Sarkhan Vol hat eine sonderbare Reise hinter sich, und seine Suche nach Erkenntnis ist beinahe vorüber. Er reiste durch die Zeit, veränderte die Vergangenheit und kehrte in eine Gegenwart zurück, die durch sein Eingreifen verändert worden war. Er traf auf alte Freunde und Feinde, doch niemand erinnerte sich an ihn. Er hatte nach Narset gesucht, deren Opfer es ihm erst möglich gemacht hatte, die Vergangenheit zu ändern, aber er vermochte sie nirgendwo auf Tarkir zu finden.

Nun muss er das einzige andere Geschöpf aufsuchen, das ihm dabei helfen kann, alles zu verstehen: Ugin, jenen Geisterdrachen, den er vor mehr als tausend Jahren in einem Kokon aus Polyedern schlummernd zurückgelassen hatte.


Sarkhan hielt die Schwingen majestätisch ausgebreitet, während er hoch über das Buschland und die Steppe Tarkirs hinwegsegelte. In seiner Drachengestalt konnte er die Witterung eines jeden Drachen in einem Umkreis von mehreren Meilen aufnehmen, Einzelheiten ausmachen, die dem menschlichen Auge verborgen blieben, und jene warmen Aufwinde erspüren, die ihn immer höher hinauf in den Himmel trugen. Und wenn er diese Gestalt angenommen hatte, fragte er sich bisweilen, ob er überhaupt je ein Mensch gewesen war und warum er je einer hätte sein wollen.

Zurgo war am Leben, doch von Grund auf verändert. Sarkhans verhasster Feind war tot. Mehr als tot sogar: jenseits jeglicher Vergebung oder Rache. Dieser Zurgo hatte nie existiert. Er war ersetzt worden durch eine Kreatur, die einem Drachen diente und eine Glocke schlug. Knöchelkerber war am Leben, wenn auch mit einem anderen Namen und einem anderen Dasein. Sie hatte überlebt, statt den Tod zu finden, doch sie kannte ihn nicht.

Ugin war ebenfalls am Leben, doch er lag in tiefem Schlummer, weggesperrt durch Sarkhans eigenes Tun. Seine Lebenskraft pulsierte im Herzen eines Gefängnisses aus Polyedern und nährte die Stürme, in welchen die Drachen geboren wurden. Die glorreichen Drachenältesten der früheren Ära schienen gleichermaßen überdauert zu haben und von prächtigen Bestien zu ehrfurchtgebietenden Herrschern aufgestiegen zu sein.

Ebene | Bild von Florian de Gesincourt

Alle, so schien es, hatten überlebt. Alle außer zweien. Sarkhan. Und Narset. Wo war sie? Wo war er? Was war er nun, hier am anderen Ufer des großen Stroms der Zeit?

Ugin würde es wissen. Ugin musste es wissen.

Vor ihm, viele Meilen voraus – in der Nähe jener Schlucht, in der Ugin ruhte, wie er vermutete – schoss ein blau-weißes Licht in weiten Spiralbögen in den Himmel hinauf. Heiter stieg es höher und höher, leuchtend wie eine zweite Sonne, ehe es schließlich wieder hinabsank. Sarkhan konnte nicht erkennen, wo es landete. Konnte das sein? War Ugin ... erwacht? Hatte jemand ihn befreit? Hatte er sich selbst befreien können?

Ein tief verwurzelter Urinstinkt trieb ihn an, hin zu Ugins Schlucht, schneller, immer schneller. Doch auch am Himmel war eine gerade Strecke nicht immer der schnellste Weg, und die Luft war weit davon entfernt, einfach nur leerer Raum zu sein. Sein Drachengeist war sich dessen bewusst – und endlich hatte er gelernt, auf ihn zu hören. Er vollführte eine rasche Kehre und ließ sich von dem Aufwind weiter in die Höhe tragen.

Von dort sollte ihn ein langer Gleitflug geradewegs zur Schlucht und damit zur Wahrheit führen.


Als die Sonne ihren Zenit erreichte, kam die Schlucht in Sicht. Er achtete nicht auf den Himmel über sich, und so sah er seinen Angreifer erst, als dieser sich bereits auf ihn stürzte.

Ein geisterhafter Drache, der blauen und weißen Nebel hinter sich herzog, tauchte von oben herab und verlangsamte seinen Flug erst im letzten Augenblick. Eine Welle aus Hitze brandete über ihm zusammen – Feuer ohne Flammen. Ugin! Die Hitzewoge versengte kaum seine Schuppen, und der Geisterdrache rührte ihn körperlich nicht an. Er schwebte ein paar Leibeslängen entfernt, ruhig und dennoch bedrohlich. Er verströmte nicht den geringsten Geruch.

Ugins Spross | Bild von Cliff Childs

Sarkhan knurrte, ein Geräusch, das halb an einen verärgerten Tiger erinnerte und halb an abgehackte Drachensprache. „Geh mir aus dem Weg.“ Er stieß helle Flammen aus, um seiner Aufforderung Nachdruck zu verleihen, und flog weiter.

Bald gesellten sich neue Geister zu dem ersten hinzu. Sarkhan raste auf die Schlucht zu, verfolgt von etwa einem halben Dutzend jener geisterhaften Kreaturen, deren feurigem Atem er nur knapp entrinnen konnte. Dann drehten sie ebenso plötzlich ab und tauchten in Wolkenbänke ein, wo ihre durchscheinenden Körper im feinen Dunst verschwanden. Innerhalb eines Wimpernschlages war keine Spur mehr von ihnen zu entdecken.

Er flog über die Schlucht hinweg und hielt nach irgendeinem Zeichen für die Anwesenheit der geisterhaften Drachen Ausschau. Die große Struktur aus Polyedern, die er bei seiner Ankunft gesehen hatte, war in sich zusammengefallen und bestand nun nur noch aus Teilen, die nicht größer waren als das, was er vom Auge hierher mitgebracht hatte. Der Boden der Schlucht war von feinem Staub und Geröll bedeckt, in das Runen eingraviert waren. Kein Leichnam, keine Gebeine. Sein Drachenherz schlug schneller. Ugin lebt.

Sarkhan verwandelte sich, während er zur Landung ansetzte. Seine Füße waren menschlich, als er auf dem Geröllfeld aufkam, während seine Schwingen schrumpften und sich ins Nichts zusammenfalteten.

Sarkhan der Ungebrochene | Bild von Aleksi Briclot

Dort, am Ende der Schlucht, ragte eine leuchtende Gestalt mit ausgebreiteten Schwingen auf. Ugin blickte nicht Sarkhans Richtung, sondern auf die Wand der Schlucht, umringt von weiteren geisterhaften Wächtern. Auf der Felswand vor ihm waren Bilder aus ganz Tarkir zu sehen. Die schlanken, anmutigen Formen von Ojutais Drachen glitten über die hoch aufragenden Klöster seines Klans hinweg. Eine Horde wilder Krieger ritt durch die Steppe, gefolgt vom Schwirren der Blitze der Drachin Kolaghan. Ein dicklicher Drache lümmelte sich – mit Schmuck behangen und von Höflingen umsorgt – in einem muffigen Palast. Die gehörnten Drachen, die Sarkhan bei seiner Ankunft in Tarkirs Vergangenheit gesehen hatte, glitten tief über kahle, rauchende Berge. Schwer gewappnete Menschen zogen unter den wachsamen Augen hoheitlicher, breitbrüstiger Drachen in den Krieg. Es gab sogar ein Bild von Sarkhan selbst, wie er in dieser Schlucht stand.

Ugin wandte sich um, und die Reihen seiner Geisterwächter teilten sich. Er war strahlend hell, die reine Idee eines Drachen, die zu Fleisch und Blut geworden war.

„Vergib meinen Wächtern“, sagte Ugin. „Sie sind etwas übereifrig. Ich rief sie zurück, gleich nachdem ich dich bemerkt hatte.“

„Dann ... kennst du mich also?“

Ugin lächelte.

„Ja und nein“, sagte er. „Ich weiß, was du getan hast. Ich schulde dir meinen Dank. Und du schuldest mir eine Erklärung.“

Sarkhans Augen weiteten sich.

„Großer Ugin ...“, sagte er. „Ich kam in der Hoffnung hierher, dass du mir all dies erklären könntest. Was könnte ich schon wissen, was du nicht weißt? Welche Fragen könnte ich denn schon beantworten?“

„Ich habe tausend Jahre lang geschlafen“, sagte Ugin. „Du bist vielleicht der Einzige, der wahrhaft versteht, was hier geschehen ist. Wer bist du? Was ist mit meiner Welt geschehen? Wie konnte dies ...“ Er öffnete die Hand und ein Splitter eines Polyeders erhob sich aus dem Geröll, um über seiner Handfläche zu schweben. Nicht irgendein Splitter – der Splitter, den Sarkhan aus dem Auge von Ugin mitgenommen hatte. Nach all dieser Zeit war er noch immer unversehrt. „Wie konnte dies in der Zeit zurückreisen, um vor mehr als tausend Jahren hier anzukommen?“

Sarkhan klappte der Kiefer herunter.

„Dann weißt du bereits, was geschehen ist.“

„Keineswegs“, erwiderte Ugin, „Ich wende nur schlichte Logik an.“ Der Splitter pulsierte. „Dies stammt aus dem Auge von Ugin auf Zendikar. Dieser Stein gehörte zur inneren Kammer des Auges und hätte nur entfernt werden können, wenn die Kammer geöffnet worden wäre. Und wäre dies vor meiner ... Niederlage geschehen, hätte ich es sofort gewusst. Ich kenne keine Macht im Multiversum, die dies hätte verhindern können. Folglich muss es danach geschehen sein.“

Ugin richtete sich zu voller Größe auf und funkelte Sarkhan aus einer Höhe von vierzig Schritt herab an.

Ugin der Geisterdrache | Bild von Raymond Swanland

„Doch meine Frage ist noch unbeantwortet“, sagte er. „Wer bist du, Planeswalker? Und wie ist dieser Stein in deinen Besitz gelangt?“

„Mein Name ist Sarkhan Vol.“

Vol war vergessen und Sarkhan verboten, aber dennoch konnte nun kein Zweifel mehr daran bestehen. Dies war sein Name.

„Sarkhan“, sagte Ugin mit einem Hauch von Belustigung. Großer Khan. Er deutete auf die Bilder an der Felswand, die ganz Tarkir zeigten. „Sie verneigen sich vor dir?“

„Nein“, sagte Sarkhan. „Doch ich verneige mich vor niemandem.“

„Fahr fort.“

„Ich stamme von Tarkir“, sagte Sarkhan, „aber mein Tarkir war nichts als ein Grab: ein Friedhof der Drachen, die von den alten Khanen gejagt und getötet wurden. Du warst tot, Ugin. Ich habe deine Knochen in ebendieser Schlucht hier gesehen.“

Ugin schien teilnahmslos.

„Du sprachst zu mir“, sagte Sarkhan. „Dein Geist ... sprach zu mir. Flüsterte zu mir vom Glanz der Drachen. Erzählte mir, dass alles, was ich über das Wesen dieser Welt vermutete – die Dekadenz, die Falschheit, die Leere –, völlig zutraf. Ich wusste damals nicht, dass du ein Planeswalker bist. Ich wusste nur, dass du ein Geist bist. Mein eigener Funke entzündete sich in einem Flammenmeer. Ich verließ Tarkir, und deine Stimme verstummte. Ich fand Drachen, gewaltige Bestien, die meine Ehrerbietung verdienten. Nicht zuletzt deshalb, da es sie nicht kümmerte, dass sie sie hatten. Dann ... dann fand ich einen, der sie zu schätzen wusste, und ich Narr schloss mich seiner Sache an. Er schickte mich zum Auge.“

„Wer?“, fragte Ugin.

„Du musst eines verstehen“, sagte Sarkhan, „Ich war nicht bei Verstand. Er war nicht, wofür ich ihn hielt. Ich zerbrach daran und beugte mich seinem Willen.“

Wer?

„Nicol Bolas“, sagte Sarkhan kläglich.

Grausames Ultimatum | Bild von Todd Lockwood

Ugin hob eine Hand, und eine Kugel aus schimmernder Macht formte sich um Sarkhan. Er drückte dagegen, doch sie war weich und warm und gab keinen Deut nach. Die Runen an Ugins Hals glühten hell.

"Bolas schickte dich zum Auge?“, fragte Ugin. „Warum?“

„Er wollte ..." Sarkhan zögerte, als er Erinnerungen durchforstete, die vom Wahnsinn verzerrt waren. „Er wollte, dass es geöffnet wird. Dass die Verschlinger freikommen. Er hat mir nie gesagt, warum.“

Ugin spreizte die Halskrause.

„Wenn er die Befreiung der Eldrazi eingefädelt hat, so ist er wesentlich unvorsichtiger, als ich ihn in Erinnerung habe.“

„Er ist besessen vom Streben nach Macht“, sagte Sarkhan. „Er war einst wie ein Gott, sagte er mir – doch das war einmal. Nun will er diese Macht zurück.“

„Und du?“, fragte Ugin. „Was willst du, Sarkhan Vol?“

„Ich will für immer von ihm befreit sein“, sagte Sarkhan. „Ich will, dass er eines Tages für das bezahlt, was er mir angetan hat. Und dir.“

Ugin winkte erneut mit einer Klauenhand, und die Kugel aus magischer Kraft verschwand.

„Du bist also zum Auge gereist. Waren dort andere?“

„Ja“, sagte Sarkhan. „Eine Pyromagierin und ein Gedankenmagier. Beides Planeswalker. Wir kämpften. Die Pyromagierin besiegte mich schließlich mit ...“ Ihm dämmerte eine Erkenntnis. „Mit deinem eigenen Feuer, Ugin. Irgendwie wusste sie es.“

„Interessant“, sagte Ugin. „Und dennoch hast du überlebt.“

„Sie hatten kein großes Verlangen nach einem Kampf gegen mich. Sobald ich außer Gefecht gesetzt war, flohen sie. Als ich erwachte, hörte ich wieder deine Stimme. Das Auge war geöffnet. Ich brachte den Polyedersplitter zurück zu Bolas und erzählte ihm, dass du zu mir gesprochen hattest. Er sagte mir, er hätte dich getötet ... und dann war da noch etwas über eine Art Sicherheitsmechanismus ... Und dann schickte er mich fort.“

„Und dann kamst du hierher?“

„Hierher, aber doch nicht hierher“, sagte Sarkhan. „Ich kehrte auf mein Tarkir zurück: ein Tarkir voller Khane und Drachenknochen. Deine Stimme wurde immer lauter. Sie drängte mich, zu dieser Schlucht zu kommen. Ich erreichte sie mithilfe einer ... Freundin. Dein Tod erzeugte eine Art ... Wirbel in der Zeit, der jenen Augenblick mit der Gegenwart verband. Als ich hineintrat, reiste ich zurück in eine Zeit, bevor die Drachen starben, und ich veränderte den Lauf der Geschichte. Und dann war ich hier, wahrlich hier: in einer Welt, die durch meine eigenen Handlungen verwandelt worden war.“

„Weißt du, was geschah, nachdem ich fiel? Ich hatte noch keine Gelegenheit, die Geschichte zu studieren.“

„Ein wenig“, sagte Sarkhan. „Die Drachenstürme flauten nie ab. Die Drachen starben nie aus. Die Khane fielen. Und an ihrer Stelle erhoben sich fünf Drachenälteste. Diese Drachenfürsten nahmen ihren rechtmäßigen Platz als Herrscher über diese Welt ein. Wo einst Klane gegen Drachen kämpften, sind Drachen und Klane nun eins.“

Ugin wandte sich zur Felswand um und betrachtete die Szenen, in denen Drachen und Menschen gemeinsam in den Kampf zogen. Sarkhan blickte finster drein. Ugin war sein Führer gewesen, sein Vertrauter ... der Einzige, der daran geglaubt hatte, dass er die Welt verändern könnte. Ugin hatte es gewusst. Doch dieser Ugin hier schien alles andere als allwissend.

„Ich habe deine Fragen beantwortet“, sagte Sarkhan. „Wirst du nun meine beantworten?“

Ugin wandte sich zurück zu Sarkhan und nickte.

„Zu sterben, zu mir zu sprechen, mich zurückzuschicken ...“, sagte Sarkhan. „Du erinnerst dich tatsächlich an nichts davon?“

Quälende Stimme | Bild von Volkan Baga

„Das Letzte, woran ich mich erinnere“, sagte Ugin, „sind du und dein Polyedersplitter, nachdem Bolas mich niedergestreckt hatte. Dann schlummerte ich. Zeit verging, doch wie viel, das weiß ich nicht zu sagen. Ich schlief ... und heilte. Ein Verbündeter, ein Vampir und ein Planeswalker, weckte mich auf und sprach zu mir über ‚Torheit am Auge‘. Er meinte dich und die anderen beiden, obwohl ich nicht sicher bin, woher er das wusste. Sorin Markov – kennst du ihn?“

Sarkhan schüttelte den Kopf. Verwirrung breitete sich in ihm aus. Der Gefährte in seinem Geist war nicht Ugin gewesen ... oder zumindest nicht dieser Ugin.

„Wer sprach dann zu mir, wenn nicht du?“, fragte Sarkhan. „Die Freundin, die mich herführte ... Sie fand den Tod wegen ihrer Hilfe. Wo ist sie nun? Wer war sie? Wer ist sie? Eine ganze Welt ist durch mich verschwunden, Ugin. Und obwohl ich keine große Zuneigung zu ihr empfand, so war sie doch meine Heimat. Was geschah mit diesem Tarkir?“

„Es ist fort“, sagte Ugin. „Sie ist fort. Mehr als das: Die Welt, an die du dich erinnerst, hat nie existiert. Ihre Bewohner ereilten gänzlich andere Schicksale. Und das, was am Auge zu dir sprach, war der Geist von jemandem, der nie starb. Ein Geist, den du aller Wahrscheinlichkeit nach selbst dorthin gebracht hast. Oder vielleicht auch nur eine Stimme.“

„Andere Schicksale ...“, sagte Sarkhan. „Ich traf Menschen, die aussehen wie jene, die ich einst kannte, sowohl Freunde als auch Feinde. Doch sie kannten mich nicht. Als wäre ich nie geboren worden. Doch wie kann das sein? Wenn ich nie geboren wurde, woher komme ich dann? Wer ging zum Auge? Wer rettete dich?“

„Du“, sagte Ugin. „Das Auge liegt in deiner Vergangenheit, in der Vergangenheit dieses Polyedersplitters. Du gingst dorthin, du bist in Tarkirs Vergangenheit gereist, und du hast den Splitter verwendet, um mich zu retten. So muss es geschehen sein, denn sonst wäre die Veränderung selbst nicht möglich gewesen. Welche Umstände auch immer eintraten, als ich starb – was auch immer mein Geist tat, das es dir erlaubte, in der Zeit zurückzureisen –, es betrifft nur Tarkir. Und das bedeutet, dass du, Sarkhan Vol, vollständig geformt einem Schatten entsprungen bist. Einem Ort, der nie existiert hat.“

„In der Geschichte dieser Welt wurde ich also tatsächlich nie geboren“, sagte Sarkhan. Erkenntnis setzte ein. „Eines Tages entsprang ich dem Himmel ... wie ein Drache.“

Drachengewitter | Bild von Willian Murai

„Das ist gut möglich“, sagte Ugin.

„Ich bin also nun eine Kuriosität“, sagte Sarkhan schmunzelnd. „Eine Waise der Zeit. Ob sie nun von einem Spuk oder einem Wahn herrührte: Die Stimme, die mich geleitet hat, ist verstummt. Mein Geist gehört nur mir, und Tarkir ist die Welt, nach der ich mich immer gesehnt habe.“

Er wich einen Schritt zurück.

„Du sagst, meine Freundin ist fort. Auch Ojutais Mönche sagten das. Ich sage, dass sie wieder lebt, und ich werde sie finden.“

Er konzentrierte sich, sammelte Mana in sich an und erweckte seinen inneren Drachen. Es war nun nicht mehr so mühsam. Mit jedem Mal wurde es noch leichter. Seine Drachengestalt kam zum Vorschein.

„Danke“, sagte er, ehe sein menschlicher Mund verschwand, und schwang sich zum Himmel auf.

Die Schlucht unter ihm wurde kleiner und kleiner, und das eisige Ödland breitete sich vor ihm aus. Die Narset, die er gekannt hatte, strebte mehr als alles andere nach Wissen. Und diese Suche hatte sie letzten Endes hierher geführt: zu Ugins Schlucht. Wenn die Narset dieser Welt ausgestoßen und als Ketzerin gebrandmarkt war ... wo sonst sollte sie dann sein?

So schnell er konnte flog er das Tal ab, ritt auf Luftströmen in die Höhe und glitt wieder nach unten, wobei er mit scharfen Blick nach einer Bewegung Ausschau hielt. Als die Sonne dann schließlich schon tief am Himmel stand, sah er sie entschlossen durch den knietiefen Schnee stapfen. Er ließ sich auf einen nackten Felsen nieder und schüttelte seine Schuppen ab, um wieder menschliche Gestalt anzunehmen. Mit dem Stab in der Hand stand er da und wartete.

Sie kam nur langsam voran, doch sie hatte ihn gesehen und wandte sich zu ihm um. Sie sah anders aus. Er sicher auch. In ihren Augen pulsierte Macht. Diese Narset hatte etwas berührt, was die andere Narset nur mit einem flüchtigen Blick gestreift hatte.

Ein paar Schritte entfernt hielt sie an. Sie sagte nichts.

„Narset!“, sagte er. „Du lebst!“

Sie musterte ihn mehrfach von Kopf bis Fuß, bis ihr Blick schließlich an seinem Gesicht hängen blieb. Sie blinzelte.

„Ich kenne dich nicht“, sagte sie und wandte den Blick ab. „Oder?“

„Ich bin Sarkhan“, sagte er.

"Du bist der Sar-Khan?“, fragte sie. Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Oder gibst du dich nur für ihn aus?“

„Du hast von mir gehört?“, fragte Sarkhan. Er lachte. „Das ist wundervoll! Auf ganz Tarkir bist du wohl die Einzige, die mich kennt. Aber wie kann das sein?“

Sie machte sich daran, ihn einmal zu umrunden.

„Ich muss Ugin finden“, sagte sie kopfschüttelnd.

„Er ist dort in der Schlucht“, sagte Sarkhan, „aber ich fürchte, dass er viel mehr Fragen als Antworten hat. Narset, woher kennst du mich?“

Sie hielt inne.

„Du bist nicht ... irgendein Scherge des Drachenfürsten, der mich für meine Ketzerei bestrafen will, oder?“

„Ich diene niemandem“, sagte Sarkhan. „Ich bin dein Freund ... oder vielmehr war ich das. Ich hoffe, es wieder zu werden.“

„Mein Freund ...“, sagte Narset. „Aber ich bin dir doch noch nie begegnet. Wie kann das sein?“

Sarkhan wägte seine Möglichkeiten ab ... und entschied sich für die Wahrheit, ungeachtet dessen, dass sie wohl abenteuerlicher klingen mochte als alle Lügen, die er sich ausdenken konnte.

„Die Narset, die ich kannte, stammte von Tarkir, aber nicht von diesem Tarkir. Von einem Tarkir ohne Drachen. Einem Tarkir der Khane und der Klane. Meiner Heimat. Sie starb, damit ich in die Vergangenheit reisen und die Geschichte neu schreiben konnte. Sie starb, damit Ugin – und du – leben konntet. Sie war meine Freundin.“

„Dann sind die Geschichten wahr“, sagte Narset. Ihr Blick huschte hin und her, als würde sie etwas lesen.

„Welche Geschichten?“

„Geheime Geschichten“, sagte sie. „Über einen Drachenmann, einen Sar-Khan, der aus etwas kam, was man das Ungeschriebene nennt: eine spirituelle Vision der Zukunft, über die ein alter Klan namens Temur schrieb. In ihnen heißt es, der Sar-Khan habe wirr von einer Welt ohne Drachen gefaselt. Er rettete Ugin und verschwand dann wieder im Ungeschriebenen. Ich habe die Geschichte nicht geglaubt. Nicht in allen Einzelheiten. Doch ... sie ist wohl wahr? Das Ungeschriebene, die Khane, alles?“

Lehren der Vergangenheit | Bild von Chase Stone

„Ich weiß nicht, was du gelesen hast“, sagte Sarkhan lächelnd. „Doch alles, was du sagst, ist wahr. Selbst das wirre Faseln, schätze ich.“

„Daher kenne ich dich“, sagte Narset. „Aber du kennst mich nicht wirklich, oder? Du kennst eine ... ungeschriebene Narset. Ein Phantom.“

„Ich schätze, so ist es“, sagte Sarkhan. „Ja. Ich kannte Narset. Aber dich kenne ich nicht.“

Narset runzelte die Stirn, als suchte sie nach Worten.

„Standest du ihr ... nahe?"

„Das wäre wohl irgendwann geschehen, hätten wir genug Zeit gehabt“, sagte Sarkhan. „Doch nun ist sie gleich doppelt fort: tot und nie geboren. Du bist nun hier. Aber wo warst du? Ich habe dich unter den Ojutai gesucht. Der Mann, mit dem ich sprach, nannte dich eine Ketzerin, und er sagte, du seist ‚fort‘. Sprach er von einem Exil?“

Narset schüttelte den Kopf.

„Nein“, sagte sie. „Von etwas weitaus ... Größerem. Es wird sich irrwitzig anhören, doch ich reiste weit über Tarkir hinaus. Über das Geschriebene ebenso wie das Ungeschriebene. Bis in ...“

„Bis in eine andere Welt?“, fragte Sarkhan.

Narsets Augen weiteten sich.

„Woher weißt du das?“

„Planeswalker“, sagte Sarkhan. „So nennt man uns. Es gibt nur sehr wenige von uns. Doch mit dir, mir und Ugin befinden sich gleich drei gerade jetzt in diesem Tal.“

Narset die Erleuchtete | Bild von Magali Villeneuve

„Ugin“, sagte Narset. „Ich muss mit ihm sprechen.“

Sie ging wieder los, fort von ihm, durch den Schnee.

„Vielleicht solltest du das“, sagte Sarkhan. „Ich hoffe, er hat mehr Antworten für dich, als er für mich hatte. Und danach?“

„Mache ich mich auf den Weg in Atarkas Lande“, sagte Narset im Gehen. „Gerüchten zufolge gibt es dort alte Geschichten zu finden, die in Mammutbein geschnitzt sind und die bis zum Sturz der Khane zurückreichen.“

„Du hast nicht vor, Tarkir wieder zu verlassen?“, fragte Sarkhan. „Es gibt unzählige Welten zu erforschen, und du kannst unmöglich schon alle gesehen haben.“

„Eines Tages werde ich sie sehen“, sagte Narset und warf einen Blick über die Schulter. „Doch diese Welt birgt genug Geheimnisse. Für den Augenblick bin ich genau dort, wo ich sein will.“

Sarkhan sah lächelnd auf die Tundra hinaus. In der Ferne glitten Drachen dahin.

„Ich weiß genau, was du meinst.“