Was bisher geschah: Emrakul erhebt sich

Dank Nahiris Machenschaften wurde die Eldrazititanin Emrakul auf Innistrad entfesselt. In der Zwischenzeit lotete Liliana in einem Turm des Vess-Anwesens die Macht des Kettenschleiers aus – und die schmerzhaften Nachwirkungen seines Gebrauchs. Nach ihrer Auseinandersetzung mit Jace hat sie erkannt, dass sie sich einzig und allein auf sich selbst verlassen kann, wenn sie sich ihren Dämonen stellen will.


Dünne Drähte aus Metall hingen von den Enden des Kettenschleiers. Liliana Vess konnte in den Verbindungen aus Spektralglas, an denen die Drähte befestigt waren, beinahe ihr Spiegelbild sehen, genau wie in dem Gitternetz der Hexenbann-Kugel auf dem Fenstersims und auch in den leitenden Röhren, die aus dem Fenster hinaus aufs Dach führten. Die Zeichnungen auf ihrem Gesicht waren durch den Schleier gerade eben noch sichtbar. Die Linien auf ihrer Haut passten zum bedrohlichen Licht der Sturmwolken. Blitze zuckten in angemessener Weise.

Zwei Dämonen mussten noch sterben. Liliana musste jedoch gewährleisten, dass sie nicht selbst den Tod fand, sobald es ihr gelang, ihnen gegenüberzutreten. Der Kettenschleier war eine mächtige Waffe, die für ihren Träger allerdings nicht minder tödlich sein konnte. Falls all das hier Erfolg zeigte, würde sie den Schleier gefahrlos einsetzen können. Dann wäre sie nicht auf die Hilfe irgendeines dahergelaufenen Gedankenmagiers angewiesen, der es vorzog, quer durch die Provinzen irgendeinem Geheimnis nachzujagen. Und sie würde das Multiversum ein für alle Mal von jenen Kreaturen befreien können, in deren Schuld sie stand.

„Sind wir bereit?“, fragte Liliana.

Die anderen, die sich mit ihr im Turm aufhielten, waren nicht einmal ansatzweise so schlau wie der Junge im Mantel, doch sie würden genügen müssen. Der Geistermagier Dierk ging mit einem kaum hörbaren Murmeln eine nur in seinem Kopf aufgeführte Liste von Gegenständen durch, während er eine Reihe von Düsen und Klammern an der Kugel ausrichtete. Dierks Gehilfe Gared stand am Fenster. Der Blick aus seinem großen Auge huschte zwischen der Ausrüstung und dem Gewitter draußen hin und her. Gared hatte die Hand auf einen Hebel gelegt, dessen schiere Größe den Ausmaßen ihres Unterfangens durchaus gerecht wurde.

„Die Kollektoren sind ausgerichtet, gnädige Frau“, sagte der Geistermagier. „Und der Sturm erreicht seinen Höhepunkt. Doch ich fühle mich zu der Anmerkung verpflichtet, dass wir eine gewaltige Menge spektraler Energie in das Artefakt ...“

„Du brauchst mich nicht zu warnen“, sagte Liliana.

„... leiten werden, indem wir uns der Urgewalt eines Gewitters bedienen.“

„Richtig.“

„Während Sie es tragen."

„Ich weiß.“

„In Ihrem Gesicht.“

Liliana verdrehte die Augen. „Der Fluss der Geisterenergie durch die Kugel wird daher als eine Art Spektralempfänger fungieren und die Gegenkraft des Objekts vom Subjekt wegleiten, was den Rückschlag in harmlose statische Energie umwandelt, um so sämtliche Nebenwirkungen zu eliminieren und damit die gefahrlose Handhabung des Artefakts sicherzustellen.“

Dierk warf Gared einen Blick zu und tippte sich mit behandschuhten Fingerspitzen gegen den Mund. „Zumindest der Theorie nach.“

„Hör mal, Dierk“, sagte Liliana. „Meine Freundin hat dich empfohlen, weil sie meinte, du würdest etwas von Geistern und Besessenheit verstehen. Ist das nun der Fall oder nicht?“

„Natürlich, gnädige Frau“, sagte Dierk beschwichtigend.

„Also?“

„Also fahren wir fort.“ Dierk rückte sich die Schutzbrille zurecht. „Ich sollte vielleicht hinzufügen, dass dieser Vorgang ... schmerzhaft ... sein wird.“

„Schmerz vergeht“, sagte Liliana und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Die Drähte baumelten von den herabhängenden Enden des Kettenschleiers. „Außerdem würden wir nicht das Geringste erfahren, wenn wir Gared einem Testlauf unterzögen.“

Gared grinste. Sein größeres Auge schloss sich kurz wie das eines Reptils. Dierk nickte ihm zu. Gared legte ruckartig den großen Hebel um.

Bild von Adam Paquette

Die Hexenbann-Kugel summte und Zeiger schlugen aus. Liliana spürte, wie die Glieder des Schleiers die Umrisse ihres Gesichts berührten.

„Er ist aktiviert“, sagte Dierk. „Alles, worauf wir nun noch warten müssen, ist ein ausreichend naher –“

Blitz.

Liliana biss unwillkürlich die Zähne zusammen, als der Schub kam. Sich windende Schlingen aus Energie bildeten sich an den Drähten, die von den Kollektoren auf dem Dach hinunterführten, und die Geister der Toten folgten ihnen unmittelbar nach. Sie fuhren durch die Röhren und füllten die Kugel und das verstärkte Glas mit elektrospektralen Schreien. Ein Funkenregen stob von den Apparaturen auf, doch der Aufbau hielt.

Eine Welle heulender Energie wogte durch den Schleier. Liliana spürte, wie sich sein Gewicht leicht von ihren Wangen hob und seine Glieder sich gegen die Schwerkraft zur Wehr setzten.

Sie warf einen raschen Blick zu den anderen. Dierk hatte es aufgegeben, die Klemmen und Schalter noch feiner justieren zu wollen. Stattdessen drückte er sich mit schützend vors Gesicht gehobenen Armen mit dem Rücken gegen die Wand. Gared streckte einen Finger nach einem umherpeitschenden Bündel Energie aus und schreckte zurück, als er es berührte. Zwischen den beiden sah Liliana, wie sich ihre Zeichnungen leuchtend in der Ausrüstung spiegelten und das eingeritzte Diagramm ihres Dämonenpakts einen schimmernden Widerschein um sie herum bildete.

Diese Augenblicke waren es, in denen Liliana sich am schönsten fühlte: wenn sie kurz davorstand, Gebrauch von einer Macht zu machen, vor der andere sich fürchteten.

Sie klammerte sich an die Sessellehnen und rief die Macht des Schleiers an.

Der Rückschlag trat unmittelbar und mit absoluter Heftigkeit ein. Die Tausenden von Seelen im Schleier erfüllten sie mit Macht, doch mit der Macht kam der Schmerz, und dieser war Gift, das einen blendete. Der Schmerz war untrennbar mit jener Macht verwoben, die der Schleier gewährte. Der Spektralkreislauf hatte nichts vom Rückschlag irgendwohin abgeleitet.

Glaskolben zerplatzten und die Kollektoren brannten aus.

„Ich beende das jetzt!“, sagte Dierk und griff nach dem Hebel.

Nein“, sagte Liliana mit messerscharfer Stimme. Dierk zog die Hand zurück.

Der Raum erbebte. Liliana klammerte sich an den Sessel. Sie versuchte, das Beben einzudämmen. Sie versuchte, den Schrei zu unterdrücken, der sich so verzweifelt Bahn brechen wollte. Sie versuchte, irgendetwas anderes als nur den Schmerz zu sehen. Schmerz vergeht.

Als sie es nicht mehr aushielt, schrie sie auf. Sicherungen brannten durch und der Turm wurde in Dunkelheit getaucht. Das spektrale Heulen verklang und Liliana hörte nur noch ihren erschöpften Atem.

Gared riss ein Streichholz an und entzündete eine Laterne. Das Laboratorium war verwüstet, die Ausrüstung zerstört. Regen trommelte auf den Fenstersims.

Liliana löste den Kettenschleier und streifte ihn ab. Blut rann aus ihren Zeichnungen.

„Ich habe auf die Risiken hingewiesen, gnädige Frau“, sagte Dierk.

Sie funkelte ihn an und stellte sich vor, wie die Haut des Geistermagiers verdorrte und seine Knochen ein grausiges „Es tut mir leid“ formten. Ungeachtet dessen nickte sie in Richtung der Tür. „Du findest sicher selbst hinaus. Bringe die Kugel ihrer Besitzerin zurück.“ Dumpfes Donnergrollen unterstrich ihre Worte.

Dierk stopfte in aller Eile die verbrauchte Hexenbann-Kugel und ein paar andere Gegenstände in seine Tasche und verließ den Raum. Das Echo seiner Schritte verklang auf der Wendeltreppe. Gared stieß vorsichtig einen Haufen Glassplitter mit den Füßen weg, rührte sich jedoch nicht von der Stelle.

Liliana verstaute den Kettenschleier in einer Rocktasche. Die Klügsten der Klügsten Innistrads waren ihr keine Hilfe gewesen. Bücher und Grimoires mit spektralen Heilmitteln hatten sie kein Stück vorangebracht. Nicht einmal Olivias bevorzugtem Geisterexperten war es gelungen, den Kettenschleier zu zähmen.

Liliana betrachtete durch das Fenster den Sturm, der über Stenzen tobte, während sie die Worte auf ihrer Haut mit einem Taschentuch abtupfte. In der Düsternis leuchtete Thraben in der Ferne wie eine Kerze.

Sie verabscheute es, auf andere angewiesen zu sein.

Doch es war ja nicht so, dass sie den Jungen im Mantel brauchte, sagte sie sich. Es war vielmehr so, dass sie jemanden brauchte, von dem sie gebrauchtwurde, damit sie den einen oder anderen warmen Körper hatte, der zwischen ihr und ein paar selbstgefälligen Dämonenfürsten stand.

Wäre er ihr doch nur irgendwie etwas schuldig gewesen.

Der Schrei eines Mannes erklang von unten. Ein knurrendes Handgemenge und ein Krachen folgten.

Liliana warf ihr blutbeflecktes Taschentuch beiseite und hastete die Stufen hinunter.

Sie hörte und roch sie, noch ehe sie sie sah: ihr kehliges Knurren und ihr geiferndes, hungriges Heulen. Der Gestank feuchten Fells über dem Gestank von Blut.

Bild von Joseph Meehan

Werwölfe. Lilianas gesamter Thronsaal war von ihnen überrannt.

Und sie wirkten ... nun, nicht wirklich krank, sondern eher verzerrt, als wären ihr Fleisch und ihre Knochen in die Fänge einer unnatürlichen, alles mutierenden Macht geraten. Ihre Gliedmaßen standen in seltsamen Winkeln ab und bogen und knautschten sich wie Seetang.

Doch es waren noch immer Werwölfe und sie hatten noch immer Klauen. Dierk lag mit aufgerissener Brust am Boden. Der Inhalt seiner Tasche ebenso wie der seines Brustkorbs war über den Boden verteilt. Sein Gesicht war bleich und in einem überraschten Ausdruck erstarrt. Er sog seinen letzten Atemzug ein wie ein erschlaffender Ballon.

Die Werwölfe wandten sich schnüffelnd Liliana zu. Einer von ihnen brüllte. Er hatte Augen dort, wo seine Zunge hätte sein sollen.

Eine Salve tödlicher Zauber, einen für jeden der Werwölfe vor ihr: Das schien hier angemessen. Gerade genug Kraft, um mit jedem von ihnen fertigzuwerden, gerade genug, um den Weg zur Tür des Anwesens frei zu machen.

„Gared!“, rief Liliana über die Schulter. „Hol deinen Mantel.“

Der Kettenschleier in ihrer Tasche rührte sich nicht.


Stunden später hatte der Sturm nachgelassen, aber die Gegend um Stenzen herum war zu einem makabren Zoo geworden. Liliana bemerkte, dass jeder Passant irgendwie verformt wirkte. Die Körper umherstreifender Vampire hatten die falschen Konturen und oft zu viel oder zu wenig von etwas. Anatomisch verquere Reisende verkündeten zeternd Prophezeiungen vom Fels und vom Meer, während sie im Zickzack umherstolperten.

Endlich erreichten Liliana, Gared und – etwas staksiger zwar – auch Dierk das gewaltige Tor.

Die Festung Lurenstein thronte über ihnen auf einer steilen Klippe mit einer Zitadelle, die direkt aus dem Fels gehauen war. Weiter oben wurde die zweckmäßige Architektur weicher und ging in opulent verzierte Fenster über, jedes mit seinem eigenen schwebenden Kronleuchter voller flackernder Kerzen. Aus vielen der Fenster spähten Vampire in glänzender, alter Rüstung zu ihnen herab.

Liliana bedeutete Gared, er solle klopfen.

Gared glotzte die schiere Höhe der Tür an. „Sie kennen die Dame des Hauses wirklich?“, fragte er.

Dierk machte seinerseits ein gurgelndes Geräusch. Der Hals des Mannes war gebrochen, weshalb ihm der Kopf in einem schrägen Winkel auf den Schulten saß und seine Kehle angeschwollen wirkte. Doch zumindest hatten seine Beine ihn bis hierher gebracht und zumindest waren seine Arme in der Lage gewesen, die verbrauchte Hexenbann-Kugel zu tragen. Gareds langer Mantel war eng um Dierks Körpermitte geknotet und tat sein Bestes, die restlichen Eingeweide des Mannes in ihm zu halten. Liliana hob die Hand ein winziges Stückchen, und Dierk richtete sich gerader auf – auch wenn sein Kopf noch immer zu einer Seite hin wegbaumelte. Die trockene Zunge wollte nicht in seinem Mund bleiben und trug ihren Teil zu dem Gurgeln bei. Liliana zuckte die Schultern.

„Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, all diejenigen zu kennen, die Macht besitzen“, sagte Liliana. „Und das tut sie.“

Gared hämmerte an die Tür und trat zurück.

Die Tür öffnete sich und eine imposante Frau in einem verzierten Kleid – oder vielleicht auch eine verzierte Frau in einem imposanten Kleid – zeigte sich dahinter. Sie hielt Liliana einen Priesterstab ins Gesicht, der wie heiße Glut leuchtete.

„Sie empfängt keine menschlichen Besucher“, sagte die Frau mit blitzenden Fangzähnen. Ihre Augen waren wie schwarze Gruben, in denen ein schwaches Feuer zu glimmen schien.

Bluthallenpriesterin | Bild von Mark Winters

„Ich bringe ihr etwas zurück, was ihr gehört“, sagte Liliana.

Die Frau hielt inne und musterte Dierk und die Hexenbann-Kugel in seinen Händen. „Lass das hier. Und dann schaff dich von diesem Anwesen, bevor ich einen Zauber auf dich niederfahren lasse.“

Gared machte eine Bewegung, als wollte er sich mit der Vampirpriesterin anlegen, doch Liliana hielt ihn mit einer Bewegung zurück. In einer Zitadelle voller Vampire kämpfte man nicht, solange es noch Gelegenheit gab, die eigenen Überredungskünste gewinnbringend einzusetzen. „Ich möchte bitte mit Olivia persönlich sprechen. Richte ihr aus, Liliana Vess wünscht sie zu sehen.“

„Ich sagte dir bereits, dass sie keine Sterblichen empfängt.“

„Sterbliche!“ Liliana lachte. „Gesegnet sei dein blutleeres Herz.“

Die Vampirpriesterin hob ihren Stab. Das gezackte Symbol an seiner Spitze begann, die Luft durch seine Hitze flimmern zu lassen.

„Oh, Liliana, meine Liebe!“ Olivia Voldaren tauchte urplötzlich in der Tür auf und verscheuchte die Priesterin mit einem bösartigen Fauchen. Die Priesterin trat beiseite und senkte den Kopf. Sie folgte Liliana jedoch mit Blicken.

Olivia wirkte in ihrem schwarzen Schienenpanzer äußerst glanzvoll. Wie immer berührten ihre Füße nicht den Boden. „Bist du hier, um die guten Neuigkeiten zu feiern?“, fragte sie, während sie ihre Gäste hereinbat. „Komm, komm!“

„Ich bringe dir nur deine Kugel zurück“, sagte Liliana. „Und deinen Geistermagier. Ich habe zudem gehofft, dass du den Aufenthaltsort eines meiner Bekannten kennst.“ Sie warf der Priesterin im Vorbeigehen ein süßes Lächeln zu. „Was genau gibt es denn zu feiern?“

Olivia ergriff Lilianas Arm, während sie neben ihr schwebte und sie tiefer in die Zitadelle geleitete. „Nun, das lange Warten hat ein Ende! Hast du es nicht gehört?“

Sie betraten eine breite Galerie, auf der elegante Vampire auf jeder Treppenstufe und jedem Absatz standen oder schwebten. Hunderte von Augen betrachteten Liliana und ihre Begleiter, als Olivia sie durch die unteren Hallen der Festung führte. Jeder Vampir, der je den Namen Voldaren geführt hatte, schien sich hier aufzuhalten und finster dreinzublicken.

Liliana machte eine verstohlene Handbewegung. Die Leiche Dierks des Geistermagiers schleppte sich zu einem antiken vergoldeten Sessel hinüber, ließ sich hineinfallen und erschlaffte mit der Kugel in ihrem Schoß. Der Mantel um Dierks Körpermitte spannte sich und hielt ihn nach besten Kräften zusammen.

Olivia beugte sich herüber und drückte verschwörerisch Lilianas Arm. „Es ist der Erzengel! Puff!“ Sie kicherte. „Ein Fleck am Boden der Kathedrale von Thraben. Oh, das ist einfach zu köstlich.“

„Avacyn ist tot?“ Leise schlich sich ein Gedanke an Jace in ihren Kopf, wie eine Motte, die auf ihrem Haar landete. Als sie das letzte Mal mit ihm gesprochen hatte, war er Avacyn auf der Spur gewesen.

Olivia breitete weit ausladend die Arme aus. „Wir Kreaturen der Nacht können frohlocken, denn die Welt gehört wieder uns! Ich war schon recht ungehalten, als ich erfuhr, dass sie aus ihrer kleinen Falle entkommen ist.“

Liliana hob kaum merklich die Augenbrauen.

„Aber Sorin ist zu Verstand gekommen und hat dieses Ding zur Strecke gebracht. Und nun muss ich zugeben, dass sich alles doch recht gut gefügt hat, nicht wahr?“ Olivia lachte. Sie führte Liliana weiter, Galerie um Galerie entlang. Gared verschwand in dem Labyrinth.

Liliana hielt mit Olivia Schritt. „Und jetzt hebst du eine Armee aus.“

„Nun, meine Liebe, es scheint ganz so, dass wer auch immer den Höllenkerker geöffnet hat ...“

Lilianas Gesichtsausdruck blieb unvermindert höflich.

„... mehr als nur den Erzengel freiließ“, fuhr Olivia fot. „Und nicht nur das. Deine dämonischen Freunde. Sie haben auch die andere herausgelassen. Darf es ein Schluck zu trinken sein?“ Sie winkte einen Vampir heran. „Du da, bring unserem Gast etwas zu trinken.“

Ein Vampir drückte Liliana einen Kelch Wein – echten Wein – in die Hand und schepperte in seiner antiken Rüstung davon.

Es war natürlich Liliana selbst gewesen, die den Höllenkerker aufgebrochen und zugelassen hatte, dass sich sein Inhalt über ganz Innistrad verteilte. Sie hatte den Dämon Griselbrand getötet und alle anderen Folgen ihres Handelns hatten sie nicht weiter gekümmert. Sie hatte keinen Grund gesehen, ihren vampirischen Bekannten davon zu erzählen.

„Und nun, da sie frei ist, scheint sie recht verschnupft zu sein“, fuhr Olivia fort. „Ich kann nicht sagen, dass ich ihr das verüble. Wie bereits erwähnt: Ich war zuvor etwas ungehalten, doch nun wüsste ich nur allzu gern, wer sie alle freigelassen hat, damit ich meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen kann!“

Liliana wusste nicht, wer sonst noch aus dem Höllenkerker entkommen sein könnte, der so wichtig für Olivia war. Sie hatte jedoch das Gefühl, dass es irgendwie mit den Veränderungen in Verbindung stand, die sie in ganz Innistrad gesehen hatte. Die verzerrten Werwölfe in ihrem Anwesen. Die entstellten Vampire und zeternden Untergangsverkünder.

Dies war genau die Art von Angelegenheit, die den Jungen im Mantel faszinieren würde. Liliana wollte nur, dass ein paar Dämonen starben. Vielleicht ließ sich beides jedoch miteinander verbinden.

Sie stiegen in ein großzügiges, mit dicken Teppichen ausgelegtes Gesellschaftszimmer hinauf. Ein großer, weißhaariger Vampir in einem langen Mantel stand mit dem Rücken zu ihnen und blickte aus den hohen Fenstern in die Nacht hinaus.

Liliana spürte, wie sich Krallen in ihren Arm gruben. „Wir wissen, dass du es warst“, fauchte Olivia, die plötzlich dicht neben ihrem Ohr schwebte. „Wir wissen, dass du sie befreit hast.“ Vergnügt fügte sie hinzu: „Ist es nicht so, Sorin?“

Sorin Markov drehte sich zu ihnen um. Er trug seinen Hass wie einen eleganten Anzug.

Du“, sagte er.

„Sieh nur, wer uns einen Besuch abstattet!“, sagte Olivia mit nun wieder vollendeter Höflichkeit. „Sorin, ich glaube, du kennst Liliana Vess?“

„Du hast das getan“, sagte Sorin. „Du hast die Lithomagierin befreit und uns das alles eingebrockt.“

Liliana entwand ihren Arm aus Olivias Griff und sammelte sich. Sie ging auf Sorin zu und musterte ihn von oben bis unten. Schließlich kicherte sie und entfernte mit spitzen Fingern ein Staubkorn von Sorins Mantel. „Ich hatte mich um etwas zu kümmern“, sagte sie. „Es ist kaum meine Schuld, wenn dein Keller voller Leichen ist.“

„Dazu hattest du nicht das Recht“, sagte Sorin. Jedes Wort klang wie ein Messer auf einem Wetzstein.

"Sorin, wir beide haben uns um eine andere Angelegenheit zu kümmern“, sagte Olivia und schwebte um sie herum. „Doch es wäre unverzeihlich, wenn ich euch beiden nicht die Gelegenheit gäbe, euch zu unterhalten, nicht wahr?“

Sorin beugte sein Gesicht dicht an Lilianas heran. „All dies ist deinetwegen geschehen. Die Lithomagierin ist frei, und nun müssen wir uns ihr stellen."

„Du hast eine recht ansehnliche Armee aus Vampiren zusammengetrommelt“, sagte Liliana. Sie grinste ihn an. „Oder ... Lass mich raten ... Dient diese Streitmacht eher der Verteidigung? Du hast sie herausgefordert, nicht wahr?“

Sorins Fänge blitzten auf. „Ich habe es dir bereits gesagt, als du als Welpe hierherkamst. Innistrad gehört mir. Wer sich in meine Angelegenheiten einmischt, der stirbt.“

Liliana blickte ihm in die Augen. Ihre Finger tasteten nach den Gliedern des Kettenschleiers an ihrer Hüfte. Die Zeichen auf ihrer Haut begannen zu glühen und ihr Haar wehte sacht. „Innistrad mag dein Reich sein, Sorin“, flüsterte sie. Sie tätschelte ihm den Arm. „Doch meines ist der Tod.“

Sorin schnaubte, zog den Arm weg und drückte seine Stirn gegen ihre. Sein Blick huschte kurz zu ihrem Hals.

„Nun, meine Freunde!“ Olivia lachte hell und schob sich zwischen sie. „So amüsant ich es auch finde, dabei zuzusehen, wie ihr beide euch in meinem Gesellschaftszimmer in Stücke reißt ... Sorin, es scheint, als wäre es an der Zeit. Komm mit nach draußen. Nahiri wartet.“ Sie deutete durch die hohen Fenster in die Nacht.

Liliana stockte bei dem Anblick durch das Glas der Atem. Das, was die Überreste des Gewitters gewesen waren, war nun ein aufgedunsener Wolkenhaufen, der über der Küste Nefalens brodelte. Tentakel aus Nebel griffen in alle Richtungen. Es waren nicht nur ein paar Werwölfe oder Vampire, die nun eine Verzerrung erfuhren. Welche Macht auch immer Einzug gehalten haben mochte – sie drohte, ganz Innistrad auseinanderzureißen.

Olivia zog ein Schwert aus der Scheide. „Liliana, meine Liebe, ich fürchte, du hast meinen Vorrat an Geisterexperten und spektralen Spielzeugen erschöpft. Vielleicht möchtest du dich uns anschließen? Schließlich warst du es, die Nahiri freigelassen hat. Vielleicht möchte sie dir sogar danken.“

Liliana betrachtete die Wolken. Dies war tiefe, uralte Magie, weltenverändernd und voller Rache. „Sie hat all dies verursacht?“

„Die erbärmliche Tat einer erbärmlichen Magierin“, murmelte Sorin. „Mit einen verdrehten Sinn für Gerechtigkeit.“

„Also hast du dies alles verursacht“, sagte Liliana. „Du hast ihr etwas angetan!“

„Und jetzt machen wir uns auf, um ihr erneut etwas anzutun“, sagte Olivia mit einem Grinsen, bei dem sie freimütig die Fänge zeigte.

Vom Fenster der Festung eingerahmt bewegte sich die Wettermasse langsam von ihrem Ursprungsort über der Küste Nefalens fort in Richtung Gaven und der hell erleuchteten Stadt Thraben. Der Himmel schien faltig und zerrissen, dachte Liliana. Wie diese Werwölfe. Es war, als wäre diese gesamte Welt – Sorins Heimatwelt – mit Absicht befleckt und von Horizont zu Horizont verkrümmt worden, einfach nur, weil sie Sorin etwas bedeutete. Nahiri, wer auch immer sie sein mochte, machte keine halben Sachen, wie Liliana zugeben musste.

„Sorgst du dich denn kein bisschen darum, was ihre Rache Innistrad antut?“, fragte Liliana. „Jace ist ...“ Sie straffte die Schultern. „Da draußen befinden sich Tausende von Menschen.“

„Diese Welt ist verloren“, sagte Sorin. „Dafür hat sie gesorgt. Und dein Jace wird in Thraben umkommen wie alle anderen.“

„Was Sorin meint“, sagte Olivia beschwingt, „ist, dass wenn Nahiri aufgehalten wird, sicherlich auch die Unannehmlichkeiten aufhören werden, die sie uns beschert hat. Wir befinden uns auf einer Mission für echte Helden!“

Liliana spähte erst nach draußen und sah dann zurück zu Olivia, nun jedoch mit einer grässlichen Sanftheit im Blick. „Oh, du süßes Kind.“

Sorin zog langsam, wie beiläufig, sein Schwert aus der Scheide. „Gehen wir. Olivia.“ Er wandte sich um und trat aus dem Gesellschaftszimmer und dann aus dem Anwesen, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.

Olivia schwebte ihm hinterher, und ganze Reihen von Vampiren der Voldaren folgten ihr nach. Das Klappern ihrer Rüstungen hallte durch die Hallen.

Liliana folgte ihnen nach draußen. Als sie Gared begegnete, sagte sie: „Gared, hol deinen Mantel.“

Gared blickte traurig auf seinen Mantel und begann damit, ihn von Dierk zu lösen.


Sie tauchten in die Nacht ein. Der Wind heulte nun, während gewaltige Wirbel über den Himmel zogen. Ein rötliches, außerweltliches Leuchten schwebte unter den aufgeblähten Wolken.

Liliana strich sich das Haar aus dem Gesicht, dessen Strähnen von einer Seite zur anderen gepeitscht wurden. Sie blickte zu den fernen Hügeln Gavens, über denen sich gewaltige Schatten zusammenbrauten. Das ist es, was Jace aufzuhalten versucht, dachte sie.

Sorin warf kaum einen Blick zurück, als er sich mit den Vampiren versammelte. Er hob sein Schwert. „Komm, Olivia“, rief er über den Wind. „Es ist Zeit, dass du deinen Teil der Abmachung erfüllst.“

Olivia grinste fröhlich und erhob sich hoch in die Luft. Die Armee aus Vampiren marschierte mit erhobenen Schwertern und Piken und glühenden Priesterstäben den Hügel hinab – hinein in den Nebel und auf in die Schlacht gegen Nahiri.

Nicht, um gegen die Schrecken zu kämpfen, die Nahiri über diese Welt gebracht hatte. Nicht, um dem wahnsinnigen Jace zu helfen.

Dieser Welt ist es dann wohl bestimmt zu sterben, dachte Liliana. All ihre Beschützer hatten sie verlassen. Es war Zeit, Abschied zu nehmen. „Leb wohl, Vess-Anwesen.“

Der Himmel gab ein unergründliches Geräusch von sich, das Liliana bis ins Mark erschütterte. In der Ferne glitzerte Thraben wie ein gefallener Stern, der auf dem Horizont ruhte. „Leb wohl, Junge im Mantel.“

Sie fand sich jedoch dabei wieder, auf einem anderen Weg als die Vampire den Hügel hinabzugehen. Sie fand sich auf der Straße wieder. Sie fand sich dabei wieder, wie sie an einem Schlingengrab vorbeikam, in dem die Verbrecher lagen und jenen Teil ihres Richtspruchs fristeten, in dem von der Ewigkeit die Rede war. Sie fand sich dabei wieder, wie sie die Hand ausstreckte. Leichen krochen aus der Erde. Sie ging weiter. Die Leichen folgten ihr.

Sie fand sich dabei wieder, wie sie an einem weiteren Friedhof vorbeikam, und dann an noch einem. Ein kleiner Schrein am Wegesrand. Ein verfluchtes, Düstergrab, das von einem Eisenzaun umgeben war. Ein Mausoleum voller Würdenträger der Katharer. Jedes Mal streckte sie die Hand aus. Jedes Mal gehorchten ihr die Toten, erwachten zuckend aus ihrer Ruhe und schlurften ihr nach.

Bild von Joseph Meehan

Als sie sich in Richtung Thraben aufmachte, griff sie nach ihrer Hüfte. Sie konnte beinahe hören, wie die Scharen spektraler Essenzen sie verhöhnten und ihr aus dem Schleier etwas zuraunten – über das Geräusch der Zombies hinweg, die pflichtbewusst hinter ihr die Straße entlangschlurften.

Sorin und Olivia hatten nicht vor, etwas gegen das Unheil zu unternehmen, das Nahiri angerichtet hatte. Und der einzige Mensch, auf den sie zählen konnte, das alles zu verstehen – er und sein angeschlagenes, enervierendes, unergründliches Gehirn –, folgte seiner Neugier geradewegs in einen hässlichen, bizarren und wahrscheinlich auch noch unvermeidlichen Tod.

Es war nicht so, dass sie ihn brauchte. Es war einfach nur so, dass sie jemanden brauchte, von dem sie gebraucht wurde.

„Nun, Gared“, sagte sie laut in den Wind.

Sie hob die Arme und spürte die Zeichnungen wie brennende Adern auf ihrer Haut.

„Es sieht so aus, als wäre ich ...“

Ein weiteres Dutzend Zombies erhob sich aus der Erde und folgte ihr entlang ihrer Schneise nekromagischer Macht.

„... die letzte Hoffnung ...“

Die Leichen schienen nicht verzerrt – zumindest nicht mehr, als es ihre Knochen im Laufe der Jahre im Boden ohnehin nun einmal waren. Die rastlosen Toten schienen all diese Effekte schlichtweg abzuschütteln. Liliana grinste.

„... für diese Welt.“


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Schatten über Innistrad-Storyarchiv

Planeswalker-Profil: Liliana Vess

Planeswalker-Profil: Sorin Markov

Weltenbeschreibung: Innistrad