Die Inquisitoren der Lunarchen
Thalia, die Wächterin von Thraben, spielte eine entscheidende Rolle bei der Verteidigung Thrabens während der Belagerung durch die Zombies der Nekromagier-Zwillinge Gisa und Geralf. In der dunkelsten Stunde der Stadt stellte sie sich Liliana Vess am Höllenkerker im Herzen der Kathedrale von Thraben entgegen. Und da die Planeswalkerin das Leben eines jeden einzelnen Soldaten unter ihrem Befehl bedrohte, fügte sich Thalia schließlich Lilianas schrecklicher Forderung: Sie öffnete den Höllenkerker und entließ alle Dämonen, die er in sich barg – und den Erzengel Avacyn.
Mikaeus, der Lunarch der Kirche Avacyns, starb während der Belagerung Thrabens, und sein Nachfolger wurde in den frühen Tagen von Avacyns Wahnsinn getötet. Nun ist ein neuer Lunarchenrat eingesetzt worden, der aus sieben Bischöfen der Kirche sowie einigen Anführern der Katharer als Beratern besteht. Ein weiterer wichtiger Befehlshaber bei der Verteidigung Thrabens, ein Katharer namens Olric, zeigte erstaunliche Initiative bei der Organisation des Lunarchenrats, um Avacyns Wahnsinn Herr zu werden. Er verdiente sich einen Sitz im Rat als Repräsentant der Katharer, hat jedoch keinerlei Stimmrecht bei Ratsangelegenheiten.
Doch während der Wahnsinn der Engel weiter tobt und sich in den Lunarchenrat hinein ausbreitet, haben die beiden Anführer der Katharer Mühe, das Gleichgewicht zwischen der Loyalität zu Avacyns Kirche und der Hingabe an all das zu wahren, wofür sie steht.<
Tagelang war sie durch die kalte Luft des Jägermondes von Ellgau in Nefalen zur Kathedrale von Thraben geritten. Ihre Finger waren taub, doch Thalias Wangen waren noch immer heiß vom Feuer und ihr Blut kochte vor Wut. Sie gab die Zügel einem Stallburschen und warf dem Engel, der wie ein Aasgeier über ihr kreiste, einen misstrauischen Blick zu, ehe sie in die hohen Hallen hineinstürmte.
Aus Gewohnheit schlug sie das Zeichen von Avacyns Band auf der Brust – erst von der einen und dann von der anderen Schulter zum Herzen –, als sie die offenen Türen zum Heiligtum passierte. Doch ihr brannten die Augen, als sie an jenes heilige Symbol dachte, das über den Gräueltaten in Ellgau aufgeragt war.
Sie war dem Namen nach noch immer die Wächterin von Thraben , selbst wenn sie nur noch herzlich wenig Zeit in der Hohen Stadt verbrachte. Daher versperrte ihr auch kein Katharer den Weg oder fragte nach ihrem Anliegen, als sie die Treppen hinauf, einen Korridor entlang und in jene Kammer eilte, die der Rat dem Lunarch-Marschall als Arbeitszimmer zur Verfügung gestellt hatte. Natürlich war er nicht da.
Thalia warf ihren Reitmantel auf einen Stuhl und streckte dann den Kopf zurück in den Flur. „Du“, rief sie einem Katharer zu, der steif in der Nähe Wache stand. „Finde ihn.“
Sie klatschte in die behandschuhten Hände und rieb sie fest aneinander, um einen Funken Wärme in die erfrorenen Finger zurückzubringen, während sie in dem kleinen Arbeitszimmer auf und ab ging.
Als sie sich von der Tür abwandte, war ihr Rahmen noch leer. Drei Schritte später, als sie sich wieder zur Tür umdrehte, stand er mit einem Mal da. Sie hielt inne.
„Thalia!“, sagte Odric herzlich und breitete die Arme aus.
Er sah älter aus. Natürlich war sein Haar schon seit Jahren weiß gewesen – bis auf die einzelne rabenschwarze Strähne über der Stirn. Doch sein Gesicht hatte immer jung gewirkt. Doch nun war es von Sorgenfalten zerfurcht.
„Es ist gut, dich zu sehen, alter Freund“, sagte sie, als sie lächelnd auf ihn zutrat. Anstatt ihn jedoch zu umarmen, hämmerte sie ihm die Faust gegen seinen silbern verzierten Brustpanzer. Ihr Lächeln erstarb. „Weißt du, was da draußen vor sich geht?“
Er seufzte, als seine Arme schlaff herabsanken. „Ich weiß, dass dies nicht die denkbar beste Zeit ist“, sagte er.
„Kinder“, sagte sie. „Wir verbrennen inzwischen Kinder. Sündige Kinder. So ein Schw...“
„Ellgau?“, fiel er ihr ins Wort.
„Ja. Das muss aufhören, Odric. Ulmach ist völlig außer Kontrolle.“>/p>
„Er ist Oberster Inquisitor, Thalia. Was die Kirche in Nefalen anbelangt, verkörpert er die Kontrolle.“
„Nein.“ Wieder schlug sie ihm gegen den Brustpanzer. „Noch gebietet der Lunarchenrat über die Kirche, oder? Dein Rat?“
Endlich gelang es Odric, sich an ihr vorbei in sein Arbeitszimmer zu drängen. „Es ist nicht mein Rat“, sagte er, „aber die Inquisition handelt nach seinen Anweisungen, ja.“
„Das muss aufhören“, sagte sie erneut.
„Und dann? Wie hast du vor, den Zorn der Engel zu besänftigen?“
„Hörst du dir eigentlich zu? Du glaubst, die Engel wären zornig, weil wir Sünde in unserer Mitte dulden? Odric, die Engel sollen uns beschützen, nicht unsere Dörfer in Schutt und Asche legen. Und wir sollen Kinder beschützen und sie nicht auf dem Scheiterhaufen verbrennen! Glaubst du wirklich, dass es das ist, was Avacyn von uns verlangt?“
„Avacyn führt diese Säuberung an. Das weißt du auch. Wenn die Sünde der Menschen ihre Wut anfacht, müssen wir die Sünde ausmerzen oder in Avacyns Zorn untergehen. Sie hat uns ein Beispiel gesetzt. Wenn sie ihr Herz gegenüber dem Flehen der Verderbten verschließen kann, müssen wir es ihr gleichtun.“
„Den Verderbten? Welche Sünde tragen diese Kinder denn deiner Meinung nach in sich?“
„Stellst du das Urteil der Inquisition infrage?“
„Natürlich tue ich das! Wie kann sie in die Augen und in das Herz eines Kindes blicken und dort Böses sehen? Böses, das einen derart entsetzlichen Tod rechtfertigt?“
„Falls die Inquisition Kinder töten lässt ...“
„Das tut sie. Ich habe es gesehen.“
„Falls sie es tut, dann sicher aus einem guten Grund. Die Heilige Avacyn schenkt ihrer Kirche die Macht, das Böse auszulöschen, es zu bestrafen und die Unschuldigen vor seinem Griff zu beschützen.“
„Aber die Kirche missbraucht diese Macht!“
„Und was soll ich deiner Auffassung nach tun?“
Thalia ergriff seine Hand. Selbst durch ihre Handschuhe hindurch fühlte sie sich verglichen mit der Kälte in ihren eigenen Knochen warm an. „Sprich mit dem Rat“, sagte sie. „Hilf ihm, Vernunft anzunehmen.“
„Du weißt, dass ich kein Stimmrecht im Rat habe.“
„Aber du hast eine Stimme. Du repräsentierst die Katharer. Sie können dich nicht einfach ignorieren.“
Er wandte ihr den Rücken zu. „Aber ich bin ihrem Willen unterworfen. Avacyns Willen.“
„Das ist nicht unbedingt das Gleiche, weißt du?“
Er neigte den Kopf und schwieg.
Von einer jähen Ermattung übermannt ließ sich Thalia auf den Stuhl fallen, auf den sie ihren Mantel geworfen hatte.
„Habe ich das Richtige getan, Odric?“, fragte sie.
Er drehte sich um und schenkte ihr ein sanftes Lächeln. Sie hatten die gleiche Unterhaltung schon oft zuvor geführt, doch er wusste, dass sie es von Zeit zu Zeit wieder hören musste. „Du hast Avacyn befreit“, sagte er. „Und du hast deine Soldaten aus dem Griff der Nekromagier gerettet.“
„Ja, aber ich habe auch unzählige Dämonen freigelassen. Und einige davon sind aus der Reichweite der Engel entkommen.“
„Sie verstecken sich.“
„Aber sie werden zurückkommen ... Sie alle werden zurückkommen. Man kann sie nicht vernichten – deshalb gab es den Höllenkerker ja. Ich habe zugelassen, dass sie ihn zerstört.“
„Du hast Avacyn befreit“, wiederholte er.
„Was, wenn das auch ein Fehler war?“, fragte sie. Die Falten auf seiner Stirn wurden tiefer, doch sie drang weiter in ihn. „Was, wenn die Zeit im Höllenkerker sie korrumpiert hat? Was, wenn sie jetzt selbst nicht besser als ein Dämon ist?“
Sein Miene wurde ernst. „Ich will nichts davon hören“, sagte er. Er hatte natürlich recht – und nie zuvor hatte sie es gewagt, diese Gedanken jemand anderem anzuvertrauen. „Ich bin ein Mitglied des Lunarchenrats ...“
„Du bist ein guter Mann.“
„Ich diene Avacyn und ihrer Kirche. Und – falls es dir entfallen sein sollte – das tust auch du, Wächterin von Thraben.“
Thalia sprang wieder auf. „Ich diene den Prinzipien, für die Avacyn eintritt – für die sie einst stand. Ich diene dem sanften Licht des Mondes, das die Schrecken der Nacht fernhält. Ich diene den Banden zwischen uns und vertreibe die Furcht, die uns auseinanderzureißen versucht. Ich diene der Heiligkeit, nach der wir alle streben. Wenn sie sich gegen diese Dinge gewandt hat, dann ist sie nicht besser als ein Dämon und ich kann nicht länger ihr und ihrer Kirche dienen.“
Odrics zornesrotes Gesicht war dicht an ihrem. „Ich kann nicht hier stehen und zulassen, dass du die Heilige Avacyn mit jenen Dämonen vergleichst, gegen die sie jahrhundertelang gekämpft hat. Da du meine Freundin bist, bitte ich dich, Thraben zu verlassen und niemanden sonst diese Blasphemie hören zu lassen, die du da von dir gibst. Grete?“
Ein von rotem Haar umrahmtes Gesicht erschien in der Tür. Thalia war verblüfft: Sie hatte nicht geahnt, dass Odrics Auserwählte die ganze Zeit draußen gewartet hatte. Hatte sie die gesamte Unterhaltung mit angehört?
„Mein Herr?“, sagte Grete.
Odric wandte Thalia erneut den Rücken zu. „Würdest du bitte Thalia hinter die äußere Mauer begleiten?“
„Natürlich.“
Thalia legte Odric eine Hand auf den Rücken. „Odric ...“
„Lebe wohl, Thalia.“
Sie schluckte schwer. Sie fand keine Worte mehr.
Grete hielt die Zügel von Thalias Pferd, als diese aufstieg. Sie wich ihrem Blick aus, seit sie Odric verlassen hatten. Als sie ihr die Zügel hinaufreichte, trafen sich ihre Blicke dann doch endlich.
„Was wirst du nun tun?“, fragte sie leise.
„Ich werde kämpfen“, antwortete Thalia. „Ich habe geschworen, die Menschen dieses Landes vor den Ungeheuern zu beschützen, die sie zu vernichten suchen. Und das werde ich auch weiterhin. Wenn die Katharer und die Inquisitoren zu Ungeheuern geworden sind, dann werde ich die Menschen eben vor ihnen beschützen. Und wenn die Engel selbst zu Ungeheuern geworden sind ...“
„Du würdest gegen die Engel selbst kämpfen?“, fragte Grete mit aufgerissenen Augen.
„Wenn es sein muss.“
„Wie kannst du nur so sicher sein, dass du recht hast?“
Thalia hörte so viel in dieser Frage – einschließlich jenes Zweifels, der ihr seit vielen Wochen den Schlaf raubte. Doch offenbar sehnte Grete sich nach derselben Gewissheit. Und Thalia wünschte, sie könnte sie ihr geben.
„Wenn ich mich irre“, sagte sie stattdessen, „nun, ich wäre lieber eine Ketzerin, als mein Gewissen zu verraten.“
Grete ließ die Zügel los und wandte den Blick ab, während sie einen Schritt vom Pferd zurücktrat.
„Du könntest mit mir kommen“, sagte Thalia.
„Nein.“ Grete schien ebenso mit sich selbst zu sprechen wie mit Thalia. „Aber ich hoffe ... Ich wünsche dir das Beste, Thalia.“
„Ich danke dir.“
Wochen später hörte Odric noch immer Thalias Stimme, als ein übereifriger Katharer vor dem Lunarchenrat stand und die neuesten Ergebnisse der Arbeit der Inquisition in Ellgau vortrug. Jedes Mal, wenn der junge Mann den Begriff „sündig“ in den Mund nahm, hörte er Thalias Stimme, wie sie am Rande der Vulgarität schwebte, und jede Erwähnung des Obersten Inquisitors rief ihm ihre Worte ins Gedächtnis zurück: „Ulmach ist völlig außer Kontrolle.“ Es fiel ihm zu schwer, den Schilderungen von Befragungen, Folterungen und Hinrichtungen zu lauschen, weshalb er stattdessen die Gesichter der Bischöfe des Rates musterte.
Einige von ihnen fühlten sich sichtlich ebenso unwohl wie er selbst. Andere jedoch beugten sich vor und lauschten mit hervorstehenden Augen und vor Neugier schier geifernden Mündern den grässlichen Einzelheiten. Hatte Thalia recht?, fragte er sich. Sind wir alle zu Ungeheuern geworden?
Ein Knall riss ihn aus seinen Gedanken, als die Tür des Saales aufgestoßen wurde. Thalias Stiefel hallten auf dem Steinboden wider, als sie in den Raum schritt. Der junge Katharer trat – offenkundig von ihrer Anwesenheit und dem Zorn, der in ihren Augen brannte, eingeschüchtert – rasch beiseite.
„Thalia, was tust du hier?“, fragte er und durchbrach damit die entsetzte Stille.
Bischof Jerren stand auf und verschränkte die Arme vor der Brust. „Die Angelegenheiten des Lunarchenrats sind nicht zu unterbrechen“, sagte er.
„Ich bin die Wächterin von Thraben“, erwiderte Thalia, „und ich fordere mein Recht ein, vor dem Rat zu sprechen.“
„Diesen Titel führst du nicht mehr, Thalia“, sagte Odric sanft. Er sah Jerren lächeln. „Der Rat hat ihn dir aberkannt.“
Thalia blickte ihn an. Sie schien keineswegs überrascht. Die Wut in ihren Augen war Verachtung gewichen, als wäre er eine Schlange, die sich vor ihr am Boden wand. Er hatte ihr Vertrauen missbraucht und den Rat von ihrer Ketzerei unterrichtet. Sein Magen zog sich zusammen.
Jerren lächelte süffisant. „Wir sind jedoch in großmütiger Stimmung“, sagte er. „Welche Sache willst du dem Rat vortragen?“
Thalia richtete ihren vernichtenden Blick auf Jerren. „Ich komme, um Euch anzuklagen, Bischof“, sagte sie.
Odric lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Es schnürte ihm die Kehle zu.
Thalia fuhr fort: „Ich bringe Beweise, dass Ihr im Bund mit dem Dämon Ormendahl, den man auch den Unheiligen Prinzen nennt, steht, und dass Ihr nun der Anführer der Skirsdag seid.“
Jerren lachte auf. Er lachte. Andere Mitglieder des Rates begannen, Protestrufe auszustoßen, doch der nominelle Vorsitzende des Rates konnte nur lachen, als er bezichtigt wurde, einem dämonischen Kult vorzustehen.
„Nun, dann zeige uns doch diese so genannten Beweise“, sagte jemand. Die Rufe verklangen.
Nun war Thalia mit dem Lächeln an der Reihe. Man hatte ihr Gelegenheit gegeben, ihr Anliegen vorzutragen. Mehr hatte sie sich auch gar nicht erhofft. Sie wandte sich um, während sie sprach, um so den gesamten Rat einzubeziehen, wich jedoch Odrics Blick aus. „Vor drei Tagen“, sagte sie, „führte ich eine kleine Gruppe Katharer durch den Wald der Gemeinde Wittal in der Nähe der Ruinen von Eschwald. Wir suchten nach dem Versteck jener berüchtigten Hexe, die eine Vielzahl von Bewohnern der Gemeinde mit Flüchen belegt haben soll. Schließlich stießen wir auf Hufabdrücke in der weichen Erde.“
„Wir warten noch immer auf deine Beweise“, sagte einer der Bischöfe.
Odric blickte zu Jerren. Der Bischof hatte sich in seinem Sessel zurückgelehnt und die Fingerspitzen vor dem Mund wie zu einem Dachgiebel zusammengeführt, wodurch es ihm auch beinahe gelungen wäre, jene Andeutung eines Lächelns zu verbergen, die seine Mundwinkel umspielte.
„Die Spur führte uns zu einer düsteren Höhle, in der sich die Hexe verborgen hielt. Ein Pferd weidete draußen auf dem geschwärzten Gras. Es trug das Zaumzeug dieses Rates. Als wir ins Innere eilten, fanden wir die Hexe vor, wie sie gerade das zuckende Herz aus der Leiche eines Boten entfernte und sich daran zu machen schien, ein Stück aus dem rohen Fleisch herauszubeißen.“
Ein paar der Ratsmitglieder verzogen angeekelt die Gesichter und wandten den Blick von Thalia ab. Odric jedoch bemerkte, dass alle, die sie weiterhin anstarrten, denselben geifernden Ausdruck wie beim Bericht des Inquisitors zeigten.
„Wir versuchten, die Hexe zu überwältigen, doch sie kämpfte wie eine Furie und gebot über dämonische Kräfte. Wir hatten keine andere Wahl, als sie zu töten.“
„Und damit bequemerweise die Möglichkeit auszuräumen, dass sie aussagen könnte“, meinte jemand.
Thalia beachtete die Unterbrechung nicht. „Der tote Reiter war ein Bote dieser Kathedrale. Diesen Brief hier trug er bei sich.“ Sie holte einen Bogen Pergament aus ihrem Mantel hervor. Dunkle Spritzer und Flecken, die nur von Blut stammen konnten, hatten ihn besudelt. „Lest ihn selbst und urteilt anschließend darüber, wie berechtigt meine Anklage ist. Der Brief trägt das Siegel und die Unterschrift von niemand Geringerem als Bischof Jerren, der dieser Hexe im Namen des Unheiligen Prinzen Anweisungen erteilt!“
Odrics Füße und Hände fühlten sich taub an. Sein Herz wummerte. Thalia hatte eine kühne Geschichte gesponnen. Konnte sie etwa wahr sein?
Thalia schritt zum hinteren Ende des Ratstisches und hielt das Pergament hoch, um es einem der niederen Bischöfe namens Quilion zu zeigen. Quilion warf einen verstohlenen Blick zu Jerren und weigerte sich, ihr den Bogen aus der Hand zu nehmen. Thalia runzelte die Stirn und hielt dem Bischof neben ihm das Pergament hin. Drei Bischöfe weigerten sich, es anzusehen, während der Rat in eisiges Schweigen gehüllt blieb, bis Bischöfin Carlin es schließlich mit zitternden Händen an sich nahm. Ihr Gesicht wurde bleich, als sie es las.
„Was hast du dazu zu sagen, Jerren?“, fragte Carlin nach einem Augenblick.
„Das ist ganz offensichtlich eine Fälschung“, sagte Quilion, obgleich er das Schriftstück kaum angesehen hatte.
„Die ganze Geschichte ist doch an den Haaren herbeigezogen“, sagte ein anderer Bischof.
Odric konnte es nicht glauben. Nichts von alledem. Er wusste, dass Thalia niemals Beweise fälschen würde, so wenig sie auch mit dem Rat übereinstimmte. Und nachdem er sich nun schon gestattet hatte, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass es tatsächlich wahr war, musste er sich eingestehen, dass er Jerren nicht als den heiligsten aller Männer bezeichnen würde. Aber Anführer der Skirsdag? Als Vorsitzender des Lunarchenrates?
„Natürlich ist sie an den Haaren herbeigezogen“, sagte Jerren.
„Mir scheint, in diesem Raum gibt es nur eine Person, die sich der Ketzerei schuldig macht“, sagte Quilion. Er warf Jerren einen Blick zu, als würde er die Erlaubnis des älteren Mannes einholen.
Odric starrte entsetzt auf die Mitglieder des Rates, die erneut zu rufen begonnen hatten und diesmal Thalias Hinrichtung forderten. Thalias Miene war finster – er hatte gesehen, wie sie immer bleicher geworden war, als mehr und mehr Bischöfe Partei für Jerren ergriffen hatten. Sicherlich hatte sie mit einigem Widerstand gerechnet, doch wahrscheinlich kaum mit derlei heftigem. Jerrens Einfluss auf den Rat musste größer sein, als sie es wohl je erahnt hätte. Ihre Hand fuhr an ihr Schwert.
Katharer kamen und hielten Thalias Arme fest, ehe sie es ziehen konnte, und blickten auf der Suche nach Anweisungen zu Jerren. Mit einem winzigen Fingerzeig verhängte er sein Urteil über sie. Man begann, sie fortzuschleifen.
„Odric!“, rief sie. Ihre Stimme durchstach das Lärmen der noch immer laut rufenden Bischöfe. „Ich diene dem Licht!“
Das sanfte Licht des Mondes, das die Schrecken der Nacht fernhält, hatte sie gesagt. Ich diene den Banden zwischen uns und vertreibe die Furcht, die uns auseinanderzureißen versucht.
Und hier war er nun, der Lunarchenrat, der sich von Furcht ergriffen gegen eine seiner treuesten Dienerinnen wandte.
Die Türen schlugen hinter Thalia zu, und mit einem geheuchelten Lächeln bedeutete Jerren dem jungen Katharer, seine Schilderung der neuesten Schrecken in Ellgau fortzusetzen, die im Namen des Lunarchenrats begangen worden waren.
Odric eilte in den Keller der Kathedrale, wo Thalia, wie er hoffte, noch immer auf ihre Hinrichtung wartete. Sie würden sie noch nicht auf den Hof hinausgebracht haben, um sie an einem Baum aufzuknüpfen. Nicht ohne die zeremoniellen Bräuche bei der Hinrichtung einer derart bekannten Ketzerin zu befolgen.
„Ich muss mit der Gefangenen sprechen“, sagte Odric zu der Soldatin, die die Zellen bewachte. Die junge Frau salutierte und trat beiseite, um ihn eintreten zu lassen.
„Sag nichts“, flüsterte er in die Luke zu ihrer Zelle. „Wir gehen hier weg. Gemeinsam.“
„Was?“
„Ich sagte, du sollst nicht sprechen.“ Er drehte sich zu der Soldatin um. „Wache, öffne diese Zelle.“
Ihre Augen weiteten sich zwar, doch die Katharerin fingerte dennoch sofort an den Schlüsseln an ihrem Gürtel herum. Odric nickte bekräftigend. Zumindest kennen einige von uns noch ihre Pflicht, dachte er.
Die Tür zur Zelle Thalias öffnete sich quietschend, und er half ihr vom schmutzverkrusteten Boden auf. Er bemerkte eine frische Prellung, die gerade erst auf ihrem Wangenknochen zu erblühen begann. Hatte sie sich gewehrt? Oder hatten die Wachen, die sie hierhergeführt hatten, jene Grausamkeiten fortgesetzt, die nun selbst hier in Avacyns Kathedrale an der Tagesordnung waren?
Gemeinsam gingen sie die Stufen hinauf. Grete erwartete sie oben. Sie trug Thalias schlankes Schwert bei sich.
„Pferde?“, fragte Odric sie, während Thalia ihre Waffe umschnallte.
„Sollten bereit sein, sobald wir den Stall erreicht haben“, sagte Grete.
„Gut gemacht.“
„Wohin gehen wir?“, fragte Thalia.
„Sag du es mir“, erwiderte Odric. „Du meintest, du hattest andere Katharer in der Wittal-Gemeinde bei dir. Sind sie noch immer dort?“
„Ja.“
„Sollen wir uns ihnen dann anschließen?“
„Ja. Ich habe dir eine Menge zu erzählen.“
Sie waren schon fast an den Stallungen angelangt, beinahe frei vom Lunarchenrat und Jerren und jener Verderbnis, die hier schwelte. Doch nun versperrten ihnen fünf Katharer den Weg.
„Bleibt sofort stehen, Lunarch-Marschall“, sagte der eine in der Mitte. Sein Name war Dougan, erinnerte sich Odric. Vor Jahren hatte er den jungen Mann ausgebildet. „Befehl von Bischof Jerren“, fügte er beinahe entschuldigend hinzu.
Odric ging weiter. „Tretet beiseite und lasst uns passieren“, sagte er. Grete und Thalia schlossen etwas dichter zu ihm auf.
„Das kann ich nicht tun, Herr.“ Das Entschuldigende war aus seiner Stimme verschwunden und durch Stahl ersetzt worden. „Der Bischof hat mit diesem Verrat gerechnet und will, dass ihr alle drei in die Ratsgemächer zurückkehrt.“
Weitere Katharer standen nun hinter ihnen – den Geräuschen nach waren es drei. Acht gegen drei, falls es denn dazu kommen sollte.
Odric stand dem jungen Dougan nun genau gegenüber, während Grete und Thalia die Katharer an seiner Seite anblickten.
„Dougan, lass uns passieren“, sagte Odric erneut.
„Nein.“
Odric versuchte, sich an ihm vorbei zu drängen, doch das Geräusch gezogenen Stahls hinter ihm änderte alles.
Acht gegen drei wäre vielleicht brenzlig geworden, wenn es sich bei den dreien nicht um die erfahrensten Streiter in Avacyns Kirche gehandelt hätte. Odrics erster Hieb ließ Dougans Klinge klirrend zu Boden fallen. Während sein ehemaliger Schüler sich nach seiner Waffe bückte, drehte sich Odric um, um einen Angriff in seinem Rücken zu parieren – von Marta, einer weiteren jungen Katharerin, die er ausgebildet hatte. Seine Riposte ließ ihre Schulter bluten – sie hatte schon in der Ausbildung stets die linke Schulter ungedeckt gelassen – und sie stolperte nach hinten.
Dougan stürmte mit hoch erhobenem Schwert auf ihn zu. Odric schüttelte den Kopf – er hatte den Jungen eigentlich Besseres gelehrt. Er duckte sich unter dem ungelenken Hieb weg und stieß nach Dougans Bauch, die Wucht sorgsam so abgestimmt, dass der arme Kerl nicht gleich an Ort und Stelle ausgeweidet wurde. Beinahe hatte er vergessen, dass sie nicht mit Holzschwertern übten.
Womöglich hatte auch Dougan es vergessen, denn seine Augen weiteten sich und ihm entglitt erneut fast das Schwert, während seine freie Hand zu dem sich ausbreitenden roten Fleck unter seinen Rippen fuhr.
Ein dritter Katharer, dessen Name ihm entfallen war, sprang ihm mit einem Ausfallschritt entgegen. Der unglückliche Wicht spießte sich an Odrics Klinge auf. Marta, die trotz der Wunde in ihrer Schulter weiterkämpfte, fiel unter Gretes schwerem Schwert.
Haral, ein älterer Soldat, der mit ihm gemeinsam gegen die Zombies gekämpft hatte, kam auf ihn zu. Er hatte Dougan viele Jahre an Erfahrung voraus und wäre er stärkeren Willens gewesen, hätte er diese Gruppe angeführt. Doch ihm hatte seit jeher dieser Wille, dieser Antrieb gefehlt. Tränen strömten ihm übers Gesicht, als er sich Odric zuwandte und den Ausgang versperrte.
Odrics Schwert schlug dröhnend gegen seinen Helm und ließ den Katharer rückwärtstaumeln, doch er hielt sich auf den Beinen und umklammerte seine Klinge fester.
„Du wirst mich töten müssen, Apostat“, knurrte er.
Odric schritt vorwärts und entfesselte einen Sturm aus Stahl, der Harals erbarmungslosen Angriff zurückschlug. Haral konnte keinen wirksamen Gegenangriff aufbieten – auch dazu fehlte ihm der nötige Wille. Die unvermeidliche Lücke tat sich auf, und Odric nutzte sie instinktiv – er schlitzte dem Mann die Kehle auf.
Nun waren die Türen der Kathedrale in Sicht. Odric blickte zurück auf die acht treuen Katharer, die blutend oder sterbend auf dem polierten Boden der Kathedrale lagen. Heilige Katharer der Kirche Avacyns. „Mögen die Engel des Alabasterschwarms euch ...“ Er verschluckte sich an den Worten. Scherten sich die Engel überhaupt noch um menschliche Seelen?
„ ... euch zur Heiligen Ruhe führen“, sagte Thalia dicht neben ihm. Ihre Hand schlug das Zeichen von Avacyns Band auf ihrer Brust, erst von der einen und dann von der anderen Schulter zum Herzen. Sie blickte mit tränenhellen Augen zu ihm auf, wandte sich ab und rannte zur Tür.
Ein Teil von Odric lag tot neben dem Gefallenen auf dem Boden, doch er ließ ihn dort und rannte mit ihr und Grete zu den Stallungen. Wie seine Auserwählte versprochen hatte, standen dort drei Pferde für sie bereit. Sie hielten kaum inne, als sie aufstiegen und die Pferde zum Galopp anspornten. Und so ließen sie erst die Kathedrale, dann Thraben und schließlich ihr gesamtes altes Leben weit hinter sich.
„Fast zwei Drittel von ihnen hatte Jerren in der Hand“, sagte Thalia zu der kleinen Gruppe Katharer, die sie in der winzigen Kapelle in Heidenau versammelt hatte. „Ich habe das Ausmaß des Einflusses Ormendals auf den Rat zweifellos unterschätzt.“
Die anderen Katharer schüttelten betrübt die Köpfe.
„Und du weißt nichts darüber?“, fragte sie Odric.
Doch Odric sagte nichts. Er hatte kaum ein Wort gesprochen, seit sie die äußere Mauer Thrabens hinter sich gelassen hatten. Sie war sich nicht einmal sicher, ob er seitdem überhaupt auch nur geblinzelt hatte: Er saß einfach bloß da und starrte vor sich hin.
Sie seufzte und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Ich glaube ich verstehe, was du durchmachst, alter Freund“, flüsterte sie ihm ins Ohr. „Ich glaube, wir alle wissen es.“
„Er wird schon werden“, sagte Grete. „Lass ihm Zeit, sich auszuruhen.“
„Ich weiß“, sagte Thalia. „Er hat alle Zeit, die er braucht.“
„Was kann ich tun?“, fragte Grete.
Thalia lächelte. „Weißt du noch, als ich dich gebeten hatte, mit mir zu kommen?“
„Ich hätte es tun sollen.“
„Ich bin froh, dass du es nicht getan hast. Ich würde jetzt im Hof der Kathedrale hängen, wenn du nicht gewesen wärst und mir bei meiner Flucht geholfen hättest. Und nun bist du ja hier.“
„Aber was ist ‚hier‘? Was tun wir hier?“
„Willkommen beim Orden von Sankt Traft“, sagte Thalia und deutete auf die Kapelle um sie herum, als wäre sie ein prächtiger Palast.
„Sankt Traft?“, fragte Grete. „Du erhebst Anspruch auf eine edle Herkunft, indem du seinen Namen aussprichst. Dämonenjäger, Liebling der Engel, Märtyrer des Nadelöhrs: Du hättest dir kaum einen würdigeren Schutzpatron aussuchen können.“
„Ich habe ihn mir nicht ausgesucht“, sagte Thalia mit einem Lächeln. „Er hat mich ausgesucht.“
Ein leuchtender Nebel verdichtete sich in der Luft hinter Thalia und verwandelte ihr Haar in flüssiges Gold, während ihr Gesicht von innen heraus zu strahlen begann. Einen Augenblick später waren da zwei Gesichter, die sich voneinander lösten, bis ein Mann – leuchtend und substanzlos – neben ihr stand. Ein heiliger Geist. Sankt Traft selbst.
Thalia legte Grete eine Hand auf die Schulter. „Bist du bereit zu kämpfen?“
Grete fiel auf die Knie, doch ihr Blick blieb fest auf Thalia gerichtet. „Wohin auch immer du uns führst.“