KUMENA

Wandler Kumena spurtete mit pochendem Herzen durch das Unterholz. Er setzte seine Magie spärlich ein–nur eine Winzigkeit hier und da, damit das Gestrüpp ihm auf seinem Weg half, anstatt ihn zu behindern. Jedes größere Zauberwirken hätte Tishana geradewegs zu ihm geführt.

Er konnte es spüren. Er näherte sich der Goldenen Stadt Orazca, der Ruhestätte der Immerwährenden Sonne. Seine Rivalen folgten ihm auf dem Fuße, und der Sieg lag zum Greifen nahe.

Kumena ließ sich in einen nahe gelegenen Fluss fallen und von der Strömung treiben. Die Macht der Goldenen Stadt kam immer näher, wurde größer und größer und auf sonderbare Weise auch heller. Er hörte, wie das Wasser über ein gewaltiges Gebilde vor ihm rauschte. Der Wasserfall überraschte ihn: Es fühlte sich an, als wäre das Wasser erst kürzlich in eine neue Richtung geleitet worden.

Der Fluss verbreiterte sich. Vor ihm ergoss sich das Wasser in die Tiefe des gewaltigen Wasserfalls, und Kumena schwamm mit der Strömung, bis er an einem goldenen Vorsprung anhielt. Das knöcheltiefe Wasser floss vorbei, und merkwürdige goldene Spitzen durchbrachen die Baumwipfel im Tal vor ihm.

Er grinste. Endlich!

Auf einem Felsplateau über einer schmalen, halbkreisförmigen Schlucht erhoben sich goldene Türme aus dem Dschungel.

Kumena bewegte sich am Rand der Schlucht entlang. Wasser stürzte in die tiefe Klamm und wurde von einem unterirdischen Fluss davongetragen. Er fragte sich, wie lang dieser unsichtbare Kanal sich wohl erstreckte und wie breit er sein mochte. Übertrifft er gar den Großen Fluss selbst? Kumena sann darüber nach, welche Mächte unter der Oberfläche Ixalans lauerten.

Orazca selbst war gewaltig, doch er verlor es immer wieder aus den Augen. (Er! Ein Wandler, die Verkörperung seines namensgleichen Flusses!) Kumena war von der Magie, die diesem Ort innewohnte, und ihrer Fähigkeit, so lange verborgen zu bleiben, beeindruckt. Er bahnte sich seinen Weg um die Stadt herum, bis er schließlich einen Eingang erreichte: eine gewaltige Treppe mit einem riesigen Bogengang am Ende.

Sein Herz raste, und seine Flossen zuckten. Wer sonst noch hatte diese Treppe in den letzten Jahrhunderten erklommen? Gab es da überhaupt jemanden? Was war ihr ursprünglicher Zweck? Warum war sie erbaut worden?

Nein, nicht warum. Das wusste er bereits. Sie war für diesen Augenblick erschaffen worden, damit er sie emporstieg. Die Steine unter seinen Sohlen waren voller Macht, doch es war seine eigene Macht, die zu ihm zurückgeworfen wurde.

Endlich stieg Kumena zur Goldenen Stadt hinauf.

Er erreichte den Bogengang an der Spitze der Treppe und die Sonne, die durch ihn hindurchschien, blendete Kumena.

Gold. Die Stadt besteht wirklich aus Gold.

Doch Gold kümmerte ihn nicht. Augen beobachteten ihn aus den Schatten, Tiere, die sich hier in diesen sonderbar makellosen Ruinen niedergelassen hatten. Auch sie kümmerten ihn nicht.

Er betrat die Goldene Stadt. Er spürte bereits, wie seine Macht wuchs, und er wusste mit Bestimmtheit, dass seine Rivalen nicht mehr weit hinter ihm waren. Licht strahlte von jeder Oberfläche, und die Sonne wärmte ihm die Haut. Er fühlte sich, als wäre er heimgekehrt.

Ein jähes Gefühl völliger Gewissheit ergriff von Kumena Besitz. Er wusste, wo sich die Immerwährende Sonne befand. Sie wollte gefunden werden.

„Kumena“, wisperte eine Stimme von den goldenen Mauern herab. „Kumena der Wandler, Kind des Großen Flusses, Anführer deines Volkes. Komm und befreie mich.“

Konnte das sein? War die Goldene Stadt all diese Zeit ein Gefängnis gewesen und keine Festung?

„Wer ist da?“, rief Kumena. „Woher kennst du mich?“

Er drehte sich um und hätte schwören können, dass er gesehen hatte, wie sich etwas hinter den glänzenden Fassaden bewegte. Er konnte nicht erkennen, was es genau war–doch es war weder Tier noch Mensch. Mit wachsender Beunruhigung fragte er sich, ob ihm bloß das Licht einen Streich gespielt hatte.

„Ich kenne dich sehr gut“, sagte die Stimme nun lauter. „Komm zu mir.“

Die Stimme klang vertraut.

„Woher?“, fragte Kumena. „Wo bist du?“

Da waren Spiegelungen im Gold–von etwas, was gar nicht da war. Gesichter?

„Hör gut zu“, meinte die Stimme. „Sieh genau hin. Folge mir.“

Wer bist du?“

„Du weißt, wer ich bin.“

Die Stimme war tief und gebieterisch–die Stimme eines Anführers. Es war seine eigene.

„Was für eine List ist das?“, fragte er. „Oder bin ich dem Wahnsinn anheimgefallen?“

Auch die Gesichter waren das seine: Tausend winzige, goldene Ichs strahlten ihn mit leuchtenden Augen an.

„Weder noch“, sagte die Stimme. „Es gibt Macht hier, Kumena. Die eine Macht, die absichtlich erschaffen wurde ... und eine weitere Macht, die träge und teilnahmslos ist. Wie ein stiller See. Wie ein Spiegel in der Dunkelheit. Sie kann nichts vollbringen ... “

„ ...  solange sie sich nicht in meiner eigenen Macht reflektieren kann“, vollendete Kumena. „Ist es das?“

„Folge mir“, sagte die Stimme, und die unzähligen goldenen Spiegelbilder von Kumenas eigenem Gesicht wiederholten: „Folge mir.“

„Wer bist du?“

„Ich bin die Sonne, Kumena. Wie auch du es sein wirst. Folge mir.

Es war ein Befehl, ausgesprochen mit all seiner eigenen Überzeugungskraft.

Vor ihm erstreckte sich ein Labyrinth aus verschlungenen Gängen aus Stein und Gold, die sich in der Ferne verloren. Kumena betrat den Irrgarten und setzte seine Schritte wie in einem Zustand der völligen inneren Versenkung stets gleichmäßig, um dem Ruf der Immerwährenden Sonne um jede Biegung und Windung der Korridore zu folgen. Und mit jedem Schritt wuchs seine Macht. Jede Oberfläche war in strahlendes Licht getaucht.

Es war zu hell. Zu warm. Seine Flossen begannen, sich zusammenzurollen und auszutrocknen, seine Kiemen wurden trocken, und noch immer hatte sich die Sonne am Himmel nicht bewegt.

Kumena näherte sich einem zentralen Turm, einem gewaltigen Tempel. Er wanderte um das Bauwerk herum und spürte, dass dies der Sitz der Macht sein musste. Auf einer Seite befand sich eine riesige, verzierte Tür, die mit einem großen Siegel und einem komplexen Schloss versehen war. Auf der anderen, einem großen Platz zugewandten Seite jedoch gab es eine schlichte Tür, die zu einer ebenso schlichten Treppe führte. Der Weg nach oben.

Kumena erschauderte, obgleich er nicht fror, und entschied sich für den Weg des geringsten Widerstandes.

Er begann, die Stufen hinaufzusteigen–

hinauf, immer weiter hinauf, eine Flosse vor die andere, bis er die Spitze erreichte.

Er betrat die Kammer und sah die Immerwährende Sonne vor sich. Sie entsprach so gar nicht seinen Erwartungen: ein matt leuchtender Stein, von Gold eingefasst und im Boden–ausgerechnet dort!–eingelassen. Ein großes, offenes Fenster wies auf die Stadt tief drunten hinaus, und hätte man auf der Immerwährenden Sonne gestanden, so hätte man sie in ihrer Gänze überblicken können. Die Immerwährende Sonne sah nach nichts weiter aus als nach einer absonderlichen Verzierung am Boden, doch sie fühlte ... sich wie ein Spiegel an, nicht wie eine Lichtquelle. Das Licht war seines.

Ich verstehe jetzt.

Kumena trat auf die Immerwährende Sonne und nahm sich die Macht–seine Macht. Der Boden unter ihm bewegte sich und sein Blickwinkel mit ihm.

Er war riesig, allumfassend. Die formende Magie, deren Meisterschaft er sein Leben gewidmet hatte, erschien ihm nur mehr wie ein Bruchteil dessen, wozu er fähig war. Wie das Buddeln von Kindern im Sand. Seine Wahrnehmung umfasste ganz Orazca und alles darüber hinaus. Welche Narren waren die Flussherolde doch gewesen, diese Kraft ungenutzt zu lassen!

Die Stadt war verborgen, aber nicht befestigt, und seine Rivalen hatten ihn zweifellos bis zu dem zentralen Turm hin verfolgt. Kumena hatte Orazca viel zu leicht erreicht, und bald würden sie ebenfalls eintreffen. Er spürte, wie sie Ameisen gleich herankrabbelten–zu unbedeutend, um herauszufinden, wer unter ihnen wer war.

Er ballte die Finger kurz zur Faust, und die Stadt trennte sich ruckartig von dem Felsen unter ihr. Der Boden erbebte. Seit Jahrhunderten verborgene Türme wuchsen aus dem Dschungel nach oben, und die kleine Kluft hinter der Stadt wurde breiter und länger, bis sie diese wie ein Graben umgab. Flüsse stürzten sich in die Schlucht hinein. Adern aus Gold, tief unter der Erde, brachen auf und förderten unermessliche Reichtümer ans Tageslicht–nicht, dass Kumena das scherte. Für ihn war es nichts als nutzloses Metall, nur ein Teil all jener grotesken Schätze der Stadt, für die er keinerlei Verwendung hatte.

Die Kreaturen in der Stadt regten sich. Die Ameisen jenseits ihrer Grenzen huschten auf sie zu.

Sie alle hatten sich einen Wettlauf zur Goldenen Stadt geliefert, doch das Rennen war nun vorbei. Jetzt hatte die Schlacht um Orazca begonnen, und Kumena würde nicht zulassen, dass sein Volk vom Antlitz Ixalans getilgt wurde. Im Gegenteil. Ganz im Gegenteil–nun da er das für sich beansprucht hatte, was ihm zustand.

Außerhalb seiner Selbst, um sein eigenes Selbst herum und in goldenes Licht getaucht, begann Kumena zu lachen.

Sein Lachen wurde durch ein Geräusch hinter ihm unterbrochen.

Kumena wandte seine körperliche Gestalt–die, die auf der Immerwährenden Sonne stand–um und sah sich einer Vampirin gegenüber.

Sie grinste, und ihr Kragen war von getrocknetem Blut bedeckt.

Kumena kräuselte die Zehen und verlagerte sein Gewicht. „Sie ist nicht für dich, Vampirin“, warnte er sie. „Eine Konquistador ist mir kaum gewachsen.“

„Wie steht es denn mit zweien?“, fragte sie kokett. „Was meinst du, Mavren Fein?“, rief sie über die Schulter.

„Ich sage, die Schlächterin von Magan tut in den Augen der Kirche recht daran, das zu läutern, was ihr im Weg steht“, erwiderte eine Stimme.

Kumena sah eine zweite Gestalt die Treppe hinaufkommen. Es handelte sich um einen Hierophanten, in lange, fließende Roben gekleidet und mit einem Stab in der Hand, der ihn überragte. Kumena begann, sich zu fürchten.

Die beiden Vampire stürmten auf ihn zu.

Kumena wollte eine Verteidigung heraufbeschwören, wurde jedoch zu Boden gerissen. Die Vampire kratzten und bissen, und eines ihrer Schwerter riss eine lange Wunde in seine Seite. Er versuchte, sich der beiden zu entledigen, doch jedes Mal, wenn er sie wegstieß, schnappten ihre Kiefer nur umso fester zusammen und versuchten, ihn an Ort und Stelle festzuhalten. Mavren Fein und Vona rissen ihn näher zu sich heran und wollten ihre Fänge in seinem Hals versenken.

So werde ich nicht enden. Ich werde ihnen nicht die Genugtuung meines Blutes geben!

Kumena rang und wand sich aus ihrem Griff und blickte zum Fenster.

Über ihm lachte Vona. „Du willst uns nicht bei unserer heiligsten Aufgabe helfen?“

Kumena spie ihr ins Gesicht, und Vonas Grinsen wurde noch breiter.

„Dann wirst du auf andere Weise sterben“, zischte sie.

Mit unnatürlicher Stärke griff sie nach seinem Fleisch, und noch ehe Kumena etwas dagegen hätte unternehmen können, schleuderte sie ihn aus dem Fenster.

Kumenas Augen weiteten sich, und im Fallen sah er Vona über sich mit manischer Bosheit grinsen.


VRASKA

Jace lag voller Schmerzen am Ufer. Sein Haar war von seinem eigenen Blut verkrustet, und seine Augen leuchteten vor lauter unbeherrschter Magie.

Vraska schwamm auf ihn zu, spie dreckiges Wasser aus und blinzelte über die Gischt des Wasserfalls hinweg. Die Felsen am Fuße des Wasserfalls waren gewaltig groß und zerklüftet–es war ein Wunder, dass Jace überhaupt überlebt hatte.

Vraska wusste, dass eine ernsthafte Verletzung zu einem Gedächtnisverlust führen oder das Lösen von Problemen erschweren konnte. Als sie noch jünger gewesen war, hatte einer der anderen Assassinen der Ochran nach einer solch schweren Verwundung mit einem Mal einen ausgewachsenen Jähzorn entwickelt. Jace war ein Telepath und ein Illusionist–sein Gehirn war sein Handwerkszeug. Vraska wusste, dass sie Zeugin dessen wurde, was geschah, wenn dieses Handwerkszeug beschädigt wurde, und das Ergebnis war keine Schwächung im eigentlichen Sinn, sondern eher eine Beeinträchtigung jenes Ventils, das seinen Verstand im Zaum hielt. Er sendete seine Erinnerungen nun in abgehackter Folge in die Welt hinaus und versuchte ganz offenbar, sie wieder unter Kontrolle zu bringen.

Es ist vorbei, dachte Vraska. Er wird sich an alles erinnern: an unseren Streit, an meinen Beruf, an seinen Titel. Er wird mich ganz sicher hassen. Gorgos ist es bestimmt, verachtet zu werden. Vraska fluchte und schwamm auf ihren Freund zu. Trauer breitete sich in ihrer Brust aus.

Gleich hatte sie das Ufer erreicht. Ein stechender Schmerz fuhr ihr durch die Schläfen, und Vraska stöhnte auf. Eine weitere Erinnerung tauchte in ihrem Verstand auf.

Der Eindruck stammte aus einer Welt, die Vraska nie besucht hatte. Da war eine gewaltige Mauer aus weißen Ziegeln vor einem aufgewühlten Himmel. Die rechte Seite eines Tores war von einem seltsamen perlmuttenen Fleck bedeckt, als hätte jemand einen großen Pinselstrich aus Krankheit und Siechtum darüber geführt. Am Eingang gab es einen Durchbruch, und Wasser aus dem Meer strömte in einen zerstörten Hafen, während Teile des zerstörten Tores zum Himmel hinaufschwebten.

Vraska schrie vor Schmerzen auf, als das Bild sich in ihren Verstand grub. Es fühlte sich wie eine um ein Vielfaches verstärkte Migräne an: ein schneidender Schmerz und Blitze von Auren, die drohten, ihr die Muskeln zu lähmen, während sie gegen die Strömung ankämpfte.

Es war weniger eine Illusion als vielmehr eine Immersion. Sie fühlte sich, als wäre sie dort.

Das Bild verschwand, als ihre Füße das Flussbett berührten. Sie schrie Jaces Namen, um ihn abzulenken, doch es hatte keinen Zweck.

Er litt Todesqualen.

Vraska zog sich aus dem Wasser und kraxelte am Ufer auf Jace zu. Sie kniete sich neben ihn und streckte vorsichtig eine helfende Hand nach ihm aus.

Vraska taumelte und musste sich mit den Fäusten auf dem Boden abstützen.

Jace–

–Vraska–

Vraska kniff fest die Augen zusammen. Sie war sich nicht ganz sicher, an welchem Ende des Gesprächs sie sich befand. Es war ungeheuer befremdlich.

Sie blickte mit gerunzelter Stirn zu Jace. „Jace, wir müssen denjenigen finden, der die Stadt erweckt hat. Du musst eine Illusion erschaffen, damit unsere Mannschaft uns finden kann.“

Der Gedankenmagier schloss die Augen, und Vraska sah, was aus seinen Erinnerungen hervorsprudelte.

Das Geräusch des Flusses wich zurück, und die warme Luft des Dschungels wurde kalt.

Sie sah einen dunklen Raum mit Wänden aus Stahl und einen Mann, der halb aus Metall war. Die Luft schmeckte metallisch, und es fiel genug Licht in den Raum, dass sie die Lücken zwischen den metallenen Stellen am Bauch des Mannes erkennen konnte. Jace lag am Boden. Er sah hager und der Welt müde aus und wirkte gerade einmal ein paar Jahre jünger, als er jetzt war.

Der Mann ließ sich auf ein Knie sinken. Mit einer glänzenden Metallfaust griff er nach Jaces Haar.

„Ich werde verdammt noch mal sicherstellen, dass du etwas aus diesem Debakel lernst.“

Vraska sah zu, wie der Mann Jaces Hemd hochzog und mit einer Manaklinge in pfeilgeraden Linien seinen Rücken entlangritzte, um ihm anschließend einen einzigen Schnitt den rechten Unterarm hinunter zuzufügen. Sie zuckte vor schierem Entsetzen zusammen, als Jace aufschrie. Ihr Atem stockte ihr in der Kehle, und ihr Herz schlug so heftig, als wollte es aus dem Käfig in ihrer Brust ausbrechen. Sie wusste, wie es sich anfühlte, gefoltert zu werden. Sie fühlte sich entsetzlich schuldig... Wie hatte sie nicht erkennen können, dass sie den gleichen Schmerz teilten? Mitgefühl erfasste sie, und Vraska ließ einen zitternden Atemstoß entweichen. Der Anblick von Jace und dem Messer brachte eigene Erinnerungen zurück, die sie nicht anzurühren wagte–nicht jetzt. Nicht, wenn ihr Verstand auf diese Weise mit dem seinen vermischt war.

Der echte Jace schnappte nach Luft, und Vraskas Wahrnehmung der Wirklichkeit kehrte flackernd zu dem sonnigen Flussufer auf Ixalan zurück. Er war vornübergebeugt und griff sich in sein eigenes, blutiges Haar.

Vraska hatte keine Ahnung, was sie tun sollte. Sie wollte ihm Trost spenden, doch sie wusste nicht, wie. Daher versuchte sie, auf ihn einzureden, bis er die Beherrschung wiedererlangt hatte.

„Es ist eine Erinnerung, Jace. Es geschieht nicht wirklich. Du bist in Sicherheit. “

Vraska sah helle, schimmernde Lichter und verspürte erneut einen tief in ihren Schädel reichenden Schmerz. Mittlerweise hatte sie verstanden, dass dies eine weitere dieser Immersionen ankündigte, und sie wappnete sich dagegen. Sie wankte, als sich eine weitere Illusion formte. Die Welt zerfloss wie Wasser und wurde zu einer schummrigen Gasse.

Erleichtert seufzte Vraska auf. Ein vertrauter Anblick. Vor ihr lag endlich wieder Ravnica.

Der Jace vor ihr war erbärmlich jung.

Er konnte nicht älter als fünfzehn sein und saß inmitten von Unrat auf einem zerbrochenen Stuhl. Vraska erkannte das Gebiet angesichts der großen Menge an Bäumen und kürzlich zerstörter Gebäude als eines, das unter der Kontrolle der Gruul stand. Feuerschein drang durch eine aufgespannte, zerschlissene Plane, und ein ausgemergelter Gruul-Schamane in der Nähe beschäftigte sich mit einer Verzauberung seiner eigenen Hand. Die Arme des Schamanen waren von der Schulter bis zu den Handgelenken mit Tätowierungen der Straßen der Stadt bedeckt.

Der junge, auf seinem Stuhl sitzende Jace sah aus wie jemand, der liebend gern verschwunden wäre, um seinen Platz an jemanden abzutreten, der imposanter aussah. Seine Kleidung war derangiert, und ihr Schnitt wirkte fremdartig. Vraska spürte im Gewebe dieser Illusion, dass diese Version von Jace erst Tage zuvor Ravnica zum allerersten Mal betreten hatte.

Die Hand des Gruul-Schamanen leuchtete strahlend weiß. „Ist das deine erste?“, knurrte er.

Jace brauchte einen Augenblick, um zu antworten. „Ja“, sagte er scheu.

Vraska konnte bei dieser Erinnerung ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Er war der kümmerlichste Jüngling, den sie je gesehen hatte–kein Wunder, dass er eine Tätowierung wollte. Es war unglaublich entzückend. Sie erinnerte sich an ihre eigenen Jahre als Straßenratte und grinste bei dem Gedanken, wie gut sich ihr junges Ich mit dem jungen Jace verstanden hätte.

Wir hätten die Stadt auf den Kopf gestellt, dachte sie verschmitzt. Kein Buchladen wäre vor uns sicher gewesen.

„Dann nimm einen großen Schluck hiervon“, sagte der Schamane in der Erinnerung und deutete auf eine Flasche zur Linken des jungen Jace. „Das wird so schmerzhaft wie eine Rakdos-Komödie.“

Vraska gluckste, als Jace die Anweisungen des Künstlers befolgte. Er schnitt ob des Geschmacks eine Grimasse (was sie ihm nicht verdenken konnte) und setzte dann eine entschlossene Miene auf.

Der Schamane beugte sich über den Jungen und zog mit einem Finger eine Linie über Jaces Wange, wo er eine strahlend weiße Tätowierung hinterließ. Er fuhr mit Kinn und Arm fort, und Vraska sah zu, wie der Schamane dem Jungen emsig ein mutigeres Gesicht zeichnete.

Sie erhaschte einen Blick auf das Blatt Papier, das er dabei zurate zog. Eine Reihe von Symbolen war hastig darauf gekritzelt worden–Symbole, die sich auf dem Mantel des zukünftigen Jace wiederfinden sollten. Ein lang gezogener, unten offener Ring, in dessen Mitte ein Kreis schwebte. Sie fragte sich, was er wohl bedeutete.

Die Illusion zersprang und verschwand, sodass nur das Rauschen des Wasserfalls und das Schimmern des Goldes der Stadt Orazca zurückblieben.

Vraskas Wahrnehmung war verschwommen, und über allem lag ein künstlich wirkendes Glimmen, als versuchten die zufälligen Illusionen selbst jetzt noch, die Wirklichkeit zu überlagern. Ihre Finger hatten sich in den Uferschlamm gegraben, als wollten sie sich an dem festhalten, was wirklich war.

„Jace, du bist am Leben und in Sicherheit, aber du musst bitte eine Illusion erschaffen, damit unsere Mannschaft uns finden kann.“

Doch Jace war nach wie vor nicht ansprechbar. Seine Augen leuchteten noch immer vor Magie, und seine Gliedmaßen waren so schlaff wie vorher. Vraska sah, wie seine Brust sich mit jedem fiebrigen Atemzug hob und senkte. Er atmete tief ein, als eine weitere Erinnerung über ihn hinwegspülte, und wurde dann durch das, was er sah, vollkommen reglos. Sein Mund stand vor Grauen offen.

Das Licht über ihnen wurde schwächer, als sich eine Illusion dieser neuen Erinnerung formte und die Schwere der Abenddämmerung und den Geruch überreifer Äpfel mit sich brachte.

Vraska fand sich in einem kleinen Schlafzimmer mit kahlen Wänden und zwei Stühlen vor einem Feuer wieder. Sie war sich nicht sicher, auf welcher Welt sie sich befand, doch das spielte auch keine Rolle. Dieser Raum war eine Welt für sich, seine Möbel ihre Kontinente, der Teppich das Meer–ganz so, als würde nichts anderes eine Rolle spielen. Staub haftete auf dem Fensterbrett, und ein halb leerer Obstkorb stand an der Tür und stellte eine Sammlung angeschlagener Äpfel zur Schau. Jace war natürlich hier, und sein Gesicht war von einem behaglichen Feuer erhellt. Diese Erinnerung fühlte sich samtig und einladend an, aber Vraska sah keine Freude in der Szene.

Jace saß vor dem Feuer–gegenüber einer in Violett gekleideten Frau.

Alles an der Körpersprache der Frau drückte Langeweile aus, doch Jace beugte sich aufrichtig interessiert vor. Vraska fühlte sich zutiefst unwohl. Dies war ein intimer Augenblick. Sie sollte das nicht sehen.

„Ich möchte nie wieder Schach spielen“, sagte Jace und rieb sich die Schläfen.

Die Frau bedachte ihn mit offenkundigem Desinteresse. „Schach ist ermüdend“, stimmte sie teilnahmslos zu.

Jaces Mantel hing am Kleiderhaken. Seine Schuhe trockneten am Feuer. Vraska wusste, dass sie nicht zusehen sollte, doch sie wusste auch, dass sie nicht weggehen konnte.

Jaces linker Zeigefinger trommelte einen schnellen, unbewussten Rhythmus auf seinem Oberschenkel. Seine Stimme war vorsichtig. Unsicher. „Was du auf Innistrad gesagt hast... Darüber, wenn ich sterbe ... “

Das lange Haar der Frau fiel über eine Hälfte ihres Gesichts. Ihr Lippenstift war nach einem langen Tag verblasst, und ihr Blick zeigte eine Gleichgültigkeit, von der Vraska hoffte, dass dieser Jace sie bemerken würde.

„Du erinnerst dich an diese Unterhaltung?“

„Es ist nicht leicht, ein solches Gespräch zu vergessen“, sagte Jace. „Du gibst dich nicht mit Empfindungen ab, wenn du es nicht ernst meinst. Also ...  hast du es ernst gemeint?“

„Was?“

Er hielt zögernd inne. „Wirst du traurig sein, wenn ich sterbe?“

Jace blickte die Frau in Violett aufmerksam an. Erwartungsvoll. Vraskas Magen krampfte sich ob der Absonderlichkeit der Frage zusammen. Er hatte sie so gestellt, als sei er sich unsicher, auch wenn die Gesamtheit des Augenblicks um ihn herum nahelegte, dass er und diese Frau mehr als nur Bekannte waren.

Die Frau in Violett blickte Jace mit schweren Lidern in die Augen und beugte elegant die Knie zur Seite weg, als ritte sie in einem Damensattel. „Davon gehe ich aus“, sagte sie. Ein halbes Gefühl. Ein Knochen für das Hündchen. „Was wir hatten–wie auch immer du es nennen möchtest ... –verdient zumindest das.“

Vraska klappte den Mund auf. Das war es? Die grausame Zurückweisung der Frau eines ehrlichen Flehens um Zuneigung verriet Vraska alles, was sie über sie wissen musste. Vraskas Tentakel verknoteten sich vor Unbehagen, doch sie konnte den Blick nicht von diesem armen Mann, dieser Frau und diesem grauenhaften kleinen Zimmer abwenden.

„Ich glaube, das ist das Netteste, was du je zu mir gesagt hast“, meinte Jace.

Die Frau in Violett lachte. Als wäre dies ein Scherz gewesen. Als hätte er es nicht mit einer verzweifelten Sehnsucht nach ihrer Anerkennung gesagt, die ihm unverkennbar ins Gesicht geschrieben stand.

Vraska fühlte sich wie ein Eindringling. Dieses traurige Schauspiel eines grundlegenden Ungleichgewichts hätte sie nie mit ansehen sollen.

„Du solltest zurückgehen. Die anderen werden merken, wenn du heute Nacht nicht nach Hause kommst“, sagte die Frau.

Jace zuckte mit den Schultern. „Die Sonne ist gerade erst untergegangen. Es ist noch Zeit.“

„Oh.“ Die Frau musterte Jace und wägte sichtlich eine Entscheidung ab.

Plötzlich stand sie auf und durchquerte den Raum, um zu ihrem Spiegelschrank zu gehen. Vraska trat neben sie und sah zu, wie sie eine Schublade öffnete. Sie zog eine Flasche heraus und kehrte zur Feuerstelle zurück, wo sie das Gefäß mit einer geschickten Bewegung entkorkte. „Worauf sollen wir trinken?“, fragte sie.

Man schenkt niemandem ein Glas ein, den man verlassen will, dachte Vraska, während ihr flau im Magen wurde.

Jace lächelte. „Trinken wir auf Emrakul“, spöttelte er. „Darauf, dass sie unsere Aufgabe für uns erledigt hat.“

Die Frau hob ihr halbvolles Glas und stieß mit ihm an.

Beide nahmen einen großen Schluck.

Sie füllte ihre Gläser erneut bis zum Rand.

Sie tranken schweigend.

Das Feuer knisterte.

Vraska konnte den Blick nicht von der anderen Frau abwenden. Für jemanden, der Schach verabscheute, schaute sie Jace mit der durchdringenden Kälte einer Großmeisterin an.

Endlich entschied sich die Frau in Violett zu ihrem nächsten Zug und verschleierte ihre Absicht durch einen trägen Schluck aus ihrem Glas. „Hast du seither jemanden von ihnen gesehen?“ Vraska konnte das Gewicht auf dem Wort „seither“ hören. Die Bestimmtheit, das gemeinsame Wissen. „Du hast dich gut mit dieser Frau vom Mondvolk verstanden“, fügte sie hinzu. Bauer nach E4.

Das Spielchen hinter der Aussage weckte in Vraska den Wunsch, sich irgendwie aus diesem Zimmer herausgraben zu können.

Jace ließ die Flüssigkeit in seinem Glas kreisen, und sein Verhalten änderte sich schlagartig. Er warf der Frau in Violett einen Blick zu. „Sie ist verheiratet.“

„Oh, ist sie das?“, meinte die Frau in Violett und schien oberflächlich beruhigt angesichts dieser Enthüllung. Sie wusste sehr genau, wie aggressiv ihr Eröffnungszug gewesen war. Springer nach F3.

Jace nickte. „Sie war eine Gelehrte. Mit zweifelhaften Ansichten. Verheiratet und niemand, der mich interessieren würde, selbst wenn sie es nicht wäre.“

Die Frau in Violett beobachtete ihn genau.

„Und wofür würdest du dich interessieren?“, fragte sie.

Sie will dich nur dazu bringen, zu bleiben!, wollte Vraska schreien. Du bist klug. Sie erwidert deine Gefühle nicht. Fall nicht darauf herein!

Jace lehnte sich in seinem Stuhl zurück und starrte sie über sein Glas hinweg an. Voller Beklommenheit und gänzlich ohne seine übliche Logik entfuhr ihm seine Antwort: „Das hier ist nicht übel.“

Vraska blutete das Herz. Das hier war ziemlich übel, doch er war bereits zu sehr verloren, um den Schleier der Zuneigung zu lüften und die beiläufige Grausamkeit ihrer Absichten zu erkennen.

Das hier sind nur zwei alte Bekannte, die sich nach einem Sieg ausruhen“, erwiderte die Frau. „Und über die guten alten Zeiten plaudern.“

Abwesend zupfte Jace an seinem linken Handschuh. „Nicht alles an diesen Zeiten war gut.“

„Ebenso wenig wie wir“, sagte die Frau mit gefährlich flüsternder Stimme.

Im nächsten Augenblick wandelte sich das Spiel. Das Schachbrett wurde zu Boden gestoßen und die Karten sinnbildlich auf den Tisch gelegt. Sie war eine Spielerin, die mit einem Angebot zu einer weiteren Runde, einem weiteren Wetteinsatz vor seiner Nase herumwedelte–einfach nur so. Kommt, Leute, was ist denn schon dabei?

„Wir sind nicht zusammen“, fügte die Frau in Violett hinzu. „Aber du musst noch nicht gleich gehen.“

Jace blickte hoffnungsvoll von seinem Getränk auf.

Die Frau füllte ihrer beider Gläser erneut und hob das ihre. „Auf neue gute alte Zeiten“, sagte sie.

Zu Vraskas Erleichterung löste sich die Illusion auf, und das Ufer kehrte zurück.

Island
Island | Art by Dimitar

Vraska war übel. Gab es irgendwen in Jaces Leben, der nicht versucht hatte, ihn oder seine Fähigkeiten auszunutzen?

Sie begann, sich Sorgen zu machen. Die Erinnerungen hörten nicht auf, auf sie einzudringen. „Jace, es tut mir so leid.“ Diese letzte hätte ich gar nicht sehen sollen, aber es tut mir so leid, dass diese Frau ... “

Ein fernes Grollen unterbrach sie. Vraska erstarrte, von dem heftigen Lärm in der Ferne alarmiert. Sie stand auf und starrte in die Richtung, aus der er gekommen war. Es war sehr wahrscheinlich ein Dinosaurier, doch von einer Größe, die sie nicht für möglich gehalten hatte.

„Jace ... wir müssen hier weg.“

Jace holte überrascht Luft. Sein Blick war bis auf das Leuchten seiner eigenen Magie noch immer leer. Er stieß ein einzelnes Wort hervor. „Vryn–“

–und ein gewaltiges, kreisrundes Bauwerk sprang in Vraskas Blickfeld.

Dieser Ort besaß genau jene Art von Schönheit, die Vraska zu schätzen wusste. Ein düsterer Grenzposten am Rande der Zivilisation. Sie hatte keinerlei Zweifel, dass dies Jaces Heimatwelt war.

Jace, ich sehe noch immer, was du siehst, aber ich weiß nicht, wie ich dir helfen kann!, dachte Vraska, verzweifelt darauf hoffend, dass Jace sie hören und telepathisch antworten konnte.

Alles, was sie jedoch von ihm spürte, war lediglich eine Woge vollkommener Verzweiflung.

Jace war völlig jenseits von allem. Seine älteren, tiefer vergrabenen Erinnerungen brachen aus seinem Geist hervor wie ein kaum einzudämmender Strom, dessen Verlauf man nur schwer zu folgen vermochte.

Das Gesicht einer Frau. Ihre Haut war rosig und mit Sommersprossen übersät, das kastanienbraune Haar von den müden Augen zurückgestrichen. Sie las ihrem Säugling aus einem Notizbuch vor, während sie in einer winzigen Küche umherging, und erklärte beim Gemüseschälen fürs Abendessen begeistert ein neues Heilverfahren. Ein Stück Schale fiel wie ein Lesezeichen auf die Buchseite.

Die Szene war vom Duft nach Veilchen durchzogen. Die Frau war reizend. Dieser Blick in Jaces Vergangenheit machte Vraska nichts aus–hier war es schön.

Die gleiche Frau tauchte erneut auf. Diesmal zog sie einem Kind ein Schühchen an. Der Kleine quengelte und trat, ehe er plötzlich nach unten griff, um sich mit unbeholfenen Händen die Schnürsenkel zu binden. Die Mutter zuckte zusammen, als hätte sie ihm nie beigebracht, das zu tun.

Die Erinnerungen blitzten nun häufiger auf–immer wieder die gleiche Frau.

Sie zog einen Mantel an.

Sie bürstete sich das Haar.

Sie besserte die Wand aus.

Sie machte Eselsohren in ein Anatomielehrbuch.

Sie suchte nach etwas unter dem Bett ihres Sohnes.

Sie wischte eine Träne fort.

Sie küsste einen blauen Fleck.

Das Wirrwarr an Ereignissen wurde noch chaotischer. Ein Mann, der grob behauptete, dass Gelehrte in die Städte gehörten, nicht hierher, und sei nicht so faul, Junge

der klebrige geifer eines spottenden grobians

eine ganze salve wissenschaftlicher begriffe in sachen telepathie–holmbergs trugschluss und sissokos gesetz und die größeren und kleineren manöver der erinnerungen

die erkenntnis, dass er gezwungen worden war, sein erstes weltenwandeln zu vergessen

und sein zweites

und sein drittes

jahre der ausbildung und der manipulation und des missbrauchs seines geistes jedes mal, wenn er sich erinnerte, was er war

Ein Aufblitzen der Wirklichkeit: Der echte Jace lag am Boden, raufte sich das Haar und presste die Stirn gegen die Erde. Der Akt des Wiedererlebens zehrte an ihm, und Vraska erkannte mit Schrecken, wie oft an seinem Verstand herumgepfuscht worden war. Sie wurde Zeuge, wie er kurz nach seinem dreizehnten Geburtstag seine psychischen Fähigkeiten meisterte (Vraska schauderte–wie hatte er das mit dreizehn überhaupt schaffen können?!). Sie sah seinen Zorn, als er herausfand, was ihm geraubt worden war, und spürte seine Ohnmacht, als er begriff, wie oft man ihn manipuliert hatte.

Und über all dem ragte überlebensgroß, allumfassend und beherrschend ... eine Sphinx auf.

Die Welt um sie herum wurde abrupt nach oben gerissen und zu einem Dach in der Abenddämmerung.

Vraskas Wahrnehmung verzerrte sich erneut, und sie betrachtete die Erinnerung durch Jaces Augen.

Die gleichen großen Ringe wie zuvor erstreckten sich endlos in die Ferne, der Himmel verfärbte sich zu einem zornigen Grau, Regen fiel in schweren Tropfen, und die Sphinx Alhammarret hatte sich vor ihr zum Angriff geduckt. Sie spürte Jaces blaue Flecken unter seinem Wams, nahm trotz der beißenden Kälte den Angstschweiß in seinem Nacken wahr,

fühlte Jaces Wut in ihrer Brust lodern. Sie sah, wie sein Mentor ihn betrogen, manipuliert und ihn anstelle eines Schülers, der bei ihm in die Lehre ging, zu einem Werkzeug gemacht hatte, das er ganz nach Belieben benutzen konnte. Vraska verlor sich in der Erinnerung. Sie spürte, wie sich ihr Mund bewegte, um die Worte eines Jungen zu formen. Ihre Stimme klang männlich, jung, wie gerade nach dem Stimmbruch. „Hilf mir, meine Grenzen zu finden. Entreiße mir doch das Wissen!“

Die Sphinx stelle sich auf die Hinterbeine, und Vraska spürte, wie sie wechselseitig in den Geist des jeweils anderen eintauchten.

Alhammaret schien zu erstarren, und sein Verstand lag so offen vor ihr wie ein Buch. Tief in seinem Hirn befand sich ein ätherisches, komplex aufgebautes Gebilde: ein schier endloser, mit Marmor ausgekleideter Schacht. Vraska war von der Merkwürdigkeit dessen gebannt, wie es sich anfühlte, Magie zu wirken, die so anders war als ihre eigene. Sie und der Jace aus der Vergangenheit spürten beide, wie der merkwürdige Marmor aus dem Schacht in Alhammarets Verstand sich zum Angriff bereit machte. Im Bruchteil eines Augenblicks, einem instinktgeborenen Wimpernschlag, errichtete Jace mit seinem eigenen Geist eine Verteidigung. Seine Macht schoss vor wie eine Faust, dann wie ein Hammer und schließlich wie ein Rammbock, richtete all seine Kraft auf den zerbrechlichen Verstand der Sphinx und zerschlug ihn.

Dieser Treffer gegen Alhammarets Geist war verheerender als jede Explosion, zerstörerischer als jedes Erdbeben, verhängnisvoller als jeder Meteor. Was einst ein Schacht aus verwittertem Marmor war, stürzte nun in einer alle Sinne betäubenden Implosion in sich zusammen.

Doch Jace hatte zu gierig zugeschlagen und seine eigenen Erinnerungen wurden mit in den Sog geistiger Vernichtung gerissen.

Ein langes, dröhnendes Heulen riss Jace und Vraska aus dem Verstand der Sphinx und zurück auf das Dach im strömenden Regen. Der gedrungene Körper der Sphinx war geduckt und ihre Augen vor Verwirrung weit aufgerissen. Alhammaret sog Luft ein, stieß sie wieder aus und begann zu schreien. Es war das über alle Maßen verängstigte Kreischen eines Neugeborenen, ein furchtsames Wehklagen hinaus in eine Welt, die zu groß, zu laut und zu fremd war.

Er schien unfähig, seine Gliedmaßen zu beherrschen, und kreischte noch lauter auf, während seine gewaltigen Schwingen gegen den harten Zement des Dachs hieben. Nach jedem Heulen schnappte er nach mehr Luft, und mit jedem Ausatmen schrie er seinen Schrecken und seine Verwirrung weiter hinaus.

Jace fiel auf die Knie, als seine Erinnerungen sich vor ihm verschlossen, und griff mit beiden Händen nach dem Kopf der schluchzenden Sphinx, um die zerschlagenen Überreste von Alhammarets Verstand zu ertasten und zu versuchen, ihn wieder zusammenzusetzen.

Ich habe das getan, spürte sie Jaces Gedanken. Ich habe das getan.

Die Sphinx hörte nicht auf zu schreien. Sie starrte mit schreckgeweiteten Augen vor sich hin und kreischte immer weiter vor Entsetzen ob ihres eigenen Daseins.

Vraska teilte Jaces Beunruhigung. Alhammaret hatte ihn verdorben, missbraucht und seinen Geist wieder und wieder entzweigerissen, doch das, was die Sphinx nun erleiden musste, war ein Schicksal schlimmer als der Tod. Alhammaret verdiente Strafe, aber niemand verdiente das.

In diesem Augenblick bemerkte Vraska, wie Jace instinktiv versuchte, diese Welt zu verlassen. Jaces eigener, geschundener Verstand war noch immer dabei, sich zu verschließen: Es war wie ein Lauf durch einen Weg voller zerklüfteter Felsen, und je schneller Jace versuchte, von dieser Welt zu fliehen, desto mehr Erinnerungen wurden ihm entrissen, aus seinem Verstand geschabt und getilgt.

Verloren waren die Gesichter seiner Mutter, seiner Familie, seiner Heimat, seiner Vergangenheit.

Alles, was blieb, war das Abbild des Halsbandes der Sphinx, ein lang gezogener, unten offener Ring, in dessen Mitte ein Kreis schwebte. Anhand des Geflechts dieser Erinnerung–der einen Erinnerung, die ihm noch blieb–erkannte Vraska, dass dieses Symbol das Einzige sein würde, was ihm helfen sollte, seinen Namen zu bewahren, aber nichts anderes darüber hinaus.

Vraska spürte, wie etwas sie nach oben riss und sie brutal aus der Erinnerung gestoßen wurde, und die Illusion der Welt raste an ihr vorbei und löste sich auf. So schnell sie in das Trugbild hineingesogen worden war, so schnell stand sie wieder im Sonnenlicht unter den Türmen Orazcas inmitten der Steine und des Schlamms neben dem Wasserfall. Der gegenwärtige Jace–der Jace, den sie kannte, der Illusionist, der Pirat und ihr Gefährte–lag in Trauer verloren am Ufer.

Vraska ließ sich zu Boden fallen und hob ihn in die Arme.

Er weinte die Tränen eines ganzen Lebens.

Sie hielt ihn fest und barg seinen Kopf in ihrer Halsbeuge. Es war das erste Mal seit Jahren, dass sie willentlich jemanden berührt hatte. Das Gefühl war fremdartig und beunruhigend, aber es war zwingend nötig gewesen. Jace schluchzte und schluchzte in ihren Armen, und sie hielt ihn nur noch fester. Er hatte beinahe sein halbes Leben ohne eine Erinnerung an seine Kindheit verbracht. Er hatte so vieles vergessen. Er hatte alles so oft vergessen. Sie hielt ihn für all jene Male fest, in denen sie sich während ihrer Gefangenschaft gewünscht hatte, dass jemand sie in den Arm nahm. Sie hielt ihn für all jene Male fest, in denen sie um Hilfe gebeten und als Antwort nur Schläge bekommen hatte. Sie hatte so viel Zeit ihres Lebens allein und weggesperrt verbracht, dass sie unmöglich jemandem Trost verwehren konnte, der wie sie solch unermesslichen Schmerz erfahren hatte.

Vraska blickte auf und sah eine Illusion ihrer selbst.

Das kiesige Ufer war dem grellen Tageslicht der Sturmwrack-See gewichen. Die Gorgo war zu einer Kapitänin herangereift, und diese Vraska sang aus voller Kehle ein Lied der Golgari, während ihre Mannschaft das Schiff putzte. Alles an diesem Augenblick war hell und glücklich, und Vraska spürte, wie der Jace der Vergangenheit versuchte, die fremde Melodie mitzusingen.

Vraska lächelte, denn auch sie erinnerte sich an diesen Augenblick. Sie erinnerte sich daran, wie überrascht sie gewesen war, dass er eine Melodie so gut halten konnte.

Die illusionäre Vraska verwandelte sich, und Vraskas Hoffnung brach in sich zusammen.

Die Erinnerung an Vraska wurde grausamer, hässlicher, geifernd und wütend. Ihre Tentakel peitschten durch die Luft, und ihr Kleid schien aus Schatten gewoben. Der Grus Ravnicas ragte über ihnen auf, und Vraska sah sich selbst durch Jaces Augen. Es war das erste Mal, dass sie aufeinandergetroffen waren. Die Vraska der Vergangenheit deutete auf Jace, doch Vraska erschien es, als würde ihr früheres Ich geradewegs auf sie zeigen und um eine Verbündete zu bitten, damit sie nicht mit Gewalt antworten musste. Vraska spürte Jaces Furcht, spürte seine Erschütterung und seine Wut. Er wusste nicht, worum sie bitten wollte. Er wusste nicht, warum sie getan hatte, was sie getan hatte. Er wusste es nicht, und als er sie damals angesehen hatte, hatte er sie nur als Mörderin, als Bestie betrachtet.

Vraska war übel. Sie hasste es, sich selbst so zu sehen, als das Ungeheuer, das der Rest der Welt sah, wenn er sie anblickte. Die Gorgo vor ihr war zum Töten bereit, und Vraska schämte sich, sich selbst mit solcher Boshaftigkeit gezeichnet zu sehen. All das war vorbei. Jace erinnerte sich an alles, und sobald er es verstehen würde, würde er sie als nichts anderes als dieses Ungeheuer betrachten, ganz gleich, wie wunderbar die letzten Monate gewesen sein mochten.

Die Erinnerung verblasste, und das Flussufer kehrte zurück.

Vraska ließ ihn los und wich zurück. Jaces krampfhaftes Schluchzen wurde schwächer, als Erschöpfung einzusetzen begann. Die Illusionen verschwanden. Das Leuchten von Magie wurde stärker. Jace nahm die Hände von seinem Kopf und blickte auf die Mischung aus seinem eigenen Blut und dem Schlamm des Flusses, die sie bedeckte.

Vraska wollte ihn eng an sich drücken, bis er wieder bei sich war. Sie wollte an den entferntesten Winkel des Multiversums reisen. Sie wollte ihn festhalten und gleichermaßen verschwinden, und sie erstarrte mitten in der Entscheidung, was wohl die bessere Wahl wäre.

Jace blickte zu ihr auf, und seine Augen waren vor Trauer gerötet.

„Du hast alles gesehen“, sagte er tonlos.

Vraska fühlte sich schrecklich. „Ich habe das gesehen, was du nicht festhalten konntest.“

Peinlich berührt wandte er den Blick ab. „Du bist eine Assassinin“, sagte er, nachdem die Erinnerung Fuß gefasst hatte.

„Und eine Freundin“, sagte sie leise und traurig.

Jaces Aufmerksamkeit war anderswo. Er mochte einen Weg gefunden haben, seine Erinnerungen am Ausbrechen zu hindern, doch er hatte sichtlich Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen. Seine Stimme blieb dumpf. „Emmara. Nissa. Ich habe so wenige Freunde  ... “

Vraska tat das Herz weh. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.

Er schloss die Augen und verzog schmerzerfüllt das Gesicht. Seine Beherrschung war zurück. Der Pfropfen auf der Flasche war wieder festgedrückt, und er schien entschlossen, kein weiteres Gefühl zur Schau zu tragen. Entweder das oder er hatte sich endlich ausgeweint. Vraska spürte, dass es Letzteres sein musste: Er sah aus, als wäre er bis zum Umfallen gerannt. Sie beschloss, dass es das Beste sein würde, auf ihn zu warten. Vraska schälte sich aus ihrem Mantel und wrang das Wasser darin aus. Sie suchte sich nach Prellungen und Verstauchungen ab und wandte dann den Kopf in Richtung der Treppe, die zu der Stadt über ihnen führte. Währenddessen versuchte Jace, sich zu beruhigen. Hin und wieder seufzte er unter der Last einer Erinnerung, doch das Schlimmste schien überstanden.

Zögerlich schüttelte er den Kopf. „Es ist nicht alles wieder da. Es gibt noch Lücken. Ich erinnere mich nicht, wie ich mein Gedächtnis verloren habe oder wie ich hierhergelangt bin.“

„Zerbrich dir nicht den Kopf“, sagte Vraska und bemerkte erst einen Wimperschlag zu spät, wie dumm und profan ihr Rat klang.

Was sollte sie auch zu jemandem sagen, der gerade eben erst so viele belastende Erinnerungen zurückerhalten hatte?

Vraska setzte sich einige Schritte von Jace entfernt hin. Die Sonne war warm, und Vraska spürte bereits, wie sie die Feuchte des Flusses aus ihren Kleidern trocknete. Sie betrachtete seine Tätowierungen und erkannte sie als das, was sie waren. Alhammarets Halsband, das Symbol, an das er seinen Namen geknüpft hatte. Selbst als Jugendlicher war Jace klug genug gewesen, es auf seine Haut aufzubringen, damit er es niemals vergessen würde.

„Es tut mir leid, dass ich versucht habe, dich auf Ravnica zu töten“, sagte sie.

Jace gab ein gequältes Geräusch von sich und schloss die Augen, als eine weitere Woge aus Schmerz über ihn hinwegspülte. „Ich hätte dir zugehört, wenn du mir erklärt hättest, warum.“ Er rutschte unbehaglich hin und her. „Die Leute, die du damals getötet hast, um meine Aufmerksamkeit zu erregen ... “

„Ein Mörder, ein Schänder und ein Menschenhändler. Mit Namen, die wie Welten klangen.“ Sie zuckte die Schultern und schüttelte entschieden den Kopf. „Ich bedauere ihren Tod nicht, aber ich bedauere, geglaubt zu haben, dass sie der einzige Weg waren, dich dazu zu bringen, mich anzuhören.“

„Ich verzeihe dir, dass du versucht hast, mich zu töten“, entgegnete Jace sanft und aufrichtig. „Du hast getan, was du für das Richtige für deine Leute hieltest.“

Keinem von beiden fiel etwas ein, was man danach sonst noch hätte sagen können.

Vraska stand auf und begann, am Ufer entlangzutigern. Zum ersten Mal erhaschte sie einen längeren Blick auf die nun gut sichtbare Stadt Orazca.

Die goldenen Mauern und Türme überragten selbst den höchsten Baum im Dschungel und strahlten im Sonnenlicht. Vraska erkannte Reliefs bedeutender Männer und Frauen an ihren Seiten. In der Mitte der Stadt befand sich ein Turm, der alles andere in den Schatten stellte.

Sie zog den Kompass hervor, und ganz wie erwartet deutete das Licht geradewegs auf diesen Turm.

Von ihrem Aussichtspunkt aus konnte sie eine endlose Treppe erkennen, die sich von der anderen Seite des neu entstandenen Flusses hin zu einem Bogengang wand, der in die Stadt führte.

Sie schaute zurück zu Jace. Er war außergewöhnlich ruhig und blickte in weite Ferne. Er schien wie am Ufer festgewurzelt–so tief verankert, dass kein Wind ihn seiner Trauer entreißen können würde. Vraska musste ihn einfach anstarren. Er war von einem Wunderkind zu einem Spion und dann zu einem Opfer geworden, nur um all dies brutal aus seinem Verstand gerissen zu sehen. Er hatte sich, verloren und voller Furcht, an Leute gewandt, die die Verlorenen und Furchtsamen für ihre Zwecke missbrauchten. Er war gefoltert, ignoriert und manipuliert worden und war trotz all dem.... heil. Er hatte überlebt.

Er war bemerkenswert.

„Ich habe nie eine Version von mir gekannt, deren Erinnerungen vollständig waren“, sagte er und durchbrach so die Stille mit müder Ehrlichkeit. „So viele Leute haben mich dazu gebracht, so vielen anderen Leuten wehzutun. Und manchmal habe ich es ganz aus freien Stücken getan. Es war so einfach.“

Vraska wusste nur zu gut, wie einfach es war.

Sie setzte sich neben ihn.

„Du wurdest verletzt und manipuliert und missbraucht. Du hättest so viele Male sterben sollen, und dennoch tatest du alles, was du tun musstest, und hast überlebt. Das ist wahrlich ein Wunder, das gefeiert werden sollte.Vraskas Miene wurde ernst. „Erinnerst du dich an die letzten drei Monate?“

Jace nickte. Er lächelte schmal. „Das waren die besten drei Monate meines Lebens.“

Vraska wagte nicht zu blinzeln, um den Zauber vollkommener Offenheit zwischen ihnen nicht zu bannen. „Dieser Jace ist einer der anständigsten Menschen, denen ich je begegnet bin.

Sein Blick wurde zu einem Starren und der Ausdruck in seinen Augen zu Unglauben. Er war brillant, mit einem hellwachen und messerscharfen Verstand gesegnet, aber er sah aus, als verstünde er nicht, weshalb dieses Lob irgendwie an ihn gerichtet sein konnte. Als hätte er bereits für sich entschieden, dass er ihrer Anerkennung nicht würdig war.

Vraska ließ Wahrhaftigkeit in ihre Worte fließen, als sie sprach: „Der Jace, den ich kennengelernt habe, hat mir auf eine Weise zugehört wie niemals jemand zuvor. Erkennst du, wie besonders das ist? Niemand hat sich jemals meine Geschichte angehört oder sich auch nur darum geschert, dass ich eine habe.“ Sie konnte einen Anflug von Traurigkeit in seinen Augen sehen, als er leicht und an ihrer Stelle verärgert den Kopf schüttelte. Sie fuhr fort: „Dieser Jace glaubte, dass es jedem gegeben ist, sich selbst neu zu erfinden. Dieser Jace ist noch irgendwo in dir, und ich glaube, dass dieser Jace der Jace ist, der du wirklich bist.“

„Das wäre ich gern“, sagte er.

„Glaubst du nicht, dass du mitentscheiden kannst, was aus dir wird?“

„Das möchte ich gern glauben, aber wie kann ich beschließen, der zu sein, für den du mich hältst, wenn ich daran denke, wie oft ich zugelassen habe, dass jemand mich ausnutzt? Wie vielen Leuten ich wehgetan habe ... “

„Niemand entscheidet sich dazu, ein Opfer zu werden“, unterbrach sie ihn. „Du bist nicht schwach, weil du zugelassen hast, ausgenutzt zu werden. Und die Grausamkeit dessen, wozu andere dich gebracht haben, sagt etwas über die aus, nicht über dich.“

„Ich fühle mich trotzdem wie ein Narr.“

„Ich weiß. Aber das bist du nicht.“

Jace wurde einen Augenblick still und erinnerte sich an etwas, was (dankbarerweise) nicht in Vraskas Verstand hinüberschwappte.

„Meine Mutter–“ Jaces Stimme stockte leicht, und er hielt inne, um Luft zu holen. „Meine Mutter wollte, dass ich in die Stadt ziehe, um ein Gelehrter zu werden.“

Vraska lächelte. Ihre Worte kamen langsam und betont. „Du bist in eine ziemlich gute Stadt gezogen. Und du bist ein ziemlich guter Gelehrter geworden“, sagte sie und tat so, als bemerkte sie nicht, wie er die wahre Flut aus Gefühlen niederkämpfte, die ihre schlichte Bestätigung in ihm ausgelöst hatte.

Jace hielt die Augen geschlossen. „Ich habe mir immer vorgestellt, dass meine Eltern mich hassten. Ich fühlte mich besser, sie vergessen zu haben, wenn ich so tat, als wären sie grausam gewesen. Auf diese Weise glaubte ich nie, dass ich jemanden enttäusche, ganz egal, was ich auch tat.“

Vraska war von seiner Offenheit überwältigt. „Glaubst du denn, dass du sie enttäuscht hast?“

Er wog seine Worte lange ab, ehe er antwortete. Schließlich schaute er Vraska an. „Ich glaube ... ich möchte sie stolz machen.“

Seine Stimme klang zum Ende des Satzes hin hoffnungsvoll, beinahe glücklich. Jener durch und durch ehrliche Mann, der ein Teleskop auseinandernehmen und wieder zusammenbauen, ein Schiff mit der Kraft seines Geistes verhüllen und Rücken an Rücken bei einem Überfall kämpfen konnte und der von Rätseln und Piraterie verzaubert war, war endlich wieder da.

Vraska lächelte. „Dann glaube ich, dass du genau weißt, wer du sein sollst.“

Die goldene Treppe ragte über ihnen auf.

Vraska streckte eine Hand aus, um Jace aufzuhelfen. Sie nickte in Richtung der Treppe, die sich die Steilwand hinauf nach Orazca wand.

Er nahm ihre Hand in die seine, keuchte ob seiner Kopfschmerzen auf und drückte dankbar ihre Hand. Er blickte die Stufen hinauf.

„Vor einem Jahr hätte ich nicht die Kraft gehabt, sie zu erklimmen“, sagte Jace mit einem Anflug von Stolz. „Oder wenn ich sie gehabt hätte, wäre ich wahrscheinlich auf halbem Weg ohnmächtig geworden.“

So sehr warst du nun auch nicht außer Form, als ich dich das letzte Mal gesehen habe“, neckte ihn Vraska.

„Du lässt außer Acht, wie oft ich Illusionen eingesetzt habe, um so auszusehen, als sei ich gut in Form.“

Sie hob die Augenbrauen. „Ernsthaft?“

„O ja“, gab Jace zu. Sein Gesichtsausdruck war unverbrämt, seine Augen noch immer rot vor Gefühlen und seine Mundwinkel vergnügt nach oben gezogen. Unverhohlen menschlich. Er grinste. „Ich war schon immer ein Feigling.“

Er ließ das „Doch jetzt nicht mehr“ unausgesprochen in der Luft hängen, und Vraska erhaschte sein Lächeln, als er sich umwand, um die goldene Treppe nach Orazca hinaufzusteigen–einen entschlossenen Schritt nach dem anderen.


 

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