Was bisher geschah: Der Kampf um Thraben

Die Zerstörung Innistrads steht kurz bevor. Emrakul hat sich erhoben, und die Titanin der Eldrazi hat unzählige Schrecken und Mutationen mit sich gebracht, die alles andere Leben auf der Welt auszulöschen drohen. Die Wächter haben sich in Thraben versammelt, und die Ankunft Lilianas und ihrer Untotenarmee hat ihnen die nötige Zeit und den erforderlichen Raum verschafft, um einen Plan zu fassen.

Doch wird überhaupt irgendein Plan genug sein, um Emrakul zu bezwingen?


Liliana

Es war ein Vergnügen, den sogenannten Wächtern dabei zuzusehen, wie sie sich ob einer schwierigen Entscheidung wanden. Gideons nur spärlich verhohlener Verdruss, Nissas Unbehagen, Chandras Ungeduld und Jaces qualvolle Unentschlossenheit. Jace war an seinem Lieblingsort: dank willkürlicher Beschränkungen, die er sich selbst auferlegt hatte, irgendwo zwischen allen Stühlen und mit der Frage befasst, warum sämtliche Entscheidungen immer so furchtbar schwierig sein mussten. Du wirst dich nie ändern, oder? Liliana konnte nicht sagen, ob sie das nun amüsant oder abstoßend fand. Manchmal war es beides.

Eine Angehörige des Mondvolks flog mit geweiteten Augen und kurzem Atem herbei. Sie nahm keine Notiz von den Untoten, die sie vor Emrakuls Dienern beschützten, doch sie sah sehr wohl zu jenem gewaltigen Spektakel auf, das Emrakul bot. Es war unmöglich, das nicht zu tun. Sie landete neben Jace und sprach hastig und zu leise, als dass Liliana sie hätte hören können. Sie beendete ihre kurze Rede auf eine Art, die Liliana verwirrend gefunden hätte, hätte sie nicht schon selbst eine Menge Zeit mit einem Telepathen verbracht. Das musste die Mondfrau sein, die Jace erwähnt hatte. Jace und Tamiyo setzten ihre stumme Unterhaltung fort und rückten enger zusammen, als ihre Bewusstseine einander berührten. Liliana runzelte die Stirn. Noch eine nutzlose Gedankenmagierin ... Genau das, was wir jetzt brauchen.

Sie wollte etwas Zeit mit Jace allein, um herauszufinden, worauf das hier eigentlich alles hinauslaufen sollte. Ihre Untoten hatten für eine zeitweilige Atempause gesorgt. Doch sie mussten hier weg. Raus aus Thraben, fort von Innistrad, fort von Emrakul.

Als sie an den Namen dachte, wurde Lilianas Blick zu der gewaltigen Gestalt hinaufgezogen, die vor den Toren Thrabens schwebte. Warum hockt es einfach nur da? Die Luft fühlte sich stickig und abgestanden an, durchzogen vom Geruch der ... Nein, es waren nicht die Toten. Liliana war an die Toten und deren Geruch gewöhnt. Dieser Geruch jedoch hatte etwas Fauliges an sich, was Liliana zu schaffen machte.

Die Luft erfuhr eine plötzliche Veränderung, um einen Geruch und einen Druck anzunehmen wie an einem Frühlingstag vor einem Sturm, und in dieser jähen Veränderung entfaltete sich Emrakul. Die Wolke ihres Leibes tat sich auf: Ihre langen, dürren Tentakel sprossen in die Länge und vermehrten sich – aus Hunderten wurden Tausende, Zehntausende, mehr. Eine unsichtbare Sphäre der Macht brach aus Emrakul hervor, kräuselte sich und traf jeden Planeswalker dort, wo er sich gerade befand.

Übelkeit wallte in Lilianas Magen auf, und Schwindel verklärte ihr den Verstand. Diese entsetzliche Vermischung von Verzweiflung und Unwohlsein hatte sie nur einige wenige Male in ihrem Leben erfahren. Als die Augen ihres Bruders Josu sich leblos geöffnet hatten – tintenschwarze Kugeln voller Verdammnis. Als sie das erste Mal Bolas unheilvollen Blick gesehen und sein verächtliches Lachen gehört hatte, während er ihr eine vergiftete Form der Erlösung versprach. Als die Macht des Kettenschleiers das erste Mal durch ihre Adern geströmt war und ihre Haut wie eine trockene Hülle hatte aufreißen und welken lassen, um das Blut – ihr Blut – hinaussickern zu lassen.

Nichts davon war auch nur im Entferntesten mit jenem Gefühl alles zersetzenden Unbehagens vergleichbar, das sie in Emrakuls Gegenwart empfand. Liliana Vess hatte ihr ganzes Leben damit zugebracht, nicht zu sterben, und das erste Mal seit langer Zeit fragte sie sich, ob sie womöglich dem falschen Ziel nachgejagt war. Im Schatten von Emrakuls Erblühen schien der Tod nur eine weitere oberflächliche Lüge des Lebens zu sein, eine falsche Hoffnung, die nur unzureichend jene wahren Schrecken zurückdrängte, die alle Lebenden zu erwarten hatten.

Emrakul. Emraakull. Emraaa...

Sie schüttelte entschlossen den Kopf und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Sie hatte zu lange gelebt und zu viele Widrigkeiten überwunden, um nun einfach klein beizugeben. Wir müssen von dieser Welt fliehen. Das hier ... Es ist Wahnsinn, hier zu bleiben. Das waren nicht ihre eigenen Gedanken, sondern der Rabenmann, der geradewegs in ihren Geist hineinsprach. Er klang ... verängstigt. Liliana fand einigen Gefallen an seiner Furcht. Du kannst also Angst empfinden. Ihre Untoten stöhnten im Chor: „Gefäß der Vernichtung. Wurzel allen Übels. Flieh.“ Liliana schreckte auf. Sie war es gewohnt, dass der Kettenschleier etwas von Gefäßen und Wurzeln von sich gab, aber fliehen? Was auch immer Emrakul war: Der Kettenschleier wollte damit nichts zu schaffen haben.

Der Druck in der Luft erhöhte sich und bescherte ihr einen Kopfschmerz, der ihr die Tränen in die Augen trieb. Die anderen Planeswalker krümmten sich, außer Jace, der irgendeinen Zauber wirkte. Liliana senkte den Kopf, als ihre Pein sich vervielfachte. Emrakul von außen. Der Kettenschleier von innen. Der verfluchte Rabenmann von wo auch immer er war. Sie würde sich nicht von ihnen bezwingen lassen. Das sind meine Untoten, mein Kettenschleier, mein Kopf. Sie sind mein!

Sie starrte Emrakul an, während ihre Furcht langsam zurückwich und einem lodernden Zorn Platz machte. Wie kannst du es wagen ...

Weitere Energie barst aus Emrakul heraus, ein ausgewachsenes Gewitter, das den vorherigen Ausbruch wie einen kurzen Frühlingsregen erscheinen ließ. Liliana wurde auf die Knie gezwungen, während sie vor Wut aufschrie. Ihre Untoten stöhnten ein einziges Wort.

„Em-ra-kuuuull.“


Jace

Der purpurbeschattete Turm durch regnerisches Glas. Feuerschwere Adern fallen dunkelschwer. Emrakul keckert Gedanken in einer Schleife aus kaltem Metall ...

Eine Stimme schnitt durch das wirre Brabbeln – eine vertraute Stimme, die er zum ersten Mal hörte. Das läuft gar nicht gut. Ich werde mich davon nicht bezwingen lassen. So schwach bin ich nicht. Jace atmete langsam und gleichmäßig. Gedanken ordneten sich. Er versuchte, sich an den Unsinn zu erinnern, der sein Bewusstsein nur Augenblicke zuvor beherrscht hatte, doch er war bereits verschwunden – wie Tau, der in der Morgendämmerung verging. Er befand sich oben auf einer langen, breiten Wendeltreppe, deren weiße Stufen von Blau durchsetzt waren. Die Treppe war hell erleuchtet, wenngleich er keine Lichtquelle auszumachen vermochte, und sie erstreckte sich tief nach unten – viel weiter, als er sehen konnte.

Über ihm erhob sich ein hoher, dünner Turm aus Stein. Vom Boden aus wirkte er wie sein Refugium daheim auf Ravnica. Große Steintische voller Bücherstapel, Karten und verschiedenen ... Gerätschaften, die surrten und summten. Bücherregale, so weit das Auge reichte – er blickte sie sehnsüchtig an. Es sah nicht nur so aus wie seine Wohnstatt auf Ravnica, es war seine Wohnstatt ... außer dass sich in deren Mitte keine prächtige Treppe in die Tiefe wand.

Und auf Ravnica gab es zweifellos auch kein gewaltiges Ungeheuer, das sein Refugium von oben zu zerstören suchte.

Hunderte Schritt über sich sah Jace gewaltige Steinblöcke des Turms wegbrechen oder davongeschleudert werden. Das gesamte Dach des Turms war bereits verschwunden und gab den Blick auf einen dunklen Himmel frei, der von Wolken in einem unheilvollen Purpur überzogen war. Als Jace die fortschreitende Zerstörung weiter beobachtete, erkannte er, dass es sich gar nicht um Wolken handelte. Es war ein Ding. Eine Kreatur. Die Kreatur löste sich in einer gigantischen purpurnen Wolke auf, aus der Hunderte zuckender Tentakel hervorwuchsen, die von Blitzen und ohrenbetäubendem Donner begleitet nach dem Turm schlugen und auf ihn einpeitschten. Die Kreatur hatte einen Namen ...

Emrakul. Der Name klang merkwürdig, als er ihn aussprach. Er war ein Wort, das er nicht kennen sollte. Ein Wort, das er nicht kennen konnte. Oder vielleicht war das auch nur das Wort hinter und unter dem Wort ... Jace hielt inne. Es war zermürbend, wie leicht es war, den eigenen Gedankengang zu vergessen. Konzentriere dich. Emrakul. Ein ... Ding. Ein Eldrazi. Der Eldrazi. Jaces Verstand hatte Mühe, die Natur dieses Wesens voll zu erfassen. Sein Kopf dröhnte von einem dumpfen, hämmernden Schmerz, der mit jedem Gedanken an die Titanin der Eldrazi dort draußen stärker wurde. Dann denke eben nicht an sie. Wo bin ich? Was ist das für ein Ort?

Weitere Erinnerungen kehrten zurück. Er war nicht in einem Turm gewesen. Er war in Thraben, das von unermesslichen Horden von Emrakuls Dienern belagert wurde. Sie alle waren dort. Gideon. Tamiyo. Nissa. Chandra. Liliana. Sie war überraschend aufgetaucht – an der Spitze einer Armee aus Untoten, um sie vor den Kultisten und Kreaturen Emrakuls zu beschützen. Liliana war zurückgekommen. Sie ...

Ein lauter Donnerschlag grollte draußen, der Boden erbebte leicht unter seinen Füßen und Jaces Kopf begann erneut zu dröhnen. Blitze zuckten und erhellten Emrakuls Tentakel, die weiter riesige Teile aus dem steinernen Bauwerk rissen. Der Turm war groß und massiv, doch Emrakul nahm ihn Stein für Stein auseinander.

Ein sanftes, weißes Licht begann weiter unten an der Treppe zu pulsieren. Es rief ihn zu sich. Unter gewöhnlichen Umständen war Jace vernünftig genug, um verlockenden weißen Lichtern an einem fremden Ort zu misstrauen, führten sie doch in aller Regel nur zu weiteren fremden Orten. Doch unter gewöhnlichen Umständen wurden solche Orte auch nicht von allmächtigen Titanen der Eldrazi angegriffen. Das weiße Leuchten wirkte zunehmend noch verlockender.

Draußen gab es eine gleißende Explosion – eine lange, tiefe Woge aus Purpur, gefolgt von krachendem Donner. Der gesamte Turm erzitterte, als ein Blitz darin einschlug. Jace wand sich vor Schmerz am Boden und hielt sich den Kopf, in dem es quälend pochte. Was geschieht mit mir? Und dann sprach eine andere Stimme – seine Stimme, die von irgendwo anders herkam – voller Befehlsgewalt: Beweg dich. Sofort. Geh nach unten.

Jace blickte durch die Ruinen des Turms zu dem hungrigen purpurnen Maul Emrakuls hinauf. Ihre endlosen Tentakel wanden sich um immer größere Teile des steinernen Bollwerks. Jace rappelte sich auf und stolperte auf die Treppe zu. Er beschloss, dass die Stimme – meine Stimme – recht hatte. Es war Zeit, von hier zu verschwinden. Er stieg in die Tiefen des Turms hinab.


Liliana

Lilianas Blut stand in Flammen, ihr Verstand lag in Trümmern. Eine einzige Sache hielt sie noch notdürftig zusammen: Zorn. Das sind meine Untoten. Sie sind mein! Du wirst sie nicht bekommen! Ohne einen bewussten Gedanken in dieser Richtung zu fassen, sog sie die Macht des Kettenschleiers tief in sich ein und stemmte sich damit Emrakul entgegen. Sie spürte die verderbte Berührung des Eldrazi, die nun derart mächtig war, dass ihr sogar die Toten erlagen. Doch selbst diese unheilvolle Berührung war nichts gegen Lilianas nekromagische Kraft, die vom Kettenschleier gespeist wurde. Sie spürte, wie ihre Untoten zu ihr zurückkehrten.

Die Macht, die ihr durch die Adern strömte, war eine einzige Labsal. Jedes Mal, wenn sie den Kettenschleier zuvor verwendet hatte, war da nichts als Qual und ein Reißen in ihr gewesen, doch irgendwie schützte ihre Wut sie nun vor den schlimmsten Verletzungen, die ihr der Kettenschleier sonst zufügte. Vielleicht ist das das Geheimnis, wie man die volle Macht des Schleiers entfesselt. Ich habe sie nie genug gewollt.

Stimmen flüsterten ihr noch immer zu, Stimmen von ihren Untoten und die des Schleiers unmittelbar in ihrem Verstand. „Gefäß der Vernichtung. Wurzel allen Übels.“ Dies waren nicht die einzigen Stimmen, die sie hörte. Der Rabenmann fiel in die lähmende Melodie ein. Wir müssen von hier fort. Das ist Wahnsinn. Ich dachte, du willst den Tod bezwingen. Das Wesen, dem du hier gegenüberstehst, ist älter als die Zeit und mächtiger als du, selbst wenn du tausend Kettenschleier trügest. Wir müssen von hier fort! Der Rabenmann versuchte, seinen Worten den Anschein eines Befehls zu geben. Nie zuvor hatte er so nackt, so verwundbar geklungen.

Liliana gestattete sich einen Blick zu den anderen Planeswalkern. Chandra, Tamiyo und Gideon lagen bewusstlos am Boden. Sie tastete kurz mit ihrer Macht nach ihnen, doch ihre Gestalten reagierten nicht auf die nekromagische Berührung. Sie waren also allesamt noch am Leben. Nissa war wie an Ort und Stelle festgewurzelt. Sie schrie, doch die Worte, die dabei aus ihrem Mund drangen, waren nur unzusammenhängendes Gestammel. Grüne und purpurne Energie sammelte sich um sie, prallte aufeinander, ebbte auf und ab. Jace war der Einzige, der auf den Beinen war und bei Bewusstsein zu sein schien, auch wenn er ihr keinerlei Beachtung schenkte. Sie bemerkte einen blauen Schimmer um ihn herum, einen Halbschatten, der sich auch auf die fünf anderen Planeswalker gelegt hatte. Auf alle bis auf sie. Ist es das, was euch am Leben hält?

Der Halbschatten reichte nicht bis zu ihr. Doch sie brauchte seine Hilfe nicht. Liliana hatte beachtliche Macht gekannt, vereint mit der Weisheit und der Unbarmherzigkeit, die aus zweihundert langen Lebensjahren erwachsen war. Doch sie kannte nichts, was sie vor dem geistigen Ansturm Emrakuls hätte beschützen können. Ohne die Macht des Kettenschleiers wäre sie hier untergegangen.

Eine Macht, über die sie nun gebot. Und sie tat dies mit großer Freude. Sie lachte angesichts des damit verbundenen Kitzels. Nie war sie ihrer früheren Allmacht so nahe gekommen. Ich kann alles schaffen. Und dennoch wisperten die Stimmen des Schleiers noch immer in ihrem Kopf. Gefäß. Gefäß der Vernichtung. Wir müssen vor dem Weltenbeender fliehen. Dem Weltenerschaffer. Gefäß! Die Stimme des Rabenmannes war von Panik erstickt. Höre auf den Schleier, du Närrin! Flieh! Ihre Untoten. „Wurzel allen Übels. Gefäß der Vernichtung. Gefäß!“

Liliana lachte ein Lachen, das von Zorn und Macht durchwirkt war. „ICH. BIN. KEIN. GEFÄSS!“

Sie verdrängte die Stimmen des Schleiers und des Rabenmannes und brachte sie jäh zum Schweigen. Sie spürte ihren Zorn und ihre Ungeduld, als sie sich verzweifelt gegen sie zur Wehr setzten. Alles, was zählt, ist mein Wille. Mein Verlangen. Nichts kann mir standhalten. Sie griff in den Schleier hinein und entzog ihm mehr Macht, als sie je zuvor gewagt hatte.

Ich gehöre nicht dir. Du gehörst mir.

Sie sammelte die Energien des Schleiers und bündelte sie gemeinsam mit ihrer eigenen bemerkenswerten Macht und Weisheit. In der Umarmung solcher Kräfte spürte sie Emrakuls geistigen Angriff nicht einmal mehr.

Sie wandte der Titanin nun ihre volle Aufmerksamkeit zu. Als würde Emrakul Lilianas wachsende Macht bemerken, bewegte sie sich langsam in ihre Richtung. Jeder scheint sich vor dir zu fürchten, Emrakul. Liliana lachte erneut, ein Keckern, während sie in ihrer Macht badete. Niemand glaubt, dass ich dich besiegen kann. Finden wir es doch heraus.


Jace

Bei seinem Abstieg blickte Jace gelegentlich nach oben, doch alles nur wenige Schritte hinter ihm wurde von Schatten verhüllt. Ich schätze, diese Stufen führen nur nach unten. Er dachte, er sollte das Gefühl, einen unbekannten Gang hinunter in die Tiefen eines seltsamen Turmes geleitet zu werden, irgendwie beunruhigend finden – vor allem auch deshalb, weil sein Weg von andauerndem Donner von oben begleitet war – , doch er blieb ganz gelassen. Hier unten ist es zweifellos sicherer als dort oben.

Die Steinwand neben ihm begann zu schimmern. Während er dabei zusah, wurde der Stein zu Glas oder zumindest irgendeinem anderen durchsichtigen Material. Die gesamte Wand neben ihm wurde vom Boden bis zur Decke zu einer klaren Fläche. Hinter dem Fenster war eine Szene zu sehen, wie in einem Schaukasten, den Kinder für die Schule anfertigten, doch dieses Diorama bewegte sich.

Die Figur in der Mitte war Gideon. Er stritt gegen irgendeine Art von himmlischem Wesen, das über ihm aufragte – es war wahrhaftig himmlisch, denn es bestand aus einem sternenbedeckten Firmament. Es hatte zwei große, schwarze Hörner, die ein blaues Gesicht einrahmten. Es schwang eine grotesk große Peitsche, in deren Griff ein menschlicher Schädel eingearbeitet war. Gideon sah hinreichend nach Gideon aus: breites Kinn, goldener Sural und glänzende Rüstung. Der Ausdruck auf seinem Gesicht glich jedoch ganz und gar nicht jenem Gideon, den Jace kannte. Dieser Gideon wirkte besorgt, beinahe eingeschüchtert. Seine Miene zeigte Zorn – aber auch Furcht. Interessant.

Um Gideon herum standen die anderen Mitglieder der Wächter. Chandra mit flammendem Kopf und Händen. Nissa. Selbst ein Jace. Ich bin doch sicher größer? Die himmlische Gestalt breitete die Arme weit aus, die Peitsche in der Hand. Sie sprach mit einer tiefen, hallenden Stimme, die aus dem Boden emporzudringen schien. „Und was ist es, was du, Kytheon Iora, am meisten begehrst? Was ist es, was du wirklich willst?“

„Nein!“, rief Gideon mit vor Schmerz und Trotz verzerrtem Gesicht. „Es gibt nichts, was du mir anbieten könntest, Erebos! Nichts! Alles, was du anzubieten hast, ist Gift.“

Das Wesen – Erebos – hob die Peitsche. „Das ist kein Angebot, Sterblicher. Sage mir wahrheitsgemäß, was du am meisten begehrst, oder ich werde deine Freunde einen nach dem anderen töten.“

Gideons Schultern senkten sich, und sein Sural fuhr in die Scheide zurück. Er blickte mit einer Mischung aus Zorn und Verzweiflung zu Erebos auf. „Am meisten begehre ich ...“ Er hielt inne und holte tief Atem. „Andere zu beschützen, sie zu retten ...“

„Du lügst.“ Erebos schlug mit der Peitsche zu, und als sie den Jace neben Gideon traf, löste dessen Fleisch sich auf und er verschwand. Ich mag es wirklich nicht, mich selbst sterben zu sehen. Gideon schrie auf und holte mit blitzendem Sural aus, doch Erebos zeigte keine Regung. Er hob die Hand und Gideon wurde zurückgeschleudert.

„Du kannst mich nicht besiegen, Sterblicher. Das konntest du nie. Und das wirst du nie. Sage mir die Wahrheit. Dann lasse ich den Rest deiner Freunde am Leben.“

Draußen grollte laut der Donner – Emrakul, das ist Emrakul –, und Jace konnte Gideons Antwort nicht hören. Doch wie auch immer sie gelautet hatte: Erebos war damit nicht zufrieden. Ein weiteres Mal schnellte die Peitsche vor und Nissa verschwand durch ihre Berührung. Gideon zuckte zusammen, als Nissa erschlagen wurde, griff jedoch diesmal nicht an. Chandra stand nur mit leerem Blick da. Ihre flammenden Hände hingen reglos an ihrer Seite. Dieses Schauspiel ist zweifellos nicht die Wirklichkeit. Findet es in Gideons Kopf statt?

Gideons Stimme brach vor Zorn. „Ich will dich besiegen, dich in Stücke reißen, damit du nicht länger ...“

„Nein. Noch immer sprichst du Lügen.“ Erebos Stimme hingegen war ruhig wie ein Friedhof. Ein weiterer Peitschenhieb, und Chandra verschwand. „Musst du erst alles verlieren, bevor du dir die Wahrheit eingestehst, Sterblicher? Wozu ist all dieser Starrsinn gut? Du bist sehr darauf aus, den größten Schmerz zu spüren.“ Erebos Peitsche tanzte unter der Führung ihres Meisters. „Was willst du?“

Gideon hob den Kopf gen Himmel und schrie: „Ich will ...“, doch noch ehe er seinen Satz beendet hatte, wurde das Fenster dunkel.

Jace rührte sich nicht, gelähmt von all dem, was er gerade gesehen hatte. Wer ist Erebos? Welchen Schmerz durchlebt Gideon? Jace hatte nicht geahnt, dass sein Freund so sehr litt. Und meine Unwissenheit über Gideon wird nur noch von meiner Unwissenheit darüber übertroffen, was hier vor sich geht. Sind das Träume? Bin ich in Gideons Verstand? Emrakul über mir wirkt zumindest sehr, sehr echt.

Die Schatten drängten dichter an Jace heran. Er musste in Bewegung bleiben. Die Antworten waren weiter unten zu finden. Er war nur ein paar Schritte gegangen, als eine weitere Wand durchscheinend wurde. Diesmal befand sich Tamiyo in der Mitte der Szene.

Sie saß zusammengekauert an einem kleinen Pult und brütete über einer großen Schriftrolle, die auf einem staubigen Tisch ausgebreitet war. Die Szene war nur von einer Kerze erhellt, die jedoch im Verhältnis zu ihrer Größe viel zu viel Licht spendete. Hinter Tamiyo befanden sich Regale voller Bücher und neben ihnen weitere Stapel. Jace verspürte etwas Wehmut. Immer nur von Büchern umgeben zu sein und alle Zeit zu haben, sie zu lesen. Das war schon seit einer Weile nicht mehr sein Leben gewesen und würde es auch so schnell nicht wieder werden.

Aus einem von Tamiyos Augen rann Blut. Es begann mit einem leisen Tröpfeln. Jeder Tropfen traf mit einem leisen Pling auf den Tisch. Während sie weiter in der Schriftrolle las, begann auch aus dem anderen Auge Blut zu rinnen. Jeder zweite Tropfen stammte nun aus ihm. Pling, pling. Pling, pling. Pling, pling.

Jace sah entsetzt zu, wie fleischiges Flechtwerk über Tamiyos Augen wucherte und sie vollkommen bedeckte. Das Mal Emrakuls. Jace hatte in den letzten Tagen so viel von Emrakuls Zeichen gesehen. Das Blut tropfte weiter durch das Flechtwerk. Pling, pling. Pling, pling. Pling, pling.

Das Flechtwerk erblühte anderswo. Fleischige Auswüchse brachen aus Tamiyos Fingern hervor und bedeckten ihre Hände mit an ein Netz gemahnenden Mustern. Die Auswüchse breiteten sich auf den Tisch darunter aus und machten Tamiyos Hände daran fest. Nun war sie blind und konnte ihre Finger nicht mehr rühren. Das Blut tropfte noch immer aus ihren Augen. Pling, pling. Pling, pling. Pling, pling.

Während sie den Gebrauch ihrer Augen und Hände verloren hatte, hatte Tamiyo unablässig vor sich hin geflüstert, auch wenn für Jace kein Geräusch zu hören gewesen war. Die fleischigen Auswüchse überwucherten nun auch ihren Mund und versiegelten ihre Lippen mit Emrakuls Netz. Und selbst nachdem ihr Mund verschlossen worden war, wuchs das Geflecht wimmelnd und würmelnd weiter. Die Ranken sprossen aus ihrem geschlossenen Mund heraus, und wenn nun das Blut aus Tamiyos Augen tröpfelte, dann schnappten die Ranken danach, um sich zu winden und zu zucken, während der Lebenssaft in ihrer öligen Haut versickerte. Pling, zuck. Pling, zuck. Pling, zuck.

Tamiyo war vollkommen reglos. Ihr Mund, ihre Augen und ihre Hände waren völlig erstarrt. Jace hatte Tamiyos Bewusstsein berührt. Er kannte ihre Essenz besser als die meisten anderen. Ihre Fähigkeit zu sehen, zu sprechen, zu schreiben – das war der wichtigste Bestandteil ihrer Magie, ihres Verständigungsvermögens. Das war es, was sie ausmachte. Sie wird ausradiert. Jace schrie und hämmerte gegen das Fenster, doch weder Tamiyo noch irgendetwas anderes in dem Raum reagierte darauf. Das Fenster wurde wieder zu undurchsichtigem Stein.

Jace sackte in sich zusammen. Was ist das für ein Ort? Das können nicht die Bewusstseine meiner Freunde sein. Oder? Über ihm hingen die Schatten. Er war müde. So unendlich müde. Langsam rappelte er sich auf und setzte seinen Abstieg fort.


Liliana

Diese Macht. Sie war eine Offenbarung. Alles, was nötig gewesen war, war ihr Wille. Ihr Verlangen. So lange Zeit hatte sie sich selbst als vollkommen pragmatisch und nur von ihrem Ziel angetrieben betrachtet. Nicht zu sterben. Ihre dämonischen Folterer zu töten. Doch nun wusste sie, dass sie nicht willens gewesen war, diesen endgültigen Schritt zu gehen. Die allerletzte Grenze zu überschreiten. Ich zeigte Zurückhaltung. Wie töricht.

Vor ihr ragte Emrakul auf. Eine Titanin der Eldrazi. Ein Wesen älter als die Zeit, falls die Stimme in ihrem Kopf die Wahrheit gesagt hatte. Ich glaube, du bist ein Ding. Ein mächtiges Ding, doch eines, das lebt. Und wenn du lebst, dann kannst du sterben. Und wenn du stirbst – ein weiteres Lächeln –, dann gehörst du mir.

Die Energien des Schleiers zuckten und bäumten sich unter ihrer Kontrolle auf. Sie wollten verwendet werden, um zu verdorren und zu töten. Macht ist dazu da, benutzt zu werden. Sie sammelte sie, formte sie und schleuderte einen gleißenden Strahl nekromagischer Energie nach dem anderen auf die gewaltige Gestalt Emrakuls, um die Titanin mit ihrer Macht zurückzutreiben.

Da war ein Lied in Lilianas Bewusstsein – eines, das alles andere übertönte. Es war ein Lied der Macht, und es erklang mit einer ach so süßen Melodie. Das ist es, wofür ich geboren wurde. Dies ist mein Schicksal. Jeder Strahl, der Emrakul traf, hinterließ klaffende Krater vernarbten, toten Materials und turmhohe Tentakel, die verschrumpelten und verdorrten. Manches davon regenerierte sich, doch nicht genug, ehe Liliana auch schon ihren nächsten Treffer landen konnte. Das erste Mal seit ihrem Erblühen wurde Emrakul kleiner. Sie wurde zurückgeworfen. Liliana gewann.

Die Stimme des Rabenmannes schnitt durch ihre Verzückung wie ein Spritzer eiskalten Abwassers. Du weißt nicht, was du da tust. Was du da wagst. Du kannst nicht ernsthaft hoffen, diese Macht noch länger beherrschen zu können.

Lilianas Zorn umhüllte jedes einzelne Wort ihrer gedachten Erwiderung. Versuche nicht, mich mit deinen beschränkten Erwartungen zurückhalten zu wollen, kleiner Mann. Heute ist der Tag, an dem ich eine Titanin der Eldrazi vernichte. Und warum? Weil ich es wage.

Sie wünschte, die Wächter wären bei Bewusstsein, um ihren Sieg mitzuerleben. So sieht wahre Macht aus, ihr erbärmlichen Ausreden für echte Planeswalker. Sie schoss Emrakul weitere Strahlen entgegen und forcierte ihren Angriff.


Jace

Jace war nicht überrascht, wenig später auf ein neues Fenster zu stoßen. Diesmal war es Chandra. Oder zumindest nahm er das an. Sie war ein kleines Mädchen, doch das rote Haar und ihr Gesicht verrieten schon etwas von jener Frau, zu der sie einst werden sollte. Chandra war von einer bedrohlichen Menge an Wachen umzingelt, deren Uniformen reich verziert und farbenfroh waren. Jace erkannte den Ort nicht, zu dem sie gehörten. Ihre Heimat. Die Wachen hoben ihre Piken und Chandra schluchzte. Ströme von Tränen rangen mit einem tiefen, keuchenden Schnappen nach Luft um die Herrschaft über ihre Züge.

Eine der Wachen, groß und dürr, trat vor. Auf dem Gesicht des Mannes lag ein breites Lächeln, das im Widerspruch zu seinen harten Worten stand. „Wir haben deinen Vater getötet, Rebellin. Und deine Mutter. Und nun werden wir dich töten.“ Jace nahm an, dass diese Szene nicht der Wirklichkeit entsprang, sondern nur ein Albtraum in Chandras Kopf war, aber er ballte dennoch die Fäuste. Niemand sollte einen solchen Schmerz erdulden müssen. Die Wachen rückten mit ihren Piken vor, während ihr Anführer höhnisch fortfuhr: „Und das Beste daran ist, dass du nichts dagegen tun kannst.“

Chandra hörte auf zu weinen und starrte ihre Gegner an. Eine winzige Flamme gleißte in ihrem Auge auf. „Du irrst dich“, sagte sie. Ihre Stimme klang keineswegs wie die eines Kindes. „Es gibt etwas, was ich tun kann.“ Ihr Körper veränderte sich, wuchs und entwickelte sich vor seinen Augen zu der Chandra, die er kannte. „Ich kann immer etwas tun. Ich kann etwas verbrennen.“ Feuer loderte ihr aus Kopf und Händen.

Sie lächelte. Die Wachen wichen verunsichert zurück. Sie trat einen Schritt vor. „Ich kann euch verbrennen.“ Der Anführer ging in Flammen auf. Er schrie vor Schmerz. „Ich kann euch alle verbrennen.“ Nun standen auch die anderen Wachen in Flammen. Ihre Haut knisterte und platzte auf, und ihre gellenden Schreie hallten zum Himmel hinauf. „Ich kann die ganze Welt verbrennen.“ Hitze und Licht und Feuer brachen hervor, eine weißglühende Energie, die alles einhüllte und verbrannte. Auch Chandra. Chandra schrie. Ob aber nun vor Vergnügen oder Schmerz vermochte Jace nicht zu sagen.

Das Fenster wurde wieder zu Stein, doch Jace konnte die Hitze noch immer spüren. Das war eines der wichtigsten Prinzipien von Illusionen. Nur weil es bloß in deinem Kopf ist, heißt das nicht, dass es dich nicht töten kann.

Gideon, Tamiyo, Chandra ... aber noch keine Liliana. Er hastete weiter nach unten und schaute begierig nach dem nächsten sich öffnenden Fenster. Er ließ die Mundwinkel hängen, als er die Gestalt hinter der Wand sah. Oh, Nissa. Er versuchte, nicht enttäuscht zu sein, doch er fand es schwierig, die elfische Planeswalkerin zu verstehen.

Der Hintergrund hinter Nissa sah genau aus wie die Welt draußen – der dunkle, purpurne Himmel, die seltsamen Lichtblitze, der drohende Schatten Emrakuls, Liliana und ihre Untoten. Nissa stand schmerzerfüllt in der Mitte. Sie schrie. Sie wand sich. Sie wurde verzerrt, sie wurde verdreht, sie zitterte – doch dies waren nicht die einzigen Verletzungen, die ihr zugefügt wurden. Etwas ... kroch ... ihr zuckend über die Hände.

Als Jace genauer hinsah, bemerkte er, dass aus Nissas Fingern winzige Finger wuchsen, zehn aus jedem. Und dann sah er, wie weitere Finger aus diesen winzigen Fingern wuchsen, kaum dicker als ein Haar. Er erschauderte, doch als er ihre Augen sah, schrie er unwillkürlich auf. Aus jeder von Nissas Augenhöhlen standen mehrere winzige Augäpfel vor und aus jedem von diesen noch weitere. Grüne Energie blitzte aus ihren Händen und Augen, doch in diesem Grün lauerte ein dunkles, grausames Purpur.

Emrakul ist Emrakul ist Emrakul auf ewig.

Jace wusste nicht, woher der Gedanke gekommen war, doch selbst in seiner Unverständlichkeit erschien er ihm richtig. Auf ewig und ewig und ...

„Negglish pthoniki ab‘ahor!“ Unzusammenhängende Silben sprudelten aus Nissa heraus – oder zumindest waren sie in einer Sprache, die Jace noch nie zuvor gehört hatte. Beim Sprechen zuckte ihr Kopf wie wild, und zwischen den Worten rutschte ihr schlaff die Zunge aus dem Mund. Was ist das da auf ihrer Zunge? O nein. Nein, nein, nein, nein. Die Menge an Einzelheiten, die ich ertragen kann, ist fast überschritten. Nein, eigentlich ist sie das schon längst.

Während Unsinn und Geifer aus ihrem Mund sprudelten, mischten sich verständliche Worte in das Gebrabbel. „Shigg epsi-alles chut‘ghb endet! Gilma-alles chts-stirbt!“ Die Zuckungen ließen nach, ihre Stimme gewann an Kraft und Sicherheit. Nun war sämtliche Energie, die von ihr ausging, purpurn – ein tiefes Purpur ohne jede Spur von Grün. Sie hob Kopf und Arme gen Himmel und rief:

„Wachstum! Wachstum ist die Antwort! Die einzige Antwort! Die Entropie kann nicht verlieren. Aber darf sie gewinnen? Natürlich sind Opfer zu bringen! Warum kämpfen sie dagegen an? Eine Ewigkeit ohne Opfer bietet nur die schreiende Starre! Blut muss aufgewühlt und dick gestampft werden wie Butter. Warum fürchten sie das Leben? Warum fürchten sie die Wahrheit?“

Dass Nissa nun erkennbare Worte hervorstieß, machte kaum einen Unterschied für Jaces Vermögen, sie zu verstehen. Obwohl er wusste, dass es vergeblich war, griff er nach ihrem Bewusstsein. Nissa, hilf mir. Hilf mir zu verstehen. Wovon sprichst du?

Nissa veränderte ihre Haltung, um Jace geradewegs durch das Fenster anzusehen. Sie sieht mich. Jace zitterte und war wie erstarrt. Er konnte sich nicht bewegen oder auch nur wegsehen. Ihre Augen leuchteten in einem dunklen Purpur. Sie sprach zu ihm. „Ich kann alles tun, was ich will. Alles. Denke daran. Das Einzige, was dich rettet, ist ...“ Das purpurne Licht erlosch und der Nimbus um sie herum verflog. „.Dass ich nichts will.“

Einen langen Augenblick starrte sie ihn an, das Gesicht grotesk verzerrt, während ihre zusätzlichen Augen ruhelos hin und her zuckten. Das Fenster wurde gnädigerweise zu Stein.

Jace stand noch immer wie festgefroren vor der Wand. Er zitterte, und Schweiß rann ihm über das Gesicht und den Nacken hinunter. Die Schatten von oben trieben ihn weiter. Wie lange bin ich schon auf dieser Treppe? Was geschieht mit meinen Freunden? Die Tiefe lockte noch immer mit ihrem hellen Leuchten. Doch er wollte sich nicht rühren. Er wollte gar nichts tun. Schlafen. Ich könnte schlafen. Ich wache dann vielleicht nicht mehr auf, aber wäre das so schlimm? Seine Augen wurden schwer, und eine angenehme Verschwommenheit legte sich über seine Wahrnehmung. Er setzte sich auf die Stufen. Ich bin so müde.

Als er in den Schlaf dämmerte, dachte er an Liliana. Er wusste nicht, wo sie war oder was mit ihr geschah. Sie ist nicht hier. Sie ist nicht an diesem Ort. Doch wenn er ehrlich war, hatte sie ihn ohnehin nie gebraucht. „Traurig. Für eine Weile. Und dann käme ich darüber hinweg.“ Das hatte sie damals in ihrem Schloss gesagt, als sie seinen Tod mit dem eines Hündchens verglichen hatte. Ein Hündchen. Würde mein Tod sie wirklich nicht mehr berühren als der eines Hündchens? Das kann nicht wahr sein. Ein Hündchen. Der Gedanke nagte an ihm.

Schlaf. Wie kann ich denn jetzt nur an Schlaf denken? Was geschieht mit mir? Er wusste nicht, ob es nur an der Erschöpfung lag oder ob ein bösartigerer Effekt am Werk war. Ist das wichtig? Die Lösung ist die gleiche. Er stand auf. Gehe weiter nach unten. Löse das Rätsel. Stirb nicht. Besiege Emrakul. Als er weiter hinabging, dachte er an Liliana.


Liliana

Das erste Anzeichen von Schwierigkeiten war ein Nachlassen ihrer Geschwindigkeit. Liliana hatte nie zuvor so viel Energie kontrolliert, und mit jedem Atemzug hatte sie Strahl um Strahl auf Emrakul abgefeuert. Atmen, feuern, atmen, feuern.

Und obwohl die Macht sie nicht im Stich ließ, so doch ihr Körper. Sie zögerte einen Augenblick, um tief Luft zu holen, und dies nutzte Emrakul, um aufzuwallen und ihren Leib und ihre Tentakel schneller zu regenerieren, als Liliana es je für möglich gehalten hatte. Eine Reihe dicker Tentakel hieb nach ihr, nur um bei der Berührung durch ihre Magie zu verdorren und sich aufzulösen. Weitere folgten jedoch rasch. Während zuvor jeder Treffer Lilianas Emrakul zurückgetrieben hatte, hatte sie nun Mühe, nicht selbst zurückweichen zu müssen.

Du bist sterblich. Du hast Grenzen. Das da nicht. Die Stimme des Rabenmannes stach mit kaltem Flüstern in ihr Hirn. Schaue dir dieses Gras und den Staub an, du Närrin. Sie werden dein Friedhof sein.

Sie schrie vor Zorn, während sie weitere Strahlen abfeuerte. Der Ausbruch hielt die Titanin vorerst auf Abstand. Augenblicke später ebbte die Energie jedoch erneut ab. Liliana schnappte nach Luft, und Emrakul kam wieder näher.

Ich werde nicht heute sterben, knurrte sie den Rabenmann, den Schleier und jeden an, der ihr sonst noch lauschen mochte. Und sich selbst. Emrakul und ihre Tentakel setzten ihren gnadenlosen Vormarsch fort. Ich werde nicht heute sterben.

Wenn du Glück hast, Liliana, ist dein Tod das Beste, was dir heute widerfahren könnte. Du hast uns beide zum Untergang verdammt. Der Rabenmann sprach ohne Verachtung, Hass oder Furcht. Er klang ... resigniert. Das erste Mal, seit sie die Wächter gerettet hatte, fürchtete sich Liliana.


Jace

Jace rechnete damit, dass eine weitere Wand durchsichtig wurde, um ihm eine Szene aus Lilianas Verstand zu zeigen. Womit er nicht gerechnet hatte, war, dass die Stufen an einer Tür endeten.

Es war eine schwere Eichentür mit eisernen Beschlägen, aber ohne Klinke oder Schlüsselloch. Nur Holz und Eisen, von dem gleichen dicken Stein eingefasst wie der Rest der Treppe. Er legte seine Hand an die Tür. Eine Stimme schrie – nein nein nein nein nein –, und blanker Schrecken ergriff von seinem Verstand Besitz. Doch die Stimme verklang und der Schrecken wich. Jace schaute die Stufen hinauf. Die Schatten kamen weder näher noch teilten sie sich, um den Weg zurück freizugeben. Wenn er weitergehen wollte, dann durch diese Tür. Er schob die Tür auf und trat über die Schwelle.

Der Raum besaß weder Form noch Farbe. Schwindel überkam ihn, da sein Verstand Mühe hatte, seine Umgebung auch nur ansatzweise zu begreifen. Jace spürte den heftigen Sog der Ewigkeit, eine endlose Schleife, die sich zu dem Schrecken auswuchs, niemals den Frieden der Auslöschung zu kennen, um nur um nur um nur ... bis die Wirklichkeit zurückkehrte. Das ihn umgebende Nichts wurde zu einem weiten, weißen Feld.

Vor ihm befand sich ein Engel.

Er näherte sich ihm, und Jace bemerkte, dass der Raum um sie beide herum langsam Gestalt annahm. Sie befanden sich an einem echten Ort. Einem Raum. Einer Nachahmung jenes Refugiums, in dem diese bizarre Reise begonnen hatte. Sein Refugium. Der Engel war groß – größer als jeder Engel, den er zuvor gesehen hatte. Selbst größer als Avacyn. Und seine Schwingen waren gewaltig, mit dicken Muskelsträngen versehen und dicht gefiedert. Sie falteten sich hinter ihm beinahe in Form einer Pilzwolke ...

Jaces rasendes Herz ließ ihn in kalten Schweiß ausbrechen. Nein o nein o nein ...

Das Gesicht des Engels war von einer Kapuze verborgen, doch die beiden Schwerter, die er trug – eins in jeder Hand –, waren deutlich zu erkennen. Der Saum seines Wamses wurde zu langen Bändern – zehn, nein hundert –, und es schienen immer mehr zu werden. Sie zuckten und wanden sich. Als würden sie Jace bemerken, tasteten sie die Luft vor ihm ab wie lebendige Geschöpfe. Wenn ich zu schreien anfange, weiß ich nicht, ob ich je wieder aufhören kann. Also schreie ich besser nicht. Ob Weinen hilft? Ich weine gern, wenn es hilft.

Jace lachte vor Vergnügen und Furcht zugleich. Ich bin so froh, dass ich mich witzig finde. Das Lachen durchbrach seine Lähmung und setzte seinen Verstand wieder in Gang. Ich kenne diesen Engel. Ich habe ihn schon einmal gesehen. Oder zumindest Statuen von ihm – damals auf Zendikar. „Emeria?“, keuchte er. Das Wort klang auf seinen Lippen fremd.

Sie blickte ihn an, doch er konnte ihr Gesicht unter der Kapuze nicht erkennen. Jace betrachtete aufmerksam die Bänder und die Schwerter, doch nichts davon schien ihn angreifen zu wollen. Seine Zuversicht wuchs.

„Bist du ... Bist du Emeria? Bist du ... Emrakul?“

„Darf ich mich setzen?“ Es war eine weibliche Stimme. Leicht, beinahe heiter. Jace hätte unter anderen Umständen vielleicht sogar gesagt, dass dieses Wesen trällerte. Doch nicht jetzt. Jace konnte keine Lippen unter der Kapuze sehen, die diese Laute erzeugt hatten, doch die Stimme klang völlig gewöhnlich. Zumindest irgendwie.

Jace war so damit beschäftigt, die Stimme auszudeuten, dass er einen Augenblick brauchte, um zu begreifen, was sie eigentlich gesagt hatte. „Du fragst mich?“ Von allen Überraschungen dieses Tages wäre der Erhalt einer höflichen Nachfrage eigentlich kaum als die bemerkenswerteste zu sehen gewesen. Aber ehrlich gesagt stand sie auf dieser Liste womöglich sogar an allererster Stelle.

„Dies ist schließlich dein Zuhause.“ Eine Pause. „Jace. Jace Beleren.“ Als sie „Beleren“ sagte, tat sie es langsam, Silbe für Silbe.

Ich habe jetzt sehr große Angst. Und ich bin auch sehr neugierig. Was für ein sonderbarer Gegensatz.

„Ich bin hier nur eine Besucherin. Also: Darf ich?“ Sie wartete.

Um wie vieles unwirklicher wird dieser Tag denn noch? Er war sicher, darauf nicht wirklich eine Antwort zu wollen. Denke daran, was wichtig ist: Stirb nicht. Löse das Rätsel. Besiege Emrakul. Sein Mantra. Er fügte einen weiteren Satz hinzu. Lade Emrakul auf eine Tasse Tee ein. Er lächelte, und das Lächeln erreichte sein Gesicht. „Bitte. Aber selbstredend. Bitte setz dich.“ Jace winkte in Richtung des großen steinernen Tisches, und Emeria – nein, ich weiß nicht, was das ist. Hör auf so zu tun, als wüsstest du es – der Engel setzte sich.

Er steckte seine beiden Schwerter in Scheiden am Rücken. Als seine Hände wieder auf dem Tisch lagen, hielten sie etwas anderes: eine große Schriftrolle mit eisernen Beschlägen. So eine Schriftrolle habe ich schon einmal gesehen. Wo? „Es macht dir doch nichts aus, dass ich arbeite, während wir reden, oder?“ Ihre trällernde Stimme klang, als käme sie von einem Gildenmagier der Azorius, der um Rat zu einer Protokollfrage bat.

Gib dich dieser Unwirklichkeit einfach hin. Kämpfe nicht länger dagegen an. Schau, wohin das führt. „Natürlich nicht. Nur zu. Ich möchte dich keineswegs von der Arbeit abhalten.“ Sie nickte und rollte die Schriftrolle auf. Eine unheimliche Empfindung nagte an Jaces Hinterkopf. Wo habe ich diese Schriftrolle gesehen? Doch es wollte ihm nicht einfallen. Von irgendwoher erschien ein langer Griffel und sie begann, auf die Schriftrolle zu schreiben.

Jace räusperte sich. „Nun, da wir ja, ähm ... reden wollen. Wer genau bist du? Was ist das für ein Ort? Was geht hier vor?“ Jace konnte nicht wählerisch sein, woher er Antworten bekam. Er konnte seinem üblichen Instinkt, einfach Gedanken zu lesen, nicht widerstehen – Unwissenheit ist so viel schlimmer als Wahnsinn –, doch da war ... nichts. Nichts, woran er sich orientieren konnte. Geheimnisse machen keinen Spaß, wenn sie geheim bleiben. Er musste das also auf die ganz gewöhnliche Art tun, auf die auch jeder andere zurückzugreifen hatte. Durch Worte. Worte für eine Titanin der Eldrazi.

„Alles endet. Alles stirbt. Ganzheit liegt immer hinter uns. Die Zeit weist nur in eine Richtung.“ Dies waren Echos von jenen irren Äußerungen, die Nissa zuvor getätigt hatte, doch Jace verstand sie ebenso wenig, als sie nun von dem Engel kamen. Er blickte nicht auf, als er schrieb. Die Kapuze verdeckte, womit auch immer diese absonderlichen Worte ausgesprochen wurden.

„Bist du Emrakul?“ Jace wusste nicht, was er da genau riskierte, und es begann auch, ihn zunehmend weniger zu kümmern. Vorsicht ist etwas für Leute mit einem Ass im Ärmel. „Was willst du?“

Sie hielt einen Augenblick inne und betrachtete die Schriftrolle. „Das ist alles falsch. Ich bin unvollständig, unerfüllt, unfertig. Da sollten Blüten sein, keine öde Abweisung. Der Acker war nicht bereitet. Es ist nicht meine Zeit. Noch nicht.“ Die Art, wie sie noch sagte, jagte Jace einen Schauer über den Rücken. Sie nahm das Schreiben wieder auf und strich einen langen Absatz getrockneter Tinte aus.

„Es reicht!“, rief Jace. „Du bist aus einem Grund hier! Du könntest mich auf unzählige andere Weisen töten – mit deinen Schwertern oder deinen Tentakeln –, aber du tust es nicht. Du sitzt hier und redest Unsinn ... Warum? Ich verstehe nicht, was du sagst, und ich verstehe nicht, was du willst. Hilf mir. Bitte.“ Als Jace sprach, verrauchte sein Zorn und wurde durch etwas noch Nützlicheres ersetzt. Konzentration. Er spürte, wie sich ein Schleier lüftete, der nur durch sein Weichen enthüllte, wie viel er verborgen gehalten hatte.

„Spielst du Schach?“, fuhr die Stimme fort, als hätte Jace ebenso viel Unsinn erzählt wie sie selbst. Jace war erneut versucht, laut aufzuschreien, glaubte aber nicht, dass es viel nützen würde. Und außerdem spielte er Schach. Und er war ziemlich gut darin.

„Ja, das tue ich.“

„Würdest du eine Partie mit mir spielen?“ Sie stellte das Schreiben ein und rollte die Schriftrolle zusammen.

„Ich bin nicht sicher, ob ich Zeit zum Spielen habe ...“

„Wenn du gewinnst, hört all dies auf. Ich werde dir alle Antworten geben, die du verlangst.“ Sie legte die Rolle hinter sich.

Jace witterte zwar eine Falle, doch er war wirklich gut im Schach. „Und was, wenn du gewinnst?“

„Ich gewinne bereits, Jace Beleren. Lass uns eine Partie spielen.“

„Oh, es gibt da ein Problem.“ Jace blickte sich um. In seiner echten Wohnstatt auf Ravnica gab es ein Schachbrett – ein sehr schönes, das ihm die Boros geschenkt hatten –, doch in diesem seltsamen Scheinbild konnte er keines sehen. „Ich, äh, habe gar kein ...“

Der Engel machte eine Geste und ein Schachspiel erschien vor ihnen dort auf dem Tisch, wo gerade noch die Schriftrolle gelegen hatte. Das Brett und die Figuren waren aus schwerem Stein und voller feiner Details. Jace hob eine Augenbraue, doch falls der Engel dies bemerkte, ließ er sich nichts davon anmerken. Ich schätze, solange sie nur Schachbretter erschafft, ist alles gut. „Sollen wir spielen?“ Sie deutete auf das Brett. Jace war weiß und machte den ersten Zug. Großzügig von ihr.

„Du wirst schneller ziehen müssen, Jace. Die Zeit läuft.“ Schneller? Er zog beinahe sofort. Sie schien keine besonders geübte Spielerin zu sein, und Jace begann, ein mögliches Schachmatt in sechs oder sieben Zügen zu erkennen.

„Die Verständigung zwischen uns ist schwierig. Ich kann nicht mit dir sprechen. Ich weiß nicht einmal, ob es dich wirklich gibt. Doch du – dein Hirn – ist sehr ... anpassungsfähig.“ Dort – ein Fehler. Noch fünf Züge. Siegessicher hielt er inne. Sie sagte etwas, was er tatsächlich verstehen konnte.

„So, was ist das alles hier denn nun?“ Er deutete auf ihre Umgebung. „Was bist du? Wie lässt mein anpassungsfähiges Hirn das hier geschehen?“

„Diese Antwort kennst du besser als ich.“ Sie legte die Hand auf eine Figur und zögerte. „Oder zumindest ein Teil von dir. Was macht dein Kopfschmerz?“

Woher weiß sie davon? In Wahrheit war nur ein leichtes, dumpfes Pochen geblieben – sehr wohl noch zu spüren, aber nicht störend. „Es ... Es geht schon. Du bist also nicht Emeria? Bist du überhaupt real?“

„Ich wurde vor langer Zeit personifiziert. Kräften kann man nicht mit Vernunft beikommen. In sich ausbreitenden Wellen existiert keine Handlungsfähigkeit. Wenn man den leichten Weg wählen will, um mit dem zu ringen, was man nicht wahrnimmt oder auch nur begreift, wer bin dann ich, mich dem entgegenzustellen? Niemand. Du. Vielleicht.“

Sein Kopfschmerz wurde stärker. Jace und der ... was auch immer dieses Geschöpf war tauschten einige weitere Züge aus. Das Schachmatt war nur noch einen Zug entfernt. Je mehr Jace darüber nachdachte, desto mehr schien all dies auf bizarre Weise Sinn zu ergeben. Das hier war nicht Emeria. Das hier war nicht Emrakul. Das hier war der Versuch seines Verstands, dem Drängen und den Emanationen Emrakuls Sinn zu verleihen, die er in sich verspürte. Er musste sie personifizieren, um überhaupt die Chance dazu zu haben, sich irgendeinen Reim auf sie zu machen. An diese Personifizierung zu glauben, hieß allerdings, den Tod zu riskieren. Oder Schlimmeres. Ein Schwindel erfasste ihn. Auf ewig und ewig und ewig und emrak...

Genug. Er nahm seine Dame und bewegte sie in Position. „Schachmatt.“ Er lächelte. Er war nicht sicher, was es bedeutete, die Partie gewonnen zu haben, doch es fühlte sich gut an, zu gewinnen ... wenigstens etwas. Sie hielt inne und betrachtete das Brett.

„So ist es.“ Sie griff nach ihrer Kapuze und schob sie zurück. Instinktiv zuckte Jace zusammen, da er plötzlich sicher war, dass er nicht wissen wollte, wie sie aussah, aber ... sie sah völlig gewöhnlich aus. Wie ein Engel. Wie die Statue, die er auf Zendikar gesehen hatte. Er tat einen langen, tiefen Atemzug.

Einer der Bauern neben seiner Dame begann zu zucken und zu zerfließen. Hände und ein kleines Steinschwert erschienen an der Figur, die sich umdrehte, um nach der Dame zu stechen. Diese kreischte auf. Blut strömte aus ihrer Seite. Sie fiel zu Boden, blutend und zitternd. Sterbend. Auf dem Rest des Brettes brach Tumult aus, als sich weitere von Jaces Figuren verwandelten. Mutierten. Sie griffen einander gnadenlos an und töteten einander, bis die wenigen verbleibenden Figuren sich der anderen Seite des Brettes zuwandten. Sie trugen nun alle Waffen, von denen das Blut tropfte, und sie begannen, gemächlich auf Jaces König zuzumarschieren, der nun Jace selbst ähnlich sah.

Jace starrte das Chaos mit offenem Mund an. „Wa... ab ... da ... Das ist nicht fair! Du hast gemogelt! Das kannst du nicht tun! Das sind meine Figuren!“

Das Gesicht des Engels begann zu schmelzen. Fleisch fiel von ihm ab, als der Rest von ihm – Schwingen, Schwerter, Bänder, alles – sich nach und nach in purpurnen Rauch verwandelte. Die Stimme blieb jedoch.

„Es sind alles meine Figuren, Jace Beleren. Das waren sie schon immer. Ich habe nur keine Lust mehr, mit ihnen zu spielen.“

Draußen gab es eine gewaltige, krachende Explosion, die von einem lauten Knirschen begleitet wurde. Die Decke wurde fortgerissen und enthüllte den nun vertrauten Anblick Emrakuls – jener gewaltigen Pilzwolke mit ihren Hunderten von Tentakeln und zuckenden Blitzen, die den Raum Stück für Stück zerschlugen.

Die Stimme fuhr fort, leicht und luftig wie eine Brise. „Es kommt, Jace. Ich komme. Bleibe in Bewegung. Finde deine Antworten. Aber tu es schnell. Die Zeit weist nur in eine Richtung, und das tut sie voller Hunger.“

Am Ende des Raumes erschien eine Tür und dahinter ein helles blaues Leuchten. Jace warf einen weiteren Blick auf Emrakul über sich und floh.


Liliana

Liliana tat alles, um am Leben zu bleiben.

Sie hatte einen Teil ihrer Macht dazu verwendet, die Auswirkungen des Kettenschleiers zu dämpfen. Sie hielt ihre Haut vom Zerreißen und ihre Adern vom Bluten ab. Als sie den Kettenschleier vollständig übernommen hatte, hatte sie geglaubt, sein Geheimnis gelüftet zu haben.

Sie hatte sich geirrt.

Doch so schmerzhaft das Aufreißen ihrer Haut und ihrer Adern auch war, so war es doch besser als die Vernichtung durch Emrakul. Sie nutzte noch immer ungeheure Kräfte, doch diese dienten nun alle nur noch einem einzigen Zweck: nur noch einen Augenblick mehr am Leben zu bleiben.

Doch ihr gingen die Augenblicke aus. Als Emrakul ob ihrer magischen Attacken in alle Richtungen um sich schlug, wies sie ihre Untoten an, anzugreifen. Sie bissen, griffen, hieben nach Emrakul – wie Fliegen nach einem Sturm und mit dem gleichen Ergebnis. Unter Emrakuls Angriff wurden Hunderte von Untoten vernichtet und Hunderte weitere lösten sich auf, als Liliana instinktiv Macht von ihren Wiederbelebungen abzog, um noch einen Augenblick mehr zu überleben.

Wenn es einen Trost in ihrer drohenden Niederlage gab, dann den, dass in ihrem Kopf Stille herrschte. Keine Stimme des Rabenmannes, kein Flüstern des Kettenschleiers. Selbst wenn ihre Wirklichkeit derzeit aus nichts als Blut und Schmerz und einem verzweifelten Überlebenskampf bestand, gehörte ihr Verstand doch ihr und nur ihr allein. Das war ein Trost, wenn sie ihn denn als solchen begreifen wollte.

Ein großes Tentakel so dick wie ihr Oberkörper brach durch ihre Abwehr und schlang sich um ihre Hüfte. Sie schrie wutentbrannt auf und durchtrennte es. Das verdorrte Fleisch fiel einfach von ihr ab. Sie hustete Blut und taumelte, als weitere Tentakel sich ihr näherten.

Sie würde hier sterben.

Sie blickte zu den anderen Planeswalkern, deren Körper noch immer auf der freien Fläche lagen, die ihre Zombies zu ihrem Schutz geschaffen hatten. Nissa schrie nicht mehr. Sie war bewusstlos wie die anderen. Nur Jace stand noch, und der blaue Schimmer beschützte ihn vor ... etwas. Doch weder bewegte er sich noch sprach er.

„Jace!“ Ihr Schrei rief keinerlei Reaktion hervor. Keinerlei Zeichen des Erkennens.

„Jace, du Bastard! Ich hoffe, du machst etwas Nützliches!“ Das war alles, wozu sie Zeit hatte, bevor Emrakul wieder herandrängte. Jeder Augenblick zählte. Das wurde zu ihrem Mantra. Nur noch einen Augenblick mehr. Nur noch einen Augenblick mehr. Nur noch ...


Jace

Jace warf sich durch das offene Portal und suchte Zuflucht vor Emrakuls Angriff.

Er befand sich in einem kleinen, dunklen Raum, einer Kopie einem seiner persönlichsten Rückzugsorte auf Ravnica. Und dort vor ihm stand er selbst.

Nach all dem anderen Wahnsinn, den Jace seit seinem Erwachen im Turm erlebt hatte, war es eindeutig eine der gutartigeren Verwirrungen, nun sich selbst gegenüberzustehen.

„Oh, das wird sicher spannend.“

Das Ebenbild zeigte keinerlei Regung. Nicht einmal ein Lächeln. „Du bist hierhergelangt. Das wurde auch Zeit. Aber ich weiß nicht, ob du ich bist.“ Er zog kurz eine nachdenkliche Miene. „Löse dieses Rätsel.“

„Was? Ich bin fertig mit Rätseln. Ich brauche Antworten. Was –“

„Erst ein Rätsel“, sagte das Ebenbild.

„Du machst Witze. Ich werde hier nicht herumstehen und Rätsel lösen, die mir irgendeine tyrannische Form meiner Selbst aufgibt. Oder schlimmer noch: ein bösartiger Hochstapler, der nur meine Zeit verschwenden will.“ Jace beendete seine Tirade mit einem wütenden Schrei.

Das Ebenbild stand mit einem selbstzufriedenen Lächeln und einer hochgezogenen Augenbraue da. Bin ich wirklich so nervenaufreibend? Das bin ich wohl. Daran sollte ich arbeiten.

„Es ist nur nervenaufreibend, wenn du weißt, dass ich recht habe. Ich muss wissen, dass du ich bist.“ Jace fragte sich, ob es bleibende Schäden hinterließ, wenn man sich selbst ins Gesicht boxte. Wahrscheinlich.

„Woher weiß ich, dass du ich bist?“ Das war nicht die klügste Erwiderung, doch mehr fiel ihm im Augenblick nicht ein. Sein Hirn hatte gerade eine Menge zu verarbeiten.

„Weil ich derjenige mit den Antworten bin. Du verschwendest Zeit, die wir nicht haben.“ Das Ebenbild wippte auf eine Weise mit dem Fuß, die Jace nur zu gut wiedererkannte. Ich glaube nicht, dass ich jemals wieder mit einem anderen Menschen zu tun haben kann. Ich bin zu nervig, um sich mit mir abzugeben.

Er ließ die Schultern sinken und winkte ab. „Na schön, stell dein Rätsel.“

„Nicht größer als ein Kiesel, aber mein Lid bedeckt die ganze Welt. Was bin ich?“

Das? Das ist dein Rätsel? Damit willst du sichergehen, dass ich ich bin? Du musst ein Hochstapler sein, denn ich weigere mich zu glauben, dass ich so dumm bin.“

„Du hast die Frage noch nicht beantwortet. Diese Unterhaltung wird schnell zu Ende sein, wenn du es nicht tust.“ Die Augen des Ebenbildes leuchteten blau. Jace war auf perverse Weise froh, dass es bedrohlich wirkte. Es ist schön, wenn man weiß, dass man ab und an einen bedrohlichen Eindruck machen kann.

„Pah. Ich würde meinen, mir hätte etwas echt Schwieriges einfallen sollen. Augen. Die Antwort lautet Augen.“ Jace starrte sein Ebenbild an und blinzelte dann mehrere Male auffällig, um seinen Punkt zu verdeutlichen. „Ich sehe die ganze Welt. Und jetzt nicht. Ich sehe was. Ich sehe nichts. Wie kann dir dieses Rätsel irgendetwas genutzt haben?“ Das Ebenbild entspannte sich und ließ den Zauber fallen, den es offenkundig vorbereitet hatte.

Und dann verstand Jace. Der Sinn des Rätsels bestand nicht darin, zu überprüfen, ob er es lösen könnte. Vielmehr ging es darum, wie abschätzig und ungläubig er sich angesichts eines derart einfachen Rätsels zeigen würde. Er nickte. Also schön, das bin also ich. Er wusste, dass das Ebenbild das Gleiche dachte.

„Fein. Ich bin ich. Ich meine, ich bin ... Ja, wir sind wir. Wahrscheinlich. Du hast mir Antworten versprochen.“ Jace versuchte, die Gedanken seines Ebenbildes zu lesen, doch nichts geschah.

„So funktioniert das hier nicht. Hier unterhalten wir uns.“ Ein freches Lächeln.

„Na gut.“ Jace hatte Mühe, nicht mit den Zähnen zu knirschen. „Unterhalten wir uns. Jetzt sofort.“

Das Ebenbild grübelte kurz nach. „Ich weiß noch immer nicht alles, was du nicht weißt. Frag mich etwas.“

„Wo sind wir?“ Jace war sich nicht sicher, ob das die dringlichste Frage war, aber er war die letzte Stunde in diesem verfluchten Turm herumgelaufen und wollte wirklich wissen, wo er sich befand.

„Im Ernst? Das ist der Teil, den du dir noch nicht zusammengereimt hast?“ Du überheblicher ... Jaces Zorn wurde nicht dadurch gemildert, dass die Überheblichkeit von ihm selbst kam. Und in diesem Aufwallen von Ärger kam die Erkenntnis. Jace erinnerte sich.

Daran, wie Emrakul sich erhob, knospte, erblühte. Liliana hatte ihnen durch ihre Untoten eine kurzzeitige Pause von Emrakuls Dienern verschafft, doch keiner von ihnen war darauf vorbereitet gewesen, dass sich Emrakul selbst erhob. Die körperlichen Anzeichen waren offensichtlich, doch die echte Gefahr lag in dem geistigen Angriff. Ein Druck – ein Schmerz wie keiner, den er je zuvor gespürt hatte. Tamiyos Windspiel hatte sich augenblicklich aufgelöst. Es war keine Zeit für einen Plan oder auch nur einen Gedanken gewesen.

Der Zauber, den er gewirkt hatte, war reflexartig erfolgt. Er hatte ihn schon vor sehr langer Zeit vorbereitet, um seinen Verstand vor einer drohenden Auflösung zu schützen.

Ich bin nicht in einem Turm. Ich bin der Turm. Alles wurde ihm plötzlich völlig klar. Die Szenen mit seinen Freunden, die Unterhaltung mit Emeria, selbst dieses Gespräch hier fanden in seinem Kopf statt und erhielten Form und Gestalt durch seinen Zauber. Willkommen im Anwesen von Jace. Ich hoffe, ihr habt euren Aufenthalt genossen. Den Szenen nach zu urteilen, die er in den Gedanken seiner Freunde gesehen hatte, war er jedoch recht überzeugt davon, dass nicht einer von ihnen Gefallen daran gefunden hatte. Doch die Alternative war der Untergang oder Schlimmeres. Auf ewig und ewig und ewig und emra...

Er schüttelte hastig den Kopf, um den Singsang loszuwerden, und er bemerkte, dass sein Ebenbild es ihm gleichtat. Der Druck durch Emrakul verstärkte sich. Jace blickte auf und sah die Decke des Raumes beben. Es greift an. Es kommt.

„Und du? Ich?“

„Innistrad war ein seltsamer Ort. Ein gefährlicher Ort. Schon gleich nach meiner Ankunft wusste ich, dass etwas hier nicht stimmte. Ich habe einige ... Sicherheitsvorkehrungen getroffen, falls irgendeine Katastrophe eintritt. Rätsel in Rätseln, Schatten in Schatten. Emrakul ist das Furchteinflößendste, was ich – wir – jemals gesehen haben. Also habe ich einen Ausweichplan erstellt, um mich von mir abzuspalten. Um herauszufinden, was wirklich vor sich geht und es aufhalten zu können. Um alles wieder instand zu setzen. Du weißt schon.“ Und nun wusste er es.

Er war so gut darin, sich selbst abzuwandeln. Er schauderte und fragte sich, welches Ich der echte Jace war. Der bessere Jace. Unsinn. Das bin natürlich ich.

„He!“, protestierte das Ebenbild. „Nicht so voreilig! Du bist nur der Zweitklügste in diesem Raum.“

„Genug.“ Jaces Gedanken begannen, auf eine vertraute und tröstliche Art und Weise zu rasen. „Der Plan. Ich habe dich hoffentlich nicht nur dazu erschaffen, mir ein blödes Rätsel zu stellen. Wir wissen nicht, wie wir Emrakul besiegen können.“

„Sprich mit Tamiyo. Sie war gerade dabei, uns etwas Interessantes zu sagen, als Emrakul angriff.“

„Das ist dein nützlicher Hinweis? Sprich mit Tamiyo?“

„Nein, mein nützlicher Hinweis ist, endlich herauszufinden, wie wir alle weiter durch die Gegend laufen, miteinander sprechen und klar denken können, während das geistige Gegenstück einer Rakdos-Golgari-Mörderbande uns ohne jeden Unterlass attackiert. Das ist tatsächlich ziemlich knifflig.“

„Oh. Na ja, danke, Ich. Gut gemacht.“

„Alle sind in ziemlich schlechtem Zustand. Aber zumindest können wir zusammenhängend denken. Es ... Es sieht nicht gut aus da draußen. Und es gibt noch ein Problem.“

„Was ...“ Noch während er die Frage stellte, kannte er bereits die Antwort. Die beiden Teile von Jace verschmolzen und wurden zu einem. Es gab Worte, doch die Worte wurden von ihnen beiden gleichzeitig ausgesprochen.

„Liliana stirbt gleich.“ Jace hob den Zauber auf. Der Turm verblasste, um der Wirklichkeit Platz zu machen.


Jace

Er kehrte ins Chaos zurück. Liliana lag vor ihm am Boden, bewusstlos und aus zahlreichen Wunden blutend. Über ihnen schwebte Emrakul in ihrer vollen Größe. Um die Mitte ihres Körpers leuchtete hell ein lavendelfarbener Ring – das Auge ihres Sturms. Ihre Tentakel, breit und dick, verwüsteten das, was von Thraben noch übrig war.

Von Lilianas Untoten war nur noch ein Bruchteil übrig. Die Menschen und Bestien, die von Emrakuls Wahnsinn infiziert waren, hatten sich wieder zusammengerottet und drohten, durch die Reihen der Untotenarmee zu brechen. Es würde nicht viel nützen, Emrakuls geistigen Ansturm zurückzuschlagen, wenn sie anschließend von ihren Dienern in Stücke gerissen wurden.

Die anderen Planeswalker, die einen Wimpernschlag nach Jace das Bewusstsein wiedererlangt hatten, taumelten orientierungslos umher. Jace lenkte etwas von seiner Konzentration auf seine Freunde und wischte damit die Spinnenweben von Emrakuls Angriff fort. Chandra, Gideon – Lilianas Untote brauchen eure Hilfe. Wir können Emrakuls Diener nicht durchlassen. Gideon bewegte sich als Erster, mit der entschlossenen Zügigkeit eines erfahrenen Kriegers. Das Bild von Erebos‘ Peitsche blitzte in Jaces Bewusstsein auf, doch er schüttelte es ab.

Chandra blieb noch stehen. Ich kann ... Ich kann noch immer versuchen, sie zu verbrennen. Ich schaffe das schon. Ihr Zögern verschwand und wurde durch jene natürliche Zuversicht ersetzt, die Jace gleichermaßen anziehend und verblüffend fand. Sie spielt ihre Zuversicht nicht. Die Zuversicht kommt einfach zu ihr. Merkwürdig, dachte er bei sich. Jace zögerte. Es schien nicht richtig, Emrakul zu verbrennen. Nicht einmal möglich. Doch wie konnte er sicher sein, dass dies alles nicht nur ein weiteres Spiel war, das Emrakul mit ihm – mit ihnen allen – spielte? Emrakul war in seinem Verstand gewesen. Er hatte ihre Macht gespürt.

Er teilte seine Gedanken mit der gesamten Gruppe. Sein Schutzzauber hielt ihre Bewusstseine miteinander verknüpft. Nein, Chandra. Emrakul ist zu groß. Zu mächtig. Wir können sie nicht auf diese Weise besiegen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie überhaupt vernichtet werden kann.

Jace hat recht. Der Versuch, Emrakul zu verbrennen, ist, als würde man eine Fackel in den Ozean werfen. Das wird nicht klappen. Selbst wenn alle Leylinien verfügbar wären. Sie ist zu ... unermesslich groß. Nissas Stimme klang seltsam und weit entfernt. Sie verflocht Ranken, Knospen und Blätter mit Verbänden, die sie auf Lilianas Wunden legte, um sie am Leben zu halten. Emrakul war da, als ich erwachte. Im Augenblick meines Funkens. Vielleicht ist es nur passend, dass sie auch dem Ende beiwohnt.

Oh, schön. Du wirst sicher nicht auf viele Feiern eingeladen. Chandras schelmische Stimme strafte ihre Worte Lügen. Genug der düsteren Worte. Sprechen wir lieber darüber, wie wir das hier gewinnen können. Ich werde ein paar Sachen verbrennen. Chandra rannte zum äußeren Ring aus Zombies, wo ihre Flammen wahnsinnige Kultisten zurückschlugen.

Jace. Denke daran, was Avacyn gesagt hat. Tamiyos Stimme, eine leichte Brise an einem sonnenbeschienenen Ufer.

Ein Echo erklang in seinem Kopf – ein wahnsinniger Engel, der seine letzten Worte an seinen Schöpfer richtete. Was nicht vernichtet werden kann, muss gebannt werden.

Jace, das ist die Antwort. Das ist es, was wir tun müssen. Wir können Emrakul nicht vernichten. Wir müssen sie bannen. Tamiyos Stimme war drängend und klar. Die Wächter hatten auf Zendikar vor dem gleichen Dilemma gestanden und sich für die Vernichtung entschieden. Doch hier auf Innistrad war das undenkbar. Emrakul war mächtiger als sie. Die einzige Vernichtung, die hier überhaupt infrage kam, war ihre eigene – zusammen mit allen anderen Bewohnern Innistrads.

Wie? Sie zu bannen, ist vielleicht ebenso wenig möglich, wie sie zu vernichten. Welcher Kerker könnte sie schon halten?

Der gleiche Kerker, dem alle Schrecken Innistrads für Hunderte von Jahren nicht entfliehen konnten.

Der Höllenkerker? Jace war verwirrt. Wurde der nicht zerstört?

Nicht der Höllenkerker, erwiderte Tamiyo. Das, woher der Höllenkerker stammt. Der Mond. Ein silberner Mond. Ich habe einen Bannzauber. Einen mächtigen. Ich kann ihn auf den Mond einstimmen. Doch er muss auch mit Emrakul verbunden sein ...

Jaces Gedanken überschlugen sich schier. Das konnten sie schaffen. Jace war zuversichtlich, dass er Tamiyos Zauber an Emrakul binden konnte. Doch sie würden Macht brauchen, die den Zauber speiste. Nissa ...

Nissa hatte geschwiegen und weiterhin ihr Mana in ihre Wundumschläge für Liliana geleitet. Liliana atmete gleichmäßig, war aber noch bewusstlos. Jace spürte eine warme Welle der Dankbarkeit für Nissa, doch nun musste er noch mehr von ihr verlangen. Weitaus mehr ... Kannst du den Zauber mit Macht speisen?

Nissas Stimme war kühl und ruhig. Nein. Hier gibt es nur wenige Leylinien, die ich berühren kann. So wenige, die ich berühren will. Jace zögerte. Er war unschlüssig, was er als Nächstes sagen oder wie er ihr helfen konnte. Doch ich schulde dir etwas, Jace Beleren. Ich werde es versuchen.

Du schuldest mir etwas?

Mein Verstand gehörte nicht mir. Ich war in einer Dunkelheit gefangen, die durch ihren Aufstieg erschaffen wurde. Ich wurde viel zu leicht von ihr verschlungen. Das war nicht ... angenehm. Du hast mich von diesem Schrecken befreit. Du hast die Gabe, schwierige Dinge sehr einfach aussehen zu lassen. Ich werde tun, was ich kann.

Jace geriet ins Stammeln. Oh, also ... Danke. Das war nicht wirklich ich. Ich meine, ich habe den Zauber gewirkt, aber ich habe damals gar nicht richtig nachgedacht und habe es vermutlich sogar ein bisschen schlimmer gemacht, weil ich nicht ...

Ein einfaches Danke reicht schon, Jace. Du hast außerdem auch die Gabe, sehr einfache Dinge sehr schwierig aussehen zu lassen. Ich bin bereit.

Jace wusste keine Antwort, also schwieg er. Tamiyo, bist du bereit?

Tamiyo hatte eine Schriftrolle hervorgezogen. Eine weitere Erinnerung blitzte in Jaces Verstand auf. Der Engel holte eine lange Schriftrolle hervor. Eine Schriftrolle mit eisernen Beschlägen. Dort hatte er Tamiyos Schriftrolle gesehen – in seiner geistigen Unterhaltung mit Emeria. Doch die Schriftrolle, die Tamiyo in der Hand hielt, hatte keine eisernen Beschläge.

Jace hatte keine Zeit mehr, über dieses Rätsel nachzudenken. Die freie Fläche um sie herum wurde immer kleiner. Gideon und Chandra hielten Emrakuls Diener auf, doch sie konnten nicht überall gleichzeitig sein, und die Untoten waren kurz davor, überrannt zu werden. Es war Zeit.

Ich bin bereit, bestätigte Tamiyo. Sie begann, ihre Schriftrolle zu lesen. Jace konnte sich nicht auf die Worte konzentrieren. Er war zu sehr damit beschäftigt, Tamiyos Zauber mit Hilfe des Wissens, das er Ugin und seinen eigenen Veränderungen am Polyedernetzwerk auf Zendikar verdankte, an Emrakul zu binden. Eine Glyphe blitzte auf dem Mond auf – helle, scharfe Linien auf dem silbrigen Spiegel. Er musste diese Glyphe auf Emrakul – auf Emrakuls Präsenz – anbringen.

Doch der Zauber verlangte nach Macht. Nach wahren Strömen, Fluten von Macht. Nissa stemmte sich mit grün leuchtenden Augen gegen die Erde, während sie jene verderbten Manafragmente, die auf Innistrad noch übrig waren, zu etwas verwob, was Jace verwenden konnte. Jace spürte, wie sie die Leylinien leer saugte, um nach jedem letzten Rest an Energie zu suchen. Es war nicht genug. Es würde nicht genug sein. Nissa fiel zu Boden, die Arme weit von sich gestreckt.

Sie würden den Zauber verlieren.

Während Jace sich mühte, den Zauber aufrechtzuerhalten, brach seine geistige Verbindung zu Tamiyo ab. Wo sie in seinem Kopf gewesen war, war nun nur noch eine Wolke – ein dunkler, grauer Nebel, den er nicht durchdringen konnte. Tamiyo zog eine weitere Schriftrolle hervor – eine lange Schriftrolle mit eisernen Beschlägen – und begann, einen zweiten Zauber zu lesen.

Kraft floss in Jace hinein. Er befand sich in einem breiten Strom aus Mana – mehr Magie, mehr Kraft, als er jemals zuvor gespürt hatte. Es war wundervoll. Er nahm die Magie, um sie zu formen, und jeder Punkt der Glyphe verband sich mit einem Knoten der Macht an Emrakul, die Jace aus dem Stegreif erschuf. Jace entfesselte die volle Wirkung des Zaubers.

Licht brach aus dem Mond heraus.

Ein kalter, silberner Strahl traf Emrakul von oben.

Er hüllte die Kreatur ein ... und die Kreatur streckte sich. Hin zum Licht und zum Mond.

Die Verzerrung war körperlich unmöglich. Vor Jaces Augen wand sich Emrakuls Gestalt durch das Licht zum Mond hin. Sie streckte sich, streckte sich weiter, um dann ...

... zu reißen.

Emrakul fiel in sich zusammen. Sie zerbröckelte wie ein dünnes Pergament, auf dem feine Glassplitter verstreut waren, und verdichtete sich zugleich zu einem Nichts, wie es für eine Kreatur von ihrer Größe völlig unmöglich erschien. Doch sie tat es.

Das Licht verlosch. Emrakul war fort. Sie hatten gesiegt.

Auf dem silbernen Antlitz des Mondes leuchteten die dreieckigen Formen der Glyphe. Verbrannt. Vernarbt. Versiegelt.

Einen Augenblick lang war das einzige Geräusch das Rascheln trockenen Laubs im Wind. Neben ihm fiel Tamiyo auf die Knie und übergab sich.


Liliana

Sie war noch am Leben.

Sie fühlte sich überglücklich. Sie hatte schon viele Male zuvor echte Freude erfahren. An jenem Tag, als sie ihre Jugend zurückerhalten hatte. Als sie die Dämonenfürsten Kothoped und Griselbrand getötet und ihren verzweifelten Schreien gelauscht hatte. Jeder dieser Augenblicke hatte sich wie ein Betrug angefühlt – die beste Art von Betrug, bei der man ungeschoren davonkam und am Ende auch noch den Sieg für sich verbuchte.

Doch dieser Moment war noch süßer. Vielleicht deshalb, weil sie wahrhaft gewusst hatte, dass sie sterben würde. Vielleicht deshalb, weil sie sich aus ihrem Stolz und ihrer Gier nach Kontrolle heraus Emrakul derart übereilt entgegengestellt hatte und doch niemand von ihnen jetzt noch am Leben wäre, hätte sie es nicht getan. Vielleicht deshalb, weil es keine Emrakul mehr gab. Ihr Makel – ihr Geschmack – war von Innistrad verschwunden, und alles war besser durch ihre Abwesenheit.

Der bloße Gedanke an Emrakul ließ Liliana erschaudern. Sie war dem Tod so nahe gewesen. Oder Schlimmerem. Sie starrte den Mond an. Mögest du für immer darin verfaulen. Das hast du davon, dich Liliana Vess in den Weg zu stellen.

Die Planeswalker hatten sich am Ende eines sehr langen Tages wieder zusammengefunden. Nachdem der Kampf gegen Emrakul gewonnen war, mussten noch immer Feuer gelöscht, Augen geschlossen, Trost gespendet und Wunden geheilt werden ... oder auch nicht, wenn der angerichtete Schaden zu groß war. Liliana kümmerte das wenig. Jedes Mal, wenn sie die Grenzen des Kettenschleiers auslotete, fühlte sie sich danach leer, als würde ein Teil von ihr fehlen. Es war nun schon so viele Male geschehen, dass sie sich nicht mehr sicher war, überhaupt noch erkennen zu können, was da fehlte.

Es spielte auch gar keine Rolle. Sie hatte ihr Soll an guten Taten nun für eine ganze Weile erfüllt. Niemand von euch wäre noch am Leben, wäre ich nicht gewesen. Ihr habt Glück, dass ich keine Entlohnung dafür verlange, diese Welt gerettet zu haben. Nun, sie würde eine Entlohnung dafür einfordern, doch nicht jetzt und nicht von irgendjemandem auf Innistrad.

Es war erstaunlich, wozu vermeintliche Verpflichtungen und eingebildete Treue die Menschen bringen konnten. Man brauchte nur die Wächter als Beispiel zu nehmen. Sie schuldeten einander nichts. Buchstäblich nichts. Und dennoch standen sie hier, kämpften füreinander und waren willens, füreinander zu sterben. Liliana war an die Auswirkungen solcher Beziehungen gewöhnt und sogar von ihnen abhängig – solange es dabei um ihre Untoten ging. Das war ein sehr verlässliches Machtgefüge. Doch Innistrad hatte ihr die Grenzen dieses Ansatzes aufgezeigt. Untote gaben gute Diener ab, doch es gab Aufgaben, die sie nicht erfüllen konnten. Und es war wirklich ganz wunderbar, auf eigene Faust zu kämpfen ... Zumindest solange, bis es das nicht mehr war. Wenn man nicht auf das Unwahrscheinliche vorbereitet war und niemand da war, der einen vor seinem vorzeitigen Ende retten konnte.

Vor einiger Zeit hatte sie darüber nachgedacht, sich jene Gefühle zunutze zu machen, die Jace für sie hegte. Oder gehegt hatte, wie sie zugeben musste. Er ist nur ein Junge. Ein Junge, und ich sollte es besser wissen. Jace hatte sich ungeachtet seines jüngsten Erfolges als sehr zuverlässig in seiner Unzuverlässigkeit erwiesen. Was hast du mit deinem Zauber gemacht, während ich dich am Leben hielt? Hast du versucht, Emrakul zu Tode zu denken? Obwohl sie zugeben musste, dass das, was er getan hatte, tatsächlich geklappt hatte, verbesserte es dennoch nicht unbedingt ihre Meinung über ihn. Ein Junge. Ich sollte mir dir fertig sein.

Doch hier ergab sich nun eine Gelegenheit, die weit über Jace und seine Beschränkungen hinausging. Hier war eine ganze Gruppe. Eine Gruppe von Freunden. Heute hatte sie etwas erkannt: die Macht der Freundschaft. Richtig eingesetzt waren Freunde wie bessere Zombies. Sie halfen und retteten einem das Leben, weil sie es wollten, und nicht, weil sie es mussten.

Wie viel mehr konnte sie mit solch mächtigen Freunden erreichen? Wie viel mehr konnte sie erobern? Wie viel mehr konnte sie an sich reißen? Der Gedanke brachte sie zum Lächeln. Sie würden zwar ihren Befehlen nicht gehorchen, aber spielte das eine Rolle? Jace war im Vergleich zu ihr nicht das einzige Kind. Sie alle waren Kinder. Niemand unter ihnen hatte ihre jahrhundertelange Erfahrung, niemand unter ihnen hatte von jener Macht gekostet, von der sie gekostet hatte – weder zuvor irgendwann noch jetzt –, und niemand unter ihnen war so zielstrebig und ruchlos wie sie.

Sie wusste nicht, wo der Rabenmann war. Weder in ihrem Kopf noch außerhalb davon gab es irgendein Zeichen von ihm. Der Kettenschleier war bezwungen. Heute hatte sie auf sehr schmerzhafte Weise erfahren müssen, wie unzuverlässig er als Waffe war. Doch wenn ich meine eigenen Wächter habe, die mich nach jeder Verwendung heilen ... Ein Gedanke für später. Aber ihr gefiel die Idee. Meine eigenen Wächter nur für mich.

Gideon hatte unablässig auf Tamiyo eingeredet. Die Mondfrau sah aus, als wäre ihr übel, und Liliana konnte ihr kaum einen Vorwurf daraus machen. Gideon war sicher hübsch anzusehen, doch sie kannte Untote, die klüger waren. Gideon brabbelte irgendetwas über die Wächter und wie sie gerade erst damit anfingen, Gutes zu tun. Und wollte Tamiyo nicht auch unbedingt nur Gutes tun? Tamiyo schüttelte den Kopf und ging mit vor Furcht geweiteten Augen davon. Es passte, dass eine Gedankenmagierin sich als zu anfällig und verletzlich herausstellte. Sie war wie Jace: nutzlos.

Jace sah zu ihr herüber, und er hatte noch immer diesen treudoofen Ausdruck dabei in den Augen. Entscheide dich doch mal, Kind! Sie rang ihre Gereiztheit nieder. Sie brauchte ihn und seine Anhänglichkeit jetzt.

„Gideon.“ Jaces Stimme war zögernd und dünn. Sie sprachen leise miteinander, und Liliana achtete darauf, kein Anzeichen jenes Lächelns zu zeigen, das sich auf ihr Gesicht zu stehlen versuchte. Ja, Kapuzenjunge, nutze nur deine zögerliche Art, um dein ehrliches Verlangen zu stillen, mir unbedingt helfen zu wollen. Es war jedoch klar ersichtlich, dass Gideon nicht glücklich damit war. Liliana wusste allerdings auch nicht, ob Gideon jemals mit irgendetwas glücklich war. Du solltest zumindest Freude an deiner Jugend und deinem guten Aussehen zu haben, solange du beides noch hast. Warum sind Kinder nur so dumm?

Irgendwann trat die Augenweide an sie heran. Es folgten weitere Worte darüber, Gutes zu tun, aber Liliana war zu sehr auf den Eid konzentriert, um aufmerksam zuzuhören. Sie hatte ausgiebig darüber nachgedacht, wie sie ihn wohl angehen sollte. War er zu aufrichtig und zu geschwollen, würde man nur Verdacht schöpfen – einen Verdacht, der ihre nächsten Schritte schwerer machen würde. War er jedoch zu zynisch und zu offenherzig, dann würde genau dieser Verdacht ohne weiteres Zutun bestätigt werden. Sie brauchte einen schmalen Mittelweg mit einem Hauch von Zynismus, aber mit dem Herzen dennoch deutlich am rechten Fleck.

Als Gideon um ihren Eid bat, war sie bereit.

„Ich erkenne, dass wir gemeinsam stärker sind als allein. Wenn das bedeutet, dass ich das, was getan werden muss, ohne die Hilfe des Kettenschleiers tun kann, dann werde ich Wache halten. Zufrieden?“

Sie sagte es mit dem Hauch eines Lächelns. Nur einem Hauch. Und außerdem war ihre Freude aufrichtig. Der besten Täuschung lag ohnehin immer ein Körnchen Wahrheit zugrunde.

Sie war nun ein Mitglied der Wächter. Eine Zukunft voller Verheißungen und ehrgeiziger Ziele breitete sich in ihrer Vorstellung vor ihr aus.


Jace

Jace war erschöpft. Es war der längste Tag seines Lebens gewesen, und er wollte nur noch schlafen – einen Schlaf ohne jede Träume oder Gedanken.

Doch zunächst musste er mit jemandem sprechen.

Er fand sie in den Vororten Thrabens, wo sie in der Ruine einer kleinen Kirche saß. Nur wenige Gebäude in Thraben standen noch, und diese Kirche war nicht verschont geblieben.

Sie saß einfach nur mit übereinander geschlagenen Beinen und geschlossenen Augen da. Jace fühlte sich unbehaglich, einen so intimen Augenblick zu unterbrechen. Doch er brauchte Gewissheit.

„Tamiyo ... ? Bist du ... Kann ich ... ?“ Jace wusste nicht, wie er seine Fragen stellen sollte. Tamiyo öffnete die Augen. Ihr Gesicht zeigte noch immer das gleiche Unwohlsein und das gleiche Grauen wie seit dem Ende des Zaubers.

„Was ist da draußen geschehen, Tamiyo? Du warst da. Unsere Bewusstseine waren miteinander verbunden. Und dann ... nicht mehr. Du bist verschwunden. Was ist mit dir geschehen?“

Tamiyo saß nur da und brach in Tränen aus. Eine nach der anderen fielen sie – pling, pling – auf den Schutt unter ihr.

Ihre Worte klangen unsicher, zögerlich. „Nissa war zu Boden gegangen. Der Zauber drohte zusammenzubrechen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Wie ich helfen konnte.“

Jace war überrascht. „Also hat Nissa diese Macht allein erzeugt? Ich bin beeindruckt. Ich dachte, das warst du mit deiner zweiten Schriftrolle.“

Tamiyo blickte ihn voller Trauer und Zorn zugleich an. „Nein. Du verstehst nicht. Das war ich. Mit der zweiten Schriftrolle. Die Energie stammte von ihr.“

„Aber das ist doch wundervoll! Du hast uns gerettet! Du hast Innistrad gerettet ... Alles! Ist es, weil es eine der eisernen Schriftrollen war? Eine von denen, die du nicht öffnen wollest?“

„Sei jetzt still, Jace! Hör zu. Hör einfach nur zu. Ich war das nicht. Es ... Sie ... hat mich übernommen. Verstehst du? Das war nicht ich! Ich war da, in meinem eigenen Körper. Hilflos, als sie mich übernommen hat. Meine Augen, meine Hände, meine Stimme ... Sie übernahm sie alle. Sie gehörten nicht mehr mir.“ Ihr Weinen wurde zu einem Schluchzen.

Er erinnerte sich an eine Stimme – eine Stimme, als er dabei zusah, wie seine Schachfiguren einander töteten. Es sind alles meine Figuren, Jace Beleren. Das waren sie schon immer. Ich habe nur keine Lust mehr, mit ihnen zu spielen.

„Es ... Es tut mir leid, Tamiyo. Ich weiß nicht ...“

„Doch das war nicht das Schlimmste. Die Schriftrolle, die ich geöffnet habe. Die zweite. Du hattest recht. Das hätte ich nicht tun sollen. Ich habe vor langer Zeit ein Versprechen gegeben, und eines Tages werde ich mich dafür verantworten müssen. Aber der Zauber, den sie gelesen hat ... Das war nicht der ursprüngliche Zauber. Sie hat einen ... anderen Zauber gewirkt.“

Emeria. Von irgendwoher erschien ein langer Griffel und sie begann, auf die Schriftrolle zu schreiben. Jace begann zu zittern.

„Er wurde verändert. Wie hat sie das gemacht? Wie konnte sie das tun?“ Ihr Stimme nach zu urteilen, war Tamiyo nackter Panik nah. „Als dieses Ungeheuer meinen Körper übernahm und eine Schriftrolle las – eine Schriftrolle, die alles auf dieser Welt hätte vernichten können –, da speiste es stattdessen einen Zauber, der es selbst hier gefangen halten würde ... Wie konnte das geschehen, Jace? Warum ist es geschehen? Was haben wir nur getan?“

„Ich ... Ich weiß es nicht.“ Jace hatte keine Worte mehr für sie. Und keine für sich selbst.

Tamiyo holte tief Luft. „Ich habe es dir schon einmal gesagt, Jace. Manchmal müssen unsere Geschichten enden. Und dennoch sind wir hier, und jeder versucht, seine Geschichte zu verlängern, ganz gleich, um welchen Preis. Was aber, wenn alle Geschichten nur ihre Geschichte sind? Im Dienst eines entsetzlichen Schicksals, das sich erst noch zeigen wird?“ Tamiyo blickte zum Mond auf.

„Haben wir wirklich gewonnen?“ Tamiyos Stimme klang nicht mehr furchtsam, sondern schwermütig. Jace wusste keine Antwort. Irgendwann stand sie auf und entschwebte in den dunklen Nachthimmel. Es gab keine Abschiedsworte.

Jace saß lange Zeit nur da. Erneut blickte er zum Mond und dessen silbernem Schein hinauf. Zu der Glyphe, die noch immer hell auf seiner Oberfläche leuchtete – als Zeugnis dessen, was die Wächter erreicht hatten. In den Tiefen dieses Mondes ruhte die mächtigste und zerstörerischste Kraft, die jeder von ihnen je gesehen hatte. Die Worte des Engels stachen in seinen Kopf wie Dolche eines unerfüllten Schicksals. Das ist alles falsch. Ich bin unvollständig, unerfüllt, unfertig. Da sollten Blüten sein, keine öde Abweisung. Das Feld war noch nicht bereitet.. Es ist nicht meine Zeit. Noch nicht.

Ein eiskalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Es ist nicht meine Zeit. Noch nicht. Er löste seinen Blick vom Mond und machte sich auf die Suche nach einem sicheren Bett, um für eine kurze Weile völliges Vergessen zu finden.


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