Was bisher geschah: Stein und Blut

Der Wahnsinn auf Innistrad hat seinen Höhepunkt erreicht. Jace und Tamiyo wurden Zeuge von Sorins Konfrontation mit Avacyn und mussten mit ansehen, wie der Vampir den Engel vernichtete. Ganz Innistrad erschauderte bei Avacyns letztem Atemzug. Nun hat die Welt ihre Beschützerin verloren und ist Bedrohungen von innen wie außen hilflos ausgeliefert – ganz so, wie Nahiri es wollte. Das Land erzittert, und die Beben erschüttern die wenigen Herzen, die sich dem Wahnsinn noch zur Wehr setzen.


Die Klippen von Sehlhof

Nahiri hatte Großes vollbracht.

Sie hatte ihren Eid erfüllt – jenen Eid, den sie im Staub Bala Geds geleistet hatte. Unter ihren Fingernägeln und in den Falten ihrer Kleidung war noch immer Staub, den sie als Erinnerung dort belassen hatte. Seit ihrem Aufbruch aus Zendikar hatte sie sich selbst zu unvermindertem Fleiß angetrieben – jede Stunde eines jeden Tages und bis spät in die Nacht hinein, angepeitscht von ihrer Wut. Sie hatte sich alles abverlangt, um in die Blinden Ewigkeiten hineinzugreifen, mit Fingern, die vom anschwellenden Äther brannten. Um mit Stein zu arbeiten und mit Magie, die mächtiger war als jede andere, die sie je zuvor gewirkt hatte. Und alles war zehnmal schwerer gewesen, als sie ursprünglich geahnt hatte. Doch nicht ein einziges Mal hatte sie sich beklagt, gezaudert oder innegehalten, um sich auszuruhen. Und nun endlich würde sie dafür belohnt werden. Sie würde sehen, wie sich all ihre Mühen auszahlten. Und Sorin würde es auch sehen.

Innistrads letzter Schutz war dahin. Nahiri hatte gespürt, wie das letzte bisschen davon abgefallen war, als hätte man einem Krieger nach der Schlacht ein schweres Rüstungsteil abgenommen. Die Welt war nackt und verwundbar. Allerdings war der Kampf noch nicht vorüber. Er hatte gerade erst begonnen.

„So wie Zendikar blutete, so wird Innistrad bluten.“

Nahiri hielt den Atem an. Der Boden unter ihren Füßen bewegte sich. Die Welt begann zu pulsieren und wurde von Beben erschüttert, wie eine Kette explosiver Reaktionen, die tief unter der Oberfläche rumorten und durch die Nacht hallten. Auch Sorin würde sie spüren. Dieser Gedanke erfüllte Nahiri mit großer Zufriedenheit. „Komm!“, rief sie zum Himmel empor. „Komm zu mir! Komm nach Innistrad!“

 

Dann spürte sie es: eine Präsenz.

Die Luft wurde heiß und stickig. Nahiri sog sie tief in sich ein. Ja. Diesen Geruch kannte sie nur allzu gut. Eine Aufregung erfasste sie, wie sie sie seit Jahrhunderten nicht mehr verspürt hatte. Sie rannte zum Rand der Klippe. Ihre Beine bewegten sich beinahe wie von selbst, und ihre Gedanken konnten mit dem Hämmern ihres Herzens und dem Trommeln ihrer Füße kaum Schritt halten.

Sie blickte zum Wasser. Zu jenem Tempel, den sie für den Gott errichtet hatte. Er war nicht mehr leer. Tränen sammelten sich in Nahiris Augenwinkeln, doch sie wischte sie fort. Dies war nicht die Zeit für Tränen.

„So wie ich weinte, wird Sorin weinen.“

Wellen türmten sich auf. Die Gestalt unter der Wasseroberfläche wurde größer und größer und drohte, vollständig aus den Tiefen emporzubrechen. Endlich. Es war Zeit.

Die Sümpfe Gavens

Es war Zeit. Zeit zum Beten.

Erzengel Avacyn. Mutter meinte, ich soll beten, wenn ich Angst bekomme. Ich habe gerade Angst.

Bild von Dan Scott

Obwohl er von Katharern mit schimmernden Klingen und schwerer Stahlrüstung umgeben war, kauerte Maeli sich zusammen. Er fühlte sich allein.

Er fühlte sich allein, seit er sich an jenem Tag, an dem die entsetzlichen Engel mit ihrem Flammenregen gekommen waren, aus dem Dorf geflüchtet hatte. Er war in den Wald gelaufen, wie seine Mutter es ihm gesagt hatte, und er war nicht ins Dorf zurückgekehrt. Hundert Mal hatte er es gewollt. Doch sie hatte ihm gesagt, er könne auf keinen Fall zurückkehren, und ihr Blick war dabei ernster gewesen als je zuvor. Daher hatte er ihr lieber gehorcht. Nun wünschte er, er hätte es nicht getan. Nun wünschte er, er wäre daheim.

Er umklammerte das ausgestopfte Häschen, das ihm die alte Frau mit dem grauen Haar gegeben hatte. Die, die ihn im Wald gefunden und in ihr Haus mitgenommen hatte, das nach Süßigkeiten und trockenem Brot roch. Sie hatte ihm gesagt, er solle sie Fräulein Sadie nennen und dass ihr Haus sein Haus sein konnte, so lange er wollte. Doch das hatte er ja nie gewollt.

Erzengel Avacyn. Ich möchte nach Hause. Bitte. Darf ich nach Hause gehen?

Keine Antwort. Stattdessen griffen dicke, sich windende Arme nach ihm, die durch die Lücken zwischen den Katharern hindurchschossen. Es waren dieselben Arme, die in ebenjener Nacht aus Fräulein Sadies Brust hervorgebrochen waren, gerade als sie gemeinsam beim Abendessen gesessen hatten. Es war nicht lange nachdem geschehen, wie Maeli seinen Stuhl erbeben gespürt hatte, und kurz nach einer Windbö, die durch die offenen Fensterläden gefahren war und einen Duft wie von zu süßem Nektar mit sich gebracht hatte. Als Fräulein Sadies Brust sich aufgetan hatte, hatte er den Löffel im Mund gehabt, weil er just in jenem Augenblick im Begriff gewesen war, einen Mund voll dünnem Eintopf herunterzuschlucken. Das meiste davon war ihm aus der Nase gesprudelt und hatte ihn verbrannt – in seinem Kopf, hinter den Augen. Das hatte ihn zum Weinen gebracht. Tränen waren ihm die Wangen hinuntergeströmt, als Fräulein Sadie ihm mit ihren viel zu vielen Armen nachgejagt war.

„Bleib zurück!“ Die Katharer bewegten sich durch das hohe Gras und hackten einen Arm nach dem anderen ab. Einer landete zu Maelis Füßen. Als er zu ihm hinunterschaute, verkrampften sich Maeli die Eingeweide. Dies war zweifellos einer ihrer echten Arme. Da war ein Fetzen jener gelben Bluse, die sie getragen hatte, und ein Stückchen weiter starrte ihm ihr großes, haariges, braunes Muttermal entgegen.

Maeli vergrub das Gesicht in dem ausgestopften Häschen, und eine Träne rollte ihm die Wange hinab. Bitte, Avacyn. Der Engel war schon einmal zu ihm gekommen. Avacyn hatte ihm geholfen, als er sich verirrt hatte und von Furcht ergriffen gewesen war. Seine Mutter hatte ihm gesagt, dass Avacyn gekommen war, weil sie für seine Rettung gebetet hatte – so inständig, dass Avacyn sie ihr nicht hatte verwehren können. Maeli wusste nicht, wie ein Gebet inständiger sein konnte als ein anderes, und er wusste auch nicht, wie er sein Gebet so inständig machen konnte, dass Avacyn zum Erscheinen gezwungen war, doch er wusste, dass er es versuchen musste. Er schrie sein Gebet in das feuchte, verfilzte Fell des ausgestopften Häschens hinein, so laut er nur konnte. „BITTE, AVACYN! HILF MIR!“

„Avacyn ist tot!“ Die Stimme durchbohrte die kalte Leere in Maelis Magen, und eine eisige Furcht sickerte daraus hervor, die ihm die Wirbelsäule bis zum Nacken hinaufkroch. Wie kalte Finger fuhr sie ihm unter den Schädel, packte seinen Kopf und wandte seine Augen zum Himmel.

Ein Engel.

Einen flüchtigen Augenblick lang keimte Hoffnung in Maelis Herz. Hoffnung, dass dies nur eine Lüge sein mochte, doch noch während er sie verspürte, begriff er, dass der Engel, der dort droben schwebte, nicht Avacyn war.

Sie ist jetzt hier“, sagte der Engel und blickte Maeli unverwandt in die Augen. „Sie erhebt sich! Sie erhebt sich!“ Der Engel warf den Kopf zurück und stieß ein kreischendes Lachen aus, das über den gesamten Himmel hallte. Dann brach das Gelächter jäh ab, und der Engel blieb einen Wimpernschlag lang vollkommen reglos, als wäre er am Firmament eingefroren. „Ich – bin‘mrakul!“ Er stieß herab und seine Klinge schnitt durch die Luft vor ihm. Maeli kniff fest die Augen zusammen. Bitte.

Die Küste Nefalens

Bitte. Bitte erwähle mich. Edith klammerte sich mit den Zehen an den glatten, nassen Felsen und versuchte, Tritt zu fassen. Sie war so dicht, wie sie zur Zeit herankam. So dicht, wie es vor der Auferstehung und dem Werden möglich war. Und dennoch wollte sie noch dichter heran.

Bitte erwähle mich. Sie hatte bewiesen, wie fromm sie war. Mehr als fromm. „Mehr als fromm.“

Erwähle mich. Sie warf flüchtige Blicke unter ihrer Kapuze hervor, erst zur einen, dann zur anderen Seite. Ja. Auf den Felsen in der Nähe befanden sich tatsächlich keine anderen Kultisten. Sie richtete sich auf. Stolz. Niemand war hier, wo sie war. Niemand war so dicht heran. Sie war Ihr am nächsten. „Am nächsten.“ Sie wollte Ihr noch näher sein.

„Erwähle mich! Mich! Mi‘mrakul!“ Sie reckte die Arme gen Himmel und öffnete sich der, deren Ankunft bevorstand.

Die Wellen schlugen über ihr zusammen. Sie spürte es. Es war Zeit.

Bild von Joseph Meehan

„Emrakul!“ Der Name, die Macht, die Vollkommenheit breiteten sich in ihr aus, während das Wasser um sie herum toste. „Emrakul!“ Die Ganzheit hüllte sie ein, verflocht sich mit ihr, wurde eins mit ihr. Das Meer schwoll an, weiter und weiter dem Himmel entgegen. „Erwähle mich, Emrakul! Nimm mich! Emrakul.“

Andere Stimmen erklangen hinter ihr, um gemeinsam mit ihr im Takt des purpurnen Leuchtens, das unter der Wasseroberfläche pulsierte, zu singen. „Erwähle mi‘mrakul! Nimm mi‘mrakul. Bin‘mrakul.“

Das Leuchten wurde heller, stärker, mächtiger und schließlich zu einem beständigen Licht. Edith kroch auf ihrem Felsen weiter nach vorn, während ihre Zehen nach Halt suchten. Sie war die Vorderste. Am nächsten. Noch näher. Und noch näher.

Um sie herum schlugen die hohen, verkrümmten Steinsäulen Funken in die Nacht. Violette Blitze der Macht lösten sich aus den spitzen Kanten und sprangen von einer zur anderen und dann zur nächsten. Ihre Macht. Es war Ihre Macht. Alles war Sie. Näher. Näher.

Bild von Jaime Jones

Das anschwellende Wasser ließ die Wellen tosen und brodeln. Land und Meer waren nun kaum noch zu unterscheiden. Edith bewegte sich dichter heran. Noch niemals zuvor war sie bei irgendetwas die Erste gewesen. Die Beste. Noch niemals zuvor. Aber es hatte auch noch niemals zuvor irgendetwas gezählt. Nun jedoch zählte es, und nun war sie es. Die Erste. Am nächsten. Die Beste. „Bin‘mrakul!“

Das Meer spie einen Teil seiner selbst in den Himmel hinein. Das Wasser ragte wie eine dicke Steinsäule auf, brach in sich zusammen und wuchs zugleich wieder aufs Neue an ... Wütendes Chaos. Und dann erstarrte es, als wäre die Zeit angehalten worden. Es hing wie eine felsige Klippe am Himmel. Von unten erklang ein Grollen.

Und dann erhob sich Emrakul.

Edith konnte das Heulen, das ihr aus der Brust aufstieg, nicht unterdrücken. Der Klang ihrer Stimme schwoll mit den Wogen Ihrer Macht an und verschmolz mit der Resonanz Ihrer Umarmung. Vollkommen.

Emrakul sah Edith vor sich. Sie blickte mit einem riesigen, leuchtenden purpurnen Auge auf sie herab.

Und Edith sah Emrakul. Sie starrte wie gebannt in das Leuchten und versank tiefer und tiefer in der Intensität Ihres Seins. Es gab so vieles zu sehen, so vieles zu werden. Sie war erwählt worden. „Bin‘mrakul.“

Sie lehnte sich noch dichter heran.

Die Tiefen des Ulvenwaldes

Sie lehnte sich noch dichter heran und drückte ihren Rücken gegen den Alenas. Sie waren umzingelt. Hal spürte den Drang, sich zu ergeben und sich einfach zu Boden sacken zu lassen. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die Wärme, die von Alenas Armen ausging, und auf das Gefühl, wie sie sich gegen ihr eigenes klammes Fleisch drückten, und handelte so, als stünde die Welt nicht am Rande des Zusammenbruchs. „Wo willst du anfangen?“ Wie beiläufig warf sie die Frage über ihre Schulter.

Schritt für Schritt drehten sie sich auf der Stelle um eine gemeinsame Achse und schätzten dabei die Schwere der vor ihnen liegenden Aufgabe ab. Sie befanden sich in einem Hain im Ulvenwald, doch der Ulvenwald war nicht mehr so, wie sie ihn einst gekannt hatten. Alles war verzerrt und grässlich geworden: Die Bäume hatten Arme mit langen, schlanken Fingern, die nach Hals Haar griffen; die Brombeerhecken hatten Münder, die schwatzten und kreischten; das Moos hatte Beine, auf denen es wie Ratten umherhuschte; und selbst die Städter, die nicht hierher in den Wald gehörten, hatten der drängenden Macht nachgegeben und waren zu Geschöpfen geworden, die viel schlimmer waren als jedes Ungeheuer, das Hal je gesehen hatte.

„Wir sollten mit den Städtern anfangen“, sagte Alena.

Hal nickte.

Es waren drei. Sie waren derart mutiert, dass ihre menschliche Gestalt kaum noch zu erkennen war.

„Kom‘mrakul. Sei‘mrakul“, riefen sie.

Hal spürte den Sog in ihren Worten. Sie waren der Versuchung gefolgt, die auch Hal so bedrängt hatte. Sie hatten ihm nachgegeben und mussten ihm nun nicht mehr widerstehen.

„Sind‘mrakul. Wir‘mrakul.“

Hals Ohren dröhnten, und in ihren Eingeweiden rumorte es. Es könnte so leicht sein. Sie könnte ... Nein! Alenas gleichmäßiger Herzschlag sagte Nein.

„Ich fange mit dem Schreckhaften an und du mit dem Dicken.“ Alenas Stimme bebte nicht. Kein einziges Mal.

Hal zwang sich, ihrer zugeschnürten Kehle und dem Druck in ihrem Schädel keine Beachtung zu schenken. „Klingt wie ein Plan.“ Sie würde es versuchen. Sie würde kämpfen. Sie griff nach ihrer Klinge und verschloss ihr Bewusstsein vor dem verworrenen Singsang. Der Dicke. Sie konzentrierte sich auf den Dicken ... und keuchte dann erschrocken.

„Alena. Alena, ist das ...“ Hal konnte den Satz nicht beenden.

Alena spähte herüber. „Der Älteste Kolman. Möge der Engel ihm gnädig sein.“

Bild von Dan Scott

Ein Schwindel packte Hal und ihr Blick verschwamm. Unmöglich.

„Sind‘mrakul.“ Die Abscheulichkeit, die einst der Älteste gewesen war, schlurfte vorwärts. Alles, was Hal tun konnte, war, ihr Schwert zu ziehen und seinen dicken, ausladenden Arm abzuwehren.

„Kom‘mrakul. Sei‘mrakul.“ Kolmans Worte taumelten durch Hals angegriffenes Bewusstsein. Wie konnte dieses Ungeheuer ein Mann sein, den sie einst gekannt hatte?

Er holte mit einem Arm, der eher einem Baumstamm ähnelte, nach ihr aus. Hal stolperte zurück. Ihre Gedanken rasten.

„Sind‘mrakul. Sei‘mrakul.“ Die Worte legten sich um sie und hüllten sie ein. Sie sagten ihr, sie bräuchte nicht nachzudenken, bräuchte sich nicht zu sorgen ... Nur nachgeben. Sei‘mrakul. Bin‘mrakul.

„Hal?“ Alenas Stimme. „Hal! Sein Arm! Schau nach rechts!“

Hal hörte die Worte, verstand sie jedoch nicht. Urplötzlich fuhr ein silberner Blitz durch den dicken Arm des Ältesten. Alenas Klinge. Hal wusste, dass sie ebenfalls ihr Schwert schwingen sollte. Doch es war so schwer. Es wollte nicht geschwungen werden.

Sei‘mrakul. Ein‘mrakul. Sie fühlte sich, als würde sie schweben.

„Hal!“ Alena klang verärgert. Doch sie war weit weg. So weit weg.

Sei‘mrakul.

„Bleib bei mir, Hal.“

Sind‘mrakul.

„Ich brauche dich.“

Bin‘mraku...

„Bitte!“

Es war Alenas Berührung – ihre schweißnassen Finger, die nach Hals Handgelenk griffen –, die sie von der erdrückenden Umarmung wegrissen. Sie blickte zu der Frau auf, die sie liebte.

„Hal? O bitte, Hal.“

Sie wollte nicht, dass Alena verärgert war. Sie wollte nicht, dass Alena so weit weg war. Und sie wollte nicht, dass Alena allein war.

Sie musste kämpfen. Es war schwer. Schwerer als alles, was sie je zuvor getan hatte. Doch sie musste es tun. Sie drängte das Dröhnen aus ihrem Schädel und fand die nötige Kraft, die Klinge zu heben. „Es geht mir gut, Alena“, sagte sie. „Es wird alles gut.“

„Natürlich wird es das.“ Hal spürte, wie die Anspannung aus Alenas Körper wich, als sie ihr auf die Beine half.

„Sei‘mrakul.“ Die Wangen des Ältesten blähten sich auf.

Hal funkelte ihn an – Nein!Dieses Ding war nicht er. Das war nicht der Älteste Kolman. Das war ein Ungeheuer. Eines, das drohte, Hal von der unerschrockenen Frau an ihrer Seite fortzureißen. Das würde sie nicht zulassen.

„Ich finde, wir sollten ihn uns gemeinsam vornehmen.“ Alena nickte in Richtung des Ungeheuers.

„Ja, ich glaube, das wäre wohl das Beste.“

Sie standen Seite an Seite und drückten ihre Schultern eng gegeneinander. Alena atmete ein. „Auf mein Zeichen.“

Hal brauchte Alenas Zeichen nicht, um zu wissen, wann sie handeln musste. Sie spürte, wie sich Alenas Muskeln bewegten, und die ihren reagierten instinktiv. Gemeinsam waren sie wie eine Doppelaxt, nach beiden Seiten zuschlagend, aber in der Mitte stets verbunden. Alena hieb durch die linke Schulter des Ungeheuers, während Hals Klinge auf die rechte eindrosch. Die sich windenden Gliedmaßen landeten zu ihren Füßen, doch die Abscheulichkeit schien dies kaum zu bemerken. Sie stürzte sich ihnen entgegen. „Wir‘mrakul!“

Hal schwang erneut ihre Klinge und enthauptete den einst heiligen Mann, der immer noch unbeirrt weitersang: „Bin‘mrakul, Sind‘mrakul, Emrakul!“

Hal ertrug die Worte nicht mehr. „Sei still!“ Sie hob die Klinge und schlug mit solcher Kraft zu, dass sie den Kopf des Ältesten in zwei Teile spaltete. Ein Gewirr verflochtener Wurzeln quoll aus ihm heraus, als wären sie die ganze Zeit viel zu eng darin hineingestopft gewesen.

Der Singsang endete. Es war getan.

Hal streckte die Hand aus und fand die Alenas. So unvermittelt, wie sich ihre Finger miteinander verschränkten, wusste Hal, dass Alena immer da sein würde. Stumm versprach sie, es ihr gleichzutun.

„Wir‘mrakul.“ Hinter ihnen erklang die Stimme eines anderen Städters. „Sei‘mrakul.“

Hal wollte schreien. Und dann sah sie es. Eine Öffnung jenseits der Leiche des gefallenen Ältesten, die aus dem Hain des Schreckens hinausführte. „Komm!“ Sie zog an Alenas Hand. „Hier entlang!“

Alena folgte Hal durch die tastenden Gliedmaßen und sich windenden Massen hinaus. Hinaus in den Wald. Hinaus, wo die Luft nicht nach verwesendem Fleisch roch. Hinaus, wo die Brombeerhecken verwurzelt blieben und das Moos nicht in kranken Mustern über den Boden huschte.

Sie rannten, bis sie den Singsang nicht mehr hören konnten, bis sie das Dröhnen in ihrem Schädel nicht mehr spürten. Und dann rannten sie weiter, bis ihre Muskeln brannten und ihre Lungen schrien. Am Rand einer Klippe hielten sie an, sanken ineinander, Stirn an Stirn. Hände griffen nach Schultern, Atem verband sich in dem kleiner werdenden Raum zwischen ihren Lippen.

„Hal.“

„Alena.“

Sie würden dies niemals aufgeben; sie würden niemals loslassen.

Der Himmel über Innistrad

Sie würden niemals loslassen. Niemals. Sie hatten das Licht gesehen und die Macht gespürt. Die Wahrheit hatte sie umfangen. Sie hatte sie erschaffen.

Bruna war fort.

Sela war vollendet.

Stattdessen waren sie entstanden. Sie. Eins. Ein‘mrakul.

Emrakuls Engel breitete vier Schwingen aus, reckte zwei Arme in die Höhe und rief mit einer Stimme, die aus zwei Mündern erklang: „Wir sind Emrakul!“

Bild von Clint Cearley

Sie waren Ihr Abbild, das Abbild Ihrer ewigwährenden Wahrheit, und ihre Stimme war die Ihre. „Wir sind Emrakul!“

Der Ruf zog andere an. „Wir sind‘mrakul!“ Stimmen erhoben sich von der Welt unter ihnen und verschmolzen in einem Klang, einer Wahrheit. „Ein‘mrakul, Sein‘mrakul, wir‘mrakul!“

Es war unbeschreiblich. Es war alles. Es war Sie.

Emrakuls Engel führte sie alle hinab, um Ihrer strahlenden Gestalt zu folgen. Was einst dunkel war, war nun ihr Ihr Licht getaucht. Wahres Licht, das sich weiter und weiter ausbreitete, ein strahlender Sonnenaufgang, der bald jeden Winkel der Welt berühren sollte. „Alles ist Emrakul! Wir sind Emrakul!“

Die gewundene Straße nach Thraben

Wir sind Emrakul. Alles ist Emrak... „Gah! Nein.“ Jace wischte die wirbelnden Worte entschlossen aus seinem Bewusstsein. „Und bleibt mir ja weg.“

Tamiyo hatte ihn gelehrt, sich gegen Emrakuls wahnsinnig machende Berührung zur Wehr zu setzen, doch es war schwieriger, das geistige Bollwerk aufrechtzuerhalten, als die Mondfrau es aussehen ließ. Das war ein Hindernis. Ein großes Hindernis für seinen Plan.

Jedes Mal, wenn er sich zu lange auf etwas anderes als die Eldrazititanin konzentrierte, kroch Ihr verderbtes Geflecht zurück in seinen Kopf, nagte an seiner Verteidigung und grub sich in die tiefsten Rückzugsorte seines Geistes.

Dieses Mal war es der Anblick des pervertierten Engels am Himmel über ihm gewesen, der ihn abgelenkt hatte. Er hatte sich gut geschlagen, als er seinen Blick auf Tamiyos Rücken geheftet und sich auf ihre Reise über die Felsen konzentriert hatte. Er folgte ihr zu etwas, was sie den Nexuspunkt nannte. Doch die Anwesenheit des Engels war unmöglich zu ignorieren gewesen. Seine Gestalt war so unfassbar fremdartig, dass Jaces Neugier die Oberhand gewonnen hatte. Er hatte hinaufgespäht und war sofort von dem Anblick gefangen gewesen, während er sich noch mühte, ansatzweise zu verstehen, was er da eigentlich sah. Zunächst hatte er es für einen Dämon gehalten, doch es war viel schlimmer als das. Als er endlich die zahlreichen Schwingen, das rankenhafte Bindegewebe zwischen den beiden Köpfen und die widerhallende Stimme verarbeitet hatte, hatte er sich schon verloren gehabt. Das war nicht hinnehmbar. Für das, was er zu tun beabsichtigte, musste er in der Lage sein, auf seinen Verstand zu vertrauen. Doch hatte er das eigentlich wirklich vor? Konnte er es tatsächlich irgendwie rechtfertigen, die anderen hierherzubringen? Sie diesem Wahnsinn auszusetzen?

Die Frage lag ihm schwer im Magen und schwoll zu einer Woge der Übelkeit an. Er hatte gedacht, es wäre das Richtige. Oder etwa nicht? Ja, das erschien wie die einzige Lösung. Er war sich sicher. Sogar so gut wie vollkommen sicher. Ganz dicht an vollkommen sicher dran. „Gah!“ Jace warf die Arme in die Luft.

„Pst!“ Tamiyo warf einen tadelnden Blick über die Schulter.

„Entschuldige.“ Jace hob beschwichtigend die Hände.

Tamiyo schaute finster drein, wandte sich dann aber erneut dem Pfad, ihrer magischen Laterne und ihren sanften Schritten zu. Er sollte es ihr sagen. Er sollte ihr sagen, dass sie hier warten sollte und er Hilfe holen würde. Das hier war größer als alles, was sie zu zweit bewältigen konnten. In Wahrheit war es das schon immer gewesen, selbst als Jace noch dachte, dass es nur um den wahnsinnigen Engel Avacyn ging. Wäre Sorin nicht in der Kathedrale gewesen ... Sorin. Jace verfluchte den uralten Vampir, der Innistrad an den Rand der Vernichtung geführt hatte, um dann einfach davonzuschweben und Jace die Beseitigung dieses Chaos zu hinterlassen.

Ein Titan der Eldrazi war jedoch nichts, was Jace hätte allein beseitigen können. Das war nichts, was er jemals hätte allein vollbringen sollen. Gideon selbst hatte Jace aufgetragen, nach Zendikar zurückzukehren, falls er Neuigkeiten über den Verbleib des Titanen erfuhr. Nun, Jace hatte sogar mehr als das getan. Er hatte Sie gefunden. Gideon würde gewiss sehr zufrieden sein.

Vor ihm hielt Tamiyo am Ufer inne und hob die Laterne. Jace folgte den Strahlen aus magisch verstärktem Licht und hob den Blick zum Himmel. Umgehend wünschte er, er hätte es nicht getan.

Es war das erste Mal, dass er Sie tatsächlich sah. Die Titanin. Emrakul.

Jace war wie gebannt.

Er hätte schwören können, dass Emrakul größer war als die anderen beiden. Und auf ihre Weise viel, viel mächtiger. Sie war erst eine kurze Zeit auf dieser Welt und doch schien ihr bereits so vieles davon zu gehören. Ganz Innistrad hatte sich aufgemacht, ihr zu folgen. Kultisten, in Ihrem Abbild pervertiert, schleppten sich über die Felsen und ließen alles hinter sich, was sie in ihrem früheren Leben gewesen waren. Tiere und Ungeheuer gleichermaßen scharten sich zu Lande, zu Wasser und in der Luft hinter ihr, während sie sich immer weiter voranbewegte. Die Bäume, das Moos und das Unterholz ... Selbst die Algen krochen aus dem Wasser, um ihr nahe zu sein.

Auch Jace verspürte den Drang, zu ihr zu gehen. Bin‘mrakul.

Nein.

Er wollte sich selbst schütteln. Er musste seine Gedanken ordnen. Er musste nachdenken. Er durfte Sie nicht bekommen lassen, was Sie wollte. Erneut ahmte er das nach, was Tamiyo ihn gelehrt hatte, und ballte vor Anstrengung die Hände zu Fäusten. Der Vorgang, sich zu vergewissern, dass kein Quäntchen Delirium in seinem Bewusstsein verblieben war, ähnelte dem, Spinnweben im Inneren des eigenen Schädels fortzuwischen. Dicke, verflochtene Spinnweben, die von einer hoch aufragenden Ungeheuerlichkeit der Eldrazi gewoben wurden, welche im Begriff war, den Verstand eines jeden Lebewesens auf dieser Welt zu verzehren. Jace erschauderte.

Das war es, was er für sie tun musste. Für Gideon und Chandra und Nissa. Er musste nicht nur seine, sondern auch ihre Gedanken schützen. Er durfte sie nicht hierherbringen, nur damit sie von Ihr verschlungen wurden. Das würde er auch nie tun. Die Frage lautete nun also: Konnte er das schaffen? Er hatte sich das bestimmt schon Hunderte von Malen gefragt, doch er hatte noch immer keine Antwort.

„Du sagst, man nennt Sie Emrakul?“ Tamiyos neugierige Stimme riss Jace aus seinen Gedanken. Er warf ihr einen Blick zu. Ihr Gesicht war ein wahres Sinnbild innerer Ruhe, ganz so, als fiele ihr das Schützen ihres Bewusstseins vor dem Wahnsinn nicht schwieriger als das Atmen.

„Ja“, sagte Jace. „Das ist einer der Namen, den man Ihr gegeben hat.“

„Faszinierend, dass ein derartiges Ding einen Namen hat.“ Tamiyo nahm ihr Teleskop vom Gürtel und hielt es sich vor ein Auge. „Ich frage mich, wie Sie sich wohl selbst nennen mag.“

Jace hatte darüber noch nie nachgedacht. Er wäre nie darauf gekommen, dass das von irgendeiner Bedeutung sein könnte. Die Mondfrau blickte so viel anders als er auf diese Dinge. Er starrte auf Emrakuls massige Gestalt und versuchte, Sie mit Tamiyos Augen zu sehen. Er blickte in Ihr gewaltiges, purpurnes Auge. Es sah warm und einladend aus. Er fragte sich, was es dahinter zu finden gab. Kurz vor dem Steilhang hielt er sich zurück. Wie heißt du?, fragte er. Wie nennst du dich?

Eine Flut an Worten hallte aus allen Winkeln seines Bewusstseins wider:

Die ewige Unendlichkeit ... Diese Welt gehört mir.

Das Absolute ... Ich werde alles haben.

Der Anfang ... Ich werde alles sein.

Das Sein ... Alle sind‘mrakul.

Das Ende.

Das Ende.

Das Ende.

Jace zog sich zurück und schnappte nach Luft. Dies war nicht das Ende. Dies würde nicht das Ende sein. Nicht für ihn und nicht für Innistrad. Er musste zu zweifeln aufhören und es nicht länger aufschieben. Er musste seinem Verstand vertrauen. Erneut blickte er zu der seelenruhigen Tamiyo. Wenn sie das schaffte, dann konnte er das auch. Für sie. Ja. Es war Zeit, die Wächter nach Innistrad zu holen. Er räusperte sich. „Tamiyo, ich muss fort.“

„Was?“ Tamiyo drehte sich um. Ihre lavendelfarbenen Augen waren weit aufgerissen.

„Es gibt noch drei andere. Planeswalker. Sie sind mächtig, sie sind die Besten, die es gibt, und sie können helfen. Ich muss sie holen. Auf einer anderen Welt haben wir zwei andere Kreaturen dieser Art getötet.“ Er nickte in Emrakuls Richtung, ohne Sie anzusehen.

Tamiyo schien ihm nicht recht zu glauben. „Zwei?“

„Es hat uns alles abverlangt, aber ja.“

Tamiyo legte den Kopf schräg und schaute ihm in die Augen. Jace hatte den Drang, wegzusehen. Er fühlte sich schuldig unter ihrem prüfenden Blick, obwohl er sich nicht sicher war, warum. Und dann lächelte sie plötzlich. „Das habt ihr. Das habt ihr wirklich und wahrhaftig getan. Diese Geschichte würde ich zu gern hören.“ Sie seufzte. „Ein anderes Mal. Wenn die Geschichte dieser Welt auf ein anderes Ende als Dunkelheit hoffen soll, dann müssen wir alle unseren Beitrag leisten.“

„Wirst du mich begleiten?“

„Nein, Jace. Das ist nicht mein Weg.“

„Wirst du hier sein, wenn wir zurückkommen?“

„Wir alle werden dort sein, wo wir sein müssen.“

Jace öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch dann spürte er eine beruhigende Berührung in seinem Bewusstsein. Tamiyo. Er musste sich nicht mehr anstrengen, um dem Wahnsinn standzuhalten. Ihm war nicht einmal aufgefallen, dass er sich so sehr abgemüht hatte. Es war wie ein grässlicher Kopfschmerz, der endlich abflaute. Erleichterung. Er entspannte sich.

„Ich werde deinen Geist schützen, damit du diese Welt verlassen kannst“, sagte Tamiyo. „Geh.“

In diesem Augenblick wollte Jace nichts sehnlicher, als zu tun, was sie sagte. Er wollte fortgehen, diese Welt und die Titanin hinter sich lassen. Auf jene Welt zurückkehren, die sie bereits gerettet hatten. Zendikar. Seetor. Zum Meervolk, den Kor und den Vampiren, die nun geeint waren. Nissa würde da sein, mit ihren leuchtenden grünen Augen. Und Gideon mit seinen breiten Schultern und seinem offenen Lächeln. Und ...

„Nun sieh mal an, wer sich entschlossen hat, doch noch aufzutauchen. He, Gideon, hier drüben!“

... Chandra.

„Das wird aber auch Zeit!“ Das Geräusch von Stiefeln manifestierte sich in Jaces Ohren und das Nachbild Emrakuls, wie Sie über ihm aufragte, würde durch das lächelnde Gesichts eines Freundes abgelöst.


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Planeswalker-Profil: Jace Beleren

Planeswalker-Profil: Nahiri die Lithomagierin

Planeswalker-Profil: Tamiyo

Weltenbeschreibung: Innistrad