Was bisher geschah: Vertrauen

Die Stadt Naktamun ist zu perfekt, um real sein zu können. Sie ist glänzend und makellos und ihre Bewohner jung und voller Glauben. Fest entschlossen, Nicol Bolas‘ Absichten für diese Welt herauszufinden, erkunden Nissa und Chandra auf der Suche nach Antworten die Stadt. Und das, was sie finden, stellt all ihre bisherigen Annahmen über Amonkhet infrage.


Sie ist umgeben von Dunkelheit und einem endlosen Strom an Unbehagen. Schwach pocht der Pulsschlag dieser Welt um sie herum.

Ich lebte ... einst, scheint die Welt mit rauer, sandiger Stimme zu wispern.

Sie spürt Leben, doch die Welt selbst ist nicht mehr lebendig. Das, was von ihr übrig ist, ächzt voller Trotz auf.

Er konnte mich nie wirklich töten. Ich verabscheue den Tod.

Ein Bild: Eine halb aufgefressene, untote Antilope wird von hungrigen, glücklichen Geiern verfolgt. Eine Elefantenmutter liebkost den neu auferstandenen Leib ihres toten Kindes.

Die, die sterben, kehren stets zurück. Das ist der Fluch des Umherirrens. Mein Geschenk.

Sie versteht. Was tot ist, wird – sofern es noch nicht zersetzt ist – wieder auferstehen.

Plötzlich versinkt sie – tief, tief unter die Oberfläche der Welt.

Bild von Sam Burley
Bild von Sam Burley

Ihr Bewusstsein ist nun irgendwo Hunderte von Fuß unter der Erde. Sie spürt, dass die Höhle, in der sie sich jetzt befindet, vor langer Zeit von sorgsamer Hand erschaffen wurde. Die abgestandene Luft ist stickig, dunkel und schwer von süßlichem Ton und verdichtetem Sand. Die einzige Bewegung ist das Zucken von Skarabäen.

Ihre Toten wurden hierhergeschickt, auf dass ich sie vor der Verwesung bewahrte ...

Die Gänge sind leer. Nicht einmal die Käfer wissen, wo ihre Nahrung hin ist.

An diesem Ort hat sie keine körperliche Gestalt. Ihr Leib ist hoch droben an der Oberfläche, schwitzt und schüttelt sich im Fieber einer vom Mangel kranken Welt.

Dies war einst mein liebster Ort.

Er ist der Nachhall eines Schreis.

Sie begreift nun, dass dies einst Katakomben waren. Hier war es sicher und gut.

Ich schützte die Gefäße, um ihre Seelen am Leben zu erhalten, und er nahm ...

Die Brust der Elfe wird eng vor Beklemmung. Ihr Geist hier drunten kann es dort hoch oben spüren.

Er nahm sie – !

Die Höhle ist vollkommen leer.

Er nahm sie sich alle, er verdarb sie alle, bitte beende meine Schuld, ich konnte sie nicht beschützen – !

Ihr Leib dort droben zittert vor Furcht. Sie blickt hinauf zur Decke der Katakomben, zwingt sich, aus dem Sand und den Skarabäen und den Schlangen, von denen sie umringt ist, aufzustehen –

Nissa erwachte.

Amonkhet war alt ... voller Trauer und verzweifelter Furcht.

Das Morgenlicht ergoss sich durchs Fenster. Die größere Sonne stieg auf und tauchte das Leinen auf ihrem Bett in einen feinen, verwaschenen Glanz. Es war heiter und warm, und die Luft roch nach einem sanften Wüstenmorgen, doch die Enge in Nissas Brust wollte nicht weichen. Vielleicht war es hier an der Oberfläche einen Versuch wert? Sie schloss die Augen und rief nach der Seele der Welt.

Es fühlte sich an, als setzte sich sich in eine Wanne voller Nägel und Reißzwecken.

Nissa schnappte nach Luft und brach die Verbindung ab. Die Enge in ihrer Brust blieb.

Nissa setzte sich auf und blickte sich im Raum um. Chandra und Jace schliefen noch, aber Gideon war merkwürdigerweise nicht hier.

„Chandra?“, flüsterte Nissa.

Der grob an eine Frau erinnernde Haufen in dem Bett auf der anderen Seite des Raumes regte sich leicht.

„Chandra, bitte wach auf.“

Chandra öffnete schlaftrunken ein Auge. „Wasistdennlos?“

Jace hatte sich nicht gerührt, doch Nissa sprach trotzdem leise.

„Ich gehe spazieren, um die Frau von gestern zu finden. Kommst du mit?“

„Hrmpf. Sicher.“ Sie setzte sich auf und streckte sich, einen Arm nach dem anderen, bevor sie sich den Schlaf aus den Augen rieb. „Ich möchte aber vorher Frühstück–“

Bei dem Wort „Frühstück“ stürzte eine weiß-bandagierte Mumie in den Raum, die ein Tablett voller Brot und eine Karaffe mit etwas trug, was nach Ale roch.

Nissa schrie verdutzt auf und drückte sich gegen die Wand, während Chandra aufkreischte. Jace fuhr vor lauter Aufregung aus dem Bett, vom fremden Raum und dem Leichnam, der ihnen Frühstück brachte, völlig desorientiert.

Die Mumie nahm keine Notiz davon und setzte das Tablett vorsichtig, damit das Ale nicht versehentlich umgekippt werden konnte, auf einem Beistelltisch ab.

Die drei starrten schweigend und beunruhigt auf die sich anmutig aufrichtende Mumie, ehe diese sich umdrehte und den Raum verließ.

Die einzigen Geräusche waren ihre eigenen panischen Atemzüge, gefolgt von einem wahren Feuerwerk an Fragen.

„Warum ist die hier drinnen – ?“

„Klopft man hier nicht an?“

„Gehört sie Liliana?“

„Ich hoffe doch sehr, dass das nicht du warst!“, schrie Jace die Wand an.

Lilianas gedämpfte Stimme antwortete laut und schneidend: „Das war ich nicht!“

Nissa wand sich händeringend aus dem Bett. „Ich muss hier raus. Ich gehe spazieren.“

Chandra nickte und zog die Stiefel an. „Ich bin jetzt wach. Ich komme mit.“ Sie hob rasch ihre Bettdecken vom Boden auf und deponierte sie auf ihrer Schlafstatt, ehe sie anfing, ihre Rüstung anzulegen. Nissa fragte sich abwesend, wie sie all das tragen konnte, ohne dass es ihr zu warm wurde, und erkannte dann, was für eine alberne Frage das war.

Jace war ebenfalls aufgestanden und beäugte das Essen, das die Mumie auf dem Tisch zurückgelassen hatte. Er blickte stirnrunzelnd auf das dunkle Bier. „Gebt mir einen Augenblick zum Aufwachen.“

Chandra schlenderte herüber, während sie die Schnürung ihrer Plattenrüstung festzog. „Das ist nicht gerade Kaffee, oder?“

„Es ist das Gegenteil von Kaffee“, erwiderte Jace.

Chandra winkte ihm zum Abschied, und Nissa folgte ihr.


Selbst am Morgen roch Naktamun nach Schweiß. Nicht nach dem Schweiß der Arbeit oder der Folter, sondern nach dem der Ertüchtigung.

Horden junger Läufer zogen durch die Straßen der Stadt. Andere Bewohner stemmten auf einem der Dutzenden von Übungsplätzen, die die breite, kalksteingepflasterte Straße säumten, in Paaren Gewichte. Wieder andere trugen auf mit Seilen abgetrennten Sportplätzen Boxkämpfe mit sorgfältig einstudierten Bewegungen aus. Es gab keine Läden, keine Waren, die feilgeboten wurden, keine Bäcker oder Metzger oder Baumeister oder Büttel.

Jeder Bewohner war wach und stählte sich, und keiner von ihnen konnte älter als zwanzig Jahre sein.

„Das erste Mal in meinem Leben fühle ich mich alt“, sagte Chandra halb im Scherz. Sie und Nissa hielten kurz an, um zuzusehen, wie ein Achtjähriger einen Sechsjährigen beim Üben auf einer Hantelbank sicherte.

Das jüngere Kind keuchte vor Anstrengung, während es versuchte, die Hantel mit fest zusammengepressten Fäusten, die einander berührten, in die Höhe zu befördern.

„Mach das nischt so, du kannst das Gewicht so nischt kontwollieren!“, schalt das stehende Kind.

Nissa beugte sich zu Chandra hinüber und flüsterte leise genug, damit die Kinder es nicht hören konnten.

„Das ist eigenartig.“

Das war das erste Mal, dass Nissa das Wort jemals laut ausgesprochen hatte. Chandra nickte ernst und zustimmend, und sie gingen weiter.

Jedes Gebäude entlang der Straße war blendend weiß, peinlich sauber und in gutem Zustand. Kein Abfall lag auf der Straße herum, und kein Schlagloch ließ sie stolpern. Die beiden Frauen blieben inmitten der endlosen Gruppen junger Erwachsener dicht beisammen und kamen schon bald zu dem Schluss, dass niemand nur einfach so diese Straße hinunterging. Jeder hier stählte sich – außer ihnen.

Als Nissa genauer hinsah, erkannte sie, wie die Ordnung aufrechterhalten wurde. Eine Mumie strich die Seite einer Mauer mit weißer Farbe. Eine andere kehrte den Eingang zu einem Schlafsaal, und wieder eine andere führte Vieh zur Weide und noch eine leerte einen Nachttopf in die Gosse. Die verzauberten Toten waren es, die sämtliche Arbeit erledigten.

„Warum sollte Nicol Bolas eine Welt erschaffen und sie einfach so zurücklassen?“, fragte Nissa. Chandra zuckte die Schultern.

„Selbstsucht vielleicht? Eine ganze Welt zu erschaffen, die ihn anbetet, klingt doch nach ihm, oder?“

„Doch sollte ihn das nicht zum Hierbleiben bewegen?“

Darauf wusste Chandra keine Antwort.

Nissa betrachtete die Mumien im Vorbeigehen und überdachte ihre eigene Wahrnehmung des Todes. Die Mul Daya auf Bala Ged pflegten eine Beziehung zu den Geistern ihrer elfischen Vorfahren, die sie von den anderen Kulturen unterschied. Der Tod und die Geister der Toten waren ebenso sehr ein Teil ihres Lebens wie die natürliche Welt. Der Tod hier jedoch beruhte andererseits wesentlich stärker auf seinem körperlichen Aspekt. Das Bewahren der Leichen musste für diese Kultur genauso sehr im Mittelpunkt stehen, wie es Opfergaben an die Ahnen in Nissas eigener Kultur taten.

Wenn ich versuche, etwas zu verstehen, werde ich es nicht fürchten. Nissa dachte an Yahenni. Der Tod des Äthergeborenen war anders als alles, was sie bisher je gesehen hatte. Vielleicht war der Tod auf jeder Welt anders.

Ein Kopfschmerz braute sich hinter Nissas Schläfen zusammen, und sie wankte. Sie blickte nach unten. Ihr Magen zog sich vor Übelkeit zusammen.

„Was ist los?“, fragte Chandra. Nissa wurde klar, dass sie mitten auf der Straße angehalten hatte.

„Ich finde keine Worte dafür ...“

„Geht es dir nicht gut? Komm. Setz dich hin.“

Chandra führte sie zu einem Springbrunnen auf dem großen Platz. Nissa sah mit schwirrendem Kopf zu, wie Chandra sich einer weiß-bandagierten Mumie näherte. Sie sah, wie die Pyromagierin merkwürdig gestikulierte und deutete. Die Mumie blickte in ihre Richtung, verließ den Platz und kehrte Augenblicke später mit einem leeren Becher wieder. Chandra nahm ihn mit einem dankbaren Nicken entgegen, bevor sie zu Nissa und dem Springbrunnen zurückeilte.

„Ich weiß, er ist von einem von diesen toten Dingern, aber ich glaube, du kannst daraus trinken.“

Nissa nahm den Becher und tauchte ihn in den Brunnen. Sie trank und erkannte, dass sie ihren Durst die Oberhand hatte gewinnen lassen.

„Danke, Chandra.“

Chandra füllte den Becher ein zweites Mal und lächelte. „Lass uns eine Weile ausruhen. Wir können ja nicht gegen Drachen kämpfen, wenn wir Durst haben.“

Nissa seufzte ein trauriges Lachen. Ich könnte gerade gegen gar nichts kämpfen.

Sie saßen noch eine ganze Weile auf der Bank. Nissa war dankbar für den Schatten. Das Unbehagen dieser Welt übertrug sich auf sie, und sie wusste, dass es erst aufhören würde, sobald sie Amonkhet endgültig verlassen hatte. Je schneller sie den Drachen besiegten, desto besser.

Sie ertappte sich dabei, in den Himmel zu starren. Hoch droben sah sie das sanfte Schimmern der Barriere Hekma und dahinter den blassblauen Himmel. Ihr Blick auf die unendliche Weite wurde von dem grässlichen Hörnermotiv an der Kante des Gebäudes vor ihr gestört.

Sie stürzte einen zweiten Becher mit frischem Wasser hinunter. „Danke, dass du mich heute Morgen begleitest, Chandra.“

„Ich wäre nirgendwo lieber.“ Chandra spielte mit dem Riemen an ihrer Armschiene. Ihr Blick huschte in Nissas Richtung. Ein unwillkürliches Lächeln umspielte ihre Lippen – ein Erröten, eine unvermeidliche Woge der Zuneigung.

Nissa runzelte die Stirn. „Ich kann mir mindestens zwanzig Orte vorstellen, an denen ich lieber wäre als auf Amonkhet.“

Chandras Lächeln erstarb, und sie senkte den Blick.

Die beiden saßen schweigend da ... für die eine bequem, für die andere voller unausgesprochener Worte. Nissa holte tief Luft und gestattete dem Sprudeln des Springbrunnens und dem kühlen Schatten über ihr, ihre Nerven zu beruhigen. Chandra blickte weiter starr auf die Schnalle an ihrer Rüstung.

„Ich habe noch nie zuvor so viel Zeit in Städten verbracht“, sagte Nissa. „Nach Kaladesh und hier habe ich mehr als genug von Leuten.“

„Du scheinst es ganz gut zu verkraften“, gab Chandra zurück.

Nissa schüttelte den Kopf. „Ich bin nur besser darin geworden, mein Unbehagen zu verstecken. Es laugt mich oft aus, ständig von anderen umgeben zu sein.“

„Doch das gilt nicht für uns, oder?“

Die Frage weckte Nissas Aufmerksamkeit. Sie beobachtete, wie Chandra absichtlich den gleichen Riemen löste und dann wieder festzurrte.

Nissa runzelte die Stirn. Sie wog ihre Worte ab. „Ja und nein.“

Pfriemelnde Hände hielten inne, während ein mal hierhin, mal dorthin abschweifender Geist nach Worten suchte, unvertrauten Gefühlen Ausdruck zu verleihen.

„Die Freundschaft mit den Wächtern ist noch immer neu. Ich versuche noch, endgültig zu verstehen, was es überhaupt bedeutet, Freunde zu haben“, sagte Nissa.

Chandra gab ein leises Geräusch von sich und blickte auf den Platz. Ihre Haltung schien plötzlich bleiern schwer, und ihre Finger waren ungewöhnlich reglos.

Nissa fuhr fort: „Auf Zendikar war ich die meiste Zeit meines Lebens allein. Die Welt war mir das, was einem Freund am nächsten kam. Das Lernen von Vertrauen ging bisher ... nur langsam voran, und ich habe noch so vieles zu lernen. Eine Freundschaft zu verstehen und zu erhalten, ist etwas Herausforderndes, wenn man es noch nie zuvor getan hat.“

Chandra rutschte von einer Hinterbacke auf die andere. „Also dann ... Freundschaft?“

Nissa blinzelte. Chandra versuchte angestrengt, nicht zu starren.

„Ja“, sagte Nissa.

 

Nissa schloss die Augen und holte erneut tief Luft. Ihr Kopfschmerz klang ab. Es fühlte sich gut an, Unsicherheiten zuzugeben. Sie lächelte und sah Chandra in die Augen.

„Ich bin dankbar für deine Gesellschaft. Du hast mir viel darüber beigebracht, was es heißt, eine Freundin zu sein. Das bedeutet mir viel.“

„Alles klar. Ja.“ Ein leichtes Lächeln kehrte auf Chandras Gesicht zurück. „Ich möchte dir eine gute Freundin sein.“

Nissa strahlte. „Das bist du. Ich versuche mein Bestes, es dir gleichzutun.“

Chandras feines Lächeln wurde zu einem schmallippigen, aber aufrichtigen. Sie suchte den Blick ihrer Freundin. „Du machst das toll, Nissa.“

Beruhigt stellte Nissa ihren Becher auf den Rand des Springbrunnens.

„Ich glaube, es geht mir besser. Lass uns weitergehen.“

Die Elfe stand auf und schritt los. Nach einem Atemzug und einem schweren Seufzer folgte Chandra ihr.


Sie liefen so lange, bis sie etwas Altes fanden. Rhonas‘ Monument war gewaltig und nicht im Mindesten zu Unaufdringlichkeit imstande. Das Hauptgebäude war wie der Kopf einer riesigen Kobra geformt und sah anders als die anderen Häusern um es herum verwittert genug für mehrere Lebzeiten aus. Das Gebäude stand an einer Flussbiegung und blickte auf die Hörner in der Ferne.

Als Nissa sich näherte, bemerkte sie eine eigenartige Gestalt, die oben auf einem der Obelisken in der Nähe des Eingangs hockte. Eine einzelne Sphinx hatte sich dort niedergelassen und blickte mit unergründlichem Gesichtsausdruck auf die Gruppe von Akolythen, die sich unter ihr stählten.

Nissa hielt am Fuß des Gebäudes an und schaute hinauf. Chandra folgte ihrem Blick und war sichtlich unschlüssig, wie sie mit der Sphinx sprechen sollte.

„Ihr müsst die Reisenden sein, von denen ich schon so vieles gehört habe.“

Nissa fuhr herum und blickte den ältesten Menschen an, den sie bislang auf Amonkhet gesehen hatte. Die Frau schien Mitte Dreißig zu sein. Ihr Gesicht war ernst, und sie trug den hohen Hut eines Wesirs. Sie ging mit erhobenem Kinn und geraden Schultern. Beinahe alles an ihrer Haltung stand im Kontrast zu den Scharen an kindlichen Bewohnern, denen sie bislang begegnet waren.

Die Frau streckte grüßend eine Hand aus. „Temmet hat die Tempel in der Stadt benachrichtigt, dass wir Gäste haben.“

Chandra trat vor, um zu sprechen. Nissa lächelte ein wenig. Es gefiel ihr, dass Chandra um ihre Ängste und Unsicherheiten wusste. Es gefiel ihr, dass sie beide stillschweigend ihren eigenen Umgang damit gefunden hatten.

„Hallo“, sagte Chandra mit gewinnendem, sommersprossigem Lächeln. „Wir hatten gehofft, dass wir vielleicht mit ...“

„Dies ist eine Sphinx. Und ich fürchte, Ihr werdet kein Glück mit Eurem Gespräch haben.“

Die Wesirin sprach mit befehlsgewohnter Stimme. Sie erinnerte Nissa an Lavinia damals auf Ravnica ... und somit an jemanden, der alle Regeln kannte und sofort verärgert war, wenn niemand anders sich die Mühe machte, sie sich zu merken.

„Und warum?“, fragte Chandra.

„Nun, um ganz ehrlich zu sein ... Es ist recht tragisch“, sagte die Frau mit einem leisen Seufzer. „Die Sphinxen sind eine traurige Geschichte – mit unendlichem Wissen gesegnet und mit dem gleichen kläglichen Schicksal geschlagen.“

Nissa und Chandra schwiegen beide besorgt.

Die Wesirin warf ihnen einen leeren, trockenen Blick zu. „Sie alle haben sich gleichzeitig eine Entzündung des Kehlkopfs eingefangen.“

Die beiden Frauen starrten zurück.

Die Wesirin lächelte verschmitzt. „Ich scherze. Es geht ihnen gut.“

Chandra kicherte peinlich berührt. Nissa hielt dies alles für keinen gelungenen Scherz.

Das Verhalten der Wesirin änderte sich drastisch, und sie verlagerte ihr Gewicht auf ein Bein. Nissa bemerkte eine putzige kleine Schlange, die sich um das Handgelenk der Wesirin schlang – ein geduldiges Haustier. Die Wesirin hob die andere Hand, um die Augen vor der Sonne zu schützten und schaute zu der Sphinx hinauf.

„Sie haben tatsächlich ein Schweigegelübde abgelegt, bis der Gott-Pharao zurückkehrt. Was glücklicherweise recht bald der Fall sein wird! Ich bin Wesirin Hapatra. Wie kann ich Euch Reisenden zu Diensten sein?“

„Ich bin Nissa. Dies ist Chandra. Wir kommen von weit her“, erwiderte Nissa. „Eure Bräuche erscheinen uns recht fremdartig.“

Chandra machte ein Geräusch, als wollte sie weitere Ausführungen unterbrechen. „Was sie meint, ist, dass wir uns gefragt haben, was es ... damit auf sich hat.“

Sie machte eine Geste in Richtung zweier Mumien, die die Vordertreppe des Monuments fegten.

„Ihr habt Fragen zu den Gesalbten?“, erkundigte sich Hapatra.

„Ja!“ Chandra nickte. „Ja. Warum gibt es so viele von ihnen?“

„Sie sind es, die unser Leben voller Wettstreit und Hingabe möglich machen.“

„Obwohl sie tot sind?“

Hapatra lächelte.

Sie machte eine Geste in Richtung des Monuments vor ihnen. „Solange der Körper besteht, wird die Seele weiterleben. Wir konservieren die Körper, die zurückgelassen werden, und da es unsere Pflicht als Sterbliche ist, uns auf die Prüfungen vorzubereiten, verzaubern wir die Gefäße, um der Menschheit zu dienen.“

Nun rutschte Nissa unruhig hin und her. Die Katakomben, die Amonkhet ihr gezeigt hatte, waren Orte der Beständigkeit. Was dorthin geschickt wurde, sollte sicher verwahrt werden. Und dennoch sprach Hapatra so, als wären die Mumien schon immer Diener gewesen ...

Die Wesirin setzte ihr Haustier abwesend von einem Handgelenk aufs andere. „Diese Mumien sind innerhalb der Hekma sicher. Man kümmert sich um sie, und die Arbeit gibt ihnen einen Sinn. Die Seelen, die sie einst in sich trugen, werden kein solch glorreiches Schicksal haben wie die derer, die alle fünf Prüfungen meistern, doch dieses Schicksal ist dem Verfall außerhalb der Hekma dennoch vorzuziehen. Verwester Leib, kein Dasein. Es gibt nichts Schlimmeres als das.“

„Und die Prüfungen?“, fragte Nissa. Es ärgerte sie, wie wenig über ein derart allgegenwärtiges Thema in der Öffentlichkeit gesprochen wurde.

Hapatras Augenbrauen zogen sich zusammen. „Haben die Götter Euch nicht von den Prüfungen berichtet?“

„Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie mit uns reden wollten“, sagte Chandra flach.

Dies schien Hapatra traurig zu stimmen.

„Die Götter werden stets jenen helfen, die um Hilfe ersuchen.“

Nissas Mut sank ein wenig. Sie hatte nie geglaubt, dass sie Götter brauchen würde, aber das Mitleid in Hapatras Blick ließ sie sich fragen, was sie verpasste.

„Unsere fünf Götter sind voller Liebe und Großmut“, fuhr Hapatra fort. „Ich bin mir sicher, dass sie Euch lehren werden, wenn Ihr es denn wünscht.“

„Was hat der Eure Euch gelehrt?“, fragte Chandra.

„Rhonas lehrte mich, dass ich nur so stark bin wie die Gemeinschaft um mich herum. Und wie man Gift herstellt.“ Hapatra lächelte verschlagen.

Nissa war sich noch immer nicht sicher, was sie von Hapatra halten sollte, bemerkte aber, dass Chandra die Wesirin aufrichtig anlächelte. Hapatra schien froh zu sein, sich zu unterhalten.

„Es ist noch immer Zeit, an den Prüfungen teilzunehmen, solange Ihr noch könnt. Wenn nicht – die Rückkehr des Gott-Pharaos wird in wenigen Tagen erwartet“, sagte sie und blickte in Richtung der kleineren Sonne, die den Rand des Horizonts in der Ferne küsste. „Wenn Ihr Euch jedoch dem Ansturm nicht anschließen wollt, so könnt Ihr bis zu den Stunden warten.“

Plötzlich erinnerte sich Nissa an die Schreie der Frau in der Menge. Befreit euch! Glaubt nicht den Lügen der Stunden!

„Was sind die Stunden?“, fragte Nissa. Sie bemerkte, dass Chandra sich nun auch körperlich etwas aus der Unterhaltung zurückzog. Sie musste gespürt haben, dass Nissa von hier an das Fragenstellen übernehmen würde.

„Die Stunden nach der Rückkehr des Gott-Pharaos. Der Augenblick, auf den wir all unsere Geschichte lang gewartet haben.“

Warnsignale schrillten in Nissas Kopf auf. „Und wann treten die Stunden ein?“

Hapatra deutete auf die gewaltigen Hörner in der Ferne. „Die Stunden beginnen, sobald die Sonne zwischen den Hörnern ruht. Ich schätze, es wird jeden Tag so weit sein.“

Mit Nissas Ruhe war es vorbei.

Chandra sah sie mit einem übertriebenen Gesichtsausdruck gespielter Überraschung an. „Hörst du das, Nissa? Der Gott-Pharao kehrt jetzt bald jeden Tag zurück! Was sagt man dazu.“

Hapatra nickte. „Was ich am meisten an unseren Göttern schätze, ist, dass sie ihre Versprechen einhalten. Ihr solltet mit einem von ihnen reden – Kefnet kennt sich gut mit Fragen aus.“

Nissa hatte Mühe, ihre Furcht zu verbergen. Jeden Tag? Nur noch Tage, bis sie gegen einen Drachen kämpfen sollten – ohne irgendeine Art von Plan?

Chandra legte leicht den Kopf schräg. „Danke, Hapatra. Wir sollten jetzt gehen.“

„Gern geschehen. Ihr findet mich in Rhonas‘ Monument, falls Ihr eine rasche Lehrstunde in Sachen Giftherstellung braucht. Ich weihe gern andere in mein Handwerk ein.“

„Solange Ihr uns nicht vergiftet!“, sagte Chandra mit aufgesetztem Grinsen.

Hapatra lachte ein wenig zu heftig. Nissa wollte gehen.

„Es war mir eine Freude, Euch kennenzulernen, Chandra! Streitet ruhmreich!“ Hapatra winkte anmutig und stieg die Stufen zum Monument hinauf.

Chandra begann instinktiv, eine ihrer Schnallen festzuziehen. „Nun, sie war interessant. Was hältst du von ihr?“

Nissa war zu einer anderen Einschätzung gelangt als Chandra, doch sie war nicht sicher, wie sie es ausdrücken sollte. Stattdessen gab sie ein unverbindliches Seufzen von sich und wiederholte eine Handbewegung, die sie sich von Liliana abgeschaut hatte.

Chandra schnaubte. „Der Witz über die Kehlkopfentzündung war schon ziemlich schlecht.“

Nissa setzte sich auf eine der Stufen des Monuments.

„Zwei Tage.“

„Jawohl. Zwei Tage.“

Nissa schüttelte den Kopf. „Diese Leute vertrauen ihren Göttern blind“, sinnierte sie, „und sie vertrauen auf das, was sie ihnen sagen. Natürlich glauben sie, dass der Gott-Pharao vertrauenswürdig ist, wenn ihre Götter das sagen.“

„Das, was sie über die Stunden gesagt hat, erinnerte mich an die schreiende Frau von gestern“, sagte Chandra und setzte sich neben sie.

„Das habe ich auch gedacht. Wir sollten sie finden.“

„Kannst du spüren, wo sie ist?“

Nissa holte tief Luft, um sich zu wappnen. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich. Dieses Mal fühlte es sich so an, als würde sie mit der Hand durch ein Becken voller breiigem Schleim fahren.

Sie erschauerte voller Unbehagen, konnte aber sehr wohl das Ziehen der Energie der Frau durch das, was von den Leylinien noch übrig war, spüren.

Nissa zwang sich zurück an die Oberfläche ihrer Wahrnehmung und keuchte vor Anstrengung. Chandra sah sie besorgt an.

„Was gefunden?“

Nissa nickte und deutete in eine Richtung. „Sie ist in der Nähe dieses Monuments“, sagte sie schwer atmend.

Die beiden standen auf, eine auf zittrigeren Beinen als die andere, und bewegten sich auf das Gebäude zu. Sie liefen einige Minuten, und als sie um das Monument herumgingen, begann der Charakter der Architektur in ihrer Umgebung sich zu verändern. Diese Gebäude waren wesentlich älter als der Rest der Stadt, und auf ihren Fassaden hatte sich mehr Schmutz angesammelt als auf dem glänzenden Kalkstein im Zentrum von Naktamun.

Nissa griff erneut in den breiigen Schleim und spürte, wie das Ziehen sie zu einer engen Gasse zwischen dem Monument und einem weiteren Gebäude führte.

Das Band blauen Himmels über ihnen wurde schmaler, als die beiden Frauen die Gasse betraten.

Nissa und Chandra gingen weiter. Die Wände erschienen ihnen ziemlich alt, und ebenso altertümlich wirkende Schriftzeichen waren in sie eingraviert. Am Ende der Gasse war eine Reihe großer, sonderbar geformter Kisten an der Wand gestapelt.

Chandra strich mit der Hand über die Reliefschnitzereien, und ihre Finger fanden eine Piktoglyphe der inzwischen nur allzu vertrauten Hörner Bolas‘.

Irgendetwas fühlte sich für Nissa falsch an ... Etwas, was sie an die Vision erinnerte, die sie an diesem Morgen heimgesucht hatte.

Sie strich nun selbst mit den Fingern über die Glyphen an der Wand. Sie schienen eine Geschichte zu erzählen: Familienleben, Neugeborene mit ihren Müttern, Großeltern, die um eine Herdstelle saßen, eine ältere Frau, die sich auf einen Gehstock stützte. Das, was eine bestens bekannte Aufreihung von Generationen hätte sein sollen, fühlte sich in der Stadt Naktamun anachronistisch an. Über den Abbildern der Menschen war das Pantheon Amonkhets eingelassen. Acht Götter mit Tierköpfen, alles sanfte und großmütige Säugetiere, Vögel und Reptilien – acht?

Und über allem ein neueres Relief der allgegenwärtigen Hörner.

Nissas Herz raste. Der Stein der Hörner war verwittert, doch ohne die uralten Ablagerungen aller anderen Glyphen.

Hätte der Drache diese Welt erschaffen, wäre sein Siegel nicht nachträglich hinzugefügt worden.

Nissas Hände zitterten vor Wut. Nicol Bolas hat diese Welt nicht erschaffen, erkannte sie. Er hat diese Welt korrumpiert. Erinnerungen an die Eldrazi huschten durch ihren Verstand. Krebsartige, fremdartige Tentakel, die eine Welt vergifteten, die nicht ihnen gehörte. Nicol Bolas hatte weder diesen Ort noch seine Religion erschaffen. Er hatte keine eigene Kultur geformt – er verzerrte sie, pervertierte sie, nahm sich, was ihm gefiel, und zerstörte, was nicht ihm gehörte.

Instinktiv tastete sie mit ihren Sinnen nach etwas, was nicht da war, und zuckte vor übelkeitserregendem Schmerz zurück. Diese Welt war beinahe tot – und sie war erst vor wenigen Jahrzehnten getötet worden.

„Chandra?“, fragte sie in leisem Zorn.

Chandra befand sich schon weiter die Gasse hinunter und näherte sich jenen sonderbaren Kisten, die an der Wand lehnten. Jede war etwas größer als sie selbst, hatte sanft abgerundete Ecken und war mit einer aufwendigen Schnitzerei eines Gesichts versehen. Die Farbe war alt und abgeblättert, doch sie konnte auf jeder der Kisten ein aufgemaltes Antlitz erkennen.

Bild von Mark Poole
Bild von Mark Poole

„Chandra, was ist das?“

„Ich weiß es nicht ...“

Chandra stand geradewegs vor einer. Sie streckte die Hand aus, um das Gesicht darauf zu berühren –

„Was macht ihr beide denn hier?“

Gideon stand am Eingang der Gasse. Eine Kartusche hing um seinen Hals, und sein Gesicht spiegelte Besorgnis wider.

Nissa wich mit bebenden Lippen vor der Mauer zurück. Chandra bewegte sich von dort, wo sie war, weg und ging auf Gideon zu.

„Wir haben diese Kisten gefunden –“

Sarkophage.

Die Furcht in Nissas Brust verschwand auf der Stelle. Ihr Magen beruhigte sich, und sie fühlte sich, als wehte eine kühle Brise vor ihr her. Oketra bog in die Gasse ein. Sie überragte die Wände zu beiden Seiten, und die liebliche Stille, die ihr folgte, ließ Nissas Sorgen verklingen. Die Göttin blickte Nissa in die Augen.

Die Göttin erstarrte. Eine Stimme wehte durch Nissas Verstand. Du hast mit diesem Land gesprochen, Nissa Weltenerweckerin? Die Stimme war so sanft wie Weizen und doch so unnachgiebig wie eine Wüstenblume. Nissa zitterte. Nie zuvor hatte sie mit einer Göttin gesprochen.

Ja, erwiderte sie. Deine Welt stirbt und hat Angst.

Oketra sagte nichts, doch Nissa sah, wie die Ohren der Katze in einem Augenblick flüchtiger, unbewusster Furcht zurückzuckten.

Der Austausch war binnen eines Wimpernschlags vorbei. Nissa stieß einen Atemzug aus, von dem ihr nicht aufgefallen war, dass sie ihn angehalten hatte.

Es ist verboten, sich diesen Sarkophagen zu nähern“, sagte Oketra laut. „Verzeiht, Reisende, aber ich muss euch bitten, sie in Ruhe zu lassen.

Gideon trat mit entschuldigendem Blick vor und sprach zu seinen Freundinnen. „Es wird weniger Schwierigkeiten verursachen, wenn wir zumindest versuchen, ihre Regeln zu befolgen. Bitte.“

Er sprach ernst. Nissa erkannte, wie viel dieser Ort und seine Götter ihm bedeuten mussten.

Danke für euer Verständnis, Reisende“, fuhr Oketra fort. „Ich kann euch nicht sagen, wie dankbar ich für eure Gesetzestreue bin.

Nissa fühlte sich in der Gegenwart der Göttin außergewöhnlich ruhig. Sie bemerkte, dass die Kartusche um Oketras Hals sich von denen um den Hals der Akolythen unterschied. Sie musste bereits bei Bolas‘ Ankunft hier existiert haben.

Was ist mit den anderen dreien passiert? , wandte sich Nissa an die Göttin und berührte das in die Wand geritzte Pantheon. Oketra wandte ihr leicht den Kopf zu und blickte durch Nissa hindurch.

Ich habe keine Erinnerung an zuvor.

Wovor?

Ich weiß es nicht.

Gideons Stimme unterbrach die schweigende Unterhaltung. „Wenn ich zurückkehre, werde ich auch den anderen für ihr Verständnis danken.“

Oketra richtete sich auf und schien eine persönliche Sorge zu überwinden. Sie blickte auf Gideon herunter. „Komm, Auserwählter. Es ist Zeit für deine nächste Prüfung.

Chandra erfasste es vor Nissa. „Du nimmst an den Prüfungen teil?“

„Ja“, erwiderte Gideon. Die Göttin wandte sich zum Gehen. Gideon blieb zurück.

„Warum?“, fragte Chandra besorgt.

Gideon holte in Erwartung einer verbalen Auseinandersetzung tief Luft. „Diese Götter sind im Kern gut. Ich möchte mich ihnen beweisen.“

Chandra verschränkte die Arme. „Das ist doch lächerlich. Diese ganze Welt bedeutet nichts Gutes. Bolas hat diese Götter erschaffen. Warum also denkst du überhaupt daran, ihnen zu vertrauen?“

„Ich wusste, dass du das nicht verstehen würdest –“

„Ich verstehe sehr wohl!“

„Dies hier ist mir wichtig, Chandra, und ich weiß, dass diese Götter anders sind!“

Nissa wusste tief in ihrem Inneren, dass er recht hatte.

Gideon drehte sich um. „Wir sehen uns im Haus.“

Er ging davon, um der Göttin zu folgen.

Chandra blickte enttäuscht zu den Sarkophagen zurück.

„Ich versteh‘s nicht. Versucht er, mehr herauszufinden, indem er ihr Spiel ... mitspielt?“

„Er tut es, weil er es tun muss“, sagte Nissa. „Aus seinen ganz eigenen Gründen.“

Wir alle tun dies aus unseren ganz eigenen Gründen.

„Es ist bescheuert.“

Die Gasse fühlte sich zu eng an. Nissa ging zurück auf die offene Straße, um Luft zu holen. Kopfschmerz und Übelkeit wogten durch sie hindurch.

„Nissa, was ist denn?“

„Chandra – Nicol Bolas hat diese Welt nicht erschaffen. Er hat sie korrumpiert.“

Chandra blieb jäh stehen. „Woher weißt du das?“

„Sieh dir nur diese Gebäude an. Die mit den Hörnern sind alle ganz neu. Und in den älteren Teilen wurde Nicol Bolas‘ Siegel erst später angebracht. Hätte er diese Welt erbaut, dann wäre sein Siegel so alt wie die anderen Glyphen. Jedes zweite Gebäude mit seinem Zeichen ist neu. Ich sprach letzte Nacht mit der Welt. Und, Chandra, sie ist alt und ihr Schmerz ist neu. Nicol Bolas muss erst vor ein paar Jahrzehnten hierhergekommen und dann wieder weggegangen sein.“

Die Luft wurde noch heißer. Nissa wich vor der auflodernden Wut ihrer Freundin zurück.

„Es gibt hier keine alten Leute. Ist er einfach hergekommen und ...“ Sie brach ab, unfähig auszusprechen, was sie beide ahnten.

Nissa wollte ihre Vermutung nicht in Worte fassen. „Als ich letzte Nacht mit der Welt sprach, spürte ich eine schreckliche Narbe.“

„Wir müssen herausfinden, was er getan hat ...“

„Chandra ...“

„Wir müssen herausfinden, was er verändert hat. Wenn er einfach hier hereingeschneit ist und sich irgendwie zum Gott gemacht hat, dann müssen wir herausfinden, was er bei seiner Ankunft getan hat, um es rückgängig zu machen.“

Nissa senkte die Hände und ballte sie zu Fäusten. „Wir selbst können gar nichts ändern. Dadurch würden wir ebenso böse wie er.“

„Aber was sollen wir denn sonst machen?! Er ist jetzt nicht hier. Wie also können wir diesen Leuten helfen?“

„Sie scheinen unsere Hilfe nicht zu wollen.“

Chandra beruhigte sich und holte tief Luft. Nissa wartete derweil ab.

„Wir müssen trotzdem herausfinden, wie er diesen Ort verändert hat.“ Chandra war ruhig, aber entschlossen. „Wenn die Götter schon vor seiner Ankunft existierten, dann sind auch sie Opfer. Ich muss mehr über diese Frau von gestern herausfinden und was sie so aufgeregt hat. Sie wusste irgendetwas über die wahre Natur dieses Ortes. Wir können ihr helfen.“

„Ich will mit Kefnet sprechen. Wenn irgendjemand mir helfen kann, diesen Ort zu verstehen, dann der Gott des Wissens.“

Ein gleißendes weißes Licht. Drei vergessene Götter und fünf veränderte Erinnerungen –

Nissa rieb sich die Schläfen. „Ich muss mich ausruhen. Gehen wir zurück zu unserer Unterkunft.“

Sie gingen los, Chandra voll brodelnder Wut und Nissa ihren eigenen Gedanken nachhängend.

Eine auserlesene Zeremonie, die zu einem verpflichtenden Todesurteil verkommen war. Tausende neugeborene Waisen, die drei Generationen ohne Vergangenheit gezeugt hatten. Er kam und tötete, doch er blieb nicht. Er ließ eine ganze Kultur mit einem groben Umriss dessen zurück, was sie einst gewesen war –

Die beiden Frauen erreichten die Unterkunft. Chandra ging wortlos auf die Terrasse, und Nissa legte sich ins Bett. Als sie einschlief, wurde ihr Geist vom Wehklagen einer sterbenden Welt und dem Lachen eines weit entfernten Drachen heimgesucht.


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