, dass sie ihn bemerken mussten. Verrottende Klauen und knorrige Fäuste holten nach ihm aus. Er flog zurück über das Wasser, stieß einen kreischenden Schrei aus und zog die Aufmerksamkeit der Untoten vom Schrein weg auf sich selbst. Als das Gedränge sich verlagerte, rief er seinen Freunden zu: „Djeru! Samut! Lauft! Jetzt!“

Die Tür flog auf und schlug die wenigen Auferstandenen davor nieder. Samut und Djeru stürmten hinaus.

„Lauft! Los doch!“

 

Die ersten Auferstandenen platschten in das Wasser, und Nakhit konzentrierte sich wieder auf die Horde unter sich. Er schlug mit den Flügeln gegen die trockene Wüstenluft an und blieb gerade außerhalb der Reichweite der nach ihm greifenden Hände und Klauen.
Als ein Großteil der Horde im Wasser war, holte er tief Luft, hob die Hände und schloss die Augen.

Unter ihm begann das flache Wasser zu tosen.

Kefnet, gewähre mir Weisheit, Rhonas, gewähre mit Kraft, betete er.

Seine Augen flogen auf, und er ballte die Hände zu Fäusten. Das Wasser unter ihm bildete einen Wirbel, und Wasserhosen brachen daraus hervor, die nach den Auferstandenen griffen, einige von ihnen niederschlugen und andere unter die Oberfläche zogen.

Nakhit sah auf und erblickte Djeru und Samut, die noch immer entsetzt und staunend zugleich vor dem Schrein standen. „Los doch! Weg von hier!“, rief er. Er hielt weiter die Fäuste geballt und versuchte, seine Konzentration nicht zu verlieren, als er höher flog und zurück in Richtung seiner Freunde dort im Sand. Endlich drehten Samut und Djeru sich um und begannen, auf die Stadt zuzulaufen. Nakhit wollte ihnen folgen. Das Stöhnen und Schreien der Horde war nur noch ein dumpfes Brüllen unter ihm.

Jäh ergriff ein lähmendes Grauen Besitz von seinem Körper, und sämtliche seiner Muskeln erstarrten. Unter ihm hörte das Wasser auf zu brodeln, als der Zauber ihm entglitt, doch auch alle Auferstandenen blieben wie versteinert stehen. Nakhits Flügel schlugen weiter, wollten –konnten – ihn jedoch nicht vorwärtstragen.

Panik stieg ihn ihm auf, sein Geist schrie seinen Körper an, sich zu bewegen, zu fliehen, irgendetwas zu tun, doch dieser gehorchte nicht. Langsam, mit einem Schrei, der an seinen Gedanken zerrte und seiner Kehle mit kläglichem Krächzen entwich, drehte er den Kopf, um hinter sich zu schauen.

Der gewaltige Schrecken, den sie zuvor gesehen hatten, stand auf der Spitze der großen Düne in der Ferne. Sein Gesicht – oder das, was einst ein Gesicht gewesen sein mochte – starrte in Nakhits Richtung. Eisige Splitter aus Grauen fuhren ihm durch Mark und Bein. Er blinzelte, und die Muskeln in seinen Flügeln brannten vor der Anstrengung, auf der Stelle zu fliegen.

Als er die Augen öffnete, stand der Schrecken geradewegs vor ihm.

Maskenhafte Knochen, wo ein Gesicht hätte sein sollten. Ein leuchtender Rhombus aus Licht als Auge. Endlose Leere, Dunkelheit als Körper aus waberndem Entsetzen und aufwallender Verzweiflung.

Eine unbegreifliche Gliedmaße griff beinahe schwerfällig und ungelenk nach Nakhit.

Eine Kakophonie kreischender Aviore klang in seinen Ohren, und aus dem Augenwinkel sah er untote Vögel schweben und schwirren wie Fliegen um eine Leiche, um dem stimmlosen Schatten ewige Stimmen zu verleihen.

Sein Schrei wurde von einem Krächzen zu einem Kreischen aus voller Kehle.

Dann verschlang ihn die Dunkelheit.


Samut erklomm die Düne und drehte sich um, um nach Nakhit zu sehen. Beim Anblick des drohend aufragenden Ungeheuers war sie kaum noch zu einer Regung fähig und riss nur den Mund auf, als der schattenhafte Schrecken ihren Freund berührte. Sie hörte Nakhits markerschütterndes Kreischen, als er auf der Stelle verdorrte und verging, um zu einer leblosen Hülle zu werden. Ein gequälter Schrei entfuhr Samut, doch dann warf Djeru sich auf sie. Beide rollten die Düne hinunter und wirbelten Sand auf, ehe sie unten zum Halt kamen. Dort blieben sie mit klopfendem Herzen und halb im Sand vergraben liegen und hörten zu, wie die Geräusche der Schrecken, derer sie Zeuge geworden waren, nach und nach verebbten. Erst als die größere Sonne über dem Horizont aufstieg und das einzige Geräusch, das an ihre Ohren drang, das Pfeifen des niemals endenden Windes war, rappelten sie sich auf und rannten verzweifelt und in vollem Lauf auf die Stadt zu.

Die Zeit verrann in einander überlappenden Wellen und begrub jenen Augenblick tief in den Herzen der beiden Kinder. Doch aus der Saat ihres Schmerzes keimten unterschiedliche Gedanken und Fragen, die gleichermaßen sehr verschiedene Früchte trugen.

Ein Herz, hart geworden durch das Opfer, dessen Zeuge es geworden war, fand tieferen Glauben an die Götter, an den Schutz, den sie versprachen, und an die Aussicht auf einen sinnvollen Tod. Das andere, von dem sinnlosen Verlust zerrissen, nahm den Mantel des Zweifels und der Fragen auf, der es Frieden und Klarheit in der Vergangenheit suchen ließ, anstatt im unablässigen Marsch auf die Zukunft und das Danach zu.

Und so verfloss die Zeit, unbarmherzig und unablässig wie der Luxa. Kinder wurden zu jungen Erwachsenen. Schüler wurden zu Geweihten, gebunden an den Pfad der Prüfungen, wie es der Gott-Pharao erlassen hatte und die Götter es durchsetzten. Doch selbst als die Reise auf dem Pfad klar vor ihnen ausgebreitet lag, vergaß keiner von ihnen ihre Übertretung aus Kindertagen.

Samut zog es auf ihrer Suche nach einer längst vergessenen Wahrheit immer und immer wieder zu jenem Wandbild hin, dessen Existenz sie mit Nakhit und Djeru geteilt hatte. Wenn der dumpfe Schmerz ihrer Erinnerungen von neuem Leid genährt wurde und der Verlust ihres Freundes an die Oberfläche stieg, drang sie nur umso tiefer in die alten und verlassenen Teile Naktamuns vor. Erinnerungsfetzen dessen, was sie jenseits des Hekma gesehen hatte und quälende, halb vergessene Glyphen aus Ruinen, die ihr nicht länger zugänglich waren, flirrten am Rande ihres Bewusstseins, um doch gerade außerhalb ihres Verständnisses zu bleiben. Mit jedem neuen Stück der Vergangenheit, das sie fand, wurden ihre Fragen über die Prüfungen und das Wesen der Götter tiefschürfender.

Und so verbrachte sie so viel Zeit zwischen den Steinen wie mit den anderen Geweihten und suchte mit der von Nakhit geborgten Neugier und dem Durst nach Wissen nach einem Weg, den Tanz und die Bewegungen einer geheimen Geschichte zum Leben zu erwecken.

Das war es, was sie eines schicksalhaften Tages, als die zweite Sonne sich ihrem Zenit zwischen den beiden Hörnern des verheißenen Gott-Pharaos näherte, in eine versiegelte Kammer tief im Herzen von Bontus Monument führte. Dort, wo kein Geweihter einen Fuß hineinsetzen durfte, und dort, wo selbst Bontu ihre Existenz vergessen hatte, entdeckte sie eine Glyphe, die sie seit ihrer Reise in den Sand nicht mehr gesehen hatte.

Die Wände der schattenverhangenen Kammer sprachen vom ersten Eintreffen des Gott-Pharaos auf Amonkhet, von seiner Erhabenheit und seiner Macht. Sein Gehörn – jenes allgegenwärtige Zeichen, das so häufig in Naktamun zu finden war – thronte über allem. Doch die Hieroglyphen sprachen nicht vom Gott-Pharao, sondern nannten ihn bei einem anderen Namen, einem, den sie nicht entschlüsseln konnte, einem, der in einer alten, in der Zeit verloren gegangenen Schrift geschrieben war. Unter dem unaussprechlichen Namen jedoch stand ein Titel, den Samut wiedererkannte:

Eindringling.

Sofort war die Erinnerung an den vergessenen Schrein in der Wüste wieder lebendig. Als Samut den Rest der Wand musterte, die eine gewaltige und entsetzliche Zerstörung zeigte, schlich sich eine kalte Erkenntnis in ihr Innerstes.

Wir sind nicht die Eindringlinge, denen die Wüste verschlossen bleibt.

Der Gott-Pharao ist der Eindringling.

Nicht von dieser Welt, sondern anderswo geboren kam er erst hierher und ging dann wieder fort, und in seinem Schatten suchen wir verzweifelt nach irgendeinem Sinn.

Er hat uns nicht vor dem Untergang bewahrt.

Er hat ihn herbeigeführt.

All die Geschichten ihrer Kindheit, all die Mythen über den Gott-Pharao, von seiner Geburt aus dem Chaos, davon, wie er Ordnung aus der Zerstörung erschuf, und von seiner ruhmreichen Rückkehr gewannen eine klare Schärfe, als die Wahrheit durch Samuts Herz schnitt und es bluten ließ.

Die Menschen waren zum Narren gehalten worden. Die Wahrheit aufgegeben. Die Götter belogen ... oder irgendwie zum Vergessen gebracht.

Sie musste sie warnen.

Als sie die Kammer verließ und mit irrwitziger Geschwindigkeit loslief, erwachte in den Runen eine dunkle Magie langsam und flackernd zum Leben.

Draußen am Himmel kroch die rote Sonne gemächlich auf ihre letzte Ruhestätte zu.


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