Was bisher geschah: Die letzte Hoffnung Innistrads

Ein seit tausend Jahren brodelnder Groll entlädt sich endlich.

Für Sorin geht es um die Zerstörung seines Stammsitzes. Um die Vernichtung Avacyns. Um die Ankunft Emrakuls.

Für Nahiri geht es um den Verrat an einer Freundschaft. Um die Jahrhunderte der Gefangenschaft im Höllenkerker. Um die Verwüstung Zendikars in ihrer Abwesenheit.

Wenn zwei Planeswalker sich ein Gefecht liefern, dann erbeben Welten.


Hinweis-Spielstein | Bild von Cliff Childs

Sie hatten sie die Vorbotin genannt. Sie hatten nicht falsch gelegen, diese Fanatiker und Kultisten. Und sie waren ihr hierher gefolgt. Immer mehr waren es geworden, als sie mit ihrem Werk auf Innistrad begann. Sie waren ihr treu ergeben und erinnerten Nahiri daran, dass das Einzige, was sich auf dieser ganzen verdammten Welt zu retten lohnte, ihre Rache war.

Der dröhnende Chor Hunderter vor sich hin brabbelnder Kultisten hallte durch die Gänge, als sie dem Vampir ins Gesicht starrte. Er war hässlich mit seinen zurückgezogenen Lippen, die scharfe und gnadenlose Fänge entblößten. Zwei Augen – Bernsteinsplitter, die in einem tintenfarbenen Teich schwammen – starrten zurück. Oder vielmehr: an ihr vorbei. Soweit Nahiri es beurteilen konnte, war dieser Blutsauger prächtig gekleidet und – wie die Dutzenden von anderen Vertretern seiner Art um ihn herum – fest in die Wand eingelassen. Sie alle waren tot. Ihretwegen.

Sie hasste diesen Ort. Das Markov-Anwesen. Wie so vieles auf dieser Welt stank es nach Sorin. Sie hatte es zerschlagen, verzerrt und umgeformt, doch all dies hatte dennoch nicht ausgereicht, seine Spuren aus dem Gebäude zu tilgen. Aber trotzdem war sie nun hier. Es waren Vorbereitungen getroffen worden, und jetzt wartete getane Arbeit darauf, begutachtet zu werden.

Rache war eine diffizile Angelegenheit, aber Nahiri hatte eintausend Jahre Zeit gehabt, sie zu durchdenken.

Ein. Tausend. Jahre.

Genug Zeit, um ihre Rache aus sämtlichen Blickwinkeln und in aller Ausführlichkeit zu erörtern. Sie durchzuspielen, um sie dann anders auszurichten und erneut durchzuspielen, bis alles haargenau passte – so lange, bis sie sich in einen Plan verwandelt hatte.

Und nun, da Nahiri durch das blanke Gerippe des Markov-Anwesens schritt, gestattete sie sich ein leises Lächeln. Alles war tatsächlich an seinem Platz, genau so, wie es sein sollte – alles außer Sorin. Und er würde bald hier sein.

Diesmal hatte sie etwas ganz Besonderes mitgebracht. Eine Sammlung, die von ihr zusammengetragen worden war, nachdem die Kunde sie erreicht hatte, dass Sorin eine Streitmacht anführte, um sich ihr zu stellen. Sicher, sie hatte ihre Kultisten, aber Rache war nichts, wobei man nachlässig werden durfte.

Der erste Teil von Sorins Streitmacht, der eintraf, waren die Banner. Uralte Stoffbahnen, die von schwarzen Holzpiken herabhingen, getragen von Vampirrittern in polierter Plattenrüstung. Hunderte von Vampiren marschierten hinter ihnen und schwärmten über den flachen Hügel gegenüber des Anwesens aus.

Nahiri beobachtete die Prozession von dem gewaltigen Torbogen am Eingang des Anwesens aus. Als Sorin schließlich vor seiner versammelten Streitmacht auftauchte, presste Nahiri die Zähne zusammen. Sorin sagte etwas zu den Vampiren in seiner Nähe, doch sie konnte nicht ausmachen, was.

Bild von Igor Kieryluk

Es spielte auch keine Rolle. All dies würde nun enden. Mit dem Schwert in der Hand trat Nahiri in das matte Licht des Tages, hinaus auf den zerstörten Damm, um Sorin willkommen zu heißen.


Ein metallisches Kreischen durchdrang das Kampfgetöse, als Nahiri die Klinge ihres Schwertes aus der reich verzierten Brustpanzerung eines toten Vampirs zog. Die Leiche war eine unter vielen, die in einem kruden Halbkreis um sie herum lagen. Keuchend setzte sie über den leblosen Haufen hinweg, um sich einer Gruppe neuer Angreifer entgegenzuwerfen.

Es waren so viele.

Doch sie brauchte nur den einen.

Eine Axt wurde in ihr Blickfeld geschwungen. Die schwarze Klinge zog eine feine Spur aus dunkelrotem Nebel hinter sich her. Nahiri duckte sich außer Reichweite und stieß die Spitze ihres Schwertes in den Hals eines weiteren Angreifers, der von rechts auf sie eindrang. Mit einem Stoß ihrer freien Hand nach unten sackte der Boden vor ihr urplötzlich ab, sodass der zweite Schlag der Axt in den Rand der neu geschaffenen Vertiefung fuhr. Steinsplitter wurden durch den Aufprall aufgewirbelt und Nahiri fing sie mit ihrer Magie auf, um sie in das ungeschützte Gesicht des Axtträgers zu schleudern.

Andere drangen weiter auf sie ein. Einer von ihnen – eine Frau in einer weißen Plattenrüstung – trat aus ihrer Mitte hervor. Sie hielt ihr Schwert tief, und Nahiri bemerkte, dass die Waffe aus einem Paar Klingen bestand, die sich wie zwei Spiralen umeinanderschlangen, um schließlich gemeinsam eine garstige Spitze zu bilden. Die Vampirin sprach, ohne die Augen von Nahiri zu lassen: „Du kannst nicht entkommen.“

Nahiri neigte den Kopf und hob eine Augenbraue. „Entkommen?“

„Wenn dies vorbei ist“, fuhr die Vampirin in Weiß fort, „werde ich dein Blut trinken und –“ Sie verstummte jäh, als ihr ein marmorner Kragstein ins Gesicht prallte und ihr die grotesken Zähne zermalmte. Nahiri hatte das Bauteil aus dem Schutt gepflückt, der erstarrt über ihnen schwebte. Sie hatte genug gehört. Als die Vampirin in Weiß zu Boden sackte, sandte Nahiri den schweren behauenen Stein wieder und wieder gegen die Handvoll Blutsauger, die ihr am nächsten waren, bis deren Schädel und Rümpfe von den Schlägen vollkommen zerschmettert waren. Als die Leiber sich nicht mehr bewegten, wirbelte die blutige Steinmetzarbeit so schnell auf der Stelle in der Luft, dass zu allen Seiten rote Tröpfchen davonspritzten.

Nahiri wischte sich einen von ihnen von der Wange. Falls Sorins Plan war, sie müde zu machen, ehe sie auf ihn traf, dann war er ein Narr. Tausend Jahre im Höllenkerker waren genug Erholung für mehrere Leben. Und wenn das bedeutete, dass sie jedem anderen Blutsauger hier ein Ende bereiten musste, dann war sie bereits auf einem guten Weg.

Er war hier irgendwo. Das wusste sie. Um sie herum entbrannten Nahkämpfe in dem, was einst die große Halle gewesen war, wenn ihre Erinnerung sie nicht trog. Der Raum war nun voller Kultisten und Vampire, die dem grausigen Handwerk nachgingen, einander wechselseitig abzuschlachten. Ihr Blick huschte über das Chaos, und sie hoffte, wehendes weißes Haar auszumachen oder ...

Diese grausamen gelben Augen. Und einen Wimpernschlag lang starrten sie zu ihr zurück, ehe sie vom Tumult verschlungen wurden.

Nahiris Kehle war mit einem Mal staubtrocken. Ihr hämmerte das Herz in der Brust, und der geballte Zorn der letzten tausend Jahre staute sich in ihr an, bis alles, was sie noch tun konnte, darin bestand, seinen Namen hervorzupressen: „Sorin!“

Nahiri stieß ihren Willen mit aller Wucht in den geneigten Steinboden hinein und griff nach jeder der gewaltigen Bodenplatten, um daran zu reißen. Ihre Hände fuhren nach oben, und links und rechts von ihr wuchsen zwei Wände parallel zueinander einige Schritt hoch aus dem Boden. Stein scharrte auf Stein, und als das Scharren endete, nahmen die Wände die Länge der gesamten Halle ein und bildeten eine Art Gang, der vom größten Kampfgetümmel abgetrennt war. Sie befand sich am einen Ende, Sorin am anderen.

Zwischen ihnen tobte ein schmaler Ausschnitt der Schlacht: Vielleicht zwanzig Vampire und mindestens doppelt so viele Kultisten rangen noch immer miteinander. Einer der Vampire holte nach Nahiri aus, doch sie stand zu dicht vor der Vollendung ihrer Rache für derlei Ablenkungen. Ein Zucken ihres Fingers und eine Lanze aus Stein fuhr aus dem Boden. Sie erwischte den gepanzerten Blutsauger unterhalb der Brustplatte am Bauch und durchstieß dann mit einem schrillen Kreischen den polierten roten Stahl an der Schulter. Der Vampir erschlaffte, und Nahiri trat an ihm vorbei, während er langsam der Länge nach die Steinspitze herunterrutschte.

„Sorin“, rief sie erneut, mit einer Stimme, die so fest und kalt war wie der Stein, über den sie gebot. Und dann schritt sie geradewegs vorwärts, während weitere Spitzen vor ihr aus dem Boden fuhren, um Vampire und Kultisten gleichermaßen aufzuspießen.

Nun waren nur noch sie beide übrig.

Das letzte Mal, als Nahiri Sorin gesehen hatte, war er das Letzte, was sie auf dieser Welt erblickt hatte, ehe sie von der Einsamkeit des Höllenkerkers umfangen worden war. Als sie ihn nun ansah, wie er ein Dutzend Schritte von ihr entfernt stand, schien er sich kaum verändert zu haben – bis auf die fehlende Verletzlichkeit, die er bei ihrer vorherigen Begegnung gezeigt hatte. Er trug die gleiche Rüstung, doch sie war voller Blut, was dem roten Stein, der die Brustplatte verzierte, einen noch grausameren Glanz verlieh. Sein Schwert zeugte ebenfalls von dem Gemetzel, das er angerichtet hatte. Sein Gesicht, das wie geschaffen dafür schien, jenes süffisante Grinsen zur Schau zu tragen, das sie so gut kannte, war nun von scharfen Falten durchzogen, wie sie sie an ihm zuvor noch nie gesehen hatte. Es freute sie, ihn mit so finsterer Miene zu sehen.

„Du hast so viele Freunde mitgebracht“, sagte Nahiri und trat zwischen zwei ihrer grässlichen Sporne hervor. „Aber nicht alle haben es geschafft.“ Sie wusste, dass die Erwähnung Avacyns ihn schmerzen würde, doch es kam keine höhnische Erwiderung. Sorin hob lediglich eine bleiche Hand, aus der schwarze, rauchige Energie strömte. Tod lauerte in diesem Nebel aus Schatten – Tod, der für Nahiri bestimmt war. Es schien, als wünschte er sich nichts von all den Verstellungen eines echten Duells oder gar der Poesie und der Dramatik, die einem solchen innewohnten. Ihr Ende wäre ihm schon genug, und sie betrachtete Sorin reglos, während die finsteren Schattenfinger nach ihr griffen.

Doch sie berührten sie nicht. Plötzlich zerstoben sie und flogen in verschiedene Richtungen davon, um Mustern in der Luft zu folgen, die ansonsten völlig unsichtbar waren. Sorin entfesselte eine zweite Welle Todesmagie, gerade als die ersten Nebelschwaden ihren mörderischen Pfad zurück zu ihrem Ursprung beendet hatten und fauchend auf den Vampir prallten. Sorin fiel auf ein Knie und biss sich vor Schmerz auf die Lippe. Zwischen den Teilen seiner Rüstung stieg dunkler Nebel aus Wunden auf, die für den Betrachter nicht zu sehen waren.

„Du musst sehr wenig von mir halten, wenn du tatsächlich geglaubt hast, dass das Wirkung zeigen würde“, sagte Nahiri, während die zweite Zusammenballung aus Magie ebenso zurückgeschlagen wurde wie die erste. „Magie fließt durch Leylinien. Leylinien durchdringen Stein. Und, nun, wir beide wissen, was ich damit anzustellen vermag. Also nur zu, Sorin: Versuche diese billige List gerne noch ein weiteres Mal.“ Sie umkreiste ihn nun. „Ich habe Emrakul an deine Schwelle geführt, und du glaubst noch immer, ich sei ein Kind.“

Einen Augenblick lang sprach keiner von beiden. Über sechstausend Jahre Geschichte hatten sie an diesen Ort gebracht. Während sie in Sorins Augen starrte, fragte sich Nahiri, ob er das Gleiche dachte. Einst hatte sie geglaubt, dass sie Freunde waren. Und nun ... Nun würde sie ihre Rache bekommen. Schließlich sagte Nahiri: „Eintausend Jahre, Sorin. Eintausend Jahre lang hast du mich eingesperrt.“

„Und trotzdem bist du immer noch hier.“ Sorin hustete, was eine schwarze Rauchwolke in die Luft aufsteigen ließ. „Du hättest fortgehen sollen.“

„Das bin ich doch. Ich kehrte nach Zendikar zurück, nur um zu sehen, wie es von den Eldrazi verwüstet wurde. Du hast das geschehen lassen.“ Sie hob ihr Schwert in Richtung von Sorins Kehle. „Du hast mich und meine Welt dem Untergang geweiht.“

„Du wusstest um die Gefahren, als du zugestimmt hast, die Eldrazi auf Zendikar einzukerkern. Du wusstest um die Möglichkeit, dass sie entkommen.“

„Ich wusste auch, dass wir eine Abmachung hatten.“ Nahiri spürte, wie ihre Haut zu brennen begann. „Im Fall ihres Ausbruchs hätten du und Ugin zurückkehren sollen. Und als es geschah, wart ihr nirgends zu finden. So wie ich es sehe, waren wir alle drei gemeinsam an dieser Sache beteiligt. Doch nur ich habe am Ende dafür eingestanden. All diese Zeit über war nur ich da.“

„Also hast du dich entschlossen, nun diese Welt dem Untergang zu weihen.“

„Ich bin es leid, die Wächterin zu geben, und Zendikar wird nie wieder ein Gefängnis sein. Emrakul musste irgendwo anders hin. Du hast mir die Entscheidung lediglich erleichtert.“

„Sorin, ich bin geneigt, mir anzusehen, wie das hier ausgeht“, erklang eine melodische und gleichermaßen beißende Stimme über ihnen. Nahiri hob den Kopf und erblickte eine Vampirin, die in einen eleganten, schwarzen Plattenpanzer gekleidet war. Sie schwebte an der Spitze von etwa einem Dutzend ähnlich prunkvoll gerüsteter Vampire über ihnen. Sie trug keinen Helm, und ihr bleiches Gesicht und ihr leuchtend roter Haarschopf hoben sich deutlich von dem dunklen Metall ab. Eine Aura der Anmut schien von ihr auszugehen, und Nahiri erkannte eine Macht, die der Sorins ähnelte. Diese Frau war eine uralte Blutsaugerin.

„Zweifelsohne, Olivia“, erwiderte Sorin, noch immer auf ein Knie gestützt.

Olivia winkte mit einem Schwert aus filigranem schwarzem Stahl in Nahiris Richtung. „Das ist sie, nehme ich an?“ Ohne die Antwort abzuwarten, wandte sie sich an Nahiri. „Was auch immer Sorin getan haben mag, sich deinen Zorn zuzuziehen, ich bin sicher, dass er ihn verdient hat. Doch ebenso sehr hat er sich meine Unterstützung verdient. Ich kann dir deine Rache folglich nicht gewähren.“

„Noch ein Schutzengel, Sorin? Dieser hier ist wohl etwas in Eile entstanden“, sagte Nahiri. Sie winkte ausladend mit einer Hand und die Steinplatten vor ihr wurden glühend heiß.

Olivia lächelte. „Ich muss sagen, Sorin, sie gefällt mir. Aber nichtsdestominder ...“ Auf ihr Zeichen hin bewegten sich ihre Vampire auf Nahiri zu.

Die Platten vor der Lithomagierin glühten nun vor Hitze, und bevor die Blutsauger sie erreichen konnten, zog sie etwas aus dem geschmolzenen Stein – vier Klingen, gleich der, die sie selbst trug. Jede pulsierte mit der Energie ihrer steinernen Esse. Sie griff nach einer, sodass sie nun in jeder Hand eine Klinge trug. Die anderen fächerten sich hinter ihr auf wie das feurige Rad eines Phönix.

Bild von Chris Rahn

„Es ist nicht an dir, mir meine Rache zu gewähren. Sie steht mir zu. Sorin gehört mir.“

„Du solltest nie vergessen“, fauchte Sorin, „dass ich dich verschont habe. Der Höllenkerker war ein Geschenk.“

„Ein Geschenk“, wiederholte Nahiri. Ihre Finger zuckten. Sie hätte ihn in Stücke reißen können. „Die Schrecken, mit denen du mich so lange eingesperrt hast – sie sind zu meiner Welt geworden.“

Bei ihrem letzten Wort stieß Nahiri die Spitzen ihrer Schwerter in eine der Steinfliesen. Sie ballte die Fäuste, und die Waffen begannen zu vibrieren. Die Schwingungen pflanzten sich durch den Boden fort und wurden stärker, je weiter sie sich ausbreiteten. Was als leichtes Summen begann, schwoll zu einem Grollen an, das die umgebenden Mauern zum Beben brachte. Helle Ströme aus Energie stiegen in schnellen Impulsen von ihren Händen auf und wanden sich durch die Klingen, um sich über das Mauerwerk auszubreiten und sich über jeden einzelnen Stein im gesamten Anwesen zu legen.

Eine Handvoll Leysteine spross um sie herum aus dem Boden. Jeder zeigte in eine andere Richtung, sodass sie eine Art Stern bildeten.

Dann ging ein gewaltiger Ruck durch das Anwesen. Die Mauern, die sie geschaffen hatte, um sich und Sorin abzuschirmen, brachen in sich zusammen und die gesamte Halle begann, sich unabhängig vom Rest des Bauwerks zu drehen. Die Fundamente knarrten wie die Gelenke eines alten Gottes, der sich zum ersten Mal seit vielen Äonen erhob. Das Geräusch war ohrenbetäubend und am äußersten Rand der Erträglichkeit.

Bald schlich sich ein anderer Klang in ihr Gehör. Mit jedem Stück, das sich die Halle weiterdrehte, wurde es lauter. Es war ein rauer, kratzender Laut und dem Chor der Kultisten nicht unähnlich, doch dies war kein Geräusch, das von Menschen ausging oder gar für sie bestimmt gewesen wäre.

Der Eingangsbogen der Halle bewegte sich mit der gewaltigen Kammer und führte nun nicht mehr zu dem zerstörten Damm jenseits des Haupttores. Als die Drehung endlich endete, lag hinter dem Eingang nur eine konturlose Steinmauer. Der fremde Klang schwoll an. Ohne das Knirschen von Stein auf Stein ertönte er ungedämpft, und sie spürte ihn bis ins Mark. Doch es war an der Zeit. Nahiri griff mit ihrer Magie nach den Steinen. Die Schichten der Mauer, auf die sie nun blickte, glitten in verschiedene Richtungen fort.

Noch bevor sie die letzte Schichte beiseite geschoben hatte, zersprang diese in einem Hagel aus Geröll. Sie kamen: Scharen von Ungeheuern, knollig und verkrümmt, und nur wenig an ihnen zeugte noch von den Menschen und Tieren, die sie einst gewesen waren. Sie gehörten nun Emrakul. Die Eldrazitanin hatte sie berührt, sodass ihr Fleisch sich wie ein sehniges, verzweigtes Geflecht über ihre mutierten Gestalten spannte.

Nahiri hatte sie seit Emrakuls Ankunft hier versammelt und sie als Geschenk für ihren Freund in ihrem eigenen Kerker eingesperrt.

Nahiri sah zu, wie sie aus ihrem dunklen Verlies in die Halle ausschwärmten und auf sie zukamen. Sie zuckte nicht einmal zusammen. Albträume waren nichts Neues für sie. Sie kamen näher, und gerade als die entsetzliche Horde auf sie zu prallen drohte, teilte sie sich. In ihrem Kreis aus Leysteinen konnten die Ungeheuer sie nicht sehen. Kryptolithen nannten die Kultisten diese Steine, aber sie waren alles andere als kryptisch. Eldrazi folgten den Leylinien, jenem Netzwerk aus Mana, das es auf allen Welten gab. Genau wie sie es vor sechstausend Jahren auf Zendikar getan hatte, hatte Nahiri diese Steine so geformt, dass sich Innistrads Leylinien ihrem Willen beugten. Für diese Schrecken nahm sie einen blinden Fleck in der Wirklichkeit ein. Sie existierte nicht.

Auf die Vampire traf dies nicht zu. Die Eldrazi rasten ihnen entgegen, und die rothaarige Vampirin verschwendete gemeinsam mit ihren Lakaien keine Zeit, sich mit allem Zorn ihrer Art in die Menge zu stürzen.

Bild von Karl Kopinski

Nahiri wich vor dem Chaos zurück, und Mauerwerk schob sich bei jedem Schritt an den passenden Platz, um eine Treppe zu bilden, die sich in die Höhen des Anwesens wand. Ihr Aufstieg trug sie über die Klingen der Vampire und die Hiebe von mit Flechtwerk bedeckten Gliedmaßen hinweg. Sorin hatte gehofft, sie mithilfe seiner Verbündeten zu besiegen. Vergebens, denn sie war darauf vorbereitet. Sorin hatte zudem versucht, sie mit Todesmagie zur Strecke zu bringen, doch auch darauf war sie vorbereitet gewesen.

Aber war er umgekehrt auch auf sie vorbereitet?

Sie spürte seinen Blick auf sich, und als sie ihn in dem Getümmel entdeckte, starrte er zu ihr hinauf. Blut rann ihm das Kinn hinunter, und ein Kultist hing leblos in seinen Händen. Es war nicht das erste Mal, dass sie ihn bluten sah, doch er hatte nie so ungeheuerlich ausgesehen wie in diesem Augenblick. Und das war es, was er war: ein Ungeheuer.

Sorins Blick wich nie von ihr, selbst dann nicht, als der Vampir seinen Aufstieg begann. Er bewegte sich wie ein Blitz. Der schlaffe Kultist in seiner Hand zuckte heftig, während Sorin die zerklüfteten Wände hinauf und über die wie festgefroren in der Luft hängenden Steine huschte. Er war wie eine Katze auf der Jagd, flink und leichtfüßig. Bis Nahiri bei den losen, zerbrochenen Überresten des Dachs des Anwesens eintraf, war er ihr schon dicht auf den Fersen.

Nahiri war und blieb jedoch eine Kor von Zendikar. Von einem gefährlichen Ort zum nächsten zu springen war ihre zweite Natur. Außerdem war sie die Lithomagierin, und hier – auf einem Feld aus verstreuten Pfeilern, spitzen Türmchen und ganzer Flügel des Anwesens, die in unzählige Teile zersprungen waren – war sie voll in ihrem Element. Sie hockte auf dem Sims eines hohen, schmalen Fensters, das in einen Teil einer Wand eingelassen war, die der Schwerkraft trotzend in der Luft schwebte. Ihre Schwerter kreisten über ihrem Kopf, eine Krone aus Klingen, die dies als ihr Reich kennzeichneten. Es war an der Zeit, endlich zu sehen, ob Sorin mit ihr mithalten konnte.

„Nun können wir beenden, was wir angefangen haben. Ohne Unterbrechungen“, rief sie zu Sorin herunter, der sich nach einer anmutigen Landung auf einem Absatz aufrichtete, an dem noch immer ein Teil einer breiten Treppe hing. Ein langer roter Läufer klammerte sich an die verbleibenden Stufen, während er wie die Zunge irgendeines toten Tieres in die Tiefe in die Tiefe hinunterlappte.

„Bist du so begierig darauf, zu sterben?“, fragte Sorin. „Als wir uns das letzte Mal begegnet sind, war meine Kraft stark beeinträchtigt. Dieses Mal hast du nicht so viel Glück, fürchte ich.“ Er warf die Leiche des Kultisten auf Nahiri, als wäre sie ein feuchter Lappen. Sie hörte etwas im Inneren des Körpers knacken, als er auf den Stein neben ihr prallte. „Und ich habe durchaus vor, dich zu töten.“

„Glaubst du, du machst mir Angst?“

„Das werde ich auf jeden Fall bald tun.“ Seine Augen waren schierste, uralte Grausamkeit.

„Ich gehe nicht, bevor das hier nicht erledigt ist, Sorin.“

„Da sind wir uns einig, Kleines.“

Kleines. Ohne ein weiteres Wort ließ Nahiri ihre Schwerter fliegen – alle bis auf eines, das sie in der Hand behielt. Sorin sprang aus dem Weg, als sich ein Schwert nach dem anderen tief in den Stein unter ihm bohrte, und noch ehe er wieder einen sicheren Stand gefunden hatte, griff Nahiri nach dem Treppenabsatz und stellte ihn auf den Kopf.

Einen Augenblick lang dachte sie, es würde ihm gelingen, sich festzuhalten, doch seine Finger fanden keinen Halt. Er fiel.

Das frei baumelnde Ende des schweren roten Läufers folgte beim Umdrehen des Absatzes jedoch der Bewegung, und Nahiri musste dabei zusehen, wie Sorins Finger sich um den Stoff schlossen und er sich mit einem Mal nach oben schwang, anstatt abzustürzen.

Nahiri riss an den Platten des Absatzes, um die gesamte Konstruktion zu zerlegen. Als sie auseinanderbrach, ließ Sorin den Läufer los und der Schwung beförderte ihn auf einen verirrten Balken. Von dort aus sprang er an eine brüchige Wand und dann auf einen weiteren Balken, der schräg in der Luft hing. All das schien kaum einen Wimpernschlag lang zu dauern und Nahiri hatte größte Mühe, Sorin weiter zu beobachten.

Und dann scheiterte sie daran. Er war zu schnell, und bis sie in ihrem Fenster eine leicht veränderte Position eingenommen hatte, um seinen Bewegungen unter ihr zu folgen, hatte sie ihn aus dem Sichtfeld verloren.

Mehrere Herzschläge lang huschte ihr Blick wild umher und suchte nach irgendeinem Anzeichen einer Bewegung. Dann war da das Aufblitzen von Silber, und alles, was sie noch tun konnte, war, in die Wand selbst hineinzugleiten, von der Sorins Klinge danach mit einem ohrenbetäubenden Schlag abprallte, der lange durch den Stein hallte.

Von Mauerwerk umgeben hörte Nahiri Sorins Worte gedämpft, doch sie verloren nichts von ihrem Gift. „Nahiri, Nahiri ... All dieser Aufruhr nur um einen kleinen Aufenthalt im Höllenkerker. Und dabei scheinst du dich im Stein so wohl zu fühlen.“

Es gab ein lautes Knacken. Schmerz fuhr wie ein heißes Schüreisen durch ihre Seite. Der Stein war gebrochen. Sie spürte es, und sie spürte den Stahl in ihrem Fleisch. Mit einem Kratzen zog sich die Klinge zurück, und ehe sie erneut zuschlagen konnte, ließ sich Nahiri aus der Umklammerung der Wand fallen. Plötzlich taumelte sie durch die Luft. Ihre Hand fuhr zu dem Brennen an ihrer Seite. Sie fühlte Nässe.

Ein Teil einer Balustrade kam auf sie zu. Sie versuchte, es zu greifen, doch ihre Hand, klebrig vom Blut, rutschte ab, und so fiel Nahiri daran vorbei. Ihre Augenlider flatterten und die Welt drehte sich, bis dies jäh endete, als sie hart gegen die Oberfläche einer gewaltigen Säule prallte, die quer über die gesamte Länge des offenen Dachs gefallen war.

Als sie genug Kraft dafür gefunden hatte, rappelte Nahiri sich langsam auf. Sie lehnte gegen irgendeine steinerne Verzierung, die sich aus der Oberfläche der Säule erhob. Sie war außer Atem und ihr Mund trotz des Geschmacks von Blut trocken.

Beim Geräusch von Stiefelschritten vor ihr auf der Säule hörte, hob sie den Blick und sah Sorin, der von seinem Treppenabsatz herabgeklettert war. Er trat nach vorn, sodass er nun mit drohend erhobenem Schwert über ihr stand, genau wie vor tausend Jahren, als er sie in den Höllenkerker verbannt hatte. Doch diesmal gab es keinen Höllenkerker.

„Du hattest die Gelegenheit, mich zu töten, Kleines. Du hättest sie ergreifen sollen.“ Da war keine Prahlerei in Sorins Worten. Er war wie ein Mentor, der sich an seinen Schützling wendete, um ihm eine letzte Lektion mit auf den Weg zu geben.

„Vielleicht“, sagte Nahiri wie zu sich selbst. Ihr Schwert hing so kraftlos in ihrer Hand, dass die Spitze auf dem Boden ruhte. Schmerz strahlte von der klaffenden Wunde an ihrer Seite aus. Sie hatte sie mit ihrer freien Hand umschlossen gehalten, und als sie jetzt sich einen Augenblick Zeit nahm, um sie kurz zu betrachten, zitterten ihr die Finger.

So viel Blut.

Was schadete da schon noch etwas mehr. Sie holte tief Luft und sprach: „Was auch immer hier geschieht, ob ich es überlebe oder nicht, Sorin: Ich habe gewonnen. Sieh dich nur um.“ Nahiri wies vage mit der Hand auf das Anwesen. „Schau genau hin, was ich all dem, das du als deins bezeichnest, angetan habe.“ Sie deutete nach links. Dort in der Ferne, über der Stadt Thraben, thronte Emrakul. „Keiner deiner Engel wird dir dieses Mal zu Hilfe eilen.“

Sorins Klinge zuckte und schlug Nahiris fort. Ihr Schwert stürzte taumelnd in die Tiefe. „Was du mir mit Avacyn genommen hast, werde ich mir durch dein Blut zurückholen.“ Bevor sie auch nur einen Muskel rühren konnte, spürte sie Sorins Zähne in ihrem Hals. Sämtliches Blut in ihrem Körper änderte die Richtung, in die es strömte. Sorin rief es zu sich, und es brannte ihr in den Adern. Er trank gierig, und Nahiri fand ihren Augenblick.

Sie lehnte sich gegen die Wand hinter sich, die sich auf ihr Drängen hin für sie öffnete. Jeder Herzschlag war eine Qual, doch sie zwang sich zu flüstern: „Ich kann zurückbeißen, Sorin, und ich habe größere Zähne als du.“

Die Wand schlug um sie herum zusammen wie eine Woge, und Reihe um Reihe steinerner Hauer gruben sich in Sorins Beine und Rippen. Sein Schwert fiel ihm aus der Hand, und ein Schmerzensschrei brach sich Bahn. Nahiri stieß ihn von sich weg und durchquerte mühelos den festen Stein, um Sorin allein darin zurückzulassen. Der Stein schloss sich um ihn, bis er fest von ihm umklammert war. Als Nahiri ihr Werk vollendet hatte, baumelte Sorin im Griff ihrer Magie in der Luft. Er würde diese Welt nicht verlassen können. Die steinernen Zähne, die ihn festhielten, nagten an seinem Inneren und hielten einen Schmerz aufrecht, durch den es ihm unmöglich sein würde, sich darauf zu konzentrieren, diesen Ort je wieder verlassen zu können.

Dann wirbelte Nahiri Sorin und seinen Stein herum, sodass er auf die Ebenen unterhalb des Markov-Anwesens hinabblickte. Sorin wollte sprechen, doch es erklang nur ein unverständliches Gurgeln, während Nahiri auf den Kokon kletterte, den sie erschaffen hatte. Was auch immer er zu sagen hatte, spielte keine Rolle. Sie wollte, dass er ihre Worte hörte. Sie klammerte sich mit einer Hand an die Spitze des Steins und ließ sich zu ihm herab, um sie ihm ins Ohr zu flüstern. „Ich habe dich verschont“, sagte sie. „Betrachte es als vergoltenes Geschenk.“

In der Ferne unter einem Dach aus Wolkentürmen: Emrakul.

Und im nächsten Augenblick verließ Nahiri Innistrad und überließ Sorin dem Schicksal seiner Welt.


Der Horizont war Emrakul. Es gab nichts, was Sorin tun konnte, außer dabei zuzusehen, wie Innistrads Ende langsam durch Gaven auf Thraben zukam. Die Menschen dort unten kümmerten ihn nicht, aber Innistrad war sein, und Thraben war es, wo er Avacyn erschaffen hatte, um es zu beschützen. Es nun am Rande der Vernichtung zu sehen, schmerzte ihn mehr als die steinernen Zähne der Lithomagierin, die sich durch sein Innerstes mahlten.

Sorin spürte es einen Augenblick, bevor er es hörte – Metall auf Stein, ein langsames, langes Kratzen, das sich von der Spitze bis zum Boden seines Sarkophags bewegte.

„Ich glaube, das hier gefällt mir besser“, sagte eine spöttische Stimme. Und dann kam Olivia in sein Blickfeld und versperrte ihm die Sicht auf das Chaos unter ihm. Sie hielt sein Schwert in der Hand.

„Olivia“, presste Sorin hervor. „Befreie mich.“

„Selbst wenn ich es könnte, warum sollte ich? Avacyn ist tot. Nahiri wurde vertrieben. Unser Handel ist erfüllt.“ Sie kicherte grausam. „Ich nenne das einen Sieg. Versuche doch bitte, ihn zu genießen. Immerhin ist das Markov-Anwesen dein. Und was mich angeht ...“ Sie hielt Sorins Schwert in die Höhe, um die Klinge zu begutachten. „Mir gefällt der Klang von ‚Olivia, Herrin von Innistrad‘.“

Der letzte Rest Geduld, der ihm noch geblieben war, wurde von einer Welle der Verzweiflung hinweggespült. Diese Welt war verloren. Olivia war sein einziger Ausweg. „Schau hin!“, sagte er und stemmte sich gegen den unnachgiebigen Stein. Olivia warf einen raschen Blick über die Schulter, sagte aber nichts. „Siehst du es?“, fuhr er fort. „Das ist es, was kommen wird. Du hast gesehen, was sie tut. Wozu sie fähig ist.“ Er sprach nun schneller. Seine Stimme brach. „Du wirst meine Hilfe brauchen, wenn du damit fertigwerden willst!“

Sorin gefiel nicht, wie Olivia ihn ansah. Sie war eine Spinne und er eine Fliege. „Hör mir zu!“, versuchte er es erneut. „Was nützt dir all das, wenn es morgen fort ist?“

„Avacyn ist tot. Und du“, sagte sie und drückte ihm die Spitze seines eigenen Schwertes gegen die Wange, „bist es ebenso. Ich finde das ziemlich gut.“ Und alles, was Sorin tun konnte, war mit anzusehen, wie Olivia davonschwebte, sodass Emrakul und das Ende, das sie verhieß, nun wieder klar zu sehen waren.


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Schatten über Innistrad-Storyarchiv

Planeswalker-Profil: Sorin Markov

Planeswalker-Profil: Nahiri die Lithomagierin

Weltenbeschreibung: Innistrad