Tyrannen
Was bisher geschah: Die letzte Ruhe
Adriana ist die Kommandantin der Wache der Hohen Stadt von Paliano, ein Posten, der sie in den Dienst des Geisterkönigs Brago stellt. Kürzlich jedoch hat sie begonnen, das Handeln ihres Königs infrage zu stellen, ist er doch im Tode grausamer, als er es zu Lebzeiten je war. Und dem Rumoren in der Stadt nach zu urteilen, teilen auch andere ihre Zweifel.
Alte Gewohnheiten lassen sich nur schwer ablegen, und am schwersten wird man die alten Gewohnheiten der Toten los. Adriana, die Kommandantin der Wache der Hohen Stadt Paliano, wusste das besser als die meisten anderen. Pflichtbewusst stand sie auf ihrem Posten an der Seite des großen Königs Brago und blickte ihm stets wachsam über die Schulter. Im Leben nach dem Tod hatte er einen Verfolgungswahn entwickelt – eine recht seltsame Folge seiner Unsterblichkeit –, und er verlangte nun sogar, dass ihn seine Kommandantin sogar auf seine Ratssitzungen begleitete. Adriana stand im großen Speisesaal – einer imposanten steinernen Halle, die mehr Echos als Wärme kannte. Sie war alles andere als gemütlich, doch aus irgendeinem Grund bestand der König darauf, seine Versammlungen in ihr abzuhalten. Die großen Banner, die das Wappen der Stadt trugen, und die Schwerter und die Insignien, die die Wände zierten, schienen ihm Trost zu spenden. Brago wirkte eigenartig zufrieden damit, seinen Tod inmitten jener Dinge zu verbringen, die er einst berührt und getragen hatte. Nie wirkte er traurig, dass er sie nicht mehr anfassen konnte. Eigentlich wirkte er wegen gar nichts mehr traurig. Er verspürte mehr als genug andere Regungen, doch Mitleid zählte nicht dazu. Es stand der Kommandantin nicht zu, ihrem König irgendwelche Fragen zu stellen, weshalb Adriana sich nach links neigte und das Bein ausstreckte, um einen Krampf in der Wade loszuwerden, während sie darauf wartete, dass der König mit seinem kleinen Schauspiel fertig war.
König Brago saß am Kopf der Tafel vor einem leeren Teller und blitzendem Silberbesteck und tuschelte leise und geduldig mit zwei Kustodengeistern, die links von ihm auf ihren Stühlen schwebten. Die Stimmen der Toten wurden im Alter oft leise, und von Adrianas Position am Ende des Raumes aus war das einzige Geräusch, das sie vernahm, das leise Klirren ihrer Rüstung. Die drei Geister besprachen Angelegenheiten der Kirche und taten dies aus irgendeiner unerfindlichen Angewohnheit heraus vor blanken Gedecken. Wenn sie im Gespräch mit den Händen gestikulierten, achteten sie sehr sorgsam darauf, sie um die leeren Gläser und Kelche herum zu bewegen.
Adriana hatte dem König viele Jahre lang gedient. Sie wusste, dass er selbst im Tod eine Art eingebrannter Erinnerung an die Gebräuche der Lebenden besaß. Geister waren nichts Besonderes, aber niemand wurde je mit Absicht zu einem. Als er seinen Titel nach seinem Tod beibehalten hatte, war Adriana eine beängstigende Erkenntnis gekommen. Wenn ihr König niemals starb, dann war sie dazu verdammt, ihm den Rest ihres Lebens zu dienen. Kommandanten der Wache hatten in der Vergangenheit üblicherweise mehreren Generationen eines königlichen Geschlechts nahe gestanden, doch für sie sollte es nur diese eine geben. Der Thron Palianos war ins Wanken geraten. Der gewöhnliche Ablauf der Thronfolge war bereits vor Längerem unterbrochen worden.
Die Erinnerung an diese Entdeckung half Adriana nicht dabei, den Krampf in ihrer Wade zu lockern.
Hin und wieder schnappte sie ein Wort aus dem Gespräch der Geister auf. Sie schienen den Erfolg der Beseitigung sämtlicher Räderwerke aus den Straßen Palianos zu besprechen. Das Schließen der Akademie brachte ihnen offenbar eine gewisse Freude, denn nun waren all jene, die sich ihnen entgegenstellen wollten, entweder tot oder verschwunden.
Man hatte ihr befohlen, den Aufstand dort niederzuschlagen, die Akademie aufzulösen und die weitere Suche nach Fortschritt und Erneuerung aus der Stadt zu verbannen.
Ein leiser Anflug von Schuld huschte durch Adrianas Gedanken. Der König, dem sie im Leben gedient hatte, war im Tode grausam geworden. Das hätte sie zwar niemals laut ausgesprochen, doch im Herzen wusste sie es.
Die Unterredung der Geister war beendet und die Kustoden erhoben sich. Adriana machte sich auf, sie hinauszugeleiten. Eine junge Dienstmagd trat hinter ihr ein, um die Gedecke abzuräumen. (Spülen sie sie tatsächlich erneut? Ist das nicht eine gewaltige Verschwendung von Seife? , fragte sich Adriana). König Brago nickte seiner Kommandantin diskret zu, und Adriana führte die Kleriker aus dem Speisesaal in den angrenzenden Korridor hinaus. Die beiden bewegten sich sehr vorsichtig. Die Luft um sie herum war noch kühler als gewöhnlich. Das Gebaren aller drei Geister hatte etwas von einer großen Anspannung gehabt.
Nach einer kurzen Weile hielten die Geister vor der Eingangstür an. „Wachkommandantin Adriana ...“, flüsterten sie. Adriana stockte der Atem. Nie zuvor hatten die Kustoden sich an sie gewandt.
Der, der ihr am nächsten stand, hob segnend die Hände. Geisterhafte Finger ließen ihre Haut erschaudern ... Schulter, Schulter, Stirn. Adriana empfing den Segen bereitwillig, fragte sich jedoch abwesend, weshalb sie sich derart förmlich von ihr verabschiedeten.
Die Geister brachen auf, und Adriana wandte sich um, um ihren Krampf durch einen kurzen Spaziergang nun endgültig abzuschütteln. Ein fernes und plötzliches Scheppern drang an ihr Ohr, und sie machte sich entschlossen auf den Weg zu seiner Quelle. Die Garderobe? Die Vorratskammer? Die Spülküche!
Das Dienstmädchen von zuvor trug einen Berg aus Tellern und Besteck auf den Armen, den es in einem Müllschacht entsorgte, einen porzellanenen Schatz nach dem anderen. Jede dieser kleinen Reisen endete mit einem Zersplittern auf der Halde am Grund des Schachts.
„Mädchen!“, rief Adriana.
Erschrocken ließ die Magd eine Sauciere fallen.
„Was tust du denn? Dies ist das Eigentum der Krone!“
„Der Herr meinte, Ihre Majestät könne die Teller nicht leiden“, sagte das Mädchen, die Augen vor Besorgnis weit aufgerissen.
Ihre Majestät?
„Es gibt keine Königin in diesem Schloss.“
„Der Herr meinte, ich soll nichts von Ihrer Majestät erzählen.“
Adriana umklammerte das Heft ihres Schwertes, drehte sich auf den Absätzen um und stieg zügig die Stufen zurück zum Speisesaal hinauf. Der Klang weiterer Teller, die den Müllschacht hinuntergeworfen wurden, hallte von den steinernen Mauern wider. Die Gänsehaut, wo die Kustoden sie gesegnet hatten, fühlte sich mehr und mehr wie eine vorauseilende Entschuldigung an.
Ihr Blick huschte zu den anderen Dienern, an denen sie vorbeikam. Einer wandte hastig den Blick ab. Ein anderer stahl sich durch einen Durchgang in die Dienstbotenquartiere. Einer entfaltete ein neues Banner – eine dornige Rose, die auf weichen Samt gestickt worden war –, und Adriana begann, auf ihren König zuzurennen.
Das Leder ihrer Sohlen hämmerte auf den Stein unter ihren Füßen und die Kanten ihrer Rüstung schepperten aneinander. Als sie in den großen Speisesaal hineinstürzte, kam sie verblüfft zum Stehen.
In diesem Augenblick reagierte sie sofort, doch in ihrer Erinnerung sollte er eine winzige, aber höchst bedeutungsschwangere Ewigkeit dauern.
Am anderen Ende des Speisesaals hielt eine dunkelhäutige Frau in einer sonderbaren Jacke mit kräftigen Armen und verzerrtem Gesicht König Bragos Schultern gepackt (Wie nur?!), während sich ein Scheibendolch tiefer und tiefer in den Hals des Königs bohrte. Das erste Mal in ihrem Leben war Adriana wie vom Donner gerührt. Die Frau in der sonderbaren Jacke wirkte zu stofflich, um ein Geist zu sein, doch als sie sich mühte, den Dolch noch tiefer zu stoßen, bewegten sich ihre Arme merkwürdig verschwommen und schimmernd. Der Mund des Königs stand in einem tonlosen Schrei offen. Die Frau veränderte ihren Griff um den schimmernden, violetten Dolch und ihr Blick traf den Arianas.
Die Wachkommandantin der Hohen Stadt Paliano erinnerte sich daran, wie man Luft holte.
Und dann erinnerte sie sich an ihre Aufgabe.
Adriana setzte sich in Bewegung und sprang vorwärts. Sie wusste nicht, womit sie es zu tun hatte, doch sie kannte ihren König. Sie zog ihr Schwert und schwang es geradewegs durch das Gesicht ihres Herrn, um seine Meuchlerin zu erwischen. Aufregung und Furcht zogen die wenigen Wimpernschläge in die Länge. Beim Ausholen traf ihr Blick den der Meuchlerin. Als ihr Schwert durch Bragos Gesicht fuhr, ohne Schaden anzurichten, sah Adriana, wie das Fleisch der Meuchlerin durchscheinend violett wurde und wie sich ihr Blick in sie hineinbohrte.
Nach ihrem vergeblichen Angriff ließ Adriana ihr Schwert fallen und stürzte sich auf die Meuchlerin, die Brago gerade zu Boden fallen ließ. Instinktiv versuchte Adriana, ihren König aufzufangen, und sie war perplex, als sie es tatsächlich konnte – das spirituelle Band, das Brago mit seiner Rüstung verknüpfte, starb mit ihm, und so umklammerte Adriana nun die Rüstung, in der sich der sterbende Geist ihres Königs befand.
Sein Tod war anders als alle, die Adriana je mit angesehen hatte. Es war ihr unmöglich, den Blick abzuwenden.
Der Riss in Bragos Hals, in den die Meuchlerin ihre Klinge versenkt hatte, weitete sich zusehends: Die geisterhafte Haut wurde von einer violetten Nekrose aufgelöst, die sich von der Kehle über den gesamten Körper ausbreitete. Als das Übel über die Haut voranwucherte, hinterließ es nichts als Luft, und binnen weniger Herzschläge war die Gestalt des Königs verschwunden.
Bragos sanft leuchtende Krone, durch das Fehlen ihres Trägers wieder stofflich geworden, fiel zu Boden.
Sein Schwert verblieb in seiner Scheide an seinem Gürtel.
Wo ihr König gelegen hatte, befand sich nur mehr ein Häuflein leerer Gewandung und Rüstung in Wachkommandantin Adrianas Armen.
Die Meuchlerin blickte mit einem Ausdruck leicht gelangweilten Triumphs auf Adriana herab.
Adriana zog Bragos Schwert aus der Scheide. Sie war nicht sicher, was die Meuchlerin als Nächstes tun würde. Diese stand mit der trägen Selbstsicherheit einer Person da, die gerade erwacht war und sich auf einen Abend in der Schänke anstatt auf einen Tag in den Arenen eingestellt hatte. Es war hassenswert. Adriana drang auf sie ein, Bragos schimmerndes Schwert fest in der Hand.
„Unholdin!“, schnaubte sie.
Adriana stieß das Schwert genau dorthin, wo sich die Leber der Meuchlerin befinden musste Deren Bauch nahm augenblicklich ein bizarres und durchscheinendes Violett an, und das Schwert glitt durch sie hindurch. Das, was eine lebensbedrohliche Verletzung hätte sein sollen, war kaum mehr als eine Lästigkeit – die Meuchlerin grinste über Adrianas aus der Überrumpelung geborenen Erstarrung.
Adriana nahm ihren Mut zusammen und riss das Schwert rasch leicht nach oben, um es durch den plötzlich purpurfarbenen, ungeschützten Oberkörper bis durch die Schulter der Meuchlerin zu führen. Als die Klinge den Scheitelpunkt des Schwungs erreichte, rammte die Meuchlerin Adriana einen spitzen und höchst stofflichen Ellenbogen gegen den Kiefer. Damit hatte Adriana nicht gerechnet. Die Wachkommandantin fand taumelnd das Gleichgewicht wieder und wich bewusst ein wenig zurück, um ihre Gegnerin erst einmal etwas näher zu betrachten.
Die Meuchlerin lächelte. „Ich wurde nur für ein Ziel bezahlt. Ich habe nicht vor, Euch zu töten.“
Adriana stieß wütend zwischen den Zähnen hervor: „Stell dich mir, du Feigling!“
Die Meuchlerin lächelte belustigt und zwinkerte ihr verspielt zu.
Die Wachkommandantin erwiderte dies, indem sie der Meuchlerin geradewegs ins Auge spucken wollte.
Blitzschnell schimmerte das Gesicht durchscheinend auf und die Spucke fuhr durch es hindurch, um die Wand dahinter zu treffen.
„So etwas musste ich bisher noch nie ausweichen“, sagte die Meuchlerin. Grinsend trat sie durchBragos leere Rüstung am Boden hindurch. Ihre Füße und Schienbeine schimmerten in dem gleichen merkwürdigen Violett, als sie den Metallhaufen durchquerte.
„Ihr gebt Euch ja große Mühe, eine leere Rüstung zu verteidigen“, sagte sie mit einem leichten Akzent, bei dem sie die Vokale etwas zu sehr in die Länge zog.
„Dieser Mann war unser König ...“
„Er war nur noch eine leere Hülle – lange schon, bevor ich meinen Dolch in ihm versenkte. Und davor war er ein Tyrann“, sagte die Meuchlerin. „Und so lange Tyrannen sterben, lebt die Hoffnung auf Frieden.“
Adriana wurde von einer eigentümlichen Welle von Schuldgefühlen getroffen. Sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.
Die Meuchlerin verneigte sich schwungvoll und hielt vergnügt Blickkontakt mit der Wachkommandantin. „Es war schön, mit Euch Geschäfte zu machen.“
Dann strich die Fremde ihre Jacke glatt und ließ sich durch den Boden fallen, wo sie in einem leichten violetten Kräuseln verschwand. Adriana konnte nur dümmlich auf die Stelle starren, durch die sie hinabgefahren war. Gleich darunter befinden sich die Stallungen. Ich kann sie keinesfalls rechtzeitig einholen.
Im großen Speisesaal herrschte Stille. In diesem Augenblick des Schweigens stieß Adriana seufzend den Atem aus. Bragos Rüstung und Krone lagen dort, wo er gefallen war, auf einem Haufen zusammen. Von seinem Geist war keine Spur mehr zu sehen – bis auf jenes schwache Leuchten, das noch auf seiner nun wieder stofflichen Rüstung und seiner Krone schimmerte. Adriana hatte nie zuvor einen Geist sterben sehen – vielleicht war es üblich, dass ihre Habseligkeiten wieder feste Gestalt annahmen, sobald der Geist nach seinem zweiten Tod verschwand.
Nichts von alldem ergab Sinn. Nichts von alldem war möglich.
Ich war töricht, diesen Posten anzunehmen, dachte Adriana. Meine Aufgabe war es, den König zu schützen, und ich habe dabei versagt, einen Mann zu schützen, der eigentlich nicht getötet werden konnte. Wozu war ich überhaupt gut?
Eine geschäftige Form von Erkenntnis brach über das Schloss herein. Banner, die eine dornige Rose zeigten, wurden entrollt. Diener kamen mit finsterer Neugier, um die leere Rüstung am Boden näher zu betrachten. Adriana verweilte stumm am Ende des großen Speisesaals.
Ihre Finger strichen über das Heft von Bragos Schwert. Sie nahm an, dass es in ihren Händen am sichersten war.
Die Kustoden krönten Königin Marchesa, die Erste ihres Namens, am folgenden Tag.
Die Zeremonie wurde in einem makellos hergerichteten Thronsaal abgehalten. Banner mit dem Zeichen der Schwarzen Rose hingen von frisch abgestaubten Dachbalken herab, neue Rüstungen aus dorniger Platte glänzten silbern im Licht der Kerzen, die in der Woche zuvor gezogen worden waren. Der Raum war vom Duft seltener Schlüsselblumen und neuer Kleider erfüllt.
Das Gesinde blickte voller Vertrautheit auf die neue Königin. Die Kustoden hielten sich gehorsam an den althergebrachten Ablauf der Zeremonie. Niemand aus der Elite Palianos wirkte unvorbereitet. Alle waren bereit. Alle wussten es.
Adriana wünschte sich, jeden dieser Verräter auf der Stelle töten zu können. Jeder Fleck des Raumes trug das Wappen der neuen Königin, und es war alles falsch.
Zuvor an diesem Morgen hatte Adriana mit der Wache gesprochen und war erleichtert gewesen, dass alle ebenso sehr im Dunkeln zu tappen schienen wie sie selbst. Das große Geheimnis war auch ihnen verborgen gewesen, und die Wachkommandantin war erfreut zu hören, dass zumindest in ihren Leuten dieselbe köchelnde Mischung aus Verwirrung und Wut war.
Nun standen sie hinter ihr und bewachten die Türen. Die Wache diente Krone und Kirche, doch niemand von ihnen war glücklich darüber. Bragos Schwert, das sie nicht aus den Augen zu lassen wagte, lag während der Zeremonie in ihrer Hand.
Marchesa, die Schwarze Rose, stand inmitten all dessen wie die schillernde Dirigentin einer grässlichen Sinfonie. Ihr Kleid war züchtig und ihr Schmuck bescheiden – bis auf die schimmernde, geisterhafte Krone auf ihrem Kopf. Adriana tat alles, um nicht ob dieses leicht zu durchschauenden Versuchs, die Kustoden für sich zu gewinnen, die Augen zu verdrehen.
Kaum hatten die Geister die Krönung beendet und die Geisterkrone ruhte auf Marchesas Haupt, setzte Adriana sich eilig in Bewegung, um ihr in die königlichen Gemächer zu folgen. Sie ging hinter der neuen Königin nach oben, vorbei an einem Meer abgewandter Blicke und gefolgt von einer Schar Zofen. Im Laufen wurde Adriana klar, wie viel Geld dieses Unterfangen gekostet haben musste. Bestechungen für die Kustoden. Lohn für das Gesinde. Die Bezahlung für die Meuchlerin. Und dann waren da noch die Berge von mit Rosen verzierten Stoffen, die die Wände, Menschen und Pferde des Schlosses zierten.
Und ich habe nichts geahnt. Ich habe einem sorglosen Geist so lange über die Schulter gesehen und nichts geahnt.
Adriana hielt inne.
Hätte ich es aufgehalten, wenn ich es geahnt hätte? Brago war grausam. Er hatte einen zweiten Tod verdient.
Adriana musterte beim gemeinsamen Gang die Treppen hinauf Marchesas Rücken. Was einmal geschehen war, würde wieder geschehen. Ein König wird gekrönt, getötet und ersetzt. Eine Königin wird gekrönt, getötet und ersetzt. Und wie viele Hunderte ihrer Landsleute würden beim Durchlaufen dieses entsetzlichen Kreislaufs umkommen?
Es ist ein endloses Mahlwerk.
Und alles, was wir tun, ist, es anzutreiben.
Wut brodelte in Adriana, als die Erkenntnis einsetzte und die Worte der Meuchlerin ihr im Kopf widerhallten. Solange Tyrannen sterben, lebt die Hoffnung auf Frieden. Paliano hatte seine Hoffnung auf Frieden durch den Tod eines Tyrannen gewonnen und stattdessen doch nur eine weitere Gewaltherrscherin erhalten. Es reicht nicht, sie zu töten. Wie können wir diese Hoffnung in Gewissheit verwandeln?
Marchesa hielt an den Türen zu ihren Gemächern an und gestattete einer Zofe, sie hineinzugeleiten. Adriana folgte ihr und wartete geduldig an der Tür, während die Zofen Marchesa dabei halfen, das Gewand der Krönungszeremonie gegen eines zu tauschen, in dem sie sich das erste Mal an die Öffentlichkeit wenden würde.
Die Zofen lösten die Kleider und enthüllten so Schicht um Schicht. Gewand. Goller. Reifrock. Kotte. Mantel. Schnürbrust. Als sie nur noch in Strümpfen und Unterkleidung war, setzten die Zofen sie wieder zusammen, diesmal mit luxuriöseren und erleseneren Kleidern. Adriana konnte die Nähte sehen, die zahllose Innentaschen verrieten – die geheimen Futter, die als Verstecke für seltene Gifte dienten. Schnürbrust. Mantel. Kotte. Reifrock. Goller. Gewand. Die Zofen vollendeten die Opulenz, indem sie eine Brustpanzerung befestigten.
In dieser Aufgabe lag nichts Verführerisches, nur eine simple Zurschaustellung der Dominanz, als der Blick der Königin dem ihrer Wachkommandantin begegnete. Endlose Schichten verbargen endlose Geheimnisse. Seht Ihr, wie viel ich an mir trage? Könnt Ihr erahnen, wie viel ich verborgen halte?
Sobald der letzte Riemen festgezurrt war, scheuchte Marchesa ihre Zofen hinaus. Adriana stand hoch aufgerichtet und fest vor der in Samt gehüllten Königin der Hohen Stadt Paliano.
„Ich nehme an, Ihr wünscht mich zu sprechen“, gurrte die Giftmischerin. „Meine Krönungsrede ans Volk beginnt in Kürze. Also bitte beeilt Euch.“
„Die Thronfolge folgt anderen Gesetzen.“
„Die Thronfolge folgt anderen Gesetzen, Eure Majestät.“
Adriana schluckte ein Knurren herunter. „Die Kustoden behaupten, Ihr wurdet in Königs Bragos letztem Willen als seine Erbin benannt. Doch wisst Ihr, ich bin keine Gelehrte. Daher könnt Ihr mir vielleicht erklären, wozu ein Geist einen letzten Willen benötigt.“
Die neue Königin lächelte. Ihre Antwort kam schnell. „Natürlich müssen die Unsterblichen ihre Besitztümer nicht schützen. Die Kustoden sind jedoch willens, korrekt verfasste Schriftstücke zu akzeptieren.“
Die Rüstung der Wachkommandantin klapperte, als sie einen Schritt nach vorne trat. „Brago hatte Nachkommen. Seine Töchter ...“
„... sind alt und schwachen Willens. Und deren Söhne und Töchter sind kaum besser. Ich habe mich ihrer bereits vor einer Weile angenommen, und so ergab es sich, dass mein Name der nächste in der Thronfolge war.“
Ihr Name? Marchesas Familie war klein und weit vom Stammbaum der königlichen Familie entfernt. Adriana war übel. Sie regte sich nicht, als Marchesa langsam zu einem Spiegeltisch schritt und sich anmutig davorsetzte, um sich die Lippen ochsenblutrot zu färben.
Ohne nachzudenken, entfuhr ihr die nächste Frage. „Wie viele der anderen Thronanwärter habt Ihr getötet?“
„Ich habe nur Brago getötet“, sagte Marchesa und rollte bekennend mit den Augen. „Nun, Kaya hat Brago getötet. Und ich habe sie dafür königlich entlohnt. Der Rest der ehemaligen Königsfamilie erhielt eine großzügige Abfindung und die Kustoden bekommen einen anständigen Zehnt in jedem Jahr meiner Herrschaft.“
Die Königin erhob sich und lächelte durch vergiftete Lippen: „Ich bete, dass jeder, der mich für eine gefallene Tochter eines gefallenen Hauses hielt, seinen Fall aus der Hohen Stadt genossen hat.“
Adriana hatte im Laufe ihrer vielen Dienstjahre vielen Gegnern ins Auge geblickt. Zudem war sie mit einer Menge Ungeziefer fertiggeworden. Und diese Schlange war kaum anders. „Unsere Stadt wird sich Euch nicht so leicht unterwerfen.“
„Das hat sie bereits“, sagte Marchesa. Sie trat von dem Spiegeltisch weg und öffnete eine Truhe unter dem Fenster. Von dort, wo Adriana stand, konnte sie aus dem Inneren der Truhe eine glitzernde und schimmernde Rüstung hervorlugen sehen. Die Königin hob die mit einer dornigen Rose verzierte Brustplatte heraus, damit die Wachkommandantin sie in Augenschein nehmen konnte. Sie war zweifelsohne für sie angefertigt worden.
„Ihr wisst bereits, dass ich das nicht anlegen werde.“
„Ich dachte, ich sollte es Euch zumindest anbieten.“
Adriana schüttelte ungläubig den Kopf. „Und was ist mit dem Volk?“
„Es wird mich vergöttern“, sagte Marchesa und kehrte zu ihrem Spiegeltisch zurück. Obwohl sie nur zehn Finger hatte, schien sie ganze dreißig Ringe zu benötigen.
Adrianas Herz schlug vor Wut schneller. „Und was, wenn nicht?“
Das hatte Marchesa offenkundig nicht bedacht. Sie blickte Adriana an, während diese fortfuhr.
„Was, wenn Ihr heraustretet, um Eure Krönungsrede zu halten, und Euch tausend Bürger eine Tyrannin nennen?“
„Dann werde ich eben tyrannisch sein.“
Adriana hielt dem Blick der Königin unverwandt stand. „Ihr werdet mich nicht töten. Denn falls doch, dann werden meine Leute es ohne Zögern vergelten.“
Marchesa zuckte die Schultern und streifte weitere Ringe über. „Unglücklicherweise ist Eure Einschätzung völlig zutreffend. Es liegt in meinem Interesse, Euch am Leben zu erhalten“, sagte sie und hob den Blick. „Und es liegt in Eurem Interesse, mir zu gehorchen.“
Adriana spuckte der Königin ins Gesicht.
Diesmal traf sie.
Das erste Mal in ihrem Leben war die Schwarze Rose überrumpelt. Sie saß vor Schreck erstarrt da und wischte sich Speichel aus dem Auge, während Adriana die neue Rüstung nahm und das Gemach verließ.
Adriana verschwendete keine Zeit, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen.
Sie begab sich umgehend dorthin, wo der Rest ihrer Wache postiert war und trug ihren Truppen auf, sie nach der Krönungszeremonie aufzusuchen. Dann eilte sie zu den Stallungen und band die entsetzliche, rosenverzierte Brustplatte an ein Seil, das sie am Sattel ihres Pferdes befestigte, um die Rüstung hinter sich durch den Dreck zu schleifen.
Adriana stieg auf ihr Pferd und ritt los.
Die Menge, die sich auf dem Weg zur Rede der Königin befand, teilte sich vor ihr. Seht euch eure Wachkommandantin an, dachte Adriana, und seht, was ich von eurer neuen Königin halte.
In der Ferne konnte sie Marchesas Rede hören, die für aller Ohren eigens verstärkt wurde. „Die ehemalige Wachkommandantin hat sich mit dem Dank unserer schönen Stadt zur Ruhe gesetzt und erhält eine großzügige Zuwendung durch den Thron, die ihr bis ans Ende ihres Lebens ein Auskommen sichern wird – wie lange auch immer es noch währt.“
Adriana verdrehte die Augen und gab ihrem Pferd die Sporen. Sie ritt in Richtung des Diebesviertels, vorbei an Hunderten ihrer Mitbürger, und fühlte sich übermannt angesichts dessen, dass sie selbst eine Rede zu halten gedachte. Sie zügelte ihr Pferd und blickte in die verwirrten und besorgten Gesichter ihrer Leute. Im Sattel empfand Adriana eine Macht, die sie zuvor nur anderen einzusetzen erlaubt hatte. Sie war es leid, nur danebenzustehen, während andere die Herrschaft an sich rissen.
Sie sprach mit unanfechtbarer Überzeugung zum versammelten Diebesviertel. „Marchesa wünscht, dass ihr einer wahren Krone dient, die auf einem falschen Kopf sitzt, und dadurch macht sie euch zu Verrätern!“
Adriana hob Bragos Schwert und schlug mit dem Wappen der Stadt auf ihren Schild. „Wenn ihr Banner nicht das eure ist, dann verneigt euch nicht davor. Wenn ihre Herrschaft unrechtmäßig ist, dann sind es auch ihre Gesetze. Wenn sie keine Königin ist, dann sind die Diener ihres Thrones nicht besser als ihre Spione und Meuchler und sollten entsprechend behandelt werden!“
Die Menge brummte zustimmend, und Adriana fühlte sich beflügelt. Auch sie sind das Mahlwerk leid.
In den folgenden Wochen wurde Bragos erzwungener Frieden von Marchesas Aufruhr abgelöst. Jene, die in Bragos Wache gedient hatten, brachen im Schutz der Dunkelheit ihre Eide, die sie der Krone geschworen hatten, um die Straßen zu patrouillieren und die Bürger zu schützen. Bei Sonnenuntergang wurden Siegel ausgewechselt und das Wappen der Stadt wurde zu einem verlässlichen Zeichen für alle, die des Nachts vertrauenswürdig waren.
„Stehst du zu deiner Stadt?“, fragte eine Schmiererei an der Wand Passanten an stillen Orten. Die Bürger der Hohen Stadt hörten die Gerüchte und spürten die Unruhe. Sie hörten die Erlässe der Giftmischer-Königin und das Zischen der Korruption, die ihre Unterstützer säten. Die Bürger hörten alles, und Adriana hörte es am lautesten. Nach ihrer Ansprache im Diebesquartier jedoch sprach sie nicht mehr zu ihnen. Es war nicht ihre Stimme, die über die Menschen herrschen sollte. Ich bin die Hand, die die Stimme schützt. Das wusste sie. Ich bin es, die nach Ärger lauscht.
Und so reiste sie, drei Monde nach dem Königsmord, im Schutz der Dunkelheit zum Haus derjenigen, von der sie wusste, dass sie helfen konnte.
Adriana hatte seit Tagen nicht geschlafen. Sie hatte zugehört. Sie hatte ihren Wachen zugehört und ihren Bürgern. Sie hatte dem gelauscht, was die Menschen brauchten und warum sie von einer Herrscherin, die sie eigentlich lieben sollte, nicht mit Achtung behandelt wurden. Und eines hatte sich gezeigt: Paliano brauchte keine Monarchie, die sich hinter Schlössern und Meuchlern versteckte. Es brauchte einen Herrscher, der Fiora als Ganzes verstand.
An ihrem Ziel angekommen klopfte Adriana leise an eine reich verzierte Tür, die aus einem harten, fremdartigen Holz gefertigt war. Die Tür quietschte, und sie gab den Blick auf ein Gesicht preis, das jeder in Paliano sofort erkannt hätte.
Die elfische Kundschafterin Selvala stand auf der anderen Seite der Tür und musterte ihren unerwarteten Gast rasch von Kopf bis Fuß.
„Adriana. Bringst du Neuigkeiten?“
„Ich bringe einen Vorschlag.“
Selvala sah die frühere Wachkommandantin kurz prüfend an. Dann nickte sie und bat Adriana stumm herein.
Selvalas Wohnstatt war hübsch und bescheiden – das Heim einer Reisenden fernab ihres Zuhauses.
Adriana ließ ihren Mantel neben der Tür und setzte sich zu der Elfe an einen Tisch vor einem Holzofen. Selvala wartete, wie es Brauch bei ihrem Volk war, schweigend darauf, dass ihr Gast zu sprechen begann und den Grund für sein Erscheinen nannte.
Es gibt keine andere Möglichkeit , dachte Adriana. Wenn sie nicht zustimmt, ist unsere Stadt für immer an die Tyrannen verloren.
Adriana nahm eine kleine Tasse Tee, die die Elfe auf den Tisch gestellt hatte. Sie sah Selvala in die Augen und nahm ihren Mut für den wichtigsten Vorschlag zusammen, den sie je jemandem unterbreitet hatte. „Die Monarchie in Paliano ist nicht stabil. Sie ist ein endloses, mörderisches Mahlwerk der Gewalt“, sagte Adriana, die Stimme in der Ungestörtheit des Hauses der Elfe fest und sicher.
Selvala nickte. Eine kleine Regung voller Zustimmung.
„Wenn wir Bürger die Hoffnung auf Frieden wollen, dann muss dieses Mahlwerk angehalten werden. Ihr seid bei den Menschen wohl geachtet und eine alles verbindende Kraft in der Stadt“, fuhr Adriana fort, „und die beste Wahl für einen Senator, die ich mir vorstellen kann.“
Selvalas Blick weitete sich in halb verhohlener Überraschung.
Adriana beugte sich in ihrem Sessel vor. Ihr Herz brannte vor der Überzeugung einer ganzen Stadt. Sie gestattete sich ein seltenes Lächeln, während sie die wichtigste Frage stellte, die sie je in ihrem Leben stellen würde.
„Werdet Ihr uns dabei helfen, die Republik Paliano zu errichten?“
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Planeswalker-Profil: Kaya
Weltbeschreibung: Fiora