Die Erzmagierin der Goldnacht
Was bisher geschah: Ich bin Avacyn
Die Welt Innistrad verfällt nun schon seit geraumer Zeit dem Wahnsinn. Von Kultist bis Katharer ist kein Verstand vor ihm sicher. Selbst Engel sind ihm schon zum Opfer gefallen. Avacyn selbst wurde wahnsinnig und verwandelte sich von einer Beschützerin in ein Ungeheuer, das sogar unter ihren treuesten Anhängern unfassbar grausam wütete. Dann wurde sie vernichtet. Und nun, da seine Beschützerin tot ist, ist Innistrad einer erdrückenden Übermacht der Dunkelheit und des Bösen hilflos ausgeliefert, und die wenigen, die noch bei klarem Verstand sind, fragen sich, ob dies das Ende ist. Während die Welt zusehends aus dem Gleichgewicht gerät und ihrem Ende entgegenblickt, beten die Menschen, dass etwas oder jemand mächtig und gut genug sein möge, um Avacyns Platz einzunehmen und sie vor der Dunkelheit zu beschützen, die sie in den Wahnsinn treibt.
Heute
Der Geruch von Engelsblut. Im gesamten Multiversum gab es nichts Vergleichbares: ein beißender Duft, süß und modrig, mit einem Hauch von Würze und scharf vor Macht. Das Aroma drang in Arlinns Wolfsschnauze, als sie den steilen Abhang einer Schlucht auf die belagerte Stadt Lammholt zu hinaufrannte. Fluchend knurrte sie ob dieses Geruchs. Sie war nicht schnell genug gewesen. Sie hätte diejenige sein sollen, die die Wunde schlug, den Engel niederstreckte und sich seinen Zorn verdiente. Sie war die Beschützerin des Ulvenwalds.
Schneller.
Aus der Ferne war sie Zeugin gewesen, wie der wahnsinnige Engel Lammholt angegriffen hatte und das göttliche Wesen zwischen den Dächern und Kirchtürmen herabgestoßen war. Darauf waren Entsetzensschreie und Lichtblitze gefolgt. Augenblicke später war der Engel mit blutigen Schwingen und brennendem Schwert wieder emporgestiegen, nur um sich ein weiteres Mal auf die Menschen herabzustürzen.
Obwohl Arlinn nicht hatte sehen können, was sich unterhalb der Dächer abgespielt hatte, konnte sie es sich lebhaft vorstellen. Wahnsinnige Engel taten im Grunde stets das Gleiche. Sie waren gebrochen, untröstlich und schrien weinend Avacyns Tod in die Welt hinaus, während sie über den Himmel torkelten. Es schien undenkbar, dass Avacyn tatsächlich tot war, doch der Riss im Gefüge Innistrads ließ sich unmöglich leugnen. Ein Riss, der sich rasch mit dem Wehklagen der Unschuldigen, dem Brausen von Flammen und dem gehässigen Gelächter verderbter Wesenheiten füllte.
Der verzweifelte Klang eines Katharerhorns – eines der Goldnacht, wie sie dem Klang entnehmen konnte – spornte Arlinn an. Sie zog Kraft aus dem Wald, lenkte sie in die dicken, unablässig arbeitenden Muskeln an ihren Beinen und trieb sich zu größerer Eile auf ihrem Weg den Abhang hinauf an. Schneller. Doch sie fürchtete, dass sie bereits zu spät sein würde. Blut war vergossen worden, und nicht nur das von Engeln. Auch Menschenblut. Die Katharer. Arlinn sah sie vor sich, die heiligen Waffen erhoben und magische Beschwörungsformeln auf den Lippen. Doch die Macht, um die sie beteten, würde ihnen nicht gewährt werden. Avacyn war nicht mehr da, um ihre Gebete zu erhören.
Viele Jahre zuvor
„Arlinn Kord, indem du heute hier erschienen bist, bist du dem Ruf der heiligen Beschützerin Avacyn gefolgt. Es gibt keinen größeren Segen als den, den du nun empfangen wirst. Bitte tritt vor.“
Erzmagier Reeves stand auf dem Altar der Goldnacht und bedeutete Arlinn, sich ihm und Erzmagier Rembert zu nähern. Die Erzmagier konnten nicht erahnen, wie viel Arlinn dieser Augenblick bedeutete. Und das würden sie auch nie ... Sie konnte es ihnen nicht sagen. Er war so viel mehr, als nur das Sakrament des Erzengels zu empfangen, so außergewöhnlich dies auch sein mochte. Für sie bedeutete er Freiheit. Hätte sie dies jedoch den heiligen Männern vor ihr erklärt, so wäre es damit aus und vorbei gewesen.
Arlinn erhob sich aus ihrer gebeugten Haltung einer Bittstellerin und stieg die Stufen zu den beiden Erzmagiern hinauf. Reeves würdigte sie keines Blickes, doch Rembert sah sie mit einem Lächeln auf den schmalen Lippen an. Arlinn erwiderte das Lächeln, so gut sie konnte. Ihre Lippen bebten. Sie richtete den Blick fest auf all das Vertraute um sich herum, um die Furcht und die gespannte Erwartung zu zügeln, die abwechselnd in ihr aufwallten. Die Kapelle in Ellgau war klein, aber alles andere als schlicht. Der Altar leuchtete vor goldenem Zierrat mit dem Zeichen Avacyns. Dichter, weißer Stoff hing an allen Seiten von der Decke und erzeugte das Gefühl eines geschützten Alkovens, der vom Duft von Rauchwerk erfüllt war. Friedlich und doch von Macht durchdrungen.
„Im Namen Avacyns und mit der Kraft, die mir von ihrer heiligen Kirche verliehen wurde, gewähre ich dir diesen Segen“, deklamierte Erzmagier Reeves. Arlinn kannte die Worte gut. Unzählige Male hatte sie als einzige Katharerin, die bei jeder einzelnen Segnungszeremonie eines jeden Erzmagiers zugegen gewesen war, dieses Gebet in den vergangenen Jahren gehört. Sie hatte jene, die vor ihr auf ebendiesem Altar gestanden und das höchste Sakrament empfangen hatten, gut beobachtet. Jedes Mal hatte sie sich gefragt, ob sie jemals dort stehen würde. Jedes Mal hatte sie auf ihrem Platz auf der Kirchenbank, die dem Altar am nächsten war, an sich gezweifelt. Und jedes Mal hatte sie sich dazu ermahnt, an die Macht Avacyns zu glauben. Und nun war sie hier.
Erzmagier Reeves hielt die dicke, goldene Kette mit dem glänzenden Medaillon hoch – den Kranz der Goldnacht. „Arlinn Kord, ich überreiche dir diesen Kranz, das Zeichen Avacyns unendlicher Liebe und rückhaltlosen Schutzes.“
Im vorgesehenen Augenblick neigte Arlinn den Kopf und Reese legte ihr die Kette um den Hals. Das Medaillon war schwerer, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie spürte sein Gewicht auf ihrer Brust und seine heilige Macht. Diese Macht war es, die sie brauchte. Die Macht, die sie hier zu finden gehofft hatte. Licht. Güte. Wahrheit.
Sie wusste, dass sie still stehen und sich für die Dauer der Zeremonie nicht bewegen sollte, doch sie konnte nicht anders, als das Medaillon zu berühren, es in ihrer Handfläche ruhen zu lassen und mit den Fingern darüber zu streichen. Es war wunderschön und rein. Und nun gehörte es ihr.
Die Hand von Erzmagier Rembert griff nach ihrer Schulter. „Du weißt sicher, wie stolz ich bin“, flüsterte er, während Reeves das Gebet fortsetzte.
Eine Flut von Gefühlen staute sich in Arlinns Kehle und hinderte sie an einer Antwort, doch sie schaute Rembert in die Augen, um ihm die Dankbarkeit in ihrem Blick zu zeigen. All die Jahre über war er für sie da gewesen, ein Mentor, der sie vorangetrieben, Geduld mit ihr gezeigt und ihr geholfen hatte, ihre Stärken noch weiter zu festigen. Er kannte sie besser als jeder andere, und selbst er kannte nicht die Wahrheit.
Jäh wandte Arlinn den Blick ab. Wie viele Male hatte sie es ihm schon sagen wollen? Doch sie konnte es nicht. Wüsste er die Wahrheit über sie – wüsste er, was sie war –, wäre er gezwungen, gewaltsam gegen sie vorzugehen. Der Kloß in ihrer Kehle löste sich und rutschte ihr in die Brust, wo er sich in eiskalte Schuld verwandelte. Arlinn schreckte davor zurück. Sie hatte sich selbst versprochen, diese Schuld nicht mehr zu empfinden, nicht nach der heutigen Nacht, doch sie war nicht so leicht abzuschütteln, wie sie es sich gewünscht hätte. Bilder ihrer Talismane – Hunderte, die sie gegen den Fluch der Lykanthropie angefertigt hatte – blitzten vor ihrem inneren Auge auf. Das Gefühl des Mondlichts auf ihrer Haut. Das Heulen, das sie spät in der Nacht hörte. Diese ganze Zeit über hatte sie ihr Geheimnis gehütet. Vor ihnen allen. Sie konnte gar nicht anders. Ein Lykanthrop konnte kein Erzmagier der Goldnacht sein, doch Arlinn musste eine ihrer Erzmagierinnen werden. Denn dieser Segen würde es sein, der sie von ihrem Fluch befreite.
Der Segen Avacyns war stärker als das Böse in ihr. Er würde die Wildheit unterdrücken. All diese Jahre hatte sie darauf hingearbeitet. Und nach der heutigen Nacht würde sie sich selbst wieder trauen können. Endgültig und vollkommen.
Sie atmete aus, und ihr schien es fast, als hätte sie zuvor jahrelang die Luft angehalten. Sie schaute zurück zu Rembert und hielt seinem Blick stand, während Reeves seine Deklamation beendete.
„Und nun lasset uns gemeinsam beten.“ Reeves nickte Arlinn zu, die in das abschließende Gebet einfiel. „Avacyn, unser aller Beschützerin, o Heilige, die uns unsere Macht gewährt, wir ...“
„Ein Angriff!“ Der Ruf schnitt durch die weihrauchgeschwängerte Luft, und die dichten, weißen Vorhänge bauschten sich auf, um einer Bö kalten Windes den Weg zum Altar freizugeben. „Teufel in Pfuhlhaven! Horden von ihnen!“ Katharer Leighton war es, der dort schrie und mit erhobenem Schwert auf den Altar zurannte. „Der Goldnachtschwarm schickt nach euch.“ Er stolperte die Stufen zu Reeves herauf. „Er ersucht die Hilfe der Erzmagier.“
„Dann reiten wir los!“ Reeves warf die Zeremonienrobe von sich, während er auch schon Leighton den Gang hinunterfolgte.
Rembert eilte ihnen nach. „Erzmagierin Kord, deine Klinge!“
Arlinn fuhr zusammen. Das war sie. Er rief nach ihr. Einer Erzmagierin. „Aber das Gebet. Wir haben es nicht beendet.“ Sie wusste, dass es töricht war, das in einem solchen Augenblick zu sagen, doch ihre Gedanken rasten und ihre Nerven lagen blank. So lange hatte sie diesen Augenblick herbeigesehnt, und nun war es, als hinge er in der Luft wie ein Faden an einem Reitmantel, der ebenso leicht abreißen konnte, wie er es vermochte, den gesamten Stoff aufzudröseln. Sie musste wissen, ob es getan war. Ob sie endlich und wahrhaftig eine Erzmagierin war.
Rembert öffnete den Mund, als wollte er sie schelten, doch dann wurde sein Blick sanfter. An der Tür hielt er inne. „Vor der heutigen Nacht hast du mich gefragt, ob ich glaube, dass du bereit bist, zu einer Erzmagierin der Goldnacht zu werden.“
Arlinn nickte. „Das habe ich.“
„Und meine Antwort ist noch immer die Gleiche. Für mich warst du schon immer eine Erzmagierin, seit du hier angekommen bist. Ich habe nie eine klügere oder vielversprechendere Schülerin als dich erlebt. Und nun trägst du das als Titel, was du in deinem Herzen schon immer warst. Du gehörst zur Goldnacht, Arlinn Kord, und du bist gebunden an jenes Sakrament, das uns vereint. Gebunden an den Engel und einander. Auf ewig. Ob die Zeremonie nun beendet wurde oder nicht, ist einerlei. Es ist getan.“
Arlinn versuchte zu lächeln. „Nun gut.“ Es war getan. Damit konnte sie leben. Sie wünschte sich jedoch, es stärker spüren zu können. Sie hatte sich immer vorgestellt, wie sie in diesem Augenblick von einem gewaltigen Gefühl der Macht und der Freiheit durchströmt werden würde.
„Und nun wurde die Goldnacht gerufen, auszureiten.“ Rembert öffnete die Tür. „Wir müssen los.“
„Ja, das müssen wir.“ Arlinn hastete die Gasse zwischen den Kirchenbänken entlang.
Rembert räusperte sich, während sie eilig durch die Tür traten. „Natürlich wäre es unverzeihlich, wenn ich der Pflicht der Kirche nicht Genüge täte und sicherstellte, dass das abschließende Gebet vollständig gesprochen ist.“
„Oh?“ Arlinn blickte den Erzmagier an.
„Sprich es im Gehen mit mir. Avacyn, unser aller Beschützerin“, begann Rembert.
Gemeinsam beendeten sie das abschließende Gebet an Avacyn. Sie stießen die Worte zwischen keuchenden Atemzügen beißend kalter Luft hervor, während sie durch die Feste von Ellgau auf die Stallungen zuliefen. Als sie auf ihr Pferd stieg, war Arlinn bereits Erzmagierin. Sie spürte es in ihrer Seele.
Die Stadt Pfuhlhaven stand in Flammen. Wie Leighton sie gewarnt hatte, hingen Teufel von jedem Ast herunter, schwangen sich von Gebälk zu Gebälk und tanzten in den Straßen. Eine Gruppe aus einem guten Dutzend von ihnen tollte über die höchsten Dächer der Stadt und schleuderte Feuerbälle auf alles, was noch nicht brannte, und viele weitere, nur um die Flammen noch heftiger anzufachen. Einer ließ sich auf dem Kopf eines alten Mannes nieder und grapschte mit den nadelartigen Fingern nach dessen Gesicht, während zwei weitere sich an die Hände des Greises klammerten, um ihn davon abzuhalten, den Quälgeist zu verscheuchen. Ein anderer der Teufel trieb sein Unwesen mit einem jungen Mann, der kaum bei Bewusstsein war. Er ritzte ihm mit den schmutzverkrusteten Nägeln irrsinnige Muster in die Haut, die gerade so sehr bluteten, dass der Arme am Leben blieb und dabei gerade genug Schmerzen erleiden musste, dass er sich wünschte, es wäre anders. Ihr Gelächter hallte über das Knistern der Flammen. Der erstickende Rauch, der so viele Stadtbewohner auf die Knie gezwungen hatte, konnte ihnen nichts anhaben. Arlinn hasste sie augenblicklich.
Die Goldnachtschar war kurz vor der Kavallerie eingetroffen, und nun schlossen sich die Erzmagier und Katharer dem Kampf an, der von den Engeln begonnen worden war. Ihre erste Aufgabe war es, eine Zuflucht zu errichten. Ein Engel – Freydalia mit Namen – segnete eine kleine Kirche und wirkte einen Schutzzauber auf sie. Unter Remberts Befehl begannen Arlinn und die anderen, die überlebenden Opfer des Angriffs nach und nach in Sicherheit zu bringen. Erst mussten sie sich um die Unschuldigen kümmern, ehe sie den Kampf mit den Teufeln aufnehmen konnten.
Arlinn kroch neben die brennenden Überreste einer umgestürzten Kutsche und griff unter der Hitze hindurch nach der zögerlichen Hand eines kleinen Jungen. Ein weiterer Engel, den Arlinn als Olaylie erkannte, schwebte über ihnen und hielt eine Gruppe Teufel in Schach, die von einem nahen Dach herunterzuspringen drohten.
„Ich kann sie nicht mehr länger aufhalten“, rief Olaylie Arlinn zu. Der Engel spießte zwar einen der Teufel mit dem Speer auf, doch gleichzeitig sprangen vier andere hoch, um Olaylies Waffe zu packen, und ein mörderisches Tauziehen begann.
Arlinn streckte die Finger weiter nach dem Jungen aus. Sie musste sich beeilen. „Gib mir deine Hand“, flehte sie.
Das Kind schüttelte den Kopf. Die Kutsche über ihnen knarzte. „Die Teufel ... Sie erwischen mich mit ihrem Feuer, wenn ich da rausgehe.“
Arlinn wollte ihm nicht sagen, dass er ohnehin im Feuer sterben würde, wenn er dort unten nicht herauskam. Sie wollte ihm nicht noch mehr Angst machen. „Ich weiß, dass du Angst hast“, sagte sie, „aber das musst du nicht. Ich werde dich beschützen und der Engel dort oben auch.“ Sie griff erneut nach seiner Hand, doch der Junge kauerte sich noch immer zusammen.
„Aber ihr seid nur zu zweit und die Teufel sind ganz viele.“ Er spähte durch einen Spalt im Holz nach oben, als ein brennendes Brett von der Kutsche wegbrach und neben Arlinn auf den Boden krachte.
Ihnen lief die Zeit davon und Arlinn konnte den Jungen nicht dazu bringen, ihr zu vertrauen. Daher besann sie sich nun ihres Glaubens. „Kennst du Avacyn?“, fragte sie.
Er nickte.
„Dann weißt du, dass sie größer ist, als ich es jemals sein könnte. Größer noch, als jeder andere Engel es je sein könnte. Avacyn wird dir helfen, wenn wir es nicht können.“
Der Junge dachte über Arlinns Worte nach. Sie vermochte nicht zu sagen, was hinter seinen geweiteten braunen Augen vorging. Sie konnte nur hoffen, dass sie ihn überzeugt hatte. „Sprich das Gebet mit mir“, drängte sie ihn. „Wir werden Avacyn gemeinsam um Hilfe bitten.“ Sie wählte das am weitesten verbreitete aller Gebete aus, das ihr in den Sinn kam, und hoffte, dass auch er es kannte. „Avacyn, wir beten zu dir in dieser Stunde unserer Not. Wir bitten dich ...“
„Woher weißt du das?“, unterbrach der Junge das Gebet. „Woher weißt du, dass sie uns helfen wird?“, bohrte er nach. „Ich will eine ernsthafte Antwort. Nicht nur eine, mit der du mich dazu bringen willst, da rauszukommen. Ich weiß, wie die Großen sind, und ich komme nicht da raus, wo die ganzen Teufel sind, nur weil du es sagst.“
Nun war es an Arlinn, das Kind zu mustern. Sie hörte Olaylies Schwingen heftig über ihnen schlagen und spürte die Hitze der Flammen der Teufel. Doch das Starren des Kindes versetzte sie in noch weitaus größeres Unbehagen. „Ich werde dir die ernsthafteste Antwort geben, die ich kenne“, sagte sie. „Ich weiß, dass Avacyn dir helfen wird, wenn du betest, weil sie mir auch geholfen hat. Mir ist einmal etwas sehr Schlimmes zugestoßen, und ich hatte Angst, allein zu sein. Aber dann erfuhr ich, dass ich es nicht war. Avacyn hat mich gerettet.“
Die Kutsche über ihnen neigte sich leicht zur Seite. „Schnell, Erzmagierin Kord!“, rief Olaylie von oben.
„Gib mir deine Hand. Bitte.“ Arlinn streckte die Hand so weit aus, wie sie konnte. Ihre Fingerspitzen reichten gerade bis kurz vor den Ellenbogen des Jungen.
„Du bist eine Erzmagierin?“ Der Gesichtsausdruck des Jungen wechselte von Zweifel zu Staunen.
„Das stimmt.“ Arlinn nickte zu dem Medaillon hinunter, das um ihren Hals hing, während sie ihren Rücken vor dem heißen und immer weiter in sich zusammensackenden Holz zu schützen versuchte.
„Das ist schon mal was“, sagte der Junge. „Na schön.“ Er bewegte sich vorsichtig und qualvoll langsam. Arlinn hielt den Atem an, als seine kleine Hand nach der ihren griff.
Die Kutsche über ihr ächzte wie ein Tier. Arlinn begann mit ihrem eigenen Gebet. Avacyn, verleihe mir die Kraft, dieses unschuldige Kind zu retten.. Sie spürte den Kranz der Erzmagierin auf ihrer Brust zum Leben erwachen. Tief in ihr regte sich der Segen Avacyns. Laut betete sie für den Jungen: „Beschützerin unserer Welt, bitte geleite uns sicher in unsere Zuflucht.“ Das sanfte Regen wurde zu einem überwältigenden Strom göttlicher Macht. Als die Hand des Jungen die ihre berührte, riss Arlinn ihn mit einer derartigen Kraft unter der Kutsche hervor, dass sie beide über den Boden davonrollten, gerade als das Gefährt über ihnen zusammenbrach.
Der Engel Olaylie stieß herab, um Arlinn und den Jungen vor den glimmenden Holzsplittern und den Angriffen der Teufel zu schützen. Der Junge heulte auf.
„Wir sind in Sicherheit.“ Arlinn vergrub ihr Gesicht im schweißgetränkten Haar des Jungen und atmete den Duft seines Lebens ein. „Du bist in Sicherheit.“ Sie wiegte ihn und strich ihm übers Gesicht. „Ich bringe dich jetzt in die Kirche.“ Sie löste ihre Hand von seinem Kopf, und ihr stockte der Atem. Ihre Finger waren blutbefleckt. Auch ihr Herz setzte einen Schlag aus, als würde es sich weigern, sie am Leben zu halten, solange sie nicht wusste, dass der Junge es schaffen würde. Sie suchte auf seinem Kopf, seinen Schultern und seinem Hals nach der Herkunft des Blutes. Nichts. Aber da war noch mehr Blut. Und dann noch mehr. Ein Tropfen Rot fiel auf Arlinns eigene Hand. Sie blickte auf.
Olaylie schlingerte mit einem Teufel auf dem Rücken durch die Luft. Seine nadelartigen Finger zerrten an ihrem Haar. Ein zweiter Teufel sprang an ihr Bein, ein dritter auf ihre Schulter. Und sie alle gruben ihre widerlichen Finger in ihr Fleisch. Der Engel schrie.
Arlinn hatte noch nie einen Engel bluten sehen. Es war, als wäre ihr das Gesicht zerkratzt worden und als wäre es ihr Schmerzensschrei, der durch die Stadt hallte.
Ein Tropfen Blut fiel auf Arlinns Wange. Sie konnte ihn riechen. Das Blut des Engels roch nach den Bäumen im Wald, der Luft des Himmels und dem Wasser der Meere. Es war ein berauschender Duft voll heiliger Macht. Er gehörte in den Leib des Engels und nirgendwo sonst hin. Sie wollte der geflügelten Kriegerin beistehen und rief verzweifelt den Namen des Engels: „Olaylie!“ Doch dann erinnerte sie sich an den Jungen, der sich in ihre Armbeuge geschmiegt hatte. Sie blickte zu ihm herab. Engelsblut war auf seinem Gesicht verschmiert.
„Rette zuerst das Kind, Erzmagierin Kord!“, donnerte Olaylies Stimme über ihr. Es war ein Befehl, der jedoch von einer sanfteren Bitte gefolgt wurde. „Arlinn, bitte. Rette zuerst das Kind.“
Alles, was Arlinn tun konnte, war, ihren Blick davon abzuwenden, wie die Teufel sich in das Fleisch des Engels gruben. Hätte sie auch nur einen Wimpernschlag länger hingesehen, wäre es ihr unmöglich geworden, Olaylies Befehl Folge zu leisten. Sie hielt dem Jungen erneut die Hand hin. „Komm mit mir.“
Dieses Mal zögerte der Junge nicht. Er ließ sich von ihr durch die Stadtmitte Pfuhlhavens führen. Während sie auf die Zuflucht zueilten, erklang sein dünnes Stimmchen. „Avacyn, bitte hilf diesem Engel. Mach, dass die Teufel aufhören, ihn bluten zu lassen. Sie tun ihm weh.“
Heute
„Im Namen Avacyns, der gefallenen Beschützerin, werde ich dich zur Strecke bringen!“ Das Heulen eines wahnsinnigen Engels erklang, gerade als Arlinn den Rand der Schlucht erklommen hatte. Sie jagte vorwärts, um dann unvermittelt erneut zum Halten zu kommen. Ihre Krallen gruben sich in den Waldboden, als sich eine Lichtung vor ihr öffnete. Der wahnsinnige Engel lag am Boden inmitten eines Rings aus Bäumen. Arlinn duckte sich ins Unterholz. Es würde ihr einen Vorteil verschaffen, unentdeckt zu bleiben. Sie spähte durch die Äste und sog tief die von Engelsblut durchsetzte Luft ein. Der Engel war mit einem Seil gefesselt. Aus seinem Bauch ragte ein Pfeil und seine Schwingen waren blutig. Er war von allen Seiten von Katharern umringt, die ihre Waffen gezogen hatten. Doch trotz all dem hatte der Engel die Oberhand – ein Wesen unvorstellbarer Macht, das in seinem Wahn noch mächtiger war.
„Unrein!“, kreischte der Engel den Katharern entgegen. „Ihr alle seid das! Unrein!“ Sein Schwert blitze vor feuriger Magie auf, als er sich gegen die Seile aufbäumte. Er schrie – ein Geräusch von solch bösartiger Wut, dass sich Arlinns Nackenhaare aufstellten.
Arlinns Instinkte befahlen ihr, die Katharer zu beschützen. Sie bleckte die Zähne und schlich durch das Unterholz. Sie würde nicht lange auf eine Gelegenheit zum Zuschlagen warten.
„Haltet sie fest!“ Eine vertraute Stimme ließ Arlinn innehalten. Ihre Ohren stellten sich auf. „Lasst diese Seile nicht locker!“ Arlinn wurden die Beine steif. Das konnte nicht sein. Doch der Erzmagier war unverwechselbar, als er hinter dem Engel hervorstürmte und den anderen Katharern Befehle zurief. „Bogenschützen! Anlegen!“ Obwohl Remberts Gesicht vor Anstrengung gerötet und mit Schmutz verkrustet war, leuchteten die drei Narben, die sich von seiner Wange bis zum Kinn zogen, hell im Mondlicht.
Arlinns Magen krampfte sich bei dem Anblick und der Erinnerung zusammen. Sie wich mit herabhängendem Schwanz in die dichteren Bäume zurück. Ihre Hinterpfote traf auf einen Ast. Hätte sie Remberts Anblick nicht derart aus der Fassung gebracht, hätten ihre tierischen Instinkte eingesetzt, um ihren Körper zu führen und ihr Gleichgewicht zu halten, doch in diesem Augenblick war sie mehr Mensch als Tier und ihr menschlicher Verstand vor lauter Ablenkung ins Taumeln geraten und viel zu langsam. Der Zweig knackte. Der Kopf des Engels fuhr herum. Seine Augen waren geradewegs auf den Wald gerichtet, in dem sich Arlinn verborgen hielt. Ein beunruhigendes Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Engels aus, als er die Hand hob. „Ein Untier!“ Der Engel deutete auf Arlinn. „Dort zwischen den Bäumen! Ein Untier!“
Eine Handvoll Katharer drehte sich zu ihr um, unter ihnen Rembert. Er erspähte den Werwolf in den Bäumen vor den anderen. Er wusste, wonach er Ausschau halten musste. Sein Blick traf den Arlinns, und er hob die Hand an die Wange, um die längste der drei Narben dort zu betasten. Ein Zittern fuhr ihr die Wirbelsäule entlang.
„He! Ein Werwolf!“, rief ein anderer der Katharer und riss Arlinn aus ihrer Starre der Erinnerungen.
Die heiligen Frauen und Männer wichen instinktiv vor dem Werwolf zurück und näherten sich so dem Engel – Nein!, wollte Arlinn rufen, aber es wäre nur ein Knurren zu hören gewesen, das alles noch schlimmer gemacht hätte. Doch es war bereits schlimmer. Dieser eine Augenblick der Unaufmerksamkeit war alles, was der Engel brauchte. In einer Zuschaustellung wahnwitziger Stärke breitete er die Schwingen mit solcher Kraft aus, dass die Seile abgeschüttelt wurden.
„Haltet sie auf! Haltet die Seile fest!“, riefen die Katharer, doch es war zu spät.
Der Engel schwang sich empor. In der Luft schwebend riss er sich den Pfeil aus dem Bauch und schleuderte ihn auf die Jüngste unter den Katharern. „Unrein! Ich bringe euch zur Strecke!“
Arlinn winselte, als die junge Frau leblos zu Boden fiel. Ihre Wildheit ergriff Besitz von ihr und sie sprang dem Engel entgegen, das Maul weit aufgerissen – nur, um es um einen dicken Ast zu schließen, den Rembert wie eine Waffe schwang. Er riss ihn zurück und holte erneut zum Schlag aus. Arlinn wich aus, und ihre Hinterbeine verloren den Halt auf dem vom Blut des Engels schlammigen Boden der Lichtung. Sie rappelte sich auf und winselte, als Remberts dritter Schlag ihren Schwanz traf.
„Schnappt sie euch!“, schrie Rembert den anderen Katharern zu, während er nach Arlinn hieb, die sich hinter einem Baumstumpf in Sicherheit gebracht hatte. „Ergreift das Untier!“
Klingen blitzten und Pfeile schwirrten durch die Luft – einige auf den Engel, andere auf Arlinn zu.
Halt! Sie wollte Rembert sagen, dass er aufhören sollte. Sie wollte ihm sagen, dass sie nicht mehr das Untier war, das er einst gekannt hatte. In Wahrheit war sie es nie gewesen.
Viele Jahre zuvor
„Nimm ihn! Nimm den Jungen!“ Erzmagierin Arlinn Kord warf das Kind förmlich in Remberts ausgestreckte Arme. Sie wartete nicht, bis sie sich in die Sicherheit der Zuflucht zurückgezogen hatten, bevor sie mit gezogener Klinge die Stufen auch schon wieder hinuntereilte.
Ihr Blick war vom Rauch der Feuer der Teufel getrübt, doch nicht so sehr, dass sie das Grauen vor sich nicht hätte erkennen können. Mindestens ein Dutzend Teufel hatten sich an Olaylie festgekrallt, zogen ihr am Haar, rupften ihr Federn aus und zerkratzten ihr die Haut.
„Nein!“, rief Arlinn. „Verschwindet!“
Die Teufel keckerten und warfen Feuerzauber auf Arlinn. Sie wehrte sie mit ihrer Klinge ab und stürmte voran. „Euch wird das Lachen schon noch vergehen!“
Als wären ihre Worte die Pointe eines grausigen Witzes, verfielen die Teufel in bösartiges Geheul, bei dem sie vor Vergnügen mit den knochigen Beinen strampelten. Derjenige auf Olaylies Kopf deutete auf Arlinn und kreischte auf – ein Geräusch, das die anderen als Befehl aufzufassen schienen. Gemeinsam beugten sie sich zurück, zerrten an den Schwingen des Engels und ließen Olaylie zu Boden taumeln. Sie gerieten vor heiterer Begeisterung schier außer sich, als der Engel am Boden aufprallte und durch den Dreck rollte, unfähig, sich erneut in die Luft zu schwingen.
Arlinn stürmte auf sie zu und ließ sämtliche göttliche Macht, die sie aufbieten konnte, in ihre Klinge fließen. Dabei betete sie. „Avacyn, leite mich. Gewähre mir deine heilige Stärke. Nie gab es eine Zeit, in der ich dich mehr gebraucht habe.“ Sie stürmte durch die Flammen, die die Teufel ihr entgegenspien, und fürchtete sich nicht vor dem Feuer. Sie durchbohrte einen von ihnen mit dem Schwert mitten durch die Brust. Sie zog es wieder heraus und hieb nach einem anderen. Und noch einem. Ehe sie jedoch erneut zuschlagen konnte, ließ sich ein Dutzend Teufel von den Dächern aus auf sie herabfallen.
Arlinn blieb kaum die Zeit für ein stummes Gebet. Avacyn, es sind zu viele. Bitte steh mir bei. Finger wie Nadeln griffen von hinten nach ihr und durchbohrten ihren Mantel. Sie wirbelte herum und stach nach dem Teufel, doch dieser hatte sich auf ihrem Rücken festgekrallt. Sie spürte das Gewicht eines zweiten, der sich dazugesellte, und dann das eines dritten. Sengend heiße Schwänze schlangen sich ihr um den Hals. Fingernägel gruben sich ihr in Schultern und Rücken und zerrten sie nach unten. Spitzes Gelächter klang ihr in den Ohren, als sie zu Boden gezogen wurde. Avacyn, bitte.
Keine Antwort.
Der Schmerz war übermächtig, doch der Anblick des Engels vor ihr, der sich gegen die ihn erstickende Horde zur Wehr zu setzen versuchte, war noch schlimmer. Wegen all des Blut und all der Teufel war dort, wo zuvor Olaylies reines Weiß zu sehen gewesen war, nur noch Rot.
„Nein!“ Arlinn versuchte, sich hochzukämpfen, doch auch sie war unter den Teufeln begraben. Tränen oder Blut – Arlinn wusste es nicht – strömte ihr die Wangen hinunter. Das durfte nicht sein. So sollte das alles nicht geschehen. Sie war eine Erzmagierin Avacyns. Avacyn! Arlinn griff durch das Kratzen und Beißen hindurch nach dem Medaillon um ihren Hals. Ihre Finger suchten den Kranz der Erzmagier der Goldnacht. Avacyn, bitte! Hilf mir! Sie wartete und öffnete sich der Macht der Beschützerin. Sie brauchte Macht, um den Engel zu retten. Aber da war ... nichts.
Gleich außerhalb Arlinns Reichweite schrie Olaylie auf. Nun endlich brach ein Geräusch aus ihr heraus, nachdem sie dem Schmerz so lange widerstanden hatte. Der Schrei des Engels war voll solcher Qual, dass er die Nacht entzweiriss.
Arlinn spürte die Macht in diesem Schrei, und genau wie die Nacht zerriss auch sie.
Der Werwolf warf sich auf die Teufel. Kiefer schnappten zu. Schlossen sich um die Kehle des Teufels, der ihm am nächsten war. Rissen ihm den Kopf vom Leib. Schleuderten ihn quer über den Platz.
Mehr.
Klauen hieben durch Bäuche. Rissen Schwänze ab. Stießen Leiber fort.
Mehr.
Brachen Knochen.
Griffen nach Fleisch.
Durchtrennten Rückgrate.
Leichen flogen.
Mehr.
Federn.
Das Maul des Werwolfs schloss sich um Federn.
Der Geschmack von Engelsblut. Berauschend. Warmer Nektar. Makellos.
Entsetzen spiegelte sich im Blick des Engels. Er rappelte sich auf und wollte davonfliegen, aber nicht schnell genug. Die Klauen des Werwolfs hieben nach der Haut am Bein des Engels, kratzen die Wade entlang und hakten sich ein. Das Vergnügen, diese makellose Haut zu verschandeln, war unvergleichlich. Der Werwolf zerrte den Engel zurück zu Boden und schlug die Zähne in sein Fleisch.
„Verschwinde!“
Das Geräusch der Stimme ließ den Werwolf herumfahren. Dort war ein Mensch. Ein Mann, der sein Schwert erhoben hatte. Der Werwolf schlitzte ihm den Bauch auf. Blut und Eingeweide quollen heraus.
Mehr.
Der Werwolf wandte sich wieder dem Engel zu, doch weitere Menschen näherten sich. Der Werwolf hieb nach der Klinge eines Schwertes und schlug sie aus der Luft, um dann auf den Arm einzuhacken, der sie geschwungen hatte, und ihm seinem Besitzer auszureißen. Der Mensch fiel. Der Werwolf trat auf die abgetrennte Gliedmaße und brach den Knochen, nur um zu spüren, wie er zersplitterte. Der Werwolf zerlegte den Rest des Körpers.
Ein weiterer Mensch warf sich dem Werwolf entgegen. Sein Schwert und Schild gleißten mit blendendem Licht. Ein Satz – und der Werwolf war hinter ihm. Ein Ausholen, ein Klauenhieb – und der Mensch lag zerschunden zu seinen Füßen.
Mehr.
Einer nach dem anderen. Sie alle erlagen dem Werwolf.
Plötzlich traf ein Bolzen von oben den Werwolf und entlockte ihm ein bösartiges Knurren. Ein weiterer Bolzen – diesmal traf er den Werwolf in den Rücken. Der Engel hatte sich genug erholt, um sich in die Luft zu erheben. Der Werwolf grollte. Der Engel schwebte über ihm, golden leuchtend durch den Staub und das Blut auf seiner Haut. Er legte mit einem Bolzen aus heiligem Licht auf ihn an.
Der Werwolf machte einen Satz nach oben, um wild nach dem leuchtenden Engel zu schlagen. Die Klauen des Werwolfs trafen zuerst, danach seine Zähne. Ein Schnappen, und die Spitze einer Schwinge war losgerissen. Ein Maul voll Federn, Knorpel und Engelsblut.
Der Engel verlor an Höhe. Der Werwolf sprang erneut, diesmal an die andere Schwinge. Er riss sie ganz vom Körper des Engels ab. Das heilige Geschöpf fiel vom Himmel.
Als der Werwolf auf den gefallenen Engel zuhuschte, rappelte dieser sich auf, taumelte zurück, wollte wegrennen, wollte wegfliegen – und versagte. Der Werwolf sprang ihn an und warf ihn zu Boden. Zähne gruben sich in weiches Fleisch. Der Schrei des Engels vermischte sich auf höchst betörende Weise mit dem Geschmack seines Blutes.
Der Werwolf würde nie genug davon bekommen können.
„Erzmagierin Kord?“ Der Ruf erregte die Aufmerksamkeit des Werwolfs. Hungrig drehte er sich herum. Ein in Rüstung und Roben gekleideter Mensch richtete zitternd ein Schwert auf den Werwolf. „Arlinn?“
Der Werwolf legte den Kopf schräg. Der Name, den der Mann gesprochen hatte, fühlte sich falsch an. Er stach wie ein Dolch.
Der Mann hob die Hand und deutete auf die Brust des Werwolfs. „Bei allem, was heilig ist ... Du bist es.“
Der Werwolf knurrte, doch sein Blick wurde nach unten gezogen. Zu dem Anhänger, der ihm an einer Kette um den Hals hing. Etwas zupfte an seinen Gedanken. Avacyn. Sie klappte das Maul zu und wandte den Blick ab. Zu Boden. Zu den Leichen. Überall um sie herum waren Leichen. Gefallene Katharer. Zu viele. Sie kannte sie alle. Leighton. Reeves.
Ihre Gedanken rasten.
Nein.
Nein.
„Oh, Arlinn, was hast du getan?“
Der Werwolf wandte sich zu Rembert. Seine Wut brodelte auf. Warum war er zu ihr gekommen? Warum hatte er gesprochen? Dies war seine Schuld. Ihre Nackenhaare richteten sich auf und sie knurrte. Er machte einen Schritt zurück, doch sie war schneller. Sprang ihn an. Teilte einen Hieb aus. Ihre Klauen gruben Risse in seine Wange. Er schrie auf, schwang sein Schwert in ihre Richtung und wich zurück.
Das Blut erblühte rot auf seinem Gesicht. „Du Untier!“
Der Werwolf heulte gequält auf, als die Wahrheit in ihren Geist stolperte und außer Kontrolle geriet, bis die Wirklichkeit jeden Winkel ihres Bewusstseins ausfüllte und aus ihrem Schädel hervorzuplatzen drohte.
Rembert hob sein Schwert. „Möge Avacyn dir vergeben.“
Der Werwolf wich nicht zurück. Die Klinge wäre eine Gnade. Sollte sie ruhig treffen. Sie konnte nicht mehr ertragen.
Der Stahl blitzte auf, und der Verstand des Werwolfs spaltete sich in zwei Hälften.
Viele Jahre später
Eine lange Zeit danach hatte Arlinn Rembert geglaubt. Sie hatte ihm geglaubt, dass sie ein Untier war. Etwas so Entsetzliches und Furchterregendes, dass selbst Avacyn sie nicht retten konnte. Und danach war sie anschließend lange Zeit wütend auf den Engel gewesen. Avacyns Segen hätte stärker als der Fluch sein sollen, doch schlussendlich hatte es keine Rolle gespielt, dass sie eine Erzmagierin war. Avacyn hatte versagt. Ihre Talismane hatten versagt. Die Lykanthropie hatte gesiegt.
Sie hatte viel Zeit gehabt, über diese Dinge nachzudenken. An jenem Tag vor so langer Zeit, als ihr Verstand sich aufgespalten hatte, hatte sie diese Welt verlassen. Remberts Schwert hatte sie nie getroffen. Stattdessen war sie aus der Welt geschleudert worden. Fort von den Schrecken, die sie angerichtet hatte. Fort von der Leiche von Erzmagier Reese zu ihren Füßen. Fort von dem geschundenen, leblosen und blutbefleckten Engel Olaylie. Fort von dem Funkeln in Remberts Augen. Sie war in einem Wald auf einer anderen Welt gelandet.
Es war unmöglich zu sagen gewesen, wie viel Zeit verstrichen war, und das hatte sie auch nicht geschert. Es hätte keine Zeit für sie verstreichen sollen. Ihr Leben hätte enden müssen. Und in gewisser Weise war es auch so. Diese andere Welt war wie ein Fegefeuer. Kein einziges Mal nahm sie dort ihre menschliche Gestalt an. Äußerlich blieb sie ein Untier, doch gleichwohl konnte sie ihrem menschlichen Bewusstsein und den Erinnerungen an ihre Taten nicht entfliehen. Diese beiden Teile bekämpften einander und ihre Seele geriet dabei ins Kreuzfeuer.
Letztendlich jedoch war Arlinn dankbar dafür, denn dieser Zustand zweier Leben hatte sie gezwungen, die Wahrheit zu erkennen.
Sie hatte sich geirrt. Ihr Aufstieg zur Erzmagierin hatte nicht geändert, wer sie war. Was sie war. Seit dem allerersten Augenblick, an dem das Heulen des Mondrennerrudels sie verflucht hatte, war ihr Blick immer nur nach außen gerichtet gewesen. Auf Talismane. Auf Gebete. Auf Avacyn. Sie hatte sich so sehr eingeredet, dass der Engel und die heilige Macht der Kirche sie würden heilen können. Was sie jedoch nicht erkannt hatte, war, dass sie gar nicht krank war. Nicht so, wie sie es geglaubt hatte. Sie war, was sie war, und das würde sie auch immer sein. Sie war wild und ungestüm – ein Raubtier –, aber auch gütig und treu – eine Beschützerin. Sie konnte nicht einen Teil von sich einfach verschwinden lassen oder vor der Hälfte ihres Wesens davonlaufen. Sie musste beides sein. Sie musste auf sich vertrauen, um heil zu bleiben. Ihre Erlösung war nie etwas gewesen, worum sie den Engel Avacyn hätte bitten sollen. Ihre Erlösung lag allein an ihr selbst.
Es dauerte viele Jahre, doch schließlich kehrte Arlinn nach Innistrad zurück. Sie vertraute nun so weit auf sich, dass sie wieder einen Fuß auf jene Welt setzen wollte, die sie zurückgelassen hatte. Und dies war der Augenblick gewesen, in dem sie wahrlich die Macht über ihre Kraft und sich selbst gewonnen hatte. Ihre Verwandlungen fielen ihr nun leichter und sie konnte sie beherrschen. Ihr Verstand gehörte inzwischen durchgängig ihr, doch er gewann durch die wilde Kraft ihrer körperlichen Gestalt an Stärke. Sie war nicht länger nur eine Hülle, die sich verstellte und verbarg. Sie war alles, was sie sein sollte.
Arlinn trottete über die nasse Erde. Ihre Nase, die selbst in menschlicher Gestalt ungewöhnlich fein war, nahm die vertrauten Gerüche auf, die mit Erinnerungen verbunden waren. Zu viele, um sie zu zählen, doch sie alle drohten, ihr die Tränen in die Augen zu treiben angesichts des Schmerzes, der sich dank ihnen in ihren Eingeweiden breitmachte. Es war das erste Mal seit vielen Jahren, dass sie einen Fuß nach Ellgau setzte. Sie hatte erwartet, dass der erste Schritt der schwerste sein würde, doch es waren die nächsten hundert – die, die sie zu Erzmagier Remberts Tür führen sollten –, die sich als beinahe unmöglich erwiesen.
Sie hatte geglaubt, dass sie bereit war. Sie hatte sich all den anderen gestellt und ihre Grabstätten besucht: Reeves, Leighton, alle von ihnen. Sie hatte in ganz Nefalen in Avacyns Kirchen gebetet und Litaneien voller Beichten und Abbitten an die himmlischen Kräfte entsandt. Sie hatte zu den Engeln gesprochen, ihnen in die Augen geblickt, ihre Taten gestanden und in ihrem Schatten auf ihren Richtspruch gewartet.
Rembert war als Einziger noch übrig. Sie hob die Hand, um an die Tür seiner Kammer zu klopfen, doch das musste sie nicht. Sein Geruch stieg ihr einen Wimpernschlag, bevor er ihr seine schwere Hand auf die Schulter legte, in die Nase. Sie fuhr herum, um den alternden Erzmagier anzusehen.
„Wie kannst du es wagen?“ Rembert hielt einen leuchtenden Talisman hoch. Er hatte Vorkehrungen gegen sie getroffen. Arlinns Herz krampfte sich qualvoll zusammen. Dies war derselbe Mann, der einst so bedingungslos an sie und an die Güte ihrer Seele geglaubt hatte. Nun wäre sie nicht überrascht zu erfahren, dass er nicht einmal glaubte, dass sie überhaupt eine Seele hatte. „Wie kannst du es wagen, einen Fuß an diesen heiligen Ort zu setzen?“
„Bitte, Erzmagier Rembert, ich ...“
„Du Untier! Du mörderische Bestie!“ Er warf ihr den Talisman gegen die Brust und spuckte ihr vor die Füße.
Arlinn wich zurück. „Bitte“, versuchte sie es erneut. „Ich weiß, was du empfinden musst. Ich weiß, was ich getan habe. Ich kann die Vergangenheit nicht ändern. Aber ich bin nicht mehr das, was ich einst war. Ich kann meine Kräfte nun zum Guten einsetzen. Und ich möchte dieses Gute hier einsetzen. Bei der Goldnacht. Ich möchte helfen. Ich habe die Beherrschung über mich.“
„Ha!“ Rembert zog sein heiliges Schwert. „Diese Beherrschung ist eine Lüge, die du dir selbst einredest, damit du in dieser Gestalt in den Spiegel blicken kannst.“ Er zeichnete mit der Schwertspitze ihre Umrisse nach. „Doch selbst jetzt, da du in diesem falschen Fleisch vor mir stehst, bist du ein Untier. Und das wirst du immer sein.“
„Ich mag ein Werwolf sein, aber ich bin kein Untier.“ Arlinn blieb stehen, obwohl seine Klinge, die nun leuchtete, näher kam. „Ich gehöre zur Goldnacht. Und das werde ich auch immer tun. Du selbst hast es gesagt.“
Rembert trat forsch auf sie zu. Seine Handfläche traf sie flach gegen die Schulter und drückte sie mit dem Rücken an die Tür. Er legte ihr die flache Seite seiner Klinge an den Hals. Arlinn wehrte sich nicht – sie würde nicht zulassen, dass er ihre Wildheit herausforderte. „Was auch immer ich dir gesagt habe, bevor ich wusste, wer du bist, und als du die Wahrheit noch vor mir verborgen hieltst, kannst du jetzt wohl kaum gegen mich einsetzen. Du gehörst nicht zur Goldnacht, Arlinn Kord. Das hast du nie.“
Arlinn hielt Remberts Blick stand. Sie konnte nichts sagen: Der Kloß an Gefühlen, der ihre Worte vor so vielen Jahren erstickt hatte, war zurückgekehrt. Doch dieses Mal hatte er Kanten so scharf wie die Krallen der Teufel. Sie stachen sie von innen in die Kehle und von hinten in die Augäpfel.
Unvermittelt beendete Rembert die Begegnung ihrer beider Blicke. Er stieß einen tiefen Seufzer aus und trat zurück. „Raus hier.“ Er deutete den Gang hinunter und wich ihrem Blick aus, indem er auf den Boden starrte. „Verlasse diesen Ort und kehre nie wieder zurück. Wenn ich dich noch einmal hier sehe, werde ich dich zur Strecke bringen.“
Arlinn holte Luft, um zu sprechen, doch Remberts Stimme, angefüllt von heiliger Macht, schnitten ihr die Worte ab, noch ehe sie auch nur eines gesprochen hatte. „Verschwinde!“
Heute
Arlinn hatte versucht, sich zurückzuziehen. Sie wollte keinen Kampf. Doch Rembert ließ ihr diese Möglichkeit nicht. Sie war umzingelt und an den Rand der Schlucht gedrängt. Zu allen Seiten waren Katharer und vor ihr Rembert mit seinem hoch über den Kopf erhobenen, dicken Ast. „Ich habe dich gewarnt.“ Er schleuderte ihr die Worte entgegen. Jedes war ein schwerer Hieb. Seine stumpfe Waffe würde folgen. Arlinn wappnete sich. Sie konnte mehr Treffer aushalten, als er ahnte, und sie würde nicht zulassen, dass er sie vertrieb, wenn ein wahnsinniger Engel so nahe war.
Wie gerufen stieß der Engel hinter den Katharern herab.
Arlinn konnte sie nicht schnell genug warnen. Sie konnte Rembert nicht warnen. Der Engel kreischte, als er die blutigen Finger um Remberts Arme legte und ihn, der er nach Atem rang und die Augen aufgerissen hatte, in die Luft hob.
Die anderen Katharer richteten ihre Waffen nun auf den Engel, und Arlinn erhob sich auf die Hinterläufe, als ihre Beschützerinstinkte einsetzten.
„Nein! Setzt nach!“, rief Rembert, der trotz der Tatsache, dass er nun in der Luft baumelte, noch immer den Befehl hatte, seinen Katharern zu. „Wendet dem Untier nicht den Rücken zu! Tötet den Werwolf!“
Die Katharer wirkten verwirrt. Einige richteten ihre Waffen wieder auf Arlinn, andere weiterhin auf den wahnsinnigen Engel. Dieser keckerte – nicht unähnlich den Teufeln –, und seine Hände um Remberts Arme begannen, in einem blutgetönten, heiligen Licht zu leuchten. Der Engel würde Rembert gleich hier am Himmel töten und seinem Leben mühelos ein Ende setzen.
Eine der Katharerinnen schoss einen Pfeil auf den Engel ab, doch dieser flog wirkungslos über dessen Schulter hinweg. Der Engel zeigte der Frau die Zähne. „Du bist als Nächste dran, Unreine!“
Genug. Dies ging nun lang genug so. Arlinn lenkte Kraft in ihre starken Muskeln und stieß sich ab, um über die Köpfe der umherwankenden Katharer zu springen. Sie bekam den Stiefel des Engels zu fassen und verbiss sich in das Leder, während sie ihn nach unten zog und auf die Seite warf. Der Engel prallte mit einem deutlich vernehmbaren Geräusch am Boden auf. Rembert stolperte aus der Umklammerung. Arlinn verschwendete keine Zeit. Sie stürzte sich auf das heilige Wesen und versenkte ihre Zähne in sein Fleisch. Sie bestand nun nur noch aus Muskeln und Sehnen, getrieben von der wilden Kraft der Lykanthropie, jenem Fluch, der ihr ein Segen geworden war.
Binnen weniger Augenblicke war der wahnsinnige Engel tot.
Arlinn wandte sich hechelnd zu den Katharern um, doch sie standen nicht unmittelbar hinter hier. Sie hatten sich vielmehr am Rand der Schlucht versammelt, und einige lagen auf dem Bauch und griffen nach etwas jenseits der Kante. Rembert war nirgends zu sehen. Arlinns Herz setzte einen Schlag aus und sie rannte auf die Schlucht zu, während ihr Verstand bereits begriffen hatte, was gerade geschehen sein musste.
Sie irrte sich nicht. Sie nahm die Einzelheiten der Szenerie noch in sich auf, während ihr Körper bereits handelte. Rembert war verwundet. Er lag auf dem knorrigen Stumpf eines toten Baumes, der sein Gewicht nicht lange tragen würde. Er war zu weit unten, um ihn von der Kante aus zu erreichen, weshalb sie bereits auf einen anderen zersplitterten Baumstumpf geklettert war. Mit den Klauen in das morsche Holz gekrallt ließ sie sich nach unten hängen und reichte Rembert ihre Pfote.
Er schnappte bei ihrem Anblick erschreckt nach Luft und kauerte sich zusammen, während ihm die Angst ins Gesicht geschrieben stand.
Sie streckte ihre Pfote weiter aus und flehte ihn stumm an, sie zu ergreifen.
„Untier.“ Rembert hatte endlich seine Stimme wiedergefunden. „Ich werde dich töten.“
Ein Grollen regte sich in Arlinns Kehle, doch sie schluckte es hinunter. Es waren Schmerz und Furcht, die ihn diese Worte sprechen ließen. So viel Schmerz stand zwischen ihnen. Und dennoch war da auch eine Verbundenheit. Die der Goldnacht. Auf ewig. Arlinn schloss die Augen und hieß die Verwandlung in ihre menschliche Gestalt willkommen. Sie würde den Erzmagier nicht hier und heute Nacht aus reiner Furcht umkommen lassen. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie ihre menschliche Hand vor sich, die sie nach ihm ausstreckte. „Nimm meine Hand“, sagte sie zu Rembert.
Sein Blick fand den ihren. „Du hast mich belogen.“
Arlinn schluckte. „Das habe ich.“
„Du hast die anderen getötet.“
„Das habe ich.“
„Ich kann nicht ... Ich werde nicht ...“
„Ich bin keine Sklavin des Fluchs mehr“. sagte Arlinn. „Ich bin nun frei, um eine Beschützerin zu werden, wie es mir bestimmt war. Bitte. Einst kanntest du mich. Erkenne mich wieder.“
In Remberts Augen funkelten Tränen, als der Stamm unter seinem Gewicht ächzte.
Arlinn streckte erneut die Hand aus. „Nimm meine Hand.“
Rembert wappnete sich und hob den Arm. „Avacyn, steh mir bei“, flüsterte er.
„Avacyn ist tot“, sagte Arlinn. „Wir müssen nun ineinander Stärke finden.“
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