Was bisher geschah: Opfer

Seine Suche nach Sorin Markov – einem jener der drei Planeswalker, die vor Tausenden von Jahren die Eldrazi auf Zendikar eingekerkert hatten – hat Jace nach Innistrad geführt. Trotz der düsteren Warnung von Liliana Vess hat er sich zum Markov-Anwesen, dem altehrwürdigen Familiensitz des Vampirplaneswalkers, aufgemacht. Ohne Lilianas Hilfe oder eine weitere Spur findet er sich auf dem schmalen Pfad zu dem einzigen Ort wieder, von dem er hofft, einen Hinweis auf Sorins Verbleib zu erhalten.


Das weitläufige Anwesen der Markovs lag so offen vor dem Betrachter wie ein ausgebreitetes seziertes Tier. Türme, Hallen, Pfeiler und Erker waren aus ihren Verankerungen gerissen und hingen in schrägen Winkeln vom in der Mitte wie entzweigeschlagenen Hauptgebäude herab.

Jace stand am Ende einer langen Bogenbrücke, die sich aus dem Berghang heraus aufspannte. Unter ihm erstreckte sich ein tiefes Tal, das im Nebel versank. Vor ihm war das, was einst der Rest der Brücke gewesen war, zu einer Ansammlung von verstreuten Trittsteinen über die Leere geworden, die über den Abgrund bis zum Eingang des Anwesens reichten.

„Ich schätze, Sorin ist wohl nicht hier“, murmelte er zu sich selbst.

Urplötzlich sah er den Ort so, wie er einst gewesen sein musste: ein kühnes Ensemble aus reich und filigran verzierten Türmen und Balustraden, das wie ein Geier am Rand eines Felsvorsprungs in schwindelnder Höhe hockte. Ihm stockte der Atem, als ihm die Ausmaße dieses Anwesens – nein, dieses Schlosses – bewusst wurden. Ein Palast.

Und dann war die Vision vorbei. Wie eine Illusion. Stirnrunzelnd tastete er mit seinen Gedanken nach irgendeinem anderen Bewusstsein, das das Bild in seinen Geist gezwungen hatte. Niemand war in der Nähe – zumindest niemand, dessen Gedanken er erspüren konnte. Er unterfütterte die Schutzvorkehrungen, die er gewohnheitsmäßig um seinen Geist herum errichtet hatte, und musterte das Schloss in seinem eigentlichen Zustand.

Hat Sorin das getan?, fragte er sich. Liliana hatte angedeutet, dass er auf dem Sitz seiner Familie nicht unbedingt willkommen war. In jedem Fall gab Jace allein das schiere Ausmaß der Zerstörung zu denken. Nicht das erste Mal auf dieser Reise fragte er sich, ob er Lilianas Warnungen ernster hätte nehmen sollen.

Ich sollte gehen, dachte er. Doch der Ort zog ihn an. Muster formten und lösten sich in den schwebenden Steinen auf – ein Hinweis darauf, dass die Teile des Schlosses von einer vernunftbegabten Wesenheit neu angeordnet worden waren, und ein Versprechen, dass sich hinter dieser unfassbaren Zerstörung tatsächlich ein Sinn verbarg. Es ist ein Rätsel, dachte er, und Rätsel wollen gelöst werden.

Die erste Herausforderung lag natürlich bereits darin, das Schloss überhaupt zu erreichen. Ein kaum zu erahnender Pfad aus Trittsteinen verlieh ihm nicht gerade das Gefühl von Sicherheit. Ein möglicher Sturz bereitete ihm indes nach all der Zeit, die er auf Polyedern auf Zendikar herumgeklettert war, deutlich weniger Sorgen, als es sonst der Fall gewesen wäre.

Er griff mit seinem Bewusstsein nach dem Stein, der ihm am nächsten war, und stieß ihn an. Der Stein bewegte sich kaum. Jace konnte nicht gleich im ersten Anlauf so viel Kraft anwenden, um sein gesamtes Gewicht zu simulieren, doch der erste Versuch schien vielversprechend. Er ließ seine Kraft in etwas weiterer Entfernung wirken und stieß den nächsten Stein an, der gleichermaßen nur leicht wackelte. Ein dritter Stein bewegte sich gar nicht, obwohl Jace zugeben musste, dass die Stärke seiner Telekinese mit wachsender Distanz abnahm.

Es war zweifellos riskant. Doch so etwas wie das Schloss vor ihm hatte er noch nie gesehen, nicht einmal auf Zendikar, wo die Gesetze der Schwerkraft von der Natur eher als lose Empfehlung betrachtet wurden. Rätsel wollen eine Lösung.

Er trat von der Kante der Brücke herunter und setzte einen Fuß auf einen in der Luft hängenden Stein. Er sank etwas tiefer, als Jace es erwartet hatte. Er streckte die Arme zur Seite, um sein Gleichgewicht wiederzufinden. Er setzte den anderen Fuß auf den Stein und verlagerte den Schwerpunkt seines Körpers nach unten. Also schön, dachte er. Ich schaffe das.

Er trat auf den nächsten Stein und danach auf den nächsten und dann auf noch einen. Schritt für Schritt.

Und dann stand er erneut auf einer festen Brücke. Das Schloss vor ihm ragte ernst und unversehrt über ihm auf. Er zog den Fuß zurück, unsicher, ob sich vor ihm fester Boden oder eine weitere Illusion – oder eine Vision, wie immer man es auch nennen wollte – befand.

Er duckte sich und tastete erneut mit seinen Gedanken auf der Suche nach jener Wesenheit, die seine Sinne täuschte, umher. Noch immer nichts. Die Vision war verschwunden.

Ein weiterer Schritt und dann noch einer, ein Stein nach dem anderen, bis er den Abgrund endlich überquert hatte.

Ich hoffe, ich muss nicht schnell von hier verschwinden, dachte er.

Über ihm ragte ein Bogen auf, hoch genug, dass sechs Männer von seiner Größe übereinander hindurchgepasst hätten. Darüber und darum herum drängte sich ein groteskes Gewühl aus Skeletten, Hexen, Wölfen, Dämonen und Dingen, die jeder Beschreibung spotteten, um einen riesigen Vampir, der sie allesamt überschattete – jener Markov, nach dem das Anwesen benannt war, wie Jace annahm. Zu beiden Seiten befanden sich Schädel, die ebenso groß waren wie er selbst und höhnisch grinsten. Jace war sich nicht sicher, ob es sich bei dem vermeintlichen weißen Stein in Wahrheit nicht um Gebeine handelte.

Er trat durch den Bogen hindurch und die steinernen Mauern umschlossen ihn.

Meine Schritte hallen durch den langen Gang und von den hohen Mauern über mir wider. Folgt mir jemand? Ich halte an und lausche nach Gedanken um mich herum. Das Geräusch hält an – keine Schritte auf Stein, sondern mein Herzschlag. Jedem Pochen folgt ein leiseres, schwächeres.

Natürlich. Vampire – selbstverständlich haben sie irgendeinen Zauber, der sie warnt, wenn ein Lebender ihre Hallen betritt. Wie das Läuten einer Glocke, die zum Abendessen ruft.

Zu schnell. Tief durchatmen, Jace. Verlangsame deinen Herzschlag.

Ich brauche Licht. Ich strecke meine Hand aus und lasse ein blaues Leuchten darauf erscheinen. Ich konzentriere mich, bis es gerade hell genug ist, um mir den Weg zu leuchten, ohne dass ich dabei zu deutlich aus der Entfernung zu sehen wäre. Zu beiden Seiten des Ganges rascheln Wandbehänge, als würde ein Wind durch sie hindurchfahren, doch ich spüre nichts. Ich ziehe mit der Kraft meiner Gedanken einen Wandbehang beiseite. Nur kahle Mauern dahinter – eine weitere Illusion.

Wie von dem nicht existierenden Wind getragen dringen schwache Geräusche an mein Ohr – Gelächter, Unterhaltungen, vielleicht Musik. Schleppende Rhythmen in dissonanter Tonart. Ist es möglich, dass dieser Ort nicht verlassen ist? Wahrscheinlich höre ich aber nur die Geister der Toten. Diese Welt und ihre Gespenster.

Ich erreiche das Ende der Halle und die Geräusche verstummen. Es fühlt sich an, als wäre ich mitten in eine Feier gelaufen und all ihre Gäste verstummt, um mich anzusehen. Doch nur die kahlen Steinwände erwidern meinen Blick.

„Warum bist du hier?“, durchbricht eine Stimme die Stille. Meine Stimme – habe ich gesprochen? Mein Mund ist geschlossen, und ich habe auf einmal festgestellt, wie trocken meine Kehle ist. Doch ich hatte gerade erst begonnen, mich zu fragen ...

Warum bin ich hier? Weil sie mich davor gewarnt hat? Weil sie mir gesagt hat, es wäre gefährlich? Weil ich dem Tod ins Angesicht blicken und es überleben wollte, um davon zu berichten?

„Weil du sterben wolltest?“

Ich weiß, dass ich das nicht gesagt habe. Erneut suche ich mit meinen Gedanken nach dem Geist hinter den Worten. Doch er entzieht sich mir.

Ich bin nicht der erste lebendige Mann, der kürzlich diese Hallen betreten hat. Ich sehe es wie eine Erinnerung – doch wessen Erinnerung? Die des Schlosses? Vielleicht ist die Stimme Teil dieser Erinnerung. Er steht hier, voller Furcht und mit zitternden Knien, drückt etwas – ein Buch – an seine Brust und sieht hinauf zu ... Ich vermag es nicht auszumachen. Zu etwas ... dort drüben.

Dort steht eine Tür offen, nur einen Spalt. Dort, wohin der Blick des zitternden Mannes gefallen war. Verdammt, dieser Ort macht mich wütend! Etwas verändert meine Wahrnehmung und dringt in meinen Geist ein – und ich kann es nicht aufspüren. Und offenbar auch nicht aufhalten. Ich habe die Tür zuvor übersehen und sie ist mir nur aufgefallen, weil jemand – etwas? – es so wollte.

Ein Geist? Würde einer der Geister Innistrads durch diese Hallen schweben – würde ich es dann bemerken? Ich bin nicht sicher, ob ich sein Bewusstsein wahrnehmen könnte oder nicht. Ich hatte noch keine Gelegenheit, es herauszufinden. Ich muss daran denken, das unbedingt nachzuholen, sollte mir zufällig einer über den Weg laufen.

Vielleicht tappe ich in eine Falle, aber ich gehe die Stufen hinauf und drücke gegen die Tür. Mit einem metallischen Kreischen öffnet sie sich.

... muss hier raus ...

Ungebeten stieben die Worte in meinen Gedanken auf. Ich habe sie nicht gedacht. Und dennoch kann ich kein Zeichen eines Eindringens finden – meine Schutzvorkehrungen sind so stark wie eh und je. Sind Geräusche an diesem Ort trügerisch? Oder ist es das Bewusstsein eines uralten vampirischen Planeswalkers, das zu mächtig ist, als dass ich darin eindringen oder ihm Widerstand leisten könnte? Vielleicht hatte Liliana recht.

... mich zu töten ...

Ein Fragment eines Gedankens oder einer Erinnerung. Die Erinnerung einer Person. Wahrscheinlich jener lebendige Mann, den ich in der Eingangshalle gesehen habe – oder sein Geist. Es läuft mir kalt den Rücken hinunter, was vollkommen irrational ist. Ich beachte es nicht.

Meine Herzschritte hallen in diesem kleineren Gang lauter. Mein Licht scheint zu hell und gleißt gegen die Steinmauern. Ich dämpfe es und spüre die Dunkelheit näherkommen.

„Warum bist du hier?“ Meine Stimme ist rau. Zu laut. Ja, das war meine Stimme. Ich spreche mit mir selbst.

Hinweis-Spielstein | Bild von Cliff Childs

Möglichkeit Eins: Jemand mischt sich in meine Erinnerungen ein.

Möglichkeit Zwei: Tatsächlich träume ich in jenem sonderbaren und fugenhaften Zustand, in dem man ohne Übergang von einer Szene zur nächsten gleitet.

Ich erinnere mich nicht, wie ich hierhergekommen bin. Ich befinde mich in einer großen Halle tiefer im Schloss. Der Wind heult durch die Räume um mich herum. Stein knirscht auf Stein, als große Teile zerborstener Architektur mich träge zu umkreisen beginnen. Einst war dies ein riesiges Gewölbe mit stattlichen Säulen – nun ist es nur mehr ein Trümmerfeld. Hände, Fratzen und Leiber stülpen sich aus dem Stein hervor. Dutzende und Aberdutzende von ihnen, selbst zu Stein geworden und darin gefangen und eingeschlossen.

„Was geschieht hier?“, ruft jemand. Ich erschrecke und ziehe mich in die Schatten zurück, um mein Bewusstsein auf die Suche nach dem Ursprung der Stimme zu schicken. Diese wächst jedoch zu einer Kakophonie aus vielen Stimmen an, Dutzenden von ihnen – und Schreien, die mit purem Schmerz und reiner Wut durchsetzt sind. Ein weißes Gesicht mit wilden Augen – Das zahle ich dir heim ...

Und der Lärm endet unvermittelt in steinerner Stille.

Ich drehe den Kopf und stehe einem Vampir gegenüber. Sein Mund ist offen und die Fänge entblößt. Ich zucke zusammen, ehe mein Geist meinem Körper verrät, dass dieser Vampir tot und in der Wand eingebettet ist. Wie peinlich.

Sie alle sind Vampire. Erben jenes Markov, der diesen Ort einst erbaute, so vermute ich. Im Tod sind sie auffallend unmenschlich: hagere Gesichter, eingefallene Augen, hervorstehende Fänge und tierhafte Züge – hässlich. Einer in meiner Nähe ist in einen Bilderrahmen aus Mahagoni eingefasst, mit einer goldenen Plakette am unteren Rand – nur leider steht die ganze Wand auf dem Kopf und das Namensschild ist dadurch zu hoch über mir, als dass ich es lesen könnte. Leinwandfetzen hängen vom Rand des Rahmens herab. Ich hebe sie an, wobei ich genau darauf achte, die Fänge des Vampirs nicht zu berühren, und die Überreste des uralten Porträts – zwei rote Augen aus verblassender Farbe – starren mich an. Ich lasse die Leinwand fallen ...

Hat der Vampir im Stein gerade geblinzelt?

Ich trete zurück, und mit einem Mal sind da Hände überall um mich herum, die nach mir greifen. Ich schreie und versuche, mich aus ihrem Griff zu entwinden, doch sie sind zu stark. Ich spüre den Hunger in ihrem heißen Atem, aber sie warten – und dann nähert sich ihr Erzeuger. Das muss er sein: Edgar Markov, der Urahn aller Vampire auf Innistrad ...

Nein. Das geschieht nicht wirklich. Nicht jetzt. Die Hände, die nach mir greifen, sind regloser Stein, der aus den Mauern ragt, und das Herannahen des uralten Vampirs ist nur eine Erinnerung. Die Erinnerung des toten Mannes.

Es muss sein Geist sein oder irgendeine andere Art von psychischem Nachhall, der an diesem Ort ausgelöst wird. Vielleicht drängt sich der Geist in mein Bewusstsein und zwingt mir diese Gedanken auf. Oder vielleicht nimmt meine eigene gesteigerte Empfindsamkeit verirrte Gedanken wahr. Oder vielleicht träume ich auch nur.

Ich gehe weiter. Ich weiß nicht wohin, und ich erinnere mich nicht, ob dies der Weg ist, auf dem ich gekommen bin. Möglichkeit Eins – ja, ich habe gut über alle Möglichkeiten nachgedacht.

Hier sind so viele tote Vampire. Liliana hatte recht. Wäre ich früher hierhergekommen, hätten sie mich in Stücke gerissen. Ich frage mich, ob genau dies mit jenem Mann geschehen ist, dessen Erinnerungen ich durchlebe.

In einem schmalen Gang sehe ich mein eigenes Gesicht im Stein, nacktes Grauen auf meinen erstarrten Zügen.

Nein, es ist sein Gesicht, bärtig und mit leeren Augen. Der Mann aus der Eingangshalle. Ein Mensch unter all den Vampiren. Was tust du hier, du Narr?

Er hält ein Buch in der Hand.

Seine steinernen Hände pressen es schützend gegen seine Brust. Es ist in blaues Leder eingeschlagen und wird von einem Band aus roter und grüner Seide geschlossen gehalten. Es gehört nicht hierher. Nicht nur nicht in dieses Schloss, sondern gar nicht erst auf diese Welt.

Ein weißes Gesicht, leuchtend wie der Mond, lehnt sich dicht an meines. Ihre lavendelfarbenen Augen leuchten vor Aufregung, als sie mir eine Theorie über etwas erläutert, was sie „Kryptolithen“ nennt. Ist sie es, die meinen Geist berührt? Ich taste nach ihrem Bewusstsein – natürlich ist sie nicht hier. Ich taste erneut umher und suche nach dem Eindringling – schleicht dort nicht etwas am äußersten Rand meines Bewusstseins entlang?

Es ist eine weitere seiner Erinnerungen. Der Text in dem Buch – es handelt sich um ein Tagebuch – ist ihrer. Er konnte unmöglich wissen oder verstehen, was sie ist: eine Angehörige des Mondvolks von Kamigawa. Ein Planeswalker. Es wird etwas länger dauern, ihren Text zu enträtseln.

Ich blättere zum Ende des Buches vor – nur leere Seiten – und arbeite mich zum Anfang hin durch, bis ich den letzten Eintrag finde. Doch ich sehe da nicht die stets sorgfältig auszuführenden Schriftzeichen Kamigawas. Dies ist eine andere Handschrift. Vermutlich seine. Jenrik – er schrieb seinen Namen an den Anfang, als er jenes Tagebuch fortführte, das sie ihm anvertraute und das ihn schließlich an diesen Ort brachte.

Es führte ihn in den Tod.

Ich kauere in einer abgeschiedenen Ecke, während die Geräusche des letzten Festmahls der Vampire durch das Schloss wehen – die schleppenden Rhythmen und das raue Lachen. Ich kann nicht hinaus. Sie wissen, dass ich hier bin, aber vielleicht spielen sie auch nur mit mir: Sie schleichen umher wie Katzen vor einem Mauseloch und warten darauf, dass ich mich zeige.

Das ist ermüdend. Ich könnte durchaus etwas aus seinen Erinnerungen erfahren, aber ich muss dabei nicht seine Angst und seinen elenden Schrecken spüren. Mein Herzschlag hat sich nicht verlangsamt, aber er ist lauter geworden – zumindest in meinen Ohren.

Was mache ich hier?

„Nach Sorin suchen“, sagt Liliana. Ihre Stimme ist zu laut für diesen Ort. „Nach dem Tod suchen.“

„Ich suche hiernach“, sage ich zu ihr und halte das Tagebuch hoch. Doch sie ist nicht da. Warum sollte sie das auch sein?

Das ist nicht gut. Liliana gehört zu mir – in meinen Geist. Jemand hat sie aus meinen Gedanken gerissen und ihre Stimme gegen mich eingesetzt. Wie kann das sein?

Möglichkeit Zwei – ich träume – scheint zunehmend wahrscheinlicher. Ich möchte jetzt bitte aufwachen.

„Du solltest gehen“, sagt Liliana. Ich sollte gehen.

Ich kann nicht hinaus.

Ich gehe die Treppen mit ihrem flauschigen roten Läufer hinauf, jenen Weg zurück, den ich gekommen bin, und stoße die Tür auf. Heulende Winde wehen über mich hinweg und um mich herum und alles dreht sich. Meine Arme rudern in der leeren Luft und ich starre in die nebligen Tiefen unter mir, durch und durch überzeugt, dass ich in sie hinabstürzen werde, bis eine meiner Hände den Türpfosten zu fassen bekommt und ich mich daran zurückreiße.

Das ist nicht der Weg, auf dem ich gekommen bin. Offensichtlich.

Etwas spielt mit meiner Erinnerung. Ich dachte, ich erinnere mich, die Stufen zu dieser großen Halle hinabgestiegen zu sein – vielleicht war auch dies Jenriks Erinnerung. Ich muss alles durchgehen und sortieren, um herauszufinden, welche Erinnerungen seine und welche meine sind, doch mich bedrängt das Gefühl, keine Zeit dafür zu haben.

Interessant. Warum fühle ich mich in diesem scheinbar leeren Schloss derart gehetzt? Ich suche erneut – und ich kann noch immer kein anderes Bewusstsein finden, doch das drängende Gefühl verstärkt sich. Nur eine seltsame Wirkung dieses Ortes, nehme ich an, die weitere Betrachtung verdient ... allerdings ein anderes Mal.

Eine große Doppeltür steht in den von Vampiren übersäten Wänden ein Stück offen. Bin ich diesen Weg gekommen? Dahinter liegt ein Raum wie eine Kapelle. Eine Skulptur ähnlich der, die über dem Eingang des Schlosses aufragt, nimmt eine gesamte Wand ein. Erneut thront der in Stein gehauene Vampirfürst über der Szene. Nur ist er diesmal etwas menschlicher, weniger ein ... blutsaugender Unmensch, nehme ich wohl an. Andere umringen ihn: Manche sind ebenfalls aus der Wand geschlagen, andere halb in sie eingelassen – wie die einst hier umgehenden Vampire in der großen Halle draußen – und wieder andere stehen frei mit dem Rücken zu mir. Sie sind wie Adlige gekleidet, doch ihre Haltung zeugt von Hunger. Das ganze Dutzend ist um einen Altar herum aufgestellt, auf dem ein Engel in Fesseln liegt, gegen die er sich verzweifelt sträubt, während der Zeremonienmeister ein Messer hält, bereit, ihm die Adern zu öffnen.

Das Blut eines Engels in irgendeiner Art Ritual zu trinken – das scheint das beste Rezept für etwas wahrhaft Entsetzliches zu sein. Wenn Edgar Markov wirklich der erste Vampir Innistrads und derjenige ist, der da das Messer hält, dann frage ich mich, ob ich gerade Zeuge der Geburt der Vampire dieser Welt werde.

Das Messer blitzt auf und leuchtendes, silbernes Blut rinnt aus dem Hals des Engels. Die Zwölf kommen näher, um sich zu laben – zuerst Edgar, der das Blut in einem silbernen Kelch auffängt, ehe er es trinkt. Ich kann nur zusehen, wie das Leben des Engels langsam entweicht und neues Leben in den Urhebern dieser entsetzlichen Tat sprießt.

Eine der Zwölf wischt sich das Kinn ab und blickt dabei zu mir herüber. Entweder lädt sie mich in den Kreis ein oder sie hat vor, mein Blut als Nächstes zu trinken. So oder so stolpere ich zurück und aus dem Raum hinaus. Ein letzter Blick über die Schulter bestätigt mir, dass die Vampire in ihre reglosen Posen zurückgekehrt sind.

Ich muss gehen. Ich kann nicht hinaus.

Meine Füße tragen mich in eine andere Halle. Sie wirkt vertraut.

„Warum bist du hier?“, höre ich erneut. Ist das Lilianas Stimme? Nein. Meine rissigen Lippen brennen vom Formen der Worte.

„Ich bin deswegen gekommen“, wiederhole ich und halte das Buch hoch.

„Was ist so wichtig an diesem Buch?“

Ich weiß es nicht. Ich öffne das Buch und blättere auf der Suche nach einer Antwort die Seiten um.

Das Gesicht eines Engels blickt mich an. Verurteilt sie mich dafür, dass ich das Ritual der Vampire nicht unterbrochen habe? Narr. Sie ist eine Zeichnung in einem Buch, und das war ... eine Illusion, eine Vision oder auch nur eine Erinnerung, die an diesem Ort festhängt. Eine alte, alte Erinnerung.

Neben der Zeichnung befindet sich eine weitere Skizze, die einen jener seltsam verkrümmten Steine zeigt, welche ich schon ein paarmal gesehen habe, seit ich hier bin. Die Skizze wirkt wie ein Schema, und ich frage mich, ob die Verfasserin dieses Buches für die Steine verantwortlich ist. Ihnen wohnt Magie inne, die den Fluss des Manas ändert.

Doch ich enträtsele die Worte auf dieser Seite. Sie drehen sich um den Engel Avacyn. Präzise und sorgsam niedergeschrieben, als wollte man dadurch ihre Tragweite unterstreichen. Sorin hat sie erschaffen. Sorin wollte die Menschen Innistrads beschützen, damit die Vampire nicht zu viel von ihrem Blut tranken. Innistrads Inkarnation der Reinheit und der Güte war von einem vampirischen Planeswalker erschaffen worden, der das Gleichgewicht zwischen mächtigen Jägern und hilfloser Beute bewahren wollte.

Engel. Liliana hatte Engel erwähnt und angedeutet, sie wären noch schlimmer als die Werwölfe, von denen ich attackiert worden war. Ich hatte es lediglich für eine weitere ihrer höhnischen Bemerkungen gehalten. Sie konnte Engel noch nie leiden. Doch der Text legt etwas anderes nahe.

„Die Engel sind wahnsinnig geworden“, krächze ich mit trockener Kehle in den Raum hinein.

Sorin Markov hat Avacyn erschaffen. Avacyn herrscht über die Engel. Die Engel haben sich gegen die Menschen gewandt. Und irgendjemand hat das Anwesen der Markovs kurz und klein geschlagen.

Möglichkeit Eins: Sorin ist wahnsinnig geworden und hat erst seinen Familiensitz verwüstet und dann seine engelhafte Schöpfung auf die Bewohner Innistrads gehetzt.

Möglichkeit Zwei: Jemand hat Sorin herausgefordert, und dieser Jemand hat Sorins Familiensitz verwüstet und Sorins engelhafte Schöpfung auf die Bewohner Innistrads gehetzt.

Beide Möglichkeiten sind etwas furchteinflößend. Keine von beiden vermag jedoch zu erklären, warum Sorin nicht auf Zendikar gewesen ist. Und beide deuten auf die Engel als einen etwaigen Weg hin, Sorin zu finden. Und dieses Buch erklärt den Wahnsinn der Engel. Ich schließe es, drücke es mir an die Brust und sage in die Stille hinein: „Das hier wird mir helfen, Sorin zu finden.“

Sobald ich es hier herausschaffe.

Die nächste Halle ist mir vertraut. Ich weiß, wohin ich gehen muss. Alles ergibt mehr und mehr Sinn, je weiter ich mich vom Herzen des Schlosses entferne: Dieser Ort ist voller geistiger Rückstände – Bruchstücke von Erinnerungen, alten wie neuen. Jenrik kam zu diesem Schloss mit seinen Aufzeichnungen, doch als die Vampire ihn einzufangen und auszusaugen drohten, riss jemand das Schloss auseinander und kerkerte die Vampire – samt dem armen Jenrik – in den Wänden ein.

Dort ist der Eingang. Ich werfe einen allerletzten Blick hinter mich:

So, so dunkel. Und ich spüre eine Präsenz in der Finsternis, einen Hunger, ein Begehren. Doch noch immer kein Bewusstsein. Ich taste danach und finde ... nichts. Leere.

Ich wende der Dunkelheit den Rücken zu, schreite durch die hohe Eingangshalle und verlasse das Anwesen der Markovs.


Schatten über Innistrad-Storyarchiv

Planeswalker-Profil: Jace Beleren

Weltenbeschreibung: Innistrad