Der Hohe Schlichter hinterließ nichts als Chaos
HUATLI
Huatli stieß einen leisen Fluch aus, als sie sich einen Weg durch den Dschungel zu den goldenen Mauern Orazcas bahnte.
Sie vermochte Angraths klobige Gestalt kaum auszumachen, wie sie durch das dichte Unterholz des Regenwaldes vor ihnen brach, und zu beiden Seiten bemerkte sie aus den Augenwinkeln das flüchtige Aufblitzen silbriger Schuppen, die ihr bestens vertraut waren.
„Bleib sofort stehen!“, knurrte Huatli, und ihre Augen leuchteten bernsteinfarben auf, als sie die Faust um leere Luft schloss. Einen Wimpernschlag später preschte ein gewaltiger Dinosaurier in ihr Blickfeld. Rasch verkürzte er die Entfernung zwischen sich und Angrath, bevor er ihn mühelos über den Haufen rannte und mithilfe seiner Hinterbeine am Boden festpinnte.
Der Minotaurus schrie verdrossen auf, und Huatli brachte den Dinosaurier dazu, sein Gebrüll zu erwidern.
Angrath verstummte. Er keuchte schwer und ächzte unter dem Gewicht des Sauriers.
„Hast du ihn im Zaum?“, fragte eine ältliche Stimme hinter Huatli.
Tishana trat aus dem Grün des Regenwaldes hervor. Ein durchtriebenes Grinsen umspielte ihre Mundwinkel. Huatli sah die Umrisse eines Dutzends anderer Angehöriger des Meervolks, die hinter Tishana bereitstanden.
Huatli nickte. „Ja, das habe ich. Danke, Tishana“, erwiderte sie.
Tishana trat von einem Fuß auf den anderen.
Huatli versuchte, ihren rasenden Herzschlag zu beruhigen. Sie fragte sich, ob die Älteste des Meervolks erneut davonlaufen würde, und war sich beinahe vollkommen sicher, dass sie Angrath unter den Füßen des Dinosauriers lassen und sich Tishana anschließen sollte, falls sie sich auf den Weg in die Stadt machte.
„Ist unsere Vereinbarung damit hinfällig?“, fragte Huatli mit ruhiger Stimme.
Tishana schüttelte den Kopf. „Ich habe meinen Klan versammelt. Unsere Vereinbarung gilt. Jetzt, da die Stadt erwacht ist, ist sie wie ein Leuchtfeuer. Andere planen ebenfalls, sich zu versammeln, angezogen von ihrem Licht–ganz wie du, kleine Motte.“
Huatli blinzelte unter einem weiteren Aufwallen von Kopfschmerz. Ihr gefiel es gar nicht, mit einer Motte verglichen zu werden.
Tishana näherte sich besorgt. „Du fühlst dich nicht wohl.“
Huatli winkte ab. „Es geht mir gut. Je näher wir der Stadt kommen, desto stärker schmerzt mir der Kopf. Das ist alles.“
„Du und die Piratin treiben in sehr ähnlichen Strömungen dahin“, sagte Tishana geheimnisvoll. „Was siehst du, wenn du hinter unseren Schleier schaust?“
„Meine Kette in deinem Gesicht!“, brüllte Angrath unter den Füßen des Dinosauriers hervor. Huatli machte eine Geste, und der Dinosaurier drückte ihn tiefer in den Dreck.
Sie wandte sich zurück zu Tishana und schenkte Angraths gedämpftem Grollen keine Beachtung. „Ich höre Geschichten von anderen Welten“, sagte sie zu der Meervolkältesten.
Tishana legte die Hand auf Huatlis Schulter. Ihr Gesicht war friedlich und freundlich, die reinste Seele der Weisheit. „Dann sollten wir sicherstellen, dass du sie auch ganz hörst, Poetin des Krieges.“
Huatlis Herz setzte einen Schlag aus. Sie kniete sich neben Angrath, der noch immer versuchte, sich unter dem Fuß ihres Dinosauriers hervorzuwinden.
„Angrath, es tut mir leid, aber ich muss mich Tishana anschließen. Wir hatten zuerst eine Abmachung.“
Angrath versuchte, sie mit einem Mund voll Lehm anzuschreien.
Huatli legte eine Hand auf ihren Dinosaurier und gab ihm einen kurzen Befehl. „In einer halben Stunde wird er dich freilassen. Tut mir leid!“,
flüsterte Huatli, und ein Stumpfhorn trottete aus dem Regenwald auf sie zu. Sie kletterte mit Leichtigkeit auf seinen Rücken und ritt davon, ehe sie sich noch mehr von Angraths wütenden, unartikulierten Einwänden anhören musste.
Tishana, die auf dem gleichen Elementar ritt wie zuvor, holte sie schnell ein.
Die Zeit schleppte sich dahin, während sie sich der Stadt näherten. Die Türme wuchsen, und die Sonne kroch höher. Huatli behielt ein zügiges Tempo bei, um Angrath weit hinter sich zu lassen, wohl wissend, dass Gefahren sowohl vor als auch hinter ihnen lauerten.
Das Gold der Stadt warf das Licht und die Hitze der Sonne zurück, und nach einiger Zeit blinzelte Huatli sich Schweiß aus den Augen, während sie durch das Tor der Goldenen Stadt ritten.
Orazca war prächtig, eine dicht gedrängte Ansammlung von glänzenden Mauern und gewaltigen Reliefs. Huatli hatte sich gefragt, ob es sich wie eine Heimkehr anfühlen würde, doch stattdessen erinnerte es sie eher an den Besuch bei einem entfernten Verwandten. Die Stadt wirkte vertraut und doch fremd, ein Ort für sie, an dem sie eigentlich dennoch nie sein sollte.
Tishana und Huatli drangen weiter über die Hauptstraße vor, vorbei an einem endlosen Gewirr von Gassen und Seitenstraßen. Die Mauern waren hoch, aber weit entfernt war ein zentrales Gebäude auszumachen, und Huatli wusste, dass es ihr bestimmt war, dieses Gebäude zu betreten.
Sie bemerkte, wie Tishana zum Himmel deutete.
Dieser war so schwarz wie der Schiefer eines Flussbetts geworden, und dicke Wolken türmten sich über dem Hauptturm Orazcas wie Rauch aus einem Herdfeuer auf. Der Anblick erfüllte Huatli mit Grauen. „Was ist los?“, fragte sie über den Lärm ihres Reittieres hinweg, das über die makellosen Goldfliesen auf dem Platz vor dem Turm stampfte.
Der Turm vor ihr schien den Himmel in tintenfarbenes Schwarz zu tauchen. Huatli schnappte nach Luft, als sie einen Körper von der Spitze des Turmes fallen sah.
„NEIN!“, heulte Tishana neben ihr auf, und Huatli spürte ein gewaltiges Aufwallen von Magie, als Tishana mit ausgestreckten Armen in die Hände klatschte. Der Fall des Körpers verlangsamte sich und wurde dann gänzlich aufgehalten, als eine mächtige Windböe aufstieg, um ihn abzufangen, ehe sich eine Decke aus Staub und Blättern um den Herabstürzenden legte, die ihn langsam zu Boden trug. Tishanas Elementar machte sich auf den Weg zum Turm und ließ Huatli am anderen Ende des Platzes zurück.
Huatli rief Tishanas Namen, doch ihre Stimme wurde von den lauten Schritten des Meervolks übertönt, das herbeieilte und einen Kreis um Tishana und den Körper schloss.
Huatli drängte ihr Reittier zu einem schnellen Lauf. Die Schritte ihres Dinosauriers hallten in raschem Rhythmus von den goldenen Fliesen am Boden wider und wurden langsamer, als sie sich der Menge aus besorgtem Meervolk näherten. Huatli wappnete sich für das Schlimmste. Als Kriegerin war ihr der Anblick von grauenhaft zugerichteten Leibern nicht fremd, doch jener vor ihr war bis auf einen Blutfleck unter dem Kinn weitestgehend unversehrt.
Huatli stieg ab und näherte sich ihm. Tishana flüsterte dem Mann am Boden etwas zu, während einige andere einen Heilzauber auf ihn wirkten.
„Wir sind hier, Kumena. Wer befindet sich in dem Turm?“
Das Meervolk am Boden schlug mit flatternden Lidern die Augen auf. Seine Haut war weniger undurchsichtig, als sie sein sollte, und als der Mann den Kopf hob, rann ihm Blut aus dem Mund auf die Brust. „Was glaubst du wohl?“, wisperte er.
Huatli runzelte die Stirn. Das Pulsieren dunkler Magie über ihr konnte nur bedeuten, dass die Legion des Zwielichts die Kontrolle über die Immerwährende Sonne und somit auch die Stadt übernommen hatte.
Tishana gab dem Meervolk an ihrer Seite einen kurzen Befehl und schaute dann zurück zu Huatli.
„Gemeinsam können wir sie bezwingen“, sagte sie. „Wir werden die Stadt von hier aus einnehmen.“
Huatli lächelte.
Ein entferntes Geräusch zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Im gedämpften Licht der düsteren Wolkendecke konnte sie gerade so eine bunt zusammengewürfelt Gruppe auf den Turm zurasen sehen. Eine Sirene flog über den anderen hinweg, eine vertraut aussehende Frau, die einen Armvoll zerschlissene Plane umklammert hielt, stürmte unter ihr heran, und an der Spitze befand sich ein zerzauster, irre dreinblickender Goblin. Der Goblin wedelte mit einem Schwert, das größer war er als selbst, in der Luft herum und kreischte hingebungsvoll. „WIR WOLLEN SONNE! WIR WOLLEN SONNE!“
„Piraten“, zischte Tishana. Das Meervolk packte Huatli bei den Schultern und zog sie die Treppe hinauf nach drinnen.
„Schnell“, rief sie und Huatli folgte ihr.
Ihre Schritte klangen in gleichmäßigem Rhythmus, als sie den Turm hinaufeilte.
Tishana hielt das Jadetotem in Händen, das das Elementar in sich barg, auf dem sie geritten war. Die Treppe wollte kein Ende nehmen, und alle paar Schritte konnte Huatli durch ein schießschartenschmales Fenster einen grimmigen, bedrohlichen Himmel sehen. Ihr Atem war schwer vor Erschöpfung, und ihr Herz versuchte verzweifelt, mit ihren Füßen Schritt zu halten. Je höher sie kamen, desto mehr wurde Huatli bewusst, dass sie es vielleicht nicht lebendig nach Hause schaffen würde.
Schließlich endete die Treppe doch: Eine gewaltige Tür stand an der Spitze des Turmes offen. Der Durchgang war vier Mal so hoch wie Huatli, und einen Augenblick lang war sie sprachlos und starrte mit weit offenem Mund auf das architektonische Meisterwerk, das ihre Vorfahren hier erschaffen hatten.
„UNHOLDE!“, brüllte Tishana und stürmte an Huatli vorbei auf die Kammer vor ihnen zu. Huatli sah zu, wie Tishana das Jadetotem erst mit der einen Hand hineinwarf und es dann mit der anderen zu erwecken begann.
Huatli zwang sich zum Handeln. Später staunen. Jetzt erst mal die Vampire rauswerfen.
Sie rannte durch die Tür und verschaffte sich einen ersten Eindruck von ihrer Umgebung.
Der Raum war groß und luftig. Wie alles andere in der Stadt war er mit einer grotesken Menge erlesener Materialien ausgelegt, doch in diesem Fall dienten sie dazu, ein zentrales Teil am Boden einzufassen. In der Mitte der Kammer war eine Scheibe im Jadeboden. Sie war in etwa so breit wie Huatli groß war und leuchtete in einem kühlen Weißblau unter den Füßen einer imposanten Konquistadorin. Ein zweiter Vampir (ein Hierophant, wie Huatli sich dunkel erinnerte) hielt sich in der Nähe auf und hatte herausfordernd einen Stab vor sich gestreckt.
„Ich bin Vona, die Schlächterin von Magan, und die Immerwährende Sonne gehört der Legion des Zwielichts!“, rief die Frau in der Mitte des Raumes. Huatli erkannte sie als die schwitzende Vampirin aus dem Dschungel.
Sie starrte auf das, was unter den Füßen der Untoten war, und schnappte nach Luft. Da war sie, eingelassen in das schillernde Gold am Boden, so wirklich, wie sie nur sein konnte: Diese Scheibe musste die Immerwährende Sonne sein.
Huatli bestaunte sie. „Sie haben sie in den Boden gepackt?!“
Tishana hatte sich bereits für ihr Ziel in dieser Kammer entschieden. Ihr Elementar war erneut angewachsen und rammte in Vonas Seite.
Huatli fixierte den Hierophanten am Rande der Immerwährenden Sonne. Er senkte seinen Stab und bleckte die Zähne, und Huatli griff an.
Sie hielt ihren Schwerpunkt tief, als sie geradewegs durch den Raum auf ihn zuschoss. Der Vampirpriester zielte mit einer klauenhaften Hand auf ihr Gesicht, doch Huatli ließ sich auf die Knie fallen und rutschte darunter hindurch, während sie ihm mit der Klinge den Knöchel aufritzte und über den kühlen Jadeboden schlidderte.
Der Hierophant schnaubte. Huatli griff nach seiner Robe und riss ihn zu Boden. Das Knacken seines am Boden aufschlagenden Kopfes war erschreckend laut. Huatli drückte ihn mit der rechten Hand nach unten und hob mit der linken die Klinge.
„DU!“, rief eine Stimme von der anderen Seite der Kammer. Huatli schaute überrascht auf, und der Hierophant unter ihr trat ihr gegen die Brust.
Huatli landete mit einem lauten Scheppern ihrer Rüstung auf dem Rücken. Sie keuchte und sah dann Vona geradewegs in die Augen.
Die Konquistadorin grinste und hob eine Hand mit scharfen Nägeln, bereit zum Zuschlagen. „Ich bin die Läuterin der Sünder und die Eroberin Orazcas!“
Dunkler, geruchloser Rauch wallte durch die Kammer, und Huatli schrie auf, als eine Woge aus Schmerz ihren Leib durchzuckte. Sie rappelte sich auf, fiel aber zurück auf Hände und Knie, da ihre Muskeln zu sehr zuckten und ihr der Atem in der Kehle stockte. Huatli schaute auf ihre Hand und sah, dass sie braun und violett von etwas war, was wie blaue Flecken aussah, die zum Leben erwacht waren.
Schrecken ergriff von ihr Besitz. Vona nutzte die Immerwährende Sonne, um etwas mit ihrem Blut anzustellen.
Huatli blickte sich nach Tishana um und sah, wie die Meervolkälteste von dem Hierophanten zu Boden gerissen wurde.
„Tishana!“, rief Huatli, doch ihr Schrei endete abrupt, als ihr ein Blutstropfen die Lippe herabrann.
Vona lachte, als sie zum Rand der Immerwährenden Sonne ging und sich dicht neben Huatli kniete.
„Was ist denn los?“, fragte sie in einem beängstigenden Singsang. „Geht es dir nicht gut?“
Plötzlich erfüllte ein Lied den Raum.
Es war ein Mann, der da sang, mit einer melodischen, sanften Stimme.
Huatli erstarrte gebannt. Sie erkannte, dass auch Vona sich nicht mehr rührte, ebenso wie Tishana und der Hierophant.
Das Lied war wunderschön und auf eine Weise bezaubernd, die sich ihr nicht erschloss. Sie musste zu ihm. Sie musste der Quelle näher sein. Huatli warf den Kopf herum und stolperte aus Vonas plumper Umklammerung, als auch die Vampirin versuchte, sich dem Ursprung des Liedes zu nähern.
Eine Gestalt schwebte vor dem Fenster und schlug mit azurblauen Schwingen, um sich in der Luft zu halten. Währenddessen sang sie eine Melodie, die tröstlicher als ein Wiegenlied und kostbarer als ein Gebet war.
Vona, Tishana und der Hierophant bewegten sich darauf zu und drängten sich aneinander vorbei, um dem wundersamen Lied näher zu sein. Vona schubste sich nach vorn, die Augen vor Begierde geweitet. Dort, nur eine Handbreit vom offenen Fenster entfernt, war eine gefiederte Sirene, der Pirat von der Streitlustigen, an dessen Hals sich ein wie vom Wahn gepackt wirkender Goblin klammerte.
Irgendwo im Hinterkopf ahnte Huatli, was gleich geschehen würde. Der Goblin sprang geradewegs in Vonas Gesicht.
„GEWALT!“, schrie er.
Das Lied endete, und die Sirene feuerte ihn an. „Immer auf die Augen, Breeches!“
Huatli löste sich aus ihrer Starre und versuchte, zur Immerwährenden Sonne vorzupreschen, während Vona schrie.
Der Goblin zerkratzte der Vampirin lachend das Gesicht.
Und dann erbebte der Boden und Huatli hörte ein lautes, schepperndes Geräusch. Alle in der Kammer sahen sich rasch um, um die Ursache des Lärms aufzuspüren.
Die goldenen Türen zum Raum lagen flach auf dem Boden und darüber stand, vor Wut heulend, Angrath.
Huatli erkannte den Geruch nach verbranntem Fleisch erst, als Angrath ihr wie beiläufig den verkohlten Kopf jenes Dinosauriers vor die Füße warf, dem sie aufgetragen hatte, auf dem Minotaurus stehen zu bleiben. Der Kopf prallte mit einem fleischigen Geräusch auf dem Boden auf.
„Du bist EKELHAFT!“, schrie Huatli Angrath an.
„DU HAST DEINEN DINOSAURIER DAZU GEBRACHT, SICH AUF MICH DRAUFZUSTELLEN!“, heulte er zurück, bevor er seinen Blick der Konquistadorin mit dem Goblin im Gesicht zuwandte.
Angrath zielte mit seinen weißglühenden Ketten auf Vona. Die Ketten wickelten sich um Breeches, der kreischend und zeternd zurückgerissen wurde. Sofort fand er seinen sicheren Stand wieder und stürmte auf Angrath zu.
Während Angrath und der Goblin miteinander rauften, suchte Huatli nach Tishana, der es gerade gelungen war, den Hierophanten mithilfe einiger Ranken zu fesseln, die aus einer Ritze im Dach wuchsen.
Tishana schaute zu Huatli, dann zur Immerwährenden Sonne am Boden und zu der Vampirin, die davon weggezogen wurde. Huatli sah zu Angrath, der kurz zu Tishana und dann zurück zur Sonne blickte.
Sie alle hielten inne und bewegten sich dann gleichzeitig wild durcheinander.
Tishana machte einen Satz nach vorn und legte die Hand auf die Sonne, Huatli streckte den Fuß aus, um den Rand des Artefakts zu berühren, Angrath stapfte in die Mitte, und Vona ließ erneut beide Hände darauf herabfahren.
Die vier schnappten nach Luft, als eine gewaltige Menge an Energie sie durchfuhr.
Huatli lachte laut auf, so wunderbar fühlte es sich an.
Ihre Wahrnehmung umfasste nun die gesamte Stadt, ihre Seele spreizte sich weit über all die Magie, die in der Stadt ihrer Ahnen ruhte. Mit einem Mal kannte sie jeden Winkel, spürte jede Energieströmung und nahm die Umrisse eines jeden Gebäudes und die Höhe eines jeden Turms wahr. Doch am wunderbarsten von allem war, dass sie fünf donnernde Herzschläge erspürte, einen an jeder Ecke der Stadt.
Die Ältesten der Dinosaurier sind erwacht, dachte Huatli, und eine Träne rann ihr über die Wange. Die Sage von den Ältesten der Dinosaurier zu lernen, hatte am längsten gedauert: qualvolle zwei Jahre, um sie in ihrer Gesamtheit in ihrem Gedächtnis zu verankern. Sie waren uralt und wild, vollkommen unzähmbar–die größten unter den Dinosauriern. Sie rief die Ältesten der Dinosaurier zu sich und spürte, wie der Boden zu erbeben begann, als sie herannahten. Huatli wurde von Verzückung übermannt und fing an zu lachen ...
Doch dort, kurz hinter dem Stadtrand, spürte sie auch die Schritte von Imperator Apatzecs Armee. Eine Armee, um die sie nicht gebeten hatte. Huatlis Lächeln erstarb. Sie fühlte sich dumm. Sie hätte wissen müssen, dass er nicht nur sie aussenden würde.
Sie erinnerte sich daran, wo sich ihr Körper befand, und lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Kammer an der Spitze des Turmes.
Die Immerwährende Sonne erstrahlte heftig unter allen vieren von ihnen. Angrath hatte einen Fuß auf der Immerwährenden Sonne und einen auf dem Boden, und die verstärkte Hitze seines Körpers hatte dafür gesorgt, dass sein Fuß im Gold eingesunken war. Tishanas Füße waren durch eine Reihe miteinander verwobener Ranken in der Immerwährenden Sonne verwurzelt. Vona rappelte sich auf und rief mehr dunklen Rauch zu sich. Jeder von ihnen zog eine Waffe, und ihre Blicke huschten zwischen ihnen hin und her.
Huatli griff nach ihrer Klinge und richtete sich langsam auf. Aufgrund der Energie der Stadt und des leisen Ziehens, das von den Ältesten der Dinosaurier ausging, schwirrte ihr der Kopf. Ruhig schätzte sie die Bedrohung ein, die von jedem Gegner ausging.
Vona war erschöpft und sicherlich leicht zu erledigen. Tishana sah kurz zu ihr, aber Huatli konnte ihre Absichten nicht erraten. Angrath war wie immer am Schäumen. Die Sirene und der Goblin Breeches standen draußen und warteten offenbar darauf, dass die anderen es ausfochten, um anschließend über die Reste herfallen zu können wie die Piraten, die sie waren. Der Hierophant war noch immer durch die Ranken an den Boden gefesselt.
Huatli duckte sich zum Angriff. Sie suchte Tishanas Blick und nickte leicht in Richtung Vona. Tishana erwiderte das Nicken beinahe unmerklich, und Huatli setzte zum Sprung an.
Plötzlich schnappten die Sirene und der Goblin nach Luft. Sie tauschten einen wilden, verwirrten Blick aus.
„Malcom, hast du eben auch Jace gehört?“, fragte Breeches und schaute seinen Schiffskameraden an.
Jace?, dachte Huatli beunruhigt. Der Telepath?
Die Sirene nickte furchtsam.
Ein langes Innehalten.
Und dann brach der Boden unten ihnen weg.
VRASKA
„Wenn diese Gorgo nicht meine Gefangene ist, wen hast du mir denn dann zum Versiegeln gebracht?“, fragte Azor von seinem hohen, selbstgebauten Thron aus.
Bevor sie Jace gekannt hatte, hatte Vraska sich Sphinxen als kaum mehr als von Rätseln besessene Irre vorgestellt, denen es nicht im Traum einfallen würde, mit etwas so Unreinem wie einer Gorgo zu sprechen. Nun aber, da sie ihre Furcht im Zaum zu halten versuchte, indem sie die Quelle des durchdringenden Geruchs nach Katzen auszumachen versuchte (ein schäbiges Nest aus Stoff und Stroh in der Ecke, das keinen Zweifel daran ließ, dass Azor sehr lange in diesem Raum gewesen sein musste), dachte Vraska, dass die einzig gute Sphinx eine in Stein gemeißelte Sphinx vor dem Eingang einer Bibliothek war.
Seine Antworten nützen uns mehr als sein Tod, sagte Jace auf gedanklichem Wege zu Vraska.
Vraska sträubte sich, als sie spürte, wie die Sphinx versuchte, Jaces Schutz zu durchbrechen, der jedoch kein bisschen ins Wanken zu geraten schien. Träge wandte Azor seinen Blick zu Jace.
„Und hier steht der Lebende Gildenbund.“ Azors Fell sträubte sich. „Ich gratuliere dir dazu, dass du das System der Gilden nicht vollends vernichtet hast.“
„Danke“, sagte Jace wortkarg.
„Gern geschehen.“
Azor breitete die Flügel aus und ließ sich auf alle viere nieder. Sein Schwanz pendelte träge hinter ihm hin und her. Vraska weigerte sich, ihre Anspannung fallen zu lassen.
„Wenn du nicht mit einem Gefangenen hier bist, so nehme ich an, dass du deswegen gekommen bist“, sagte Azor. „Wegen des Schlosses meines Gefängnisses. Meine größte Schöpfung.“
Azor blickte zur Decke hinauf. Vraska folgte seinem Blick, und der Groschen fiel bei ihr.
Das war es, was sie hier festhielt. Eine einzelne Verzauberung, nicht der Ort selbst.
Vraskas Eingeweide zogen sich zusammen. Warum wollte mein Auftraggeber, dass ich etwas stehle, womit man Planeswalker einsperren kann?
„Falls du wegen der Immerwährenden Sonne hier bist, fürchte ich, dass du sie nicht haben kannst.“ Azors Gebaren veränderte sich, und plötzlich lief Vraska ein Schauer den Rücken hinunter. Die Sphinx sprach mit einer Magie, die in jeder Silbe wiederklang. „Unbefugtes Eindringen ist innerhalb der Mauern Orazcas nicht gestattet.“
Das Aufwallen von Hieromagie umging Jaces Schutz und traf Vraska mit voller Wucht. Weiße, bindende Runenmagie packte sie an ihrem Oberkörper und drückte sie mit dem Rücken gegen die Tür hinter ihnen.
Jace rief überrascht Vraskas Namen, und fast sofort spürte sie, wie Jaces Magie den Griff der Hieromagie Azors aufzuheben begann. Sie fiel, sicher hinter einem noch stärkeren Schutz, zu Boden. Frei vom Zauber der Sphinx sprang sie auf die Beine und drehte sich knurrend zu Azor um.
„Deine Gesetzesmagie kann mich nicht davon abhalten, dich in Stein zu verwandeln, weißt du?“, rief sie, während ihre Tentakel wütend zuckten. „Sag uns, wer du bist, oder ich töte dich auf der Stelle!“
„Ich sage dir gar nichts, Gorgo.“
Jaces Augen blitzen sofort in kaltem Blau auf, und er streckte die Hand aus. Azor brüllte und griff mit einer Tatze nach seinem Kopf.
„Du wirst sie als Kapitänin ansprechen!“, verlangte Jace mit Nachdruck.
Azor schlug mit den Flügeln und wirbelte den Staub in der Kammer um sie herum auf. Er streckte gereizt die Brust vor und sprach im Tonfall eines geübten Redners.
„Tausende Jahre lang wandelte ich über zahllose Welten, Kapitänin Vraska. Sie waren fremd und unbändig, voll von brutalen Gesellschaften, geplagt von Gewalt und Unordnung. Ich nutzte Hieromagie, um ihnen das Geschenk der Stabilität zu machen: Ich erschuf Herrschaftssysteme, um sie von ihrem Chaos zu befreien. Selbstlos mühte ich mich, das Multiversum zu einem besseren Ort zu machen, und meine Gaben verwandelten Welten voller Irrsinn zu geordneten Bastionen des Friedens! Ich errichtete zahllose Strukturen der Herrschaft, um das gemeinschaftliche Schicksal zahlloser Welten zu formen, und deine Ablehnung meines Erlasses ist höchst unklug. Gesetze sind dazu da, befolgt zu werden.“
Vraska spürte, wie Azors Magie von Jaces Schutz abprallte. Dieser stand trotzig da und funkelte die Sphinx an.
„Wir wissen, dass du das Gildensystem auf Ravnica erschaffen hast. Ich schätze, du stammst nicht von dort. Warum bist du nicht geblieben?“, fragte Vraska.
„Gesetzte sind dazu da, befolgt zu werden!“
Jace verzog das Gesicht. Eine noch stärkere Woge von Azors Magie drang einem Rammbock gleich auf Jaces Verteidigung ein.
„Warum bist du nicht geblieben?!“, verlangte Vraska erneut zu wissen.
Azor grollte und gab den Versuch auf, Jaces Schutz durchdringen zu wollen. Es wurde still im Raum.
Verärgert verschränkte die Sphinx die Tatzen. „Ravnica war nur eine von vielen Welten, und ich ging fort, als ich mit ihr fertig war.“ Er lupfte die Flügel und und versuchte es mit einer anderen Herangehensweise. „Du bist begabt, Lebender Gildenbund. Hast du dich gut um deine Aufgaben daheim gekümmert?“
Eine Ablenkung, dachte Vraska und öffnete den Mund, um die Unterhaltung wieder in die richtige Bahn zu lenken.
„Nein“, sagte Jace mit brutaler Ehrlichkeit. „... das habe ich nicht.“
Vraskas Gedankengang verlief einfach im Sande. Jace war hinter seinen mentalen Barrieren sicher und dennoch vollkommen verwundbar. Seine Stimme verriet seinen Zwiespalt. „Azor, du hast ein unglaublich komplexes System voller Magie erschaffen, die kaum jemand wirklich vollends begreifen kann, und du hast dennoch einen lebenden Sterblichen als Rückversicherung dafür eingesetzt. Selbst wenn ich das Talent zum Herrscher hätte, wäre ich nicht in der Lage, die Aufgabe zu erfüllen, mit der ich betraut wurde.“
Jace ließ die Schultern sinken. Vraska wusste nicht, was sie zu seiner Entlastung sagen sollte. Azor plusterte sich nur weiter auf.
„Die Gilden sind ein perfektes System.“
„Die Gilden waren ein perfektes System“, verbesserte ihn Vraska und sprach jede Silbe mit so viel Giftigkeit aus, wie sie aufbringen konnte. „Aber die Gilden sind während deiner Abwesenheit bösartig und grausam geworden.“
„Und wessen Schuld ist das?“, fragte Azor. „Ich gab Ravnica seine Gilden, ganz wie ich zahllosen weiteren Welten andere makellose Rechts- und Herrschaftssysteme gab.“
Diese Sphinx mochte hunderte Lebensspannen länger gelebt haben als sie, doch sie war ein Narr, ein grausamer Patriarch. Azor war sich der Folgen seiner Einmischung gänzlich unbewusst. Vraska ballte die Fäuste. „Ich glaube nicht, dass du das Recht hast, über Makel zu sprechen, wenn du mit Welten herumgepfuscht hast, die nicht die deinen waren, nur um sie dann zu verlassen und zu den nächsten weiterzuziehen!“
Azor setzte sich auf und reckte das Kinn vor, die Krallen kaum wahrnehmbar ausgefahren. „Wenn meine Herrschaftssysteme–meine Gaben–verdorben wurden, dann liegt die Schuld daran bei den Bürgern.“
„Und was hat es dann damit auf sich?“, fügte Vraska hinzu und deutete mit dem Finger auf die Immerwährende Sonne, die an der Decke hing. „War auch Ixalan eine deiner Mühen?“
Azors Krallen waren nun vollständig ausgefahren.
„Was bewirkt sie?“, drang Vraska weiter auf ihn ein, der nagenden Erkenntnis keine Beachtung schenkend, dass sie nicht unbedingt für eine Auseinandersetzung mit einer ausgewachsenen Sphinx bereit war.
Azor begann, von seinem Thron herabzusteigen. Sowohl Vraska als auch Jace spannten sich bei seinem Näherkommen an.
„Als Hüter und Gebieter des Rechts im gesamten Multiversum war es meine Pflicht, mich für das Gemeinwesen einzusetzen. Die Immerwährende Sonne wurde erschaffen, um einen bestimmten Feind einzusperren. Sie verstärkt die magischen Fähigkeiten desjenigen, der sie berührt, und verhindert, dass Planeswalker diese Welt verlassen können. Der perfekte Käfig für einen diabolischen Planeswalker! Ich habe meinen Funken geopfert, um zu helfen, die Immerwährende Sonne zu erschaffen. Das Schloss zu meinem Käfig–mein größtes Geschenk an alle lebenden Kreaturen.“
„Welches Böse versuchtest du einzufangen?“, fragte Vraska.
„Einen Unhold, der eine Gefahr für das gesamte Multiversum darstellt. Unser Plan war natürlich makellos. Doch mein Freund versagte.“
„Unser Plan? Du hast ihn also mit jemand anderem geschmiedet?“
Azor knurrte. „Er war mein Freund. Er sollte mir helfen, meinen Funken zurückzuerhalten, nachdem unser Plan aufgegangen war, doch das tat er nicht.“
„Also hat dein Freund dir geholfen, die Immerwährende Sonne zu erschaffen, und dich dann im Stich gelassen?“, stellte Vraska in dem verzweifelten Versuch klar, der leicht irren und ganz offensichtlich verbitterten Sphinx weitere Einzelheiten aus der Nase zu ziehen.
„Er sollte unseren Feind zu einer weit entfernten Welt locken, und ich sollte die Immerwährende Sonne dazu nutzen, meine Hieromagie zu verstärken, um ihn hierher nach Ixalan zu rufen. Doch ich erhielt nie das Zeichen, die Immerwährende Sonne zu aktivieren. Ich weiß nichts über den Verbleib meines Verbündeten“, sagte Azor, und seine Schwanzspitze zuckte. „Wir haben den Plan vor mehr als tausend Jahren entwickelt, und ich kam wenig mehr als hundert Jahre später nach Ixalan. Er hat versagt. Ich weiß nicht, was geschehen ist, aber meine Ausführung war makellos–“
Vraska widerstand dem Wunsch, sich aus dem nächstgelegenen Fenster zu stürzen. Er war seit tausend Jahren auf dieser Welt gefangen.
Azor fuhr fort. „Ich wollte nichts mit der Immerwährenden Sonne zu tun haben. Sie war ein Mahnmal des Versagens meines Freundes, weshalb ich beschloss, dieser Welt die Gabe der Herrschaft zuteilwerden zu lassen. Ixalan sollte von demjenigen beherrscht werden, der die Immerwährende Sonne in Besitz hatte, und ich gab sie ursprünglich einem Kloster im Osten. In Torrezon. Doch sie waren ihrer nicht würdig, weswegen ich sie zurückholte und anderen gab. Das Imperium der Sonne war ihrer nicht würdig. Die Flussherolde, wie das Erwachen Orazcas beweist, waren ihrer nicht würdig. Nur ich bin ihrer würdig. Daher muss ich weiter daran arbeiten, dieses System zu vervollkommnen.“
Vraska machte eine ausladende Geste. „Indem du anderen die Schuld an Problemen gibst, die du verursacht hast?“
„Ich habe Pläne geschmiedet! Auch wenn ich nicht in der Lage bin, die Dinge im gesamten Multiversum stetig zu verbessern, so kann ich es immer noch hier tun: Ich kann Ixalan heilmachen!“
Vraska funkelte ihn an. „Wie kannst du so blind gegenüber dem Schaden sein, den du angerichtet hast?“
Ihr Ausbruch verärgerte die Sphinx. Azor legte die Ohren an und runzelte die Stirn.
„Es ist nicht das System, das Fehler hat! Es sind die Leute!“, erwiderte er kalt.
„Die letzten paar Jahrhunderte auf dieser Welt waren Chaos wegen deiner Einmischung“, spie Vraska aus.
„Ich habe diese Welt heilgemacht–“
„Diese Welt brauchte nicht heilgemacht zu werden!“, rief Vraska.
Azor brüllte, breitete die Flügel aus und schwang sich in die Luft.
Jace ließ einen Schleier der Unsichtbarkeit um sich um Vraska entstehen. Als sie beide aus dem Weg sprangen, um dem Ansturm der Sphinx auszuweichen, zog Vraska ihr Schwert und schnitt eine lange, dünne Wunde in Azors Hinterbein.
Die Sphinx schrie vor Schmerz auf und landete heftig mit den Schwingen um sich schlagend am Boden. „Zeigt euch!“, gebot sie, und Vraska spürte, wie Jace ihre Verschleierung fallen ließ.
Jaces Augen glühten voller Macht, und Vraska bemerkte, wie er über seinen eigenen mentalen Schutz hinweggriff und versuchte, in Azors Verstand einzudringen, um ihm die Empfindung eines stechenden Kopfschmerzes einzuimpfen.
Azor schnappte nach Luft.
Jace hielt den Atem an und blickte zu Vraska. Bist du verletzt?
Nein, erwiderte sie, aber ich würde ihn gern versteinern, bevor er das noch mal versucht.
Er hat nicht den Tod verdient, stellte Jace klar.
Vraska sah ihn grimmig an. Er verdient eine Strafe.
Sie trat an Jaces Seite und starrte die Sphinx an. „Du hast dein Leben damit verbracht, etwas heilzumachen, was du als Beschädigung an anderen Welten angesehen hast, und du hast dich in Angelegenheiten eingemischt, die nicht die deinen waren.“
„Ich bin der Hohe Schlichter–“, unterbrach Azor sie.
Jace umschloss seine geballte Linke mit den Fingern seiner Rechten, und Azor stöhnte vor Schmerzen auf.
„Lass sie ausreden!“, knurrte Jace.
Die Sphinx mühte sich, den Kopf zu heben, war aber von Jaces Zauber zu desorientiert.
„Die Immerwährende Sonne hat Hunderte von Jahren für Zwietracht auf dieser Welt gesorgt“, fauchte Vraska, begierig darauf, endlich fortzufahren. „Sie brachte die Legion des Zwielichts dazu, einen ganzen Kontinent zu erobern. Sie sorgte dafür, dass das Imperium der Sonne und die Flussherolde unerbittlich gegeneinander Krieg führten. Dein Artefakt hat eine ganze Welt aus dem Gleichgewicht geworfen, und dennoch weigerst du dich, die Verantwortung dafür zu übernehmen.“
Vraska kniete sich neben Azor. „Die Kriege auf dieser Welt sind dir zuzuschreiben, und der Kerker, in dem ich auf Ravnica ohne Schuld gelitten habe, wo mein Volk unterjocht wurde, ist letztlich dein Werk.“
Sie beugte sich dichter an ihn heran und zischte mit golden leuchtenden Augen: „Du verdienst eine Strafe. Ein Anführer kann sich seiner Verantwortung nicht entziehen.“
„ ... Kapitänin“, warf Jace von hinten ein. Seine Stimme war sanft und ruhig.
Vraska schaute ihn an.
Jaces Miene war unergründlich, sein Blick schien in weite Ferne zu gehen, und sein Mund war nur eine schmale Linie.
„Ich glaube, ich sollte das tun“, sagte er leise.
Vraska blinzelte, unsicher, was er genau meinte. „Du willst ihn bestrafen?“
Er starrte zurück. Vraska sah, wie erst ein Anflug von Zweifel und dann tiefe Entschlossenheit über seine Züge huschten. Er nickte. „Es ist meine Aufgabe, im Namen Ravnicas zu handeln.“
Vraska verstand.
„Na schön“, sagte sie und trat beiseite, um zuzusehen.
Jace näherte sich, und die Rollen kehrten sich um, als hätten Schauspieler auf einer Bühne ihre Textbücher vertauscht. Wo einst ein Eroberer stand, stand nun ein Verurteilter. Erst ein Helfer, nun ein Richter. Der Lebende Gildenbund starrte auf den Parun der Azorius und sprach mit der Weisheit und Ernsthaftigkeit jenes Jace, den Vraska nur zu gut kannte.
„Der Lebende Gildenbund bewahrt das Gleichgewicht zwischen den Gilden Ravnicas. Du, Azor, Parun der Azorius, bist ein wesentlicher Bestandteil Ravnicas und hast für Ungleichgewicht gesorgt–doch nicht nur in meiner Heimat, sondern auf zahllosen anderen Welten.“
Vraska stand still da und hörte zu. Azor zitterte und kauerte sich wie ein Kätzchen zusammen. Er hätte kämpfen und Jace auf der Stelle umwerfen können, doch hier war eine tiefer greifende Magie am Werk, ein mächtiger Grad an Hieromagie, der die Sphinx in Schach hielt und den Vraska weder sehen noch begreifen konnte. Das Gemahnen an Rang und Namen hatte Azor erstarren lassen, und er lauschte mit großen, runden Augen seinem Urteil. Jace versuchte währenddessen, nicht über Azor aufzuragen. Er wollte ihn nicht körperlich dominieren oder einschüchtern. Seine Haltung war ruhig und gemessen, sein Blick in die Augen seines Gegenübers unverwandt. Dies war ein Akt der Demut und der Akzeptanz von etwas, worum er nie gebeten hatte.
Jace fuhr fort: „Du hast nicht nur entschieden, dass es dein Recht war, über etwas zu herrschen, was dir nicht gehörte, sondern du hast zudem auch nie die Folgen deines Handelns in Betracht gezogen. Ixalan ist in Gefahr, Ravnica war darauf ausgelegt, nach deiner Abreise aus dem Gleichgewicht zu geraten, und unzählige andere Welten haben zweifellos ebenfalls unter deiner bewussten Einmischung gelitten. Welches auch immer deine Absichten waren, so hast du nie versucht, das ganze Ausmaß deiner Entscheidungen zu verstehen.“
Azor stammelte durch seinen Schmerz: „Unsere Absicht war es, Nicol Bolas einzukerkern...“
Vraskas Kiefer klappte herunter.
Sie warf Jace, der wie erstarrt schien, einen Blick zu. Seine Augen waren von einer schrecklichen Erkenntnis geweitet, seine Finger ruhig in der Luft vor ihm.
Vraska erkannte Jaces Gesichtsausdruck als den gleichen wieder, den er auch am Flussufer gehabt hatte. Sie sah das Weiße in seinen Augen und das Zittern seiner Lippe.
Ein kurzes Bild blitzte in ihrem Verstand auf.
Sie erschauderte. Gerade erinnerte er sich an Nicol Bolas. Er kennt ihn doch.
„Azor ... darf ich sehen, woher du weißt, wer er ist?“, fragte Jace. Von jedem anderen gestellt hätte diese Frage seltsam oder falsch ausgedrückt gewirkt. Doch dies war die Formulierung eines Telepathen. Vraskas Herz hämmerte laut in ihrer Brust.
Die Lippe der Sphinx bebte, während sie über Jaces Bitte nachsann. „Ja.“
Jace schloss die Augen, und Vraska sah zu, wie er sanft und vorsichtig seine Sinne in Azors Verstand ausstreckte. Sie begriff, dass er sich an Alhammarets Lehren erinnerte, und sie fragte sich, wie es sich wohl anfühlen mochte, den Verstand einer Sphinx offenzulegen.
Jace warf Vraska einen Blick zu. Seine Augen leuchteten vor Macht, doch seine Stirn runzelte sich vor Verwirrung und Schrecken. Sie wusste, dass das, was er sah, Schlimmes bedeutete.
„Ich danke dir, Azor“, sagte er. Er stand auf und nahm sich einen Augenblick Zeit, um sich zu sammeln und das zu überdenken, was er gerade gesehen hatte. Nach einigen Sekunden stieß er einen zitternden Seufzer aus.
Jace fuhr fort, die Stirn in Falten gelegt und das Gesicht verzogen. „Deine Absichten waren ehrenhaft, aber die Wirkung der Immerwährenden Sonne auf Ixalan war verheerend. Du und die Immerwährende Sonne sind eine Gefahr für diese Welt.“
Ein seltsames Schimmern blauer Magie schwebte über dem Kopf der Sphinx und verschwand ebenso schnell wieder, wie es aufgetaucht war.
Jace trat von Azor weg. Die Magie in seinen Augen war erloschen, doch er sprach mit der Autorität des Gildenbundes. Vraska fröstelte, als sie zum ersten Mal verstand, wie viel Macht diesem Amt innewohnte.
„Du wirst der Herrscher und Hüter der Nutzlosen Insel. Du wirst sie nicht verlassen können, und du wirst dich niemals wieder in die Geschicke anderer lebender Wesen einmischen. Lass die Immerwährende Sonne hier und gehe mit deinem Leben fort. Als Lebender Gildenbund ist dies mein Gebot.“
Die Anrufung ravnicanischer Magie um den Parun der Azorius verstärkte den Klang von Jaces Worten, und Vraska spürte ein fremdartiges Aufwallen von Gesetzesmagie in seiner Stimme.
Azor blinzelte. Vraska ließ den Versteinerungszauber fallen, den sie ihre ganze Begegnung über aufgeladen hatte.
Azor breitete die Schwingen aus, die die gesamte Breite des Raumes einnahmen. Er schlug damit, erhob sich in die Luft und flog ohne ein weiteres Wort zu jener Tür hinaus, durch die Jace und Vraska eingetreten waren.
Seine Umrisse verschwammen über dem Blätterdach in der Ferne, und dann war er fort.
Vraska schaute zur Immerwährenden Sonne hinauf, nicht sicher, was sie nun von ihr halten sollte.
„Warum will Nicol Bolas ein Artefakt haben, das Planeswalker einsperrt?“, fragte sie mit unterdrückter Furcht.
Jaces Lippen waren eng zusammengekniffen, und er sah sie voller Entsetzen an.
„Vraska“, sagte er schließlich mit bebender Stimme. „Du musst dringend erfahren, für wen du arbeitest.“
Rivalen von Ixalan-Storyarchiv
Planeswalker-Profil: Huatli
Planeswalker-Profil: Jace Beleren
Planeswalker-Profil: Vraska
Weltenbeschreibung: Ixalan