Ich bin Avacyn
Was bisher geschah: Geschichten und Enden
Jace und Tamiyo sind einer Spur aus Hinweisen bis zur Kathedrale von Thraben gefolgt, dem Sitz des wahnsinnigen Engels Avacyn. Dort hat Avacyn sie angegriffen, und es ist nun ein erbitterter Kampf zwischen den dreien entbrannt. Bislang ist es Jace nicht gelungen, Avacyns göttliche Macht in Schach zu halten, und Tamiyo ist nicht gewillt, einmal gegebene Versprechen zu brechen, nur um sein Leben zu retten. Avacyn setzt dem Paar heftig zu und wird sie bald beide vernichtet haben.
Die beiden Teufel kauern vor mir, ein Schandfleck am Boden der Kathedrale. Sie schlagen die Augen nieder, denn sie sind meines Anblicks nicht würdig.
Ich weiß, dass sie nicht von dieser Welt sind, doch ich weiß, dass sie bluten. Ich spüre den Herzschlag unter ihren Kehlen, unmittelbar vor der Doppelspitze meines Speers. Nur noch ein sanfter Stoß, und ich demaskiere diese dämonischen Geschöpfe, um sie in ihren verdienten Untergang zu schicken und die Welt von ihrem Übel zu erlösen.
Ich bin Avacyn. Ich existiere, um andere zu schützen.
Der eine der beiden – die Kreatur im blauen Mantel – wendet sich flehend an mich. Wenn er spricht, sehe ich Würmer aus seinem Mund quellen. „Avacyn, du bist nicht du selbst“, keucht er, während er sich mit einer Klaue den Kopf hält. „Du musst das nicht tun.“ Die Worte kriechen in die Schatten davon wie Tausendfüßler.
Mehr noch als mein Speer ist mein Blick meine stärkste Waffe. Meine Augen sehen mehr, als die Menschen je begreifen könnten – mehr noch sogar als die anderen Engel. Ich sehe die himmlischen Boten in den Buntglasfenstern und wie sie sich ehrfürchtig vor mir verneigen. Ich sehe das Mondlicht, das mich auf all meinen Reisen begleitet – selbst hier, im Inneren der Kathedrale – , und die weiß gefiederten Tauben, die von überall dort aufstieben, wo meine Füße den Boden berühren. Doch noch vor allem anderen sehe ich den zuckenden, gallertartigen Schleim hinter den Gesichtern um mich herum. Ich sehe die ungeheuerlichen, verborgenen Lügen, die sich in menschliche Gestalt gehüllt haben.
Es gibt nur mich, der sie ins Licht der Gerechtigkeit zerren könnte.
„Du bist krank oder einem Irrtum aufgesessen“, sagt der andere Teufel, die langen Ohren straff hinter den Kopf gezogen. Seine Augen sind nur leere Höhlen, und dahinter sehe ich nichts als borstiges, schwarzes Haar, das sich träge windet. „Du bist dazu bestimmt, die Leute zu beschützen, und nicht ... hierzu.“
Ich strecke die Hand nach ihr aus und mein Licht stößt die Dämonin zurück. Sie wird gegen eine Wand geschleudert, hustet und die Geräusche, die ihr entfahren, verwandeln sich in strohige, schwarze Borsten.
„Ich bin das Bollwerk gegen fremde Teufel“, sage ich und richte meinen Speer auf sie. Seine Spitze verformt sich zu einem anklagenden Finger. „Ich vernichte sämtliche Verderbtheit, ungeachtet ihrer Herkunft oder Gestalt. Ich habe dich gesehen, wie du durch meine Provinzen geschlichen und in meine Kirche gekrochen bist. Doch nun erst sehe ich dich. Und nun hast du dich mir gegenüber zu verantworten.“
Ich rufe das Licht und es gehorcht. Ein kaltes Flackern formt sich in meiner Hand, und die Schatten meiner Finger fallen auf die erzitternden Dämonen. „Endlich“, sage ich, „werdet ihr nicht länger eure Verderbnis über Innistrad bringen.“
Etwas regt sich auf dem Dach. Ich schaue nach oben und sehe, wie das Oberlicht zersplittert und ein Mann mit den Füßen voran durch es hindurchbricht. Farbige Splitter regnen in die Kathedrale hinab. Das Glas prallt von meiner Haut ab, während die Dämonen ihre Köpfe schützen.
Der Mann landet mit einem Schwert in der Hand auf den Füßen. Er richtet sich auf. Unter seinen Stiefeln knirschen Glassplitter. Er ist unversehrt, sein weißes Haar kaum zerzaust.
Er ist einer der Blutsauger. Einer der alten seiner Art. Ich erkenne ihn. Sein Name liegt mir auf der Zunge.
„Tritt beiseite, Vampir“, sage ich. „Um dich kümmere ich mich als Nächstes.“
Sein Leib versperrt mir jedoch den Weg. Er hat seine Waffen bereits gezückt: ein langes Schwert in der einen und einen Zauber in der anderen Hand.
„Etwas stimmt nicht mit dir, Avacyn“, sagt der Vampir. Sein Mund gleicht einem Egel, die Worte winden sich um einen blutigen Kreis aus Fangzähnen. „Ich bin hier, um dir zu helfen.“
„Versuche nicht, dich zwischen mich und meinen Speer zu stellen, Blutsauger, oder du wirst ihn selbst zu spüren bekommen.“
Mir mag sein Titel nicht mehr einfallen wollen, doch ich sehe ihn. Sein Gesicht wimmelt von Egeln, die unter seiner Haut umherkriechen. Er stinkt nach Blut.
„Avacyn“, sagt er. „Ich möchte, dass du mich hinunter in den Keller begleitest. Du wirst sehen, was ich tun muss, wenn du dich nur einen Augenblick geduldest.“
„Meine Aufgabe duldet keinen Aufschub“, antworte ich. Ich werfe ihm die heilige Magie entgegen und sie trifft ihn mitten in die Brust.
Der Vampir zeigt sich völlig unbeeindruckt.
„Avacyn“, sagt er. „Der Keller. Wir haben etwas zu erledigen.“
„Sorin“, sagt eine der Kreaturen hinter ihm. Ihre leeren Augen sind auf den Vampir gerichtet. „Du kannst ihr helfen, oder?“
„Schweig!“, herrscht er sie an und die Dämonen zucken vor der Macht in seiner Stimme zusammen. Er wendet sich wieder an mich. „Hör mir zu. Wenn du einen Groll gegen diese beiden hier hegst, kannst du sie gerne töten, ehe wir anfangen.“
Die beiden Teufel blicken einander an.
„Doch ich werde dir nicht gestatten, diesen Ort zu verlassen, bevor unsere Aufgabe nicht erfüllt ist.“
Im Gebälk hoch über uns rascheln gefiederte Schwingen. Die Augen etwa eines Dutzends meiner gesegneten Engel sind auf uns gerichtet, blitzend und schön wie die Sterne zur Mitternacht.
Ich stelle fest, dass ich mich etwas frage. Ein Engel ist aus Güte geschaffen – doch schaffen die Taten eines Engels Güte? Ich weiß nicht, warum sich mir diese Frage gerade in diesem Augenblick aufdrängt.
„Ich warne dich, Vampir“, sage ich. „Diese Eindringlinge stellen die schlimmste Bedrohung auf ganz Innistrad dar, aber du bist im Begriff, ihnen in meinen Augen den Rang abzulaufen. Hinfort mit dir, oder ich und die meinen strecken dich nieder.“
Ungehorsam tritt er auf mich zu. Ich überschütte ihn mit heiligem Licht, doch erneut scheint der Zauber ihm nichts anhaben zu können. Er neigt den Kopf. Sein Blick wirkt beinahe besorgt, aber sein egelgleiches Maul zieht sich zusammen, wie um mich zu verspotten. Ich höre Gelächter. Der Hauch eines Zweifels schleicht sich in meinen Geist – nicht, dass ich ihm unterliegen könnte, sondern vielmehr, dass ich im Augenblick des Zauberns gezögert haben könnte. Womöglich hielt ich mich selbst davon ab, ihn niederzustrecken. Ich weiß allerdings nicht, warum dem so gewesen sein sollte.
Ich höre die Schwingen der Engel, die sich im Dachgebälk über mir niedergelassen haben, und ich spüre den Blick aus ihren sternenhellen Augen auf mir. Ich stähle mich in ihrem Licht. Als ich meine Speerspitze auf den Vampir richte, krümmt sie sich zu einer Klinge der Gerechtigkeit.
Der Vampir macht einen weiteren Schritt, sodass seine Brust die Spitze berührt. „Avacyn“, sagt er mit seinem blutigen Mund. „Du kannst mir nichts anhaben.“ Er streckt eine Hand nach mir aus. „Und dafür gibt es einen Grund.“
Die nächsten Worte, die er sagt, hinterlassen Spuren in mir. Es sind nur Geräusche, nur Schwingungen in der Luft. Doch ich spüre sie wie ein Schnitzmesser. Wie das Brandzeichen eines Inquisitors.
„Ich bin dein Schöpfer“. sagt er.
Die Worte fühlen sich alt an, als wären sie irgendwie in mein Innerstes gemeißelt worden und als hätte sich inzwischen Staub in den Rillen angesammelt. Doch nun weht der Staub fort und ich sehe ihn.
Er ist Sorin aus der Blutlinie der Markovs. Ich sehe ihn. Sein Mund ist nicht rund wie der eines Egels – ich weiß nicht, warum ich ihn zuvor so wahrgenommen habe. Seine weißschwarzen Augen und hohen Wangenknochen ähneln den meinen.
Er ist mein Schöpfer. Diese Wahrheit ist mir nun vollkommen klar. Wenn ich ihn sehe, sehe ich mich selbst.
Er ist der Grund, aus dem ich bin. Er war da, als ich erschaffen wurde – der Mann, der sich in jenem Augenblick, in dem mein Dasein begann, über mich beugte. Er war es, der mir meine Aufgabe gab. Meine Erschaffung geschah hier, in den Tiefen ebendieser Kathedrale. Ich weiß nun, dass er mich – Innistrads Gottheit – zu einem bestimmten Zweck gemacht hat.
Ich bin Avacyn. Ich existiere, um andere zu schützen.
Um Bedrohungen für Innistrad auszumerzen. Um die Gebete der Unschuldigen zu erhören und um jene zur Strecke zu bringen, die ihnen ein Leid zufügen wollen. Um jene zu schützen, die sonst von den Schatten dieser Welt verschlungen werden würden.
„Du bist mein Schöpfer“, sage ich.
„Ja.“
„Dann musst du gütig sein“, sage ich.
Das Lächeln meines Schöpfers ist sanft und zeigt nur die leiseste Andeutung eines Fangs.
„Du bist der Ursprung“, sage ich. „Mein Ursprung. Und daher auch der der Güte.“
„Das ist wahr, Avacyn. Und um das höchste Ziel deines Daseins zu erreichen, musst du dich mir anschließen. Komm.“ Er streckt die Hand nach mir aus, doch etwas lässt mich zögern.
Ich blicke auf die beiden Menschen, gegen die ich gerade gekämpft habe. Sie stehen mit dem Rücken zur Wand des Mittelschiffs. Sie sehen noch immer wie Teufel aus, doch zugleich auch wie eine Frau und ein Mann. Magier. Sterbliche.
Ihr Blut ist in meiner Kathedrale vergossen worden. Ich rieche den scharfen Geruch wie von Kupfer auf meiner Klinge. Doch dies ist nur möglich, wenn sie verderbt sind. Was außer Ungeheuern sollten sie denn schon auch sein, wenn ich sie niedergestreckt habe? Ein Engel ist aus Güte geschaffen – schaffen die Taten eines Engels Güte?
Mein Schöpfer schaut mich prüfend an. Seine Augen sind kalt, als sie mein Gesicht mustern. Ich sehe seinen Pulsschlag unter der bleichen Haut seines Halses, die Ader, in der das warme Blut eines anderen fließt.
Ich bin Avacyn. Ich existiere, um andere zu schützen.
Aber
Bilder wirbeln um mich herum.
ich
Brennende Dörfer.
habe
Erschlagene Unschuldige.
niemanden
Eine Mutter, die um ihr Kind weint.
beschützt.
Ich habe diese Brände gelegt. Ich habe diese Unschuldigen getötet. Ich wurde als Verteidigerin, als Beschützerin erschaffen – und habe doch nichts als Zerstörung gebracht. Und ich war nicht nur eine Beschützerin, sondern gleichzeitig auch ein Symbol. Eine ganze Kirche bildete sich um mich herum – doch diese Kirche schürte einen brennenden Hass und meine Macht hat diese Flammen angefacht.
Was bedeutet es, gütig zu sein? Schaffen die Taten eines Engels Güte?
Ich blicke auf meinen Schöpfer und neige den Kopf.
Ich wurde erschaffen, doch ich bin mit einem Makel behaftet. Mein Blick ist getrübt. Ich bin keine Beschützerin, sondern nur eine Gefahr, eine Waffe für all jene, die sie führen wollen, um dieser Welt zu schaden.
„Du“, sage ich.
Ich richte mich vor meinem Schöpfer zu voller Größe auf und breite einmal kurz die Schwingen aus. Mondlicht fällt auf meinen Leib. Meine Haut leuchtet, und ich sehe Tauben, die mich in der Kathedrale umkreisen. Ich weiß nun, was ich zu tun habe.
„Avacyn“, sagt Markov mit tiefer, raubtierhafter Stimme.
„Abkömmling Markovs“, sage ich und hebe den Speer. Die Spitze biegt und windet sich, als wollte sie sich ihm unbedingt in die Brust senken. „Du hast zugelassen, dass dies geschieht.“
„Du solltest vorsichtig sein, wie du mit mir sprichst, mein Kind“, sagt Markov.
„Ich bin nicht dein Kind“, sage ich. „Ich bin deine Schöpfung. Du bist für all das verantwortlich, wozu ich fähig bin. Meine Erschaffung diente nur einem deiner Zwecke, und dieser Zweck war unrein. Sorin Markov, ich verdamme dich als das größte Übel dieser Welt.“
„Du vergisst dich“, presst Markov zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Warte, Sorin“, warnt einer der Teufel. „Tu es nicht. Die Folgen für diese Welt –“
„Wie kannst du das zulassen?“, frage ich. „Warum hast du mich auf diese Weise erschaffen?“ Ich drücke ihm den Speer gegen die Brust und kratze seine Rüstung an.
Markov schnaubt verächtlich. Die Klinge in seiner Hand blitzt im Licht aus dem Dachgebälk. „Avacyn, komm hinunter in den Keller“, sagt er. „Sprechen wir über deine Erschaffung.“
„Du hast mich erschaffen, um sicherzustellen, dass sämtliche Verderbtheit ein Ende findet“, sage ich. „Bereite dich nun auf deines vor.“
Ich stoße mit all meiner göttlichen Macht mit dem Speer zu. Irgendwie jedoch verfehlt die Klinge seine Brust und ich stürze an ihm vorbei. Er schleudert mir schwächende Magie nach, doch ich kann mich rechtzeitig umdrehen, um sie abzuwehren.
Ich schlage nach ihm und leite Licht in den Hieb. Mein Angriff trifft, schlägt jedoch nur Funken auf seiner Rüstung.
Er holt nach mir aus und erwischt mich mit der flachen Seite seiner Klinge. Der Schlag ist dennoch kräftig genug, um mir die Rippen zu prellen.
Ich hebe den Speer mit beiden Händen und richte die tödliche Spitze nach oben. Ich lenke meinen Zorn in die Waffe, die vor göttlicher Macht zu surren beginnt.
„Du wurdest erschaffen, um mir zu gehorchen“, sagt Markov. „Du kannst mir nichts anhaben.“
„So scheint es“, sage ich. „Doch sie können es.“
Er blickt hinauf und sieht die Engel, die ich herbeigerufen habe. Sie stoßen aus dem Dachgebälk herab. Ihm bleibt gerade noch die Zeit, sein Gesicht zu schützen, ehe sie sich auch schon auf ihn stürzen. Ihre schlanken Hände reißen wie Krallen an ihm.
Er wehrt sich, und seine Hiebe sind entsetzlich. Er spießt einen Engel mit seinem Schwert auf und durchtrennt die Schwinge eines anderen. Er schleudert einen Engel so heftig zu Boden, dass der Marmor birst, und einen weiteren durch eine Säule, die dabei zu Staub zerfällt. Einen dritten Engel, der ihm Gesicht und Schulter mit wütenden Klauenattacken überzieht, nimmt er am Hals. Ich leihe dem Engel meine Stärke, doch ich sehe, wie seine Essenz in den Vampir übergeht – als dunkle Flüssigkeit, die in Fäden aus Augen und Mund in ihn hineinströmt. Der Engel krümmt sich krampfartig zusammen und wirkt wie eine in Todesqual erstarrte Krähe.
Der Vampir wendet sich zu mir. Sein Leder ist zerfetzt und sein Brustpanzer zerschrammt. Meine Engel haben ihn geschwächt, aber er ist noch längst nicht besiegt. Er tippt mit der Spitze seines Schwerts auf den Marmor. „Das ändert nicht das Geringste, Avacyn“, sagt er.
Einen nach dem anderen vernichtet er meine Engel. Er stürmt auf einen zu und rammt ihn durch Reihe um Reihe aus steinernen Kirchenbänken. Als der nächste auf ihn herniederfährt, wirbelt er sein Schwert über dem Kopf, bis sich die Klinge dem Engel in die Brust senkt und ihn aufspießt. Mein Geschwister sackt in sich zusammen. Er packt den letzten Angreifer an den Schultern, blickt ihm in die Augen und wirft ihn dann durch ein deckenhohes Buntglasfenster. Die Wand zerspringt in tausend Splitter. Der Engel wirbelt von der Klippe hinab in die Tiefe.
Markov wendet sich erneut mir zu und entblößt knurrend einen seiner Fänge. Ich lege ihm die Klinge meines Speers an den Hals, doch ich spüre, wie sie sich weigert, ihn zu verletzen. Ich drücke stärker, doch sie will ihm nicht in die Haut schneiden.
Ich blicke ihm unverwandt ins Gesicht. Ich rufe mir in Erinnerung, dass er kein vampirischer Adliger, sondern nur ein Schrecken ist. Er ist ein Ungeheuer, ein Blutdämon, ein Egel.
Und ich sehe ihn wiederum neu. Seine Augen werden zu Mündern, umrahmt von Zähnen. Sein Gesicht ist eine durchscheinende Maske. Er ist mein Schöpfer und die Verkörperung des Bösen.
„Avacyn“, setzt er durch seinen Egelschlund an, und ich schlitze ihm mit meinem Speer den Hals auf, tief genug, um auf Knochen zu treffen.
Er brüllt auf, springt zurück und fasst sich an die Kehle. Fauliger Schleim quillt ihm zwischen den Fingern hervor, der sich auf den Steinplatten in einen kränklich grünen Pilz verwandelt.
Er springt auf mich zu, das Schwert auf mein Herz gerichtet. Die Klinge sprüht Funken, als ich sie mit meinem Speer pariere. Ich wirble herum, um nach ihm zu schlagen, doch ich muss seiner Klaue ausweichen und sein Hieb durchtrennt mehrere Sehnen in meiner Schwinge. Als ich aushole, um Licht durch ihn hindurch zu zwingen, trifft es auf einen Schub von Blutmagie, der meinen Zauber zerfasern lässt. Ich kreische und stürze mich auf ihn, durchbreche eine Säule mit seinem Leib und ramme ihn durch Glas und zersplittertes Holz, bis er gegen die Wand der Kathedrale prallt.
Das Ungeheuer neigt den Kopf zur Seite und ich höre Knocken knacken. Seine Halswunde hat bereits zu vernarben begonnen.
Aus den Mündern in seinen Augenhöhlen triefen Worte. „Avacyn. Ich muss das tun.“
„Und ich dies“, sage ich und treibe meinen Speer in den Riss im Brustpanzer des Ungeheuers, so tief, dass die Klinge auf den Granit der Mauer der Kathedrale auf der anderen Seite trifft.
Er brüllt auf, und ich werde nach hinten geworfen. Schlitternd komme ich zum Stehen. Markov umklammert den Griff des Speers und reißt die Klinge heraus. Einen Augenblick lang sehe ich jenes schleimige Tier, das ihm wohl als Herz dient. Sich umeinander windende Neunaugen quellen aus der Wunde. Er lässt den Speer und sein eigenes Schwert fallen, sie prallen krachend gegeneinander. Er greift mit einer Klaue nach seiner Wunde.
„Du bist verloren“, stößt er hervor. „Du kannst mich jetzt nur als Ungeheuer sehen, und nur deshalb kannst du mich verletzen.“
„Du befleckst diese Welt“, sage ich. „Erst jetzt bin ich imstande, das klar zu erkennen.“
Sein Angriff kommt plötzlich, fast schneller als der Klang seiner Worte.
Wir ringen und umklammern unsere Schultern mit den Händen. Wir rammen uns wechselseitig durch Kirchenbänke. Wir tragen einander hinauf ins Dachgebälk, zertrümmern die Träger dort und unser Kampf findet seine Fortsetzung in Wolken aus Staub und Federn. Ich kratze nach seinem geifernden Gesicht. Die Wunder verheilen nicht sofort. Meine Finger finden Fleisch und reißen es in Fetzen. Beißender Rauch sickert aus den Wunden, während große Trümmerstücke der Kathedrale von Thraben tief unter uns auf dem Boden zerschellen.
Er verzieht das Gesicht und krallt sich plötzlich in meine Oberarme. Er hält mich fest, während ich mit den Schwingen schlage, um uns in der Luft zu halten. Seine Muskeln sind stählern, und er biegt mir die Arme hinter den Rücken, wobei er mir eine Schulter ausrenkt. Ich erkenne, dass er sich bislang zurückgehalten hat. Nun zeigt er seine wahre Stärke.
Er beißt mir in den Nacken, und der Schmerz gleicht den Schreien Tausender Unschuldiger, Tausender Hilferufe, Tausender Gebete, die ich nie erhören können werde. Ich spüre, wie mein Blut durch meine Kehle rauscht und aus mir herausgesaugt wird.
Nicht die Schwerkraft oder die Schwäche meiner Schwingen lässt uns fallen. Wir fallen, weil er uns hinabzieht. Seine Kraft zwingt uns mit Wucht vom Dach der Kathedrale zu Boden.
Durch den Boden hindurch.
Als wir aufprallen, liegen wir im Keller der Kathedrale von Thraben, ein gezacktes Loch aus Marmor über uns. Markovs Schwert tanzt am Rand des Lochs und fällt dann zu uns herunter. Es landet mit der Spitze im Stein.
Ich berühre den kalten Boden und taste nach meinem Speer. Ich kann ihn nicht finden. Er muss noch oben sein. Stattdessen berühre ich eine dunkle Form, eine Brandnarbe im Boden. Die Überreste eines mächtigen Zaubers. Sie haben die Form von Flügeln. Engelsflügeln.
Über uns rufen die Teufel Warnungen. Ihr Flehen hallt durch die Kathedrale. Für mich klingt es wie nicht erhörte Gebete.
„Du solltest diesen Ort kennen“, sagt Markov. Er klettert von mir herunter und wischt sich sein Maul voller Fangzähne ab. „Dies ist der Ort, an dem du erschaffen wurdest.“
Ich stehe auf. Die Wunde an meinem Hals blutet, doch ich lasse sie bluten. Irgendwie fühlt sich das an diesem Ort wie eine Heilung an. „Wo du mich zu dem gemacht hast, was ich bin“, sage ich.
„Lass mich dir helfen, mein Kind“, sagt das Ungeheuer. „Ich könnte ... deinen Geist reinigen. Dich erneut zu einem Werkzeug der Tugendhaftigkeit machen. Dich erneuern.“
Niemals. „Wenn ich nicht die Tochter bin, die du willst ...“, sage ich.
Er zuckt zusammen.
„... dann müssen wir einander erneut bekämpfen, wieder und wieder. Auf ewig. Denn ich werde niemals nachgeben. Ich bin nicht das Werkzeug eines Ungeheuers. Von jemandem wie dir lasse ich mich nicht verändern.“
Ich spüre, wie meine Kräfte zurückkehren, hier an diesem heiligen Ort. Man kann mich nicht erschöpfen. In einem Augenblick werde ich bereit sein, ihn ein weiteres Mal niederzustrecken.
„Nein“, sagt Markov. „Dies endet hier. Sofort.“
„Ich weiß, was du tun wirst“, sage ich. „Nur zu. Erschaffe einen weiteren silbernen Kerker. Sperre mich ein. Das ist die einzige Möglichkeit, mich davon abzuhalten, alles in meiner Macht Stehende zu tun, dich zu vernichten.“
„Der Kerker ist nicht mehr“, sagt er. „Ich kann keinen neuen Höllenkerker erschaffen, ebenso wenig, wie ich dich erneut erschaffen könnte.“
Ich sammle meine Kräfte. „Du bist mein Schöpfer. Du musst das Wesen dieser Welt kennen. Was nicht vernichtet werden kann, muss gebunden werden.“
Markov zieht sein Schwert aus dem Steinboden. Seine Worte sind leise. „Aber Avacyn ... Du kannst vernichtet werden.“
Ich kann sein Gesicht nicht sehen, denn er hat sich von mir abgewandt. Ich kann nicht sehen, ob er Ungeheuer oder Mensch ist. Ich sehe nur die Spitze dieses Schwertes. Ich höre nur uralte Worte – Worte eines rückwärts durchgeführten Rituals, Worte von einer entzogenen Gabe. Ich spüre nur, wie meine Knie auf den unbarmherzigen Boden der Kathedrale aufschlagen. Ich rieche nur die Asche von etwas, was in der Nähe schwelt. Ich kann nur den Schatten unter mir am Boden berühren, jene Form, die den allerersten Augenblick meines Daseins kennzeichnet.
Ich kann dir nun, in meinem letzten Gebet an diese Welt, nur sagen, dass ich stets die Unschuldigen vor Schaden bewahren wollte.
Ich bin Avacyn. Ich existiere, um andere zu schützen.
„Was hast du getan?“, wollte Jace wissen.
Rauch stieg von der verbrannten Stelle am Boden auf und kräuselte sich in den hellen Lichtstreifen aus einem der Oberlichter der Kathedrale. Avacyn war nicht mehr. Aus irgendeinem Grund fühlte die Kathedrale sich nun viel zu groß an. Es gab zu viel Raum im Dachgebälk. Alles war zu leer.
Jaces Blick pendelte zwischen dem Ort, an dem eben noch Avacyn existiert hatte, und Sorins Gesicht hin und her. Der Vampir zitterte leicht. Er hatte die Fäuste um sein Schwert geklammert, als versuchte er, ein Erdbeben in seiner Brust zurückzuhalten.
„Ich musste es tun“, flüsterte Sorin.
Jace gestikulierte ungläubig, denn er war völlig unfähig, zu einer Entscheidung darüber zu gelangen, welches der elf Dinge, die an dieser Aussage falsch waren, er zuerst ansprechen wollte. Schließlich wandte er sich zu Tamiyo. „Musste er?“
Tamiyo runzelte nur die Stirn. Sie raffte ihre Roben und ging in die Hocke, um eine behandschuhte Hand nach den Überresten aus Asche auszustrecken. Sie erhob sich wieder und zerrieb die Asche zwischen ihren Fingern. Sie legte die Hand auf ein kleines Fernglas an ihrem Gürtel, wie ein Krieger, der nach einer vertrauten Waffe greift, und hielt den Blick auf Jace gerichtet. „Dies wird ... Folgen haben“, sagte sie.
Jace nickte. „Die Bewohner dieser Welt haben eine Beschützerin verloren.“
Ein lang gezogenes, kehliges Grollen donnerte über den Himmel, tief und dröhnend. Das Geräusch traf Jace wie ein Schlag gegen die Brust und ließ Staub von der Decke rieseln.
Tamiyo blickte ernst. „Die Welt hat ihre Beschützerin verloren“, sagte sie.
Die Welt grollte erneut, dieses Mal unter Jaces Sohlen. Der Boden bäumte sich auf. Die Stöße wurden von Wimpernschlag zu Wimpernschlag stärker. Bodenplatten bebten in ihrem uralten Mörtel. Splitter aus buntem Glas erzitterten und fielen taumelnd aus ihren bleiernen Rahmen, die Avacyns Gesicht zeigten, und der klirrende Klang hallte durch die leeren Gewölbe.
Das Beben wurde schwächer. Der Nachhall verstummte.
Jace sah zu, wie Sorin sein Schwert in die Scheide steckte und sich mit hochgestelltem Kragen und hängenden Schultern abwandte. Der Vampir glitt eine Treppe hinauf. Seine Fingernägel kratzten Rillen in das marmorne Geländer.
Die Stufen waren in der Mitte eingesunken und abgetreten, wie Jace bemerkte. Abnutzung durch Jahrhunderte voller Schritte. Jahrhunderte voller Jünger. Jahrhunderte voll von jenen, die nach Avacyn gesucht hatten.
„Was hast du getan?“, rief Jace ihm nach.
Die Geschichte von Schatten über Innistrad geht am 8. Juni weiter. Bis dahin gibt es in den nächsten zwei Wochen Geschichten aus anderen Winkeln des Multiversums.
Schatten über Innistrad – Storyarchiv
Planeswalker-Profil: Jace Beleren