Augen so mitleidlos und leer
Was bisher geschah: Unter dem silbernen Mond
Auf Innistrad hat ein neues Zeitalter des Wohlstands und des Friedens begonnen. Avacyn – ein mächtiger Engel und die Verkörperung der Hoffnung und des Schutzes für die Menschen allerorten – wurde aus ihrem Kerker befreit und hilft den Bewohnern Innistrads, die finsteren Schrecken zurückzudrängen, die auf ihrer Welt lauern. Die Vampire sind auf dem Rückzug, und der Fluch der Werwölfe wurde durch den sogenannten Fluchverstummer gemildert. Dieses magische Gebot Avacyns stellte die betroffenen Lykanthropen vor die Wahl: Entweder sie wurden zu Wölflingen – den wölfischen Dienern Avacyns – oder sie wurden, wenn auch in weitaus selteneren Fällen, vollständig geheilt.
Die Bewohner Innistrads erblühen und gedeihen unter dem gütigen und wachsamen Auge Avacyns, während sie fleißig daran arbeiten, dass der neue Morgen, der für die Menschheit angebrochen ist, kein Ende findet ...
Die Gebete zehntausender Seelen wuschen wie feiner Nieselregen über Avacyn hinweg. Ein flehendes Raunen aus Hoffnung und Angst. Avacyn, wache über meine Kinder. Avacyn, beschere mir eine reiche Ernte. Avacyn, mach, dass dieser Schmerz aufhört. Avacyn, gewähre mir einen schnellen Tod. Avacyn ...
Sie schwebte in der kalten Luft, die so dünn war, dass ihre Schwingen sie nicht hätten tragen können, wenn nicht auch noch die zusätzlich von ihr zum Einsatz gebrachte Macht gewesen wäre. Sie befand sich an einem ihrer liebsten Rückzugsorte: einem abgelegenen Tal zwischen den höchsten Berggipfeln im Süden Stenzens. Die Kälte war in dieser Höhe allgegenwärtig. Dickes Eis bedeckte beinahe jede Oberfläche und gestattete es keinerlei Leben, hier oben zu bestehen. Avacyn spürte die Kälte nicht. Sie liebte die Abgeschiedenheit und die Reinheit des weiten Raums mit nichts als dem knackenden Eis, dem pfeifenden Wind und dem Flüstern der Gebete als Gesellschaft.
Die Gebete waren immer da, ein beständiges Drängen im Hinterkopf. Gleich nach dem Erwachen waren sie da. Zunächst nur wenige. Leise, zaghaft, suchend. Doch im Lauf der Zeit wurden es immer mehr, und sie wurden immer lauter und flehender. Beschütze uns. Hilf uns. Errette uns.
Hilf mir! Ein aus nackter Angst geborenes Gebet durchbrach das gewohnte Flüstern. Die Stimme einer Frau. Einer gequälten Frau. Avacyn, erhöre mich! Mein Kind! Mein Kind! Bitte! Meine Avacyn! Avacyn richtete ihre Aufmerksamkeit auf das Gebet und auf die Frau, die es zu ihr aussandte, und sie sah ihr Abbild vor sich, wie sie schluchzend über eine große Lichtung rannte. Avacyn schwebte über den Berggipfeln und stieß dann nach Süden in Richtung Gaven hinab. Obgleich sie tausende Gebete von überall auf der Welt hörte, hatte sie kaum Zeit, sich einzeln um sie zu kümmern.
Am Anfang ihres Daseins stand ein Wort: BESCHÜTZE. Selbst jetzt löste allein der bloße Gedanke daran eine Flut an jenen Bildern aus, die die ersten Augenblicke ihres Daseins begleitet hatten. Das Aufblitzen einer in Herbst und Blut gehüllten Welt und der zahlreichen Räuber, die bereit waren, darüber herzufallen. Vampir und Werwolf. Dämon und Zombie. Geist und Teufel. Jeder von ihnen war in Avacyns Bewusstsein, in ihren innersten Wesenskern, als Bedrohung eingebrannt, die es unbedingt zu bekämpfen und auszumerzen galt. Und die Bilder der Sterblichen in all ihren Formen und Größen, menschlich durch ihre Verletzlichkeit und ihre Hingabe. BESCHÜTZE. Und mit der Zeit wuchs Avacyns Verständnis der Welt und wurde immer facettenreicher. BESCHÜTZE SIE. Dies war der Grund für Avacyns Sein.
Mit jedem verstreichenden Jahr hatte sich der Zweck ihres Daseins in kristallener Klarheit weiter offenbart. Es war ihr nicht bestimmt, gegen jedes Ungeheuer zu kämpfen oder jegliches Unheil aufzuhalten. Ein solches Werk wäre unmöglich zu vollbringen gewesen. Stattdessen wurde sie zu einem Leitstern und einer Inspirationsfigur, die den Glauben zahlloser Menschen beflügelte, und dieser Glaube kräftigte jene Talismane und Zauber, die die Menschen als Schutz vor dem Bösen einsetzten. Es gab Gelegenheiten, zu denen Avacyn in den Kampf zog, wenn irgendein besonders hartnäckiges oder mächtiges Übel ihre persönliche Aufmerksamkeit verlangte. Doch es waren stets zu viele Kämpfe zu führen und zu viele Gebete zu erhören, als dass Avacyn sich um jedes Einzelne hätte kümmern können.
Ab und an jedoch erreichte sie ein Gebet, das derart voller inbrünstigem Glauben oder tiefer Verzweiflung war, dass Avacyn den Drang verspürte, Hilfe zu leisten. In den frühen Tagen ihres Daseins war ihr dieser Drang kaum bewusst gewesen. Sie hatte einfach nur gewusst, dass sie höchstselbst in bestimmte Ereignisse eingreifen musste. Mit den Jahrhunderten jedoch hatte sie besser beherrschen gelernt, wann und wo sie sich am besten einbrachte. Die Macht des Gebets dieser Mutter – ihre alles verzehrende Furcht, die zu einem wahren Crescendo der Hilfsbedürftigkeit anschwoll – rührte Avacyn. Die Angst dieser Mutter um ihr Kind war rein und ungetrübt, und eine solche Reinheit verlangte nach Avacyns Handeln.
Avacyn eilte durch die unteren Bergtäler Stenzens und folgte einem unbeirrten Pfad hin zu ihrer Bittstellerin. Die Stärke des Gebets der Frau war wie ein Leuchtfeuer in Avacyns Geist. Bald waren die Berge nicht mehr von Schnee, sondern von Bäumen bedeckt. Sie standen nicht mehr unter der Knechtschaft von endlosem Weiß, sondern zeigten nun eine Mischung aus Grün, Braun und Gelbrot, die das Herannahen der Erntezeit ankündigte. Avacyn neigte nicht zur Rückschau, doch sie kam nicht umhin, Zufriedenheit darüber zu verspüren, was seit ihrer Befreiung aus dem Höllenkerker schon alles geschafft worden war. Die Werwölfe waren fort – manche geheilt, andere in Wölflinge und damit in hilfreiche Verbündete für Avacyn und ihre Engel verwandelt. Die Teufel und Dämonen waren verstreut und machtlos. Und die Vampire befanden sich auf dem Rückzug, was seit Avacyns Erwachen bislang nur selten vorgekommen war. Die Menschen waren von der langen Belagerung durch die Dunkelheit befreit und die Zivilisation blühte auf.
Es war ein neues Zeitalter für die Menschen. Ein neues Zeitalter für die Welt. Und Avacyn würde da sein, um die Welt und die Menschen auch weiterhin zu beschützen, wie sie es schon immer getan hatte. Avacyn lächelte nicht gern – sie hatte nie verstanden, wozu es gut sein sollte –, aber sie vermutete, dass es das war, was die Menschen fühlten, wenn sie lächelten. Eine tiefe und anhaltende Zufriedenheit. Es fühlte sich ... richtig an.
Avacyn bemerkte das schwache Licht der Sonne, die bald hinter dem bewaldeten Horizont versunken sein würde. Die Nacht brach an. Als sie eine karge Lichtung am Rand eines dunklen Waldes erreichte, sah sie eine Frau, die auf einem grasbewachsenen Abhang gleich jenseits der ersten Bäume lag und schluchzend einen Namen hervorstieß. „Maeli! Maeli!“ Die Frau stand auf und ging auf den Wald zu, als Avacyn landete.
„Bittstellerin. Du hast mich gerufen.“ Avacyns Stimme war sanft und beruhigend, doch die Frau wandte sich in jähem Schrecken um, ehe sie begriff, was sie da vor sich sah.
„Avacyn! Du bist gekommen! Du bist gekommen! Mein Kind! Bitte!“ Die Frau redete wirr vor Sorge, und es dauerte eine Weile, bis sie sich beruhigt hatte und Avacyn erzählen konnte, was vorgefallen war. Ihr Kind war von zu Hause weggelaufen und gesehen worden, wie es in den Wald hineinrannte. Die Welt mochte seit Avacyns Rückkehr etwas sicherer geworden sein, doch sie war noch weit davon entfernt, zu einem ungefährlichen Ort zu werden. Insbesondere für Kinder. Die Mutter war gerade im Begriff gewesen, sich selbst auf der Suche nach ihrem Kind in den Wald aufzumachen, obwohl sie ihrer beider Leben damit in Gefahr brachte. Avacyn versicherte ihr, dass sie versuchen würde, das Kind für sie zu finden.
Dies wäre einfach gewesen, wenn das Kind zu Avacyn gebetet hätte. Als sie jedoch nach den Hunderten von Gebeten lauschte, die in ihrem Geist wisperten, hörte sie keines, das von einem Kind stammte, welches sich im Wald verirrt hatte. Doch es gab noch andere Möglichkeiten, das Kind zu finden.
Avacyn flog über den dunklen Wald hinweg, bis sie seine Mitte erreicht hatte. Sie sammelte ihre Macht in ihrem Speer, dessen metallene Spitze hell zu leuchten begann. Heller, immer heller, bis ihr Licht das der sinkenden Sonne überstrahlte. Avacyn bündelte noch mehr Kraft, um den gesamten Himmel über dem Wald zu erleuchten. Sie hörte Vögel krächzen, kleinere Tiere forthuschen und größere Geschöpfe unter dem Blätterdach unter sich losstapfen, um dem Licht zu entfliehen. Avacyn legte Macht in ihre Stimme.
„Maeli! Ich bin es! Avacyn! Rufe nach mir!“ Ihre Stimme hallte donnernd von den Bäumen des Waldes wider. Dann war Avacyn still. Sie horchte nach dem Rufen eines Kindes und hoffte auf alles andere außer Stille und worauf eine solche Stille hindeuten würde.
Kein Laut drang aus dem Blätterdach des Waldes zu ihr – nur ein Gebet. Avacyn, bitte, ich habe mich verlaufen und es tut mir leid und ich bin ganz nass und ich habe gehört, wie ...Avacyn machte den Aufenthaltsort des Kindes aus und ließ sich zu einem Platz im Wald gleiten, der nur ein paar kurze Augenblicke entfernt war. Es war ein kleines Kind, ein Junge, der sich fest gegen einen Baumstamm schmiegte.
Er blickte sie und ihren leuchtenden Speer an. „Avacyn?“
„Komm zu mir, Kind. Du bist nun in Sicherheit. Ich bringe dich nach Hause.“ Avacyns Stimme war nun noch sanfter, so sanft, wie es ihr überhaupt möglich war. Sie hatte sich Kindern gegenüber schon immer am wohlsten gefühlt. Ihre Unschuld und ihr Ernst machten sie leichter zu begreifen. Der Junge näherte sich ihr, denn er überwand sein Zögern, als Avacyn den Speer zur Seite nahm und ihm den anderen Arm entgegenstreckte. Er lief zu ihr. Sie nahm ihn auf den Arm und flog aus dem Wald heraus.
Sie brauchte nicht lange, um die Mutter an den Ausläufern des Waldes zu finden und ihr das Kind zu übergeben. Beide fielen sich schluchzend in die Arme. Avacyn wünschte, dass jeder Augenblick eines jeden Tages so wäre. Familien, die zueinanderfanden. Furcht, die ausgelöscht wurde. Glück, das entstand. Deshalb gab es sie. Zufrieden, dass ihr Werk getan war, machte sie sich zurück auf den Weg zu ihrer Zuflucht in den Bergen. Ein grelles Leuchten erfasste ihren Körper und trübte ihr den Blick.
Alles vor ihr verdoppelte sich. Die Bäume, die Mutter und das Kind, jeder Grashalm verdoppelte sich, um sich dann sofort erneut zu verdoppeln. Ein hämmernder Schmerz fuhr ihr durch den Schädel und sich vor Schmerzen windend fiel sie zu Boden. Ein Feld weißer Blitze zuckte vor ihren Augen auf, gefolgt von einem Bild zahlreicher fliegender, steinerner Obelisken, in deren Seiten verschlungene Runen eingeritzt waren und die sich im Einklang miteinander bewegten ... und dann sah sie wieder die gewohnte Szenerie vor sich. Avacyn blickte sich rasch zu allen Seiten nach dem Ursprung des Angriffs um. Nur wenige Vampire waren je mächtig genug für etwas Derartiges gewesen. Vielleicht ein Dämonenfürst ...
Ein sachtes Brummen tönte ihr in den Ohren. Ein andauerndes, tiefes Summen, dessen Lautstärke sich nie zu verändern schien. Es war einfach nur ... da. Eine atonale Begleitung zu den Gebeten in ihrem Geist. Avacyns Nacken fühlte sich angespannt an, und in unregelmäßigen Abständen schoss ihr ein unwillkürliches Zittern vom Hals in den Kopf hinauf, als wollte es sie vor einem Angriff warnen. Doch es kam keiner. Sie schüttelte den Kopf in der Hoffnung, dass das Summen verstummen würde, doch es hatte sich beharrlich in ihren Gedanken eingenistet.
Die beiden Menschen kauerten noch immer vor ihr und umklammerten einander. Sie schienen von dem, was Avacyn angegriffen hatte, offenbar nicht betroffen. Als Avacyn hinsah, trockneten die Tränen der Mutter und ihre sanften Züge wurden hart vor Zorn. „Wie konntest du einfach so weglaufen? Was hast du dir nur gedacht? Du dummes Kind!“ Grob stieß sie den Jungen von sich. Das Gesicht des kleinen Menschen verzog sich vor Angst, und er begann zu plärren.
Die Saat der Menschen ist verdorben. Avacyn wusste nicht, woher der Gedanke kam. Er war wie ein Gebet, eine Botschaft, die geradewegs in ihr Bewusstsein gesandt worden war, obwohl sie von keinem Sterblichen stammte. Die Saat der Menschen ist verdorben. Avacyn musterte das Kind aufmerksam, und dort, wo sie eben noch Unschuld gesehen hatte, sah sie nun andere Einzelheiten. Die pockennarbige Haut, die schnodderige Nase, den Schorf und die Kruste, die vom Verfall von Gewebe herrührte. Das verheulte Gesicht mit dem verzweifelten Wunsch nach Bestätigung, nachdem man doch etwas Falsches getan hatte.
Sie blickte zurück zur Mutter, deren Zornesfalten sich bereits wieder glätteten, und die versuchte, ihr weinendes Kind zu beruhigen. Diese Sterblichen bewegen sich von Zorn zu Schuld und wieder zurück – und was haben sie davon? Avacyn blickte zu dem unvermindert weinenden Kind. Wie kurz doch das Leben dieser Sterblichen währt. Heute trug dieses Geschöpf die zarte Gestalt eines Kindes. Morgen schon würde es ein Mann sein – schmutzig, grob und voller Wut und Grausamkeit. Und am Tag darauf würde sein Fleisch bereits von Maden wimmeln. Maden, die sich im Staub wanden ...
Avacyn stolperte ungelenk und mit getrübten Gedanken davon. Sie ließ die beiden Menschen unter sich zurück, als sie sich in die Lüfte erhob und mit einem ungewöhnlichen Mangel an Anmut mal hierhin, mal dorthin schwebte. Sie versuchte, Gebete zu hören, doch jedes Wort wurde von dem Summen übertönt. Angesichts dieses ständigen Lärmens vermochte sie die Gebete nicht mehr zu erhaschen. Stattdessen erklangen immer wieder die gleichen Worte, die wie ein Speer in ihre Gedanken getrieben wurden.
Die Saat der Menschen ist verdorben.
Avacyn floh, auf der Suche nach Schutz vor ihrem eigenen Geist. Sie konnte ihn nirgendwo finden.
Macher schritt über den abgeschiedenen Hof im inneren Heiligtum der Kirche. Ein beißendes Unbehagen nagte in ihm. Sonst war ihm der Hof ein Ort stiller Einkehr. Ein grüner, schöner Garten, in den er sich vor den Schrecken und dem Leid der Welt zurückziehen konnte, besonders in den kühlen, dunklen Nächten, wenn kein anderer Priester sich hierher verirrte.
Wenn ein Leid jedoch im Inneren der Seele selbst schmerzte, konnte kein Ort ihm Linderung verschaffen.
Macher hielt unter dem silbernen Zeichen Avacyns inne, das auf einer hohen Eisensäule in der Mitte des Hofes angebracht worden war. Unter dem satten, gelbroten Licht des Erntemondes schienen die scharfen Kanten von Avacyns Zeichen sich jeden Augenblick auflösen und auf den moosigen Boden hinabtropfen zu wollen – eine beeindruckende Illusion aus Mondlicht. Machers Gedanken kreisten häufig um das Wesen von Illusionen. Avacyn ist kein Trugbild, oder?
Macher zweifelte natürlich nicht daran, dass es Avacyn tatsächlich gab. Er hatte sie gesehen. Sie und ihre Engel. Es stand außer Frage, dass Avacyn tatsächlich existierte. Doch ist sie es wert, verehrt zu werden? Ist sie unsere Göttin?
Diesen Gedanken konnte er nicht entfliehen.
Einen Großteil seines Lebens war er ein wahrer Gläubiger gewesen, seit seine Familie ihn noch als Säugling an der Pforte der örtlichen Kirche abgelegt hatte – ein Schicksal, das viele Kinder in diesem Winkel Gavens ereilte. Die Kirche hatte ihn genährt und gekleidet und beschützt und ihn die Gebote Avacyns gelehrt, noch ehe er lesen konnte.
Die Zweifel hatten im letzten Jahr begonnen, als Avacyn auf geheimnisvolle Weise verschwunden war. Es war eine düstere Zeit gewesen, als die Schrecken der Welt auf Gaven eingedrungen waren und es beinahe überrannt hatten. Macher hatte Mikaeus gekannt, den früheren Lunarchen, und jene Nacht, in der er Mikaeus als Zombie gesehen hatte, war die schlimmste seines Lebens gewesen. Doch dann war Avacyn zurückgekehrt, und Gaven war nun so sicher wie eh und je. Sicherer sogar. Warum also erhoben sich nach diesem Triumph solche Zweifel?
Die Gerüchte, wonach Avacyn gefangen genommen und im Höllenkerker eingesperrt worden war – ausgerechnet an jenem Ort, der das Gefängnis so vieler Kreaturen der Finsternis darstellte –, hatten sich wie ein Lauffeuer innerhalb der gesamten Geistlichkeit verbreitet. Die Priester sprachen von Wundern und von Avacyns Macht, die sie aus dem Kerker ausbrechen ließ, um ein neues Zeitalter des Lichts über die Welt zu bringen.
Doch wie konnte man eine Göttin denn überhaupt einsperren?
Unversehens fiel ihm ein Gebet ein und er lächelte reumütig. Avacyn, bitte sei kein Trugbild. Bitte sei echt. Der gelbrote Vollmond leuchtete in der kalten Nachtluft. Avacyns Zeichen war völlig von ihm eingerahmt und schimmerte und tanzte sacht in seinem Licht. Macher verfolgte das Schauspiel wie gelähmt und verlor sich im sanften Schein des Mondes.
Hinter ihm erklang das Geräusch schlagender Flügel.
Macher wirbelte mit offenem Mund herum und sah einen Engel vom Himmel herabsteigen. Stechende weiße Augen, umrahmt von schwarzen glänzenden Schwingen und silberweißem Haar, das im Gelb und Rot des Mondlichts glänzte. Ein langer Speer aus Mondsilber, der weiß mit roten Funken an der Spitze leuchtete, in der Hand. Avacyn. Es war Avacyn selbst, die in den Hof hinabstieg.
Sie landete, legte die Schwingen zusammen und starrte Macher an. Nie zuvor hatte er ihre Augen gesehen. Von elfenbeinernem Weiß waren sie, doch es waren die schwarzen Ränder um die Iris, die seine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Das Schwarz wurde dunkler, um sich auszubreiten wie Seen aus Tinte. Ein wachsendes Chaos, das ...
„Hörst du die Bienen? Hörst du die Rufe?“ Avacyns Worte kamen ihr hastig über die Lippen und brachen den Bann ihrer Augen. Ihr Blick huschte unruhig von einer Seite des Hofes zur anderen.
Macher verstand nicht, wovon sie sprach oder warum sie so verängstigt wirkte. „Avacyn, du bist gekommen! Du bist hier!“, stieß er hervor. Erleichterung übermannte ihn. Er hatte zu Avacyn gebetet, und nun stand sie vor ihm. Er schämte sich seiner Zweifel an der Göttin. Sie ist hier, um mich zurück zum Licht und zur Wahrheit zu führen.
Avacyns Miene veränderte sich. Ihr Blick pendelte nicht länger hin und her, sondern richtete sich stattdessen fest auf Macher. „Du hast gebetet, dass ich kommen würde.“ Ihre Stimme war kalt, brüchig und riss ihn aus seiner Faszination. „Du hast zu mir gebetet. Du hast zu mir gebetet, weil du Zweifel hegtest.“ Nun war da ein Kratzen in ihrer Stimme und ein kurzes Innehalten vor manchen Worten, als würde sie nach etwas horchen – oder auf jemanden. Sie hob den Speer. „Es gibt andere Möglichkeiten, deine Zweifel zu zerstreuen.“ Ihre Lippen verzogen sich zitternd zu einer unbeholfenen Nachahmung eines Lächelns.
Macher zitterte in der Dunkelheit. Er blickte an Avacyn vorbei zum Mond und dessen hellem, gelbrotem Licht und wünschte sich, woanders zu sein.
„Bist du rein?“ Ihre Worte flossen wie Honig.
„Bin ich ... was?“ Macher verstand nicht. Viele Male hatte er sich vorgestellt, wie es wohl wäre, Avacyn zu treffen. Doch niemals war es so gewesen.
„Bist. Du. Rein?“ Jedes Wort war nun so klar und scharf wie eine kristallene Klinge.
„Ja! Ich bin rein!“ Macher war erleichtert. Seine Göttin war zornig auf ihn. Das sollte sie auch sein. Er hatte an ihr gezweifelt. Doch nun waren seine Zweifel verflogen. „Rein in meinem ...“
Ihre Worte übertönten die seinen und ließen ihnen keinen Raum, um gehört zu werden. „Natürlich bist du nicht rein. Wie könntest du auch? Du wurdest geboren.“ Der Zorn in ihrer Stimme, als sie das letzte Wort sprach, war unverkennbar. Sie blickte ihm in die Augen, und erneut sah er die tintige Schwärze aufwallen – eine endlose Schwärze, die ihn zu verschlingen drohte ... Ein Schwindel erfasste ihn. Beinahe wäre er zu Boden gestolpert, und ihre Blicke begegneten einander nicht länger. Die Welt hörte auf zu schwanken. Er richtete sich wieder auf und achtete darauf, sie nicht direkt anzusehen. Göttlichkeit ist nichts, was man anstarren sollte.
„Hast du den Glauben an mich so leichtfertig verloren, Sterblicher?“ Avacyns Lippen verzogen sich auf eine Weise, die bei einem Menschen ein spöttisches Lächeln gewesen wäre.
Macher stotterte, vollkommen unfähig, zusammenhängende Worte zu formen.
Sie schenkte ihm keine Beachtung und fuhr fort. „Die interessantere Frage lautet ...“ Sie hielt inne und blickte zum dunklen Nachthimmel hinauf, als würde der Mond zu ihr sprechen. „Habe ich den Glauben an dich verloren?“ Sie schaute ihm geradewegs in die Augen. Er wollte schreien, doch kein Laut drang ihm aus der Kehle. Ein nasser Strahl floss ihm am Bein herab und bildete eine Pfütze zu seinen Füßen. Schrecken übermannte ihn und er brach auf dem moosigen Boden zusammen, wo er sich mit fest geschlossenen Augen zu einem Ball zusammenrollte.
Selbst durch seine Angst und seine Lider hindurch spürte er ein Leuchten näherkommen. Ein Schauer lief ihm das Rückgrat hinunter, und er schrie. Der Schrei erstarb. Er hörte ein geflüstertes „Bald“, zusammen mit einer federleichten, streichelnden Berührung im Gesicht. Dann erklang das Schlagen von Schwingen und das Leuchten verschwand. Es dauerte lange, bis er die Augen öffnete. Die ganze Nacht lag er zusammengekauert da, eingehüllt in die entsetzliche Gewissheit über das wahre Wesen seiner Göttin.
Liont erwachte dank einer wunderschönen Wintersonne. Ihr zartes Licht strich ihm übers Gesicht und forderte hartnäckig seine Aufmerksamkeit. Üblicherweise hielten sie die Fensterläden geschlossen, um ein solch frühes Erwachen zu verhindern, doch gestern Abend hatte er das vergessen. Einer der hölzernen Läden hing schief. Darum werde ich mich später kümmern müssen.
Er fragte seine Frau, wie sie letzte Nacht geschlafen hatte, doch sie antwortete ihm nicht. Sie war spät aufgeblieben. Es war ungewöhnlich, dass er sich als Erster erhob. Sonst liebkoste ihn Hilde, bis er wach wurde, oder die plappernden Stimmen der Kinder trieben ihn aus dem Bett und in den jungen Morgen hinein. Er stand auf und schüttelte zerwühlte und zerrissene Laken von sich. Er hatte einen ganzen Tag Arbeit vor sich und wollte dringend damit beginnen.
Sein Geschäft florierte: Nie waren Schmiedearbeiten derart gefragt gewesen. Die meiste Zeit des Tages verbrachte er am Amboss oder an der Esse, und bald würde er zweifellos einen zweiten Lehrling anstellen müssen. Seit Avacyns Rückkehr im letzten Jahr war die Nachfrage nach neuen Werkzeugen und Pflügen groß. Und seit dem Fluchverstummer konnte Liont diese Nachfrage auch stillen.
Der Fluchverstummer. Alles hatte sich durch ihn verändert. Ein Segen, der durch Avacyns Zauber entstanden war. Manche Werwölfe waren in Wölflinge – Avacyns wölfische Diener – verwandelt worden. Liont hingegen hatte eine vollständige Heilung erfahren, und so sprach er jeden Tag seine Gebete an Avacyn. Er war wieder bei seiner Familie. Wieder daheim. Er konnte in die Stadt gehen und den Menschen in die Augen sehen – ganz ohne Angst. Es war wundervoll, keine Angst mehr zu haben. Nicht länger Grauen und Sorge und eine schwere Last zu verspüren. Und auch kein beständiges, quälendes Rumoren mehr in den Eingeweiden. Er musste nicht mehr zum Mond hinaufstarren und sich fragen, ob die Nacht eine echte und wahre Dunkelheit mit sich bringen würde. All das hatte sich dank Avacyns gütiger Macht in Licht aufgelöst. Er hatte wieder ein Leben. Ein Leben mit seiner Familie.
Er las seine über den Boden verstreute Kleidung auf und zog sich an. Da muss aber einiges geflickt werden. Ich gebe es Hilde heute Abend. Er ging zu Hilde zurück, um sie zu wecken. Sie war dösig und bewegte sich kaum, und ihre Stimme war schlaftrunken.
„Guten Morgen, Ehegatte.“ Hildes Mund war schmal und klein. Liont hätte ihr gern einen Witz erzählt, um ihr wunderschönes Lächeln zu sehen, doch Hilde hatte morgens nicht den besten Sinn für Humor.
„Ich gehe nach draußen zur Schmiede. Ich muss mit dem Pflug für Nickers anfangen. Die Kinder schlafen noch.“ Hilde antwortete nicht. „Geht es dir gut, Liebes?“ Er sah genauer hin.
Hildes Stimme war noch immer leise und schwach. „Die Blattern blühen draußen."
Liont war froh, dass sie wach war. „Gut, Liebling, gut. Ich bin zur Mittagszeit zurück.“
Ihre Stimme war lauter, kälter. „Liont. Wenn es an der Tür klopft, öffne nicht.“
Liont schauderte es. Wenn es an der Tür klopft ..., doch er schob den Gedanken beiseite. Hilde war bereits wieder eingeschlafen und lag reglos in dem zerwühlten Bett. Sie muss sehr lange aufgeblieben sein.
Er ging zum Bett seiner Kinder und trat dabei auf Splitter aus Holz und Glas, die unter seinen Sohlen knirschten. Hilde wird nicht erfreut sein über diese Unordnung, wenn sie aufwacht. Ich fege das später noch auf.
Als Erstes trat er an die zusammengerollte Gestalt Talias heran. Sie regte sich nicht, und die hellen Augen, in denen sich sonst immer ihre Freude spiegelte, ihn zu sehen, waren geschlossen. Er schüttelte sie sanft, und ihre Augen gingen auf.
„Guten Morgen, Vater.“ Ihre Stimme war teilnahmslos und dumpf. Sie muss so müde sein. Ich werde sie noch schlummern lassen.
„Schlaf weiter, mein Töchterchen.“ Er beugte sich herunter und küsste sie auf die kalte Stirn.
„Vater. Wenn es an der Tür klopft, öffne sie nicht.“ Ihre Stimme wurde kräftiger. Sie klang verängstigt. Als er sich wieder aufrichtete, war sie bereits wieder eingeschlafen.
Liont merkte, dass auch er Angst hatte, aber er verdrängte sie. Es war seltsam, an einem hellen Wintermorgen Angst zu haben, an dem die Sonne so schön kräftig durch die zerbrochenen Fenster und die großen Risse in den Wänden schien. Es ist kalt hier drinnen. Ich werde diese Löcher zunageln müssen.
Er ging leise zur anderen Seite des Bettes, um sich von seinem Sohn zu verabschieden. Kan war ein paar Jahre jünger als Talia und damit im besten Alter, um all die Dinge tun zu wollen, die auch seine Schwester tat, aber so, dass es sie zur Weißglut trieb. An den meisten Tagen rannte er um diese Zeit bereits im Zimmer umher, bis seine Mutter ihm erlaubte, nach draußen zu gehen und im umzäunten Garten zwischen Haus und Schmiede zu spielen. Doch an diesem Morgen lag er nur ruhig und still da.
Als Liont dort stand und seinen schlafenden Sohn betrachtete, flogen die Augen des Jungen auf.
„Guten Morgen, Vater.“ Liont verstand ihn kaum, so schwach war seine Stimme. Liont fragte sich, ob der Junge krank war und ob er einen Heiler brauchte ...
„Vater. Wenn es an der Tür klopft, öffne sie nicht.“ Die Augen des Jungen schlossen sich erneut, und Liont bemerkte, wie still es in diesem Zimmer war – bis auf den schweren Atem eines einzelnen Menschen. Trotz all des Sonnenscheins und des kühlen Winds, der durch die klaffenden Ritzen in den Wänden pfiff, fand Liont es stickig. Da war ein Druck in seinem Kopf, der nicht weichen wollte.
Liont senkte ob des schmerzhaften Dröhnens den Kopf. Der Raum war von einem bitteren, kupfrigen Geruch erfüllt. Er musste raus aus diesem Haus. Drei Stimmen schrien in seinem Kopf auf: „Wenn es an der Tür klopft, öffne nicht.“
Es klopfte an der Tür.
Liont hob den Kopf. Er blickte zur Tür. Nur, dass da keine Tür war. An ihrer Stelle befand sich bloß leere, sonnendurchstrahlte Luft. Wenn es an der Tür klopft, öffne sie nicht. Nicht nur die Tür war verschwunden, auch ihre Angeln waren krumm und verbogen. Ich werde neue Türangeln schmieden müssen. Doch erst muss ich mit Nickers Pflug anfangen, und dann ...
Ein weiteres Klopfen an der Tür. Ein schweres Dröhnen hallte durch den Raum.
Wenn es an der Tür klopft ... Liont blickte erneut zu dem leeren Fleck, wo einst die Tür gewesen war. Irgendetwas stimmte nicht. Warum herrschte solch ein Durcheinander in seinem Haus? Ich habe jetzt keine Zeit, das aufzuräumen. Ich muss zur Schmiede. Es klopfte wieder. Poch. Poch. Poch. Wo kam das nur her? Es gab keine Tür. Schmerz durchzuckte seinen Kopf, so gleißend und grell, dass er ob seiner Heftigkeit zu Boden sank. Als er die Augen fest zusammenpresste, sah er die helle Tür vor seinem inneren Auge. Eine grelle Tür, die rot pulsierte. Er hörte weiteres Klopfen. Ein neuerliches schweres Pochen, und es kam von hinter der roten Tür. Der Tür in seinem Kopf. Er musste sie einfach nur öffnen. Dann würde es aufhören. Alles wäre wieder gut, wenn das Klopfen aufhörte. In seinem Kopf streckte er die Hand aus ... Öffne sie nicht.
Liont griff nach der Türklinke. Sie war aus Metall und klirrend kalt. Er drückte sie herunter, doch sie ließ sich nicht bewegen. Er drückte sie, auch wenn ihm die Hand von der Kälte schmerzte, und er drückte sie erneut mit einem Knurren. Die Klinke bewegte sich.
Liont öffnete die Tür. Die unterdrückte Wirklichkeit brach in sein Sichtfeld ein. Er sah, was hinter der Tür lag.
Nein, nein, nein, nein, nein ... Noch immer auf Knien schwankte er vor und zurück und fasste sich voll Trauer und Zorn mit beiden Händen an den Kopf. Überall war Blut. Auf den Wänden, auf dem Bett, auf dem Fußboden. Seine Hände und sein Körper waren damit bedeckt. Das Blut sickerte durch die zerrissene Kleidung, die er erst vor wenigen Augenblicken angezogen hatte. Er schaute zu Hildes Leichnam, der reglos im Bett lag, und ihrem vor Schreck erstarrten Gesicht.
Wer hatte das getan? Er wusste es. Fieberhafte Bilder stiegen in seinem Bewusstsein auf. Das Knurren, die Schreie, hoch erhobene Klauen im Mondlicht ... Er legte den Kopf in den Nacken und heulte seinen Schmerz der kalten Wintersonne entgegen, jener Sonne, die dem Jagdmond gefolgt war.
Der Fluchverstummer. Was war mit dem Fluchverstummer geschehen? Das, was er getan hatte, hätte nicht möglich sein dürfen. Er war frei von dem Fluch! Frei! Er knurrte ein Gebet in den Himmel. Avacyn! Warum hast du mich verlassen? Avacyn!
Lange Zeit kniete er schluchzend dort. Er wollte sterben. Er wollte seine Familie zurück. Er wollte das Lachen von Talia und Kan hören. Er wollte hören, wie sie stritten. Er wollte, dass es wieder gestern war. Bitte lass es wieder gestern sein. Lass mich einschlafen und gestern aufwachen. Ich werde aufwachen und ich werde fortgehen. Fortgehen und nie mehr zurückkehren. Lass es nur wieder gestern sein. Lass es ... ... Das Dach seines Hauses zerbarst über ihm.
Liont blickte auf und starrte die Gestalt an, die über ihm schwebte, eine Gestalt mit Flügeln und silbernem Haar und einem großen, leuchtenden Speer. Ist das am Ende ... ? Kann sie womöglich gar ... ?
Seine Stimme krächzte vor Schmerz und konnte kaum die Worte formen: „Bitte ... bitte ...“ Der Engel – vielleicht war es Avacyn selbst – antwortete nicht und schien ihn nicht einmal zu hören. Er richtete den Speer auf ihn. Die Spitze begann zu leuchten. Heller, immer heller. Heller als die Sonne über ihm, und eine schneidende Energie traf ihn an der Brust und brannte Kleidung und Haut fort.
Er schrie vor Qual und hieß den Schmerz gleichzeitig willkommen. Das ist es, was ich verdiene. Doch vielleicht konnte der Engel seine Familie retten? Seine Sicht verschwamm. Er musste ...
„Gnade, bitte. Gnade für ...“ Sein Mund versagte ihm den Dienst, seine Lippen bewegten sich nicht mehr und sein Flehen versank in der anschwellenden Dunkelheit in seinem Geist. ... für meine Familie. Für meine wunderbare Familie. Bitte. Sie verdient ...
Erneut richtete der Engel den Speer auf ihn. Die Lippen des göttlichen Wesens krümmten sich nach oben, als es die letzten Worte sprach, die Liont jemals hören sollte.
„Gerechtigkeit! Es gibt keine Gnade.“ Der Speer blitzte auf.
Gnade, dachte Liont. Und dann starb er.
Ein Sturm zieht auf, dachte Sigarda. Blitze zuckten am dunklen Nachthimmel, doch kein Donner war zu hören. Es war ungewöhnlich, einen Sturm mitten im kalten Winter zu erleben, jener Jahreszeit, die vom Jagdmond beherrscht wurde. Die Luft war seit Tagen schwer gewesen und die dunklen Wolken nicht vorübergezogen, und nun waren da Blitze ohne Donner und ein Sturm ohne Regen. Sigarda, die weite Teile des Forsts überblickte, verspürte ein gewisses Unbehagen.
Sie schwebte in ihrem persönlichen Gemach, wo die kahlen Wände und die vier dicken Pfeiler so gar nicht zu dem berauschenden Ausblick auf das grüne Blätterdach des Forsts passen wollten, das da und dort vom Schnee weiß gesprenkelt war. Sigarda konnte meilenweit in jede Richtung sehen und verbrachte hier oft viele Stunden auf der Suche nach stiller Versenkung. Das Gemach befand sich auf der Spitze eines verlassenen Turms in einem Wald in Kessig, ein Turm, den man vor Jahrhunderten erbaut hatte, als die Menschen noch ehrgeiziger gewesen waren.
Nun hatten sie ihren Ehrgeiz wiedergefunden. Avacyns Rückkehr im letzten Jahr hatte ein neues Zeitalter des Friedens und der Ruhe eingeläutet. Die Menschen hatten sich wieder über das Land ausgebreitet und bauten neue Häuser und Höfe und Städte. Doch in den letzten Wochen wusste man überall im Land von Besorgniserregendem zu berichten. Von Aufständen und Vermissten und Gemetzeln. Ein Schatten hatte sich über die Welt gelegt, und Sigarda wollte den Grund dafür erfahren.
Ein Blitz erhellte den dunklen Himmel, und dann noch einer. Zwischen den Blitzen spürte sie, wie ihre Schwestern sich näherten und nur Augenblicke später in ihrem Heiligtum landeten.
Die grazile Bruna, gewandet in eine leichte Rüstung in Blau und Weiß und einen fließenden Seidenumhang mit einem Saum aus roter Spitze. Sie schwang ihren Stab, dessen Spitze bereits vor Macht leuchtete, als wollte sie einen Feind niederstrecken. Die große Sela, gekleidet in das Rot und Weiß ihres Goldnachtsflugs und die Zwillingsklingen bereits gezogen. Sie sind bereit für den Kampf, dachte Sigarda. Dann dachte sie an ihre andere Schwester – jene, die vor tausend Jahren gestorben war – und erschauderte.
„Sei gegrüßt, meine Schwester“, sagte Bruna mit einem ungewöhnlich singenden Unterton.
„Du hast nicht auf unsere Rufe geantwortet“, sagte Sela.
Sigarda hatte es nicht als Herbeirufung verstanden. Ein Engel der Goldnacht hatte vor ein paar Wochen verlangt, dass sie Sela besuchen sollte, doch Sigarda war damit beschäftigt gewesen, den Gemeinden Kessigs beim Wiederaufbau zu helfen.
„Ich war mit der Erfüllung anderer Pflichten befasst, Schwester. Mir war nicht bewusst, dass es sich um eine dringliche Angelegenheit handelt. Wie kann ich euch helfen?“ Sigarda fragte sich, ob ein Angriff auf die Engel stattgefunden hatte. Das hätte erklärt, warum Bruna und Sela derart angespannt wirkten.
„Das ist jetzt nicht mehr wichtig“, sagte Sela.
„Jetzt sind wir hier“, sagte Bruna.
Als die beiden Engel in Sigardas Gemach landeten, hatten sie dicht beieinandergestanden, beinahe Schulter an Schulter. Doch nun verteilten sie sich im Raum, eine zu jeder Seite hin. Und die Art und Weise, wie Bruna ihren Stab und Sela ihre beiden Schwerter hielt, rief Sigarda schmerzlich das Fehlen ihrer Sense ins Gedächtnis, die in einem Zimmer gerade einmal ein Stockwerk tiefer lag. Was geht hier vor?
„Wir sind gekommen, um ...“, hob Bruna an.
„Zu reden. Wir haben dich seit langer Zeit nicht gesehen. Schwester“, brachte Sela die Erklärung zu Ende.
Die beiden Engel kamen von der Seite her weiter auf sie zu, ganz am Rand ihres Sichtfelds. Sigarda konnte nicht glauben, dass ihre Schwestern sie angreifen würden, doch die einzig vernünftige Erklärung für ihr Verhalten war, dass sie sich genau darauf vorbereiteten. Sigarda hatte nie gegen eine ihrer Schwestern gekämpft, doch sie war sich sicher, mit Bruna fertigwerden zu können, solange sie nur an ihre Sense gelangte. Bruna war nicht besonders geschickt im Kampf. Ihre Stärken lagen in anderen Bereichen. Sela andererseits ... Sela würde ein Problem sein.
Weitere Blitze zuckten und ein lautes Donnergrollen ertönte. Als der Donner verklungen war, landete Avacyn in dem Gemach.
Sigarda hatte Avacyn nicht gespürt. Nicht so wie die Ankunft ihrer Schwestern. Sie war nie in der Lage gewesen, Avacyn zu spüren. Avacyn führte sie an, doch sie war keine von ihnen. Das hatte sie vor langer Zeit unter Beweis gestellt. Sigarda konnte Avacyns Macht nicht leugnen oder ihre Fähigkeit, sowohl den Schrecken Innistrads entgegenzutreten als auch die Menschen dazu zu beflügeln, die Schlacht fortzuführen. Aber dennoch vermisste sie ihre Schwester.
Nun befanden sich Bruna und Sela hinter ihr und Avacyn schwebte vor ihr. Groß, größer noch als Sela, mit makelloser Haut wie von Alabaster und atemberaubendem, silberweißem Haar. Ihr Speer aus Mondsilber leuchtete, obgleich Avacyn keine Waffe brauchte, um im Kampf zu bestehen. Würde es zum Kampf kommen, würde Sigarda nicht einfach so klein beigeben, selbst dann nicht, wenn sie gegen Bruna und Sela gleichzeitig anzutreten hatte. Falls Avacyn jedoch gekommen war, um zu kämpfen ...
Falls Avacyn gekommen war, um zu kämpfen, dann war Sigarda tot.
„Sigarda. Das große Werk wird bald verrichtet werden.“ Ein seltsames Surren schwang in Avacyns Stimme mit, beinahe wie ein leises Fauchen oder Summen. Anfangs war ihr Avacyn wie immer vorgekommen, doch nun bemerkte Sigarda einige Auffälligkeiten. Die metallenen Spitzen ihres Speers waren verdreht. Selbst jetzt schien das Metall unter Sigardas Blick zu fließen. Sie fragte sich, welche Art von Macht Avacyn durch ihren Speer lenkte. Noch beunruhigender jedoch waren Avacyns Augen. Sonst waren sie von einem reinen Weiß, doch nun trieben sonderbare schwarze Flecken in ihnen, die undurchdringlich immer wieder das Licht verschlangen.
Die drei Engel hatten ein langes und schwieriges Verhältnis zu Avacyn. Sela, Bruna und Sigarda waren nicht wirklich Schwestern. Nicht so, wie das Wort die Beziehung mancher Menschen zueinander beschrieb. Doch sie stammten aus derselben Essenz und aus derselben Zeit der ersten Dämmerung, und sie kämpften schon seit Langem gemeinsam gegen die Schrecken der Welt. Vor Avacyns Erscheinen – damals vor tausend Jahren – hatte es vier Schwestern gegeben. Eine war der älteste und mächtigste aller Engel gewesen. Bruna. Sela. Sigarda. Und die, deren Namen sie nicht länger aussprachen.
Zunächst hatten sie nicht gewusst, was sie von Avacyn halten sollten. Sie war ein Engel. Einer von ihnen. Und doch wieder nicht. Sie konnten sie nicht spüren, wie sie andere Engel spürten. Sie war kühl, undurchsichtig und zurückhaltend. Sigarda wusste, dass viele Menschen dasselbe von ihr und ihresgleichen dachten: Es gab viele Gründe, weshalb es für Engel schwierig war, enge Bindungen mit Sterblichen einzugehen. Doch untereinander verband sie für gewöhnlich die Freude an einem gemeinsamen Ziel und an jener besonderen Art von Beziehung, die ein Engel nur mit seinesgleichen einzugehen vermochte.
Avacyn hatte keine Verbindung mit den anderen Engeln.
Ihre Macht jedoch war unbestreitbar. Unaufhaltsam, um genau zu sein. Die Schwestern hatten noch nie zuvor einen Engel mit der Macht und dem Selbstvertrauen Avacyns gesehen. Und bei jedem ihrer früheren Zusammentreffen war Avacyns Selbstvertrauen regelrecht betörend gewesen. Stets schien sie sich jeder ihrer Handlungen und jedes ihrer gefassten Pläne voll und ganz sicher zu sein.
Menschen waren nicht die einzigen Geschöpfe, die einen Gott brauchten, an den sie glauben konnten.
Und dann hatte sich Avacyn gegen ihre Schwester gewandt. Es stimmte, dass ihre eigensinnige Schwester ungewöhnliche Handlungen vollzogen und unwillkommene Verbündete gefunden hatte. Manchmal war sie mit Vampiren und Hexen, ja sogar Dämonen und Teufeln gesehen worden. Wir müssen unsere Feinde kennen, wenn wir sie besiegen wollen, pflegte sie zu sagen. Oft misstrauten und verachteten die anderen Engel sie, bisweilen sogar ihre drei Schwestern. Doch das Band zwischen den vieren war eng geknüpft, und obwohl ihre Schwester einen anderen Pfad eingeschlagen hatte, war sie dennoch ihre Schwester gewesen.
Bis ihre Schwester einen Pakt mit einem Dämonenfürsten eingegangen war – eine Tat, die sie alle verdammt hatten. Avacyn hatte sie zur Ketzerin erklärt und damit zur Komplizin ebenjener Ungeheuer, die sie und die anderen Engel geschworen hatten zu besiegen. Die drei Schwestern hatten Avacyn zugestimmt, sich ihr jedoch nicht auf ihrem Kreuzzug gegen ihre dunkle Schwester angeschlossen. Avacyn hatte ihrer Hilfe auch gar nicht bedurft. Vor tausend Jahren hatte Avacyn im Alleingang ihre Schwester und ihre gesamte kleine Schar vernichtet und auch schon die bloße Erwähnung ihres Namens verboten.
Und nun war Avacyn womöglich hier, um Sigarda selbst ein Ende zu bereiten.
„Das große Werk? Damit bin ich nicht vertraut. Erleuchte mich.“ Sigarda verlangsamte ihre Worte und ihren Atem. Sie kämpfte am besten, wenn sie ruhig dabei blieb. Sie konnte Sela und Bruna nicht mehr sehen, doch sie spürte sie hinter sich. Die Luft war schal und schwer, und von irgendwoher drang ein fauliger Geruch zu ihr, den auch der scharfe, frische Duft des dräuenden Sturms nicht zu überdecken vermochte.
„Lange Zeit befand sich die Wahrheit unmittelbar vor uns, aber wir waren blind für sie, Sigarda“, sagte Avacyn. Ob dieses sonderbaren Säuselns schienen sich ihre Worte fast wie eine Schlange zu winden. „Wir kämpfen gegen Ungeheuer. Die Vampire, die Werwölfe, die Zombies und Hexen und Nekromagier und Teufel. Und warum? Weil sie zerstören. Sie plündern und verschlingen. Sie tun dem Land Gewalt an – nur um Chaos zu stiften.“ Avacyn hielt inne und starrte Sigarda an, während ihre Augen ein weiteres Mal schwarz wurden. Sigarda spürte das Zimmer um sich herum schrumpfen, als die Wände näher auf sie zuzurücken schienen.
„Wir bestrafen und töten sie wegen ihrer Untaten. Doch die Untaten der Menschen sind die gleichen.“ Avacyn lächelte, und Sigarda erkannte, dass sie sie in den tausend Jahren, die sie sie kannte, noch niemals zuvor hatte lächeln sehen. Es war kein angenehmes Lächeln. Es war völlig vom Rest ihres Gesichts und ihren Augen losgelöst. Es war, als würde irgendeine unsichtbare Kraft ihre Mundwinkel nach oben ziehen, ohne dass sie selbst Freude oder Glück empfand.
Avacyns Stimme wurde lauter, als sie fortfuhr, und ihre Worte wurden eindringlicher und klarer. Das Säuseln ließ nach. „Sie vermehren sich in ihrem Schmutz, erschaffen neue Diener, um Wälder zu zerstören, verschmutzen das Wasser, lügen und betrügen und morden einander. Was haben sie je Nobles getan? Was haben sie jemals wahrlich Großes erreicht? Wir könnten jedes einzelne sogenannte ‚Ungeheuer‘ auf dieser Welt töten, jeden Vampir, jeden Werwolf, und was würde dann geschehen? Würde dann Frieden herrschen? Würde das Licht dann andauern?“
Avacyn las die Verwirrung und den Abscheu aus Sigardas Miene. Sie lachte. Ein raues Lachen, beinahe keckernd. „Du kennst die Antwort, Sigarda. Du kennst die Wahrheit.“
Und Sigarda kannte die Wahrheit sehr wohl. Die Menschen neigten zu entsetzlichen Taten. Taten voller Bosheit und Nachlässigkeit. Und beides war niederschmetternd. Sie logen und betrogen und mordeten. Doch sie vollbrachten auch Wundervolles. Sie liebten und sie erbauten Dinge. Sie opferten und sie dienten. Es stand ihnen frei, Gutes oder Böses zu tun und Ordnung oder Chaos zu erschaffen, und diese Freiheit machte jede gute Tat so kostbar wie einen schimmernden Diamanten, der in dunkelster Nacht funkelte.
Und außerdem spielte nichts davon eine Rolle. Welche überzeugenden oder spannenden Gründe Avacyn auch immer anführen mochte: Engel verrieten keine Menschen. Es war, als würde Avacyn fordern, dass die Sonne im Westen aufging oder dass die Flut nicht länger steigen oder sinken sollte.
Sigarda antwortete nicht. Sie sah keinen Sinn in einer Antwort. Avacyn war nicht an einer Unterhaltung gelegen. In das Schweigen hinein fuhr Avacyn fort. „Ich verstehe, Sigarda. Es sind grausame Wahrheiten und sehr schwierige. Auch Bruna und Sela haben eine Weile gebraucht, um sie zu begreifen. Doch am Ende sahen sie das Licht.“
Bei der Erwähnung ihrer Namen sprachen die beiden Schwestern.
„Nun glauben wir ...“, sagte die eine.
„Schwester. Das große Werk soll beginnen“, sagte die andere. Sigarda wurde etwas bewusst: Wenn sie ihre Gesichter nicht mehr sehen konnte, vermochte sie nicht zu sagen, welche Stimme zu wem gehörte.
„Wir werden zurückkehren. Bald“, sagte Avacyn. „Wir werden deine Hilfe brauchen. Die Unreinen müssen beseitigt und bestraft werden. Wir werden dem wahren Licht den Weg bereiten. Für uns und andere wie uns, die Frieden schaffen und ihn erhalten können. Stell dir nur vor, Sigarda. Keine Gewalt mehr, kein Krieg, keine Dunkelheit.“
„Ewiges Licht“, sagte eine Stimme hinter ihr. Sie konnte noch immer nicht sagen, wem sie gehörte. Vielleicht hatten auch beide gleichzeitig gesprochen.
Avacyn nahm den Speer hoch und richtete ihn auf das steinerne Dach. Ein Strahl entsprang seiner Spitze und das Dach ... verschwand. Vernichtet durch Avacyns Macht. Nur feiner Staub rieselte zu Boden und bedeckte die Engel mit rußiger Asche.
„Bald“, sagte Avacyn und schwang sich zum dunklen, grauen Himmel auf. „Bald“, sagten Sela und Bruna hinter ihr und taten es ihr gleich.
Sigarda stand in ihrem verwüsteten Gemach und sah zu, wie die Blitze über den dunklen Himmel zuckten. Noch immer fiel kein Regen. Tränen strömten ihr aus den Augen und tropften auf den staubigen Steinboden. Sie dachte an ihre dunkle Schwester, die seit tausend Jahren tot war, und fragte sich, warum sie nicht für sie gekämpft hatte. Sie hatte es nicht einmal versucht.
Der Sturm zieht auf. Sigarda dachte an die Engel in ihrer Schar und fragte sich, wer von ihnen womöglich bereits auf Avacyns Seite stand. Sie dachte über Menschen nach, die sich Avacyn entgegenzustellen vermochten. Von ihnen gab es nur wenige. Sehr wenige. Doch Sigarda wusste, dass es keine Rolle spielte, auch falls kein Einziger sich ihrer Sache anschließen sollte. Der Sturm ist hier. Und dieses Mal werde ich kämpfen.
„Maeli! Maeli!“ Kelses Stimme hallte durch die immer rascher einsetzende Dämmerung. Wo ist dieses Kind? Kelse spähte in Vorgärten und Büsche. Die meisten anderen Dorfbewohner beachteten sie nicht. Er ist doch nicht schon wieder davongelaufen, sagte sie sich und hoffte, dass es zuversichtlich genug klang, um wahr zu sein. Kelse versuchte, nicht an die Zeit vor ein paar Monden zu denken, als er davongelaufen war. Als Avacyn erschienen war, um ihr Kind zu retten.
Die meisten im Dorf glaubten ihr nicht. Sie und Maeli waren im Dorf nie wirklich geachtet gewesen, besonders nicht, nachdem Hanse gestorben war. Nach seinem Tod war sie nur noch die verschrobene Außenseiterin mit einem Wildfang von Kind, das allzu sehr nach seiner Mutter geraten war. Und als sie in jener Nacht ins Dorf zurückgekehrt war, ihren Kleinen fest an sich gedrückt und von einer Begegnung mit Avacyn stammelnd ... Nun, sie selbst hätte es wahrscheinlich ebenso wenig geglaubt.
Doch Avacyn war gekommen und hatte ihr Kind – ihr einziges Kind – gerettet. Maeli war bei Neumond geboren worden und schon immer besonders gewesen – voller Tatendrang und frei. Die Dörfler hatten recht damit, dass Maeli nach ihr kam. Er sah seinem Vater ähnlich, so sehr sogar, dass es Kelse oft Schmerz und Freude zugleich bereitete, doch sein Wesen war das seiner Mutter: rastlos und begierig auf Abenteuer.
Was sie den Dorfbewohnern in jener Nacht nicht erzählt hatte, war, wie wütend sie auf Maeli gewesen war. Natürlich hatte sie sich Sorgen um ihn gemacht. Große Sorgen. Die Angst, ihn zu verlieren, hatte ihrem Gebet zu Avacyn Kraft verliehen. Einem Gebet, das so mächtig gewesen war, dass Avacyn darauf geantwortet hatte. Als Avacyn ihn zurück in ihre Arme gelegt hatte, war nichts als Erleichterung in ihr gewesen, eine alles überwältigende Freude, die sie in Tränen hatte ausbrechen lassen.
Bis die Veränderung über sie gekommen war.
Sie konnte sie weder beschreiben noch erklären. Binnen eines einzigen Augenblicks hatten all ihre Liebe und all ihre Fürsorge sie verlassen, um in einer wachsenden Dunkelheit zu verschwinden, und sie war ganz von Zorn erfüllt gewesen. Wie von einem Blitz, der in ihr Herz eingeschlagen hatte. Und nicht nur Zorn, sondern eine brodelnde Abneigung und Verachtung. Gefühle, die sie Maeli nie zuvor entgegengebracht hatte. Und viel schlimmer noch: Sie hatte diese Gefühle vor Avacyn zur Schau gestellt. Avacyn, die Maeli gerettet hatte. Die sie gerettet hatte.
Doch genau so, wie Avacyn sie auf dieser dunklen Lichtung einfach zurückgelassen hatte, war auch ihr Ärger verraucht. Er war nie wiedergekehrt, und letzten Endes zählte für Kelse nur, dass sie ihr Kind – ihr großes Glück – zurückbekommen hatte. Jetzt muss ich ihn nur wiederfinden.
Auf Pfählen am Rand des Dorfes flackerten Fackeln im kalten Winterwind. Die Schatten wurden länger, als die Dämmerung herabsank. Sie biss sich auf die Lippen und fragte sich, wo sie als Nächstes suchen sollte, als sie ein lautes Rufen hinter sich hörte. Erschrocken drehte sie sich um, doch es war nur Maeli, der mit einem breiten Grinsen im Gesicht auf sie zurannte und glücklich „Mami, Mami!“ quietschte.
Er rannte in ihre Arme und umklammerte sie stürmisch, ebenso wie sie ihn. Du bist alles, was ich auf dieser Welt brauche. Lass die Einheimischen mir misstrauen und mich verachten. Es ist mir gleich. Ich habe dich.
„Wo warst du?“ Sie mühte sich, ihren Ärger darüber, dass sie ihn hatte suchen müssen, nicht zu zeigen. Er erkundete gern die Gegend, und sie wollte auch, dass er das tat. Sie wollte, dass er auf ewig ...
Urplötzlich verloschen die Fackeln. Es lag nicht am Wind. Die kalte Luft war vollkommen ruhig. Maeli umklammerte Kelse, und Kelse legte die Arme um ihren Sohn. Aus dem Dorf ertönte ein Schrei. Dann erhaschte Kelse ein Flackern von oben und sie richtete den Blick zum Himmel.
Über ihnen flogen Engel.
Vor dem Gelbrot und Purpur des sich verdunkelnden Himmels schwebten die Engel hoch über dem Dorf. Alle von ihnen trugen Waffen – Schwerter und Speere und Stäbe –, und viele dieser Waffen erstrahlten in goldenem oder silbernem Licht. Die Sterne steigen vom Himmel herab, dachte Kelse. Sie schaute zu Maeli herunter, der verzückt und mit offenem Mund nach oben starrte.
Dann richtete einer der Engel seinen leuchtenden Speer auf das Dorf. Ein Lichtstrahl löste sich aus der Spitze und traf eines der Häuser. Das Haus war einige Wimpernschläge in helles Licht getaucht, ehe das strohgedeckte Dach in Flammen aufging. Der Engel richtete den Speer auf ein weiteres Haus. Es gab einen weiteren Lichtblitz und ein weiteres Hochschlagen von Flammen. Andere Engel stießen tief hinab und schwangen ihre brennenden Schwerter. Schreie und Rufe hallten durch die Nacht. Maeli schrie in ihren Armen auf, als aus seiner Verzückung Entsetzen wurde.
Kelse vermochte sich nicht zu rühren. Ihr ganzer Körper war wie erstarrt, ihre Beine am Boden festgewachsen. Einen Augenblick lang dachte sie, dass die Engel hier wären, um Vampire oder Werwölfe oder irgendein anderes Übel auszumerzen. Doch dann sah sie vom Rand des Dorfs aus, wie ihre Nachbarn starben, entweder von Schwertern niedergestreckt oder von dem goldenen Licht und den Flammen verschlungen. Sie töten uns. Maeli schrie auf und durchbrach ihre Lähmung.
„Maeli, mein Lieber, hör mir zu. Du musst wegrennen. Schnell und weit weg, tief in den Wald. Komm nicht zurück. Ganz gleich, was auch geschieht: Schaue nicht zurück. Kehre nicht zurück.“ Kelse hörte ihre eigenen Worte, als würde jemand anderes sie sprechen, und sie war erstaunt, wie ruhig sie klang. Weitere Schreie und der Lärm berstender Dächer erklangen aus dem Dorf.
Maeli schluchzte. „Mama! Ich kann nicht ...“
„Maeli!“ Kelses Stimme war scharf und donnernd. „Du wirst mir gehorchen! Lauf! Lauf los! So schnell, wie du noch nie gelaufen bist! In den Wald!“ Sie löste sich aus Maelis Umarmung und stieß ihn von sich. Der Junge sah sie einen Wimpernschlag lang mit Tränen in den Augen an, ehe er sich umdrehte und durch die Dornen und die Hecken davoneilte, die den Rand des Dorfs säumten. Kelse spürte einen scharfen Schmerz in ihrem Herzen. Lauf, mein Kind!
Kelse blickte auf und bemerkte, dass der Engel, der die Zerstörung begonnen hatte, vom Himmel auf sie heruntersah. Auf sie und an ihr vorbei in den Wald. Nein, du wirst ihn nicht bekommen! Sie begann, den Engel anzuschreien und in die Richtung zu rennen, in der er schwebte.
Avacyn, dachte Kelse. Vielleicht waren die Engel von bösen Geistern besessen oder eine bösartige Macht hatte sich als sie verkleidet. Doch was auch immer geschah, Avacyn würde sie retten. Als sie geradewegs unter dem Engel stand, senkte Kelse den Kopf. Avacyn, höre mein Gebet. Hilf mir. Hilf uns jetzt. Bitte, Avacyn. Du hast mein Kind schon einmal gerettet. Bitte rette es erneut. Rette uns alle.
„Du musst deine Lügen nicht in ein Gebet betten, Kreatur. Ich bin doch hier.“ Kelse hörte die Stimme unmittelbar über sich. Sie blickte auf und sah einen ganz in Schwarz gekleideten Engel, dessen Schwingen in tiefes Rot getaucht waren, die Augen dunkel und mitleidlos – nicht wie der liebevolle Blick, den sie vor ein paar Monden erst darin gesehen hatte. Die Stimme war gleichermaßen vertraut und fremd. Irgendein ungewöhnlicher Zungenschlag verunstaltete die Worte.
Es war Avacyn. Avacyn war hier. Avacyn zerstörte ihr Dorf.
Nichts hiervon ergibt irgendeinen Sinn. Einen Augenblick lang glaubte Kelse, dass sie womöglich träumte. Sie bemerkte Avacyns Speer und die langen, krummen Klingen, die an einem Zeichen Avacyns angebracht waren, welches hell und wunderschön erstrahlte. Doch das Zeichen war falsch, verzerrt und verdreht, als wäre das Metall irgendwie verdorben. Das ist nicht möglich. Metall lässt sich nicht auf diese Weise verbiegen. All das ist nur ein schlimmer Traum.
Doch sie wusste, dass dem nicht so war. Die Engel hatten sich gegen sie gewandt. Die Engel töteten sie.
„Warum habt ihr uns verlassen?“, schrie Kelse auf. Sie wusste nicht, ob sie zu Avacyn oder dem teilnahmslosen Nachthimmel sprach, doch keiner von beiden antwortete ihr.
Überall im Dorf erklangen Schreie, um dann plötzlich abzureißen, als die Engel ihren Angriff mit Schwert und Feuer fortsetzten. Die Flammen hinter Kelse stiegen höher. Sie verzehrten ihr Dorf, verzehrten all die Orte ihres Lebens. Avacyn schwebte sanft herab. Ihre blutroten Schwingen bewegten sich nicht, ihre Augen waren schwarz hinter schweren Lidern. „Das große Werk beginnt! Wie passend, dass du hier bist, um Zeugin seiner Pracht zu werden.“ Avacyn stockte und blickte an Kelse vorbei. „Wo ist die kleine Kreatur? Sie sollte doch auch hier irgendwo sein.“
„Er ist fort! Außerhalb deiner Reichweite, du verderbte Kreatur.“ Kelse schluchzte und rang mit dem Rauch und ihrer Trauer um Atem. Lauf, Maeli, lauf. Irgendwo muss es einen sicheren Ort geben. Finde ihn, mein Kind, finde diesen Ort!
„Außerhalb meiner Reichweite?“ Avacyn landete kaum einen Schritt vor Kelse. Kelse hörte von irgendwoher ein lautes Summen und hielt sich schmerzerfüllt die Ohren zu. Avacyn streckte eine Hand aus, berührte Kelses Wange, streichelte ihr das bebende Fleisch. „Alles liegt innerhalb meiner Reichweite. Mein Reich kennt keine Grenzen. Und mein Reich ist verdorben. Verfault. Alles muss geläutert werden. Alles muss rein sein.“
Avacyn hielt inne und zog die Hand zurück. „Es spielt keine Rolle. Ich werde die kleine Kreatur schon finden. Ich werde euch alle finden.“ Sie trat einen Schritt zurück und richtete den Speer auf Kelse. „Alles wird brennen. Alles wird bluten.“ Die Spitze des Speers funkelte in rotem und goldenem Licht.
Kelse schloss die Augen. Mein wunderschönes Kind. Das Licht war hell, so hell ...Mein wunderschönes, wunderschönes ......
Avacyn sah zu, wie die Überreste der Sterblichen verweht wurden und die Asche für einen Augenblick umherwirbelte und in der Luft tanzte, ehe sie zu Boden sank. Chaos zu Ordnung. Verderbnis zu Reinheit. So ist mehr Frieden geschaffen
, flüsterte der Himmel ihr zu. Die Flüsse, die Bäume, das Gras, der Mond. Alles flüsterte die herrliche Wahrheit.
So lange habe ich dem Flüstern der Lügner gelauscht,, und die Welt hat darunter gelitten. Nun lauschte sie nur noch der Wahrheit. Sie wusste, dass es die Wahrheit war, denn jedes Flüstern sprach von der gleichen Sache, ganz anders als die chaotischen, widerstreitenden Gebete, die sie über Jahrhunderte hinweg gehört hatte. Wie konnte ich nicht erkennen, wie wankelmütig diese sterblichen Kreaturen sind? Ständig ändern sich ihre Worte. Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Nun verstand sie.
Sie blickte zum Mond, und der Mond flüsterte so schöne Worte. Alles wird brennen. Alles wird bluten. Avacyn wiederholte die Worte wie eine besänftigende Melodie, die ihre Gedanken mit Freude erfüllte. Alles wird brennen. Alles wird bluten. Sie lachte und lächelte, als ihre Engel das große Werk fortsetzten und das Dorf in Schutt und Asche legten.