Alte und neue Versprechen
Was bisher geschah: Der Tempel im Unterwassergrab
Als Jace sich zum Anwesen der Markovs aufmachte, hatte er die Hoffnung gehegt, den vampirischen Planeswalker Sorin zu finden. Stattdessen fand er nur ein verwüstetes und in groteske Formen verzerrtes Herrenhaus, dessen Bewohner in seinen steinernen Mauern eingeschlossen waren. Für Jace war dies der Anfang eines neuen Rätsels. Was er jedoch nicht ahnen konnte, war, dass er Sorin nur knapp verpasst hatte und die Verkündung im Stein für den uralten Vampir bestimmt gewesen war.
Sorins Vergangenheit hatte ihn eingeholt. Obschon er von seinesgleichen gemieden wird, hofft er nun auf die Hilfe der Vampire, um die Bedrohung, die Innistrad heimsucht, aufzuhalten. Seine Suche führte ihn zum abgelegenen Anwesen der mächtigen Olivia Voldaren.
Über hundert Augenpaare beobachteten ihn hinter eleganten Masken, während er sich seinen Weg durch den Ballsaal bahnte. Ein anderer hätte sich in solcherlei Gesellschaft vielleicht wie eine Maus unter Eulen gefühlt. Nicht so er. Er schritt unter dem Deckengewölbe entlang, während das Hallen seiner Schritte jenes zischende Wispern durchbrachen, das immer wieder den gleichen Namen flüsterte.
„Sorin Markov“, erklang nun eine weiblich Stimme über dem Wispern, melodisch und sarkastisch zugleich – eine Stimme, die jede Silbe seines Namens auf eine solche Weise formte, dass Sorin das Gefühl nicht loswurde, es handele sich dabei um die Pointe eines langen und vertrackten Scherzes. Doch das spielte keinerlei Rolle. Wichtig war nur, dass die Stimme vertraut war und zu jener Person gehörte, die er hier hatte treffen wollen.
„Mir scheint, ich habe eine ausgelassene Feier gestört“, sagte Sorin und machte eine ausladende Geste mit der Hand, ehe er sie in theatralischer Bescheidenheit auf die Brust legte. „Ich bitte um Verzeihung. Aber so zeige dich doch bitte, Olivia. Wir müssen uns unterhalten.“ Er ließ den Blick durch den Saal schweifen, in dem so viele Vampire zusammengekommen waren, um an den überschäumenden Festivitäten ihrer Gastgeberin teilzuhaben. Sorin hatte Dutzende, wenn nicht Hunderte solcher Veranstaltungen besucht, doch das war schon Tausende von Jahren her.
Endlich senkte eine Vampirin ihre Maske, eine Abscheulichkeit aus Porzellan, die den Reiher Avacyns zu verspotten trachtete. Sie warf sie beiseite und erhob sich so mühelos, als würde sie blinzeln, in die Luft – eine Zurschaustellung der Macht, die ihr uraltes Blut durchströmte.
„Ich kann mir kaum etwas vorstellen, worüber wir uns zu unterhalten hätten, Fürst von Innistrad“, sagte Olivia und knickte die Hüfte ein. Nun war es an ihr, sich in gespielter Hochachtung der Theatralik zu bedienen. Gelächter erscholl im Ballsaal. Sorin schenkte dem keine Beachtung. Immerhin war dies ihr Haus, und sie sollte ihren Spaß haben. Er erwiderte ihren Blick und sah zu ihrem bleichen, von roten Locken umrahmten Gesicht hinauf. Er kannte dieses Spiel. Sie wollte sich überlegen fühlen. Es war eine Vorstellung, die sie viele Male geübt hatte, doch er war keiner jener Neugeborenen, die miteinander um ihre Gunst wetteiferten, und er würde diesen Auftritt nur so lange dulden, wie er es aushielt.
„Ein Abkömmling Edgar Markovs ist hier nicht willkommen“, fuhr sie fort. Dann machte sie eine Geste, die an niemanden im Besonderen gerichtet war. „Bringt ihn hinaus.“
Ohne Zögern löste sich ein halbes Dutzend Vampire aus der Schar der Feiergäste. Einer von ihnen zog ein dünnes Rapier aus der Scheide. „Frau Voldaren wünscht, dass Sie gehen“, sagte er. „Sie gehören nicht hierher.“
Das war alles, was er zu dulden bereit war.
Sorins Schwert vollführte einige blitzschnelle Hiebe, die fünf seiner Angreifer zu Boden schickten. Wolken schwarzen Rauchs stiegen aus tiefen Wunden auf. Nur einer war noch übrig – der Duellant –, doch Sorin blickte an ihm vorbei zu Olivia, um sich zu vergewissern, dass sie die Vorgänge genau beobachtete. Das tat sie. Dann hob er die Hand, und als der Duellant nach ihm hieb, ballte Sorin die Finger zur Faust. Jäh zerbarst der Körper seines Angreifers zu Asche.
Stille senkte sich über den Raum. Er hatte die Aufmerksamkeit der Gäste. Und – viel wichtiger – er hatte die Olivias. Er steckte das Schwert weg und trat vor. Es gab einen Grund für seinen Besuch, und ungeachtet des üblen Geschmacks, den es auf seiner Zunge hinterließ, sagte Sorin: „Ich bin hier, um dich um Hilfe zu bitten.“ Olivias Mund verzog sich zu einem Lächeln, bis Zähne zum Vorschein kamen, die im Lauf der Jahrhunderte das Leben zahlloser Menschen beendet hatten. Sie schwebte zu ihm herab. Ihre Bewegungen waren so geschmeidig, dass die rote Flüssigkeit in ihrem Kelch sich kaum bewegte. Trotz der Eleganz ihres Gewands war sie barfuß, genau wie in Sorins Erinnerung – ganz die nachlässige Einsiedlerin. Und nun, da sie sich ihm näherte, glitten ihre Zehen gerade einmal eine Handbreit über dem polierten Steinfußboden dahin.
Olivia musterte Sorin und neigte dabei den Kopf erst zu einer, dann zur anderen Seite, als würde sie versuchen, Sorins Absichten zu erraten. „Meine Hilfe? Und ich war davon überzeugt, dies wäre ein unangenehmer Besuch.“
Sorin wusste, dass sie all dies genoss, doch so langsam verlor er die Geduld.
„Nun, immerhin wird man diese Feier nicht so schnell vergessen“, sagte sie und hob, wie um den Punkt zu unterstreichen, den Kelch an die Lippen. Dann war Sorin gezwungen, beiseitezutreten, als Olivia an ihm vorbeischwebte. Die Menge maskierter Gäste teilte sich vor der Urahnin der Voldaren, die Sorin mit einem ungezwungenen Wink bedeutete, dass er ihr doch bitte folgen möge.
Die beiden uralten Vampire schritten durch eine Reihe von Räumen voller feiernder Gäste.
In einem spärlich beleuchteten Arbeitszimmer beobachtete Sorin eine Handvoll Vampire, die sich in einer Ecke des Raumes scharten. Aus ihrer Mitte erklang ein kaum wahrnehmbares Wimmern. Einer der Vampire erblickte Sorin und fauchte seinen Ärger über die Störung mit blutüberströmtem Kinn heraus. Hinter ihm erhaschte Sorin den Blick auf einen ausgestreckten Arm, an dem rote Schlieren entlangliefen.
Jenseits des Arbeitszimmers führte Olivia Sorin in einen riesigen Speisesaal – ein langes, höhlenartiges Gewölbe, an dessen Decke ein Dutzend Kronleuchter über einer eleganten, aus schwarzem Holz gefertigten Tafel hingen. Um sie herum hatten sich weitere Gäste versammelt und frönten einem opulenten Mahl. Sorin erinnerte sich von früheren Besuchen gut an diesen Raum, und er wusste, dass Olivia ihn auf dem langen Weg hierhergeführt hatte. Sie wollte, dass er sah, wie die Vampire sich labten, und es ihm mit aller Dreistigkeit vor Augen führen. Sie musste geglaubt haben, dass ihm dies nahegehen würde. Wie wenig sie doch verstand.
„Hinaus“, sagte Olivia. Obwohl es weniger wie ein Befehl, sondern eher wie ein spielerischer Vorschlag klang, gehorchten die Speisenden. Mit ihnen verschwanden auch die Geräusche der Feier. Nachdem Sorin und Olivia an den Enden der Tafel Platz genommen hatten, war der Raum vollkommen still.
„Warum hier, Sorin Markov?“, fragte Olivia. „Warum bettelst du nicht vor deiner eigenen Tür?“
„Ich nehme an, du hast es noch nicht gehört.“ Olivia hob eine Augenbraue. „Das Anwesen meines Großvaters ist nicht mehr.“
Olivia lachte weniger melodisch, als Sorin es erwartet hatte.
„Diese Nachricht amüsiert dich?“, fragte er.
„Diese Nachricht ist nicht amüsant“, sagte Olivia. „Ihr Überbringer indes ...“ Mit müheloser Anmut ließ sie sich in die Polster ihres Sessels sinken. „Wenn das Anwesen der Markovs in Trümmern liegt, solltest du dich vielleicht an deine Schöpfung Avacyn wenden. Sie hat bereits Schloss Falkenrath zerstört und diese Blutlinie ausgelöscht. Deine Kreatur ist auf dem Kriegspfad. Offen gestanden ist die bloße Tatsache, dass ich dich nicht eigenhändig in Stücke gerissen habe, als du mein Haus durch deine Anwesenheit besudeltest, bereits ein Zeichen meines Großmuts.“
„Ich werde dies geflissentlich überhören, Olivia, denn ich möchte, dass du dem, was ich zu sagen habe, gut lauschst.“ Er erhob sich aus seinem Sessel und stützte sich mit den Knöcheln auf den Lehnen ab. „Ich komme gerade vom Markov-Anwesen. Und du musst wissen, dass ihm nicht dasselbe Schicksal widerfahren ist wie Schloss Falkenrath. Ich wende mich an dich, weil die Zerstörung des Markov-Anwesens den Anfang von etwas Entsetzlichem für diese Welt einläutet.“
„Etwas Entsetzlichem für dich, meinst du wohl.“
Warum nicht beides? Es war in der Tat entsetzlich für ihn. Doch es bedeutete ebenso eine Gefahr für ganz Innistrad. Er hatte nie beabsichtigt, dass es dazu kommen sollte, und seine Gedanken schweiften zu einem anderen Zeitalter.
Sorins Bewusstsein erstreckte sich über all die Wochen, die er hier unten gewesen war. Oder waren es Monate? Jahre? Er konnte keine Gewissheit darüber haben, doch inmitten seiner tiefen Versenkung hatte ihn nun ein grellweißer Punkt aufgespürt. Er durchbrach sämtliche Ebenen seiner Wahrnehmung und kam mit jedem Augenblick näher, bis er ihn schließlich berührte. Und dann fügten sich die verlorenen Fragmente seines Geistes binnen eines Herzschlags in wilder Eile in die richtigen Stellen seines Seins ein. Der Rausch drohte ihn zu übermannen. Etwas war schiefgegangen. Etwas hatte ihn frühzeitig aus seiner Genesung gerissen.
Als seine Augen sich flatternd öffneten, fand Sorin sich auf dem Steinboden einer bescheidenen Zuflucht sitzend wieder. Langsam erhob er sich – eine Aufgabe, die mehr Anstrengung erforderte, als sie es hätte tun sollen. Er war noch immer schwach und ausgelaugt, und als er nun auf unsicheren Beinen stand, bemerkte er einen dunklen Fleck, der sich über den Boden der Zuflucht ausbreitete – ein bleibender, schwarzer Schatten in Form eines Engels, ein Zeugnis der Tragweite seines neuesten Unterfangens und seiner jüngsten Schöpfung.
Dann flackerte das weiße Licht erneut über Sorins Kopf, und da sich der Nebel seiner Trance inzwischen gelichtet hatte, erkannte Sorin, was es war: das Zeichen eines anderen Planeswalkers, der auf Innistrad eintraf und von seinem Höllenkerker angezogen wurde.
Seine Genesung musste wohl aufgeschoben werden. Innistrad gehörte ihm, und er duldete Besucher nur, wenn es ihm gefiel. Er musste herausfinden, was sie vorhatten. Es wäre zwar kaum erstrebenswert, in seinem jetzigen Zustand in einen Kampf zu geraten, doch eine Bedrohung seiner Welt war nicht hinzunehmen. Selbst geschwächt war er noch immer fähiger als die meisten – und zudem würde er diesmal Hilfe haben. In einer Wolke aus tintigem, schwarzem Rauch machte Sorin Markov sich auf, herauszufinden, wer es wagte, in seine Welt einzudringen.
In einer weiteren Rauchwolke materialisierte Sorin sich im Schatten eines knorrigen Baumes, dessen verzweigte Äste in Ansammlungen roter Blätter endeten. Von seinem Aussichtspunkt aus diente der Vorhang aus grauen Wolken als Kulisse für einen schroffen, monolithischen Silberbrocken, der auf einem Vorsprung am Rand einer steilen Klippe ruhte. Im schwachen Licht erschien die silbrige Masse beinahe schwarz. Der Höllenkerker: Er entstammte dem silbernen Mond dieser Welt, und es hatte Sorin große Mühen gekostet, ihn hierherzubringen.
Als Sorin den Kerker betrachtete, löste sich eine Gestalt aus seinem Schatten. Eine Frau – bleich, mit weißem Haar, das ihr zerzaust ins Gesicht fiel. Als sie um den Höllenkerker herumschritt, strichen ihre Finger leicht über seine Oberfläche. Sie trug einfache, derbe Kleidung. Den einzigen Schmuck bildete ein Streifen roten Tuchs, den sie sich um einen Unterarm gewickelt hatte.
Sorin wusste sofort, wer sie war.
Die Lithomagierin.
Nahiri.
Sie war eine Kor von Zendikar, die er vor Jahrtausenden gekannt hatte. Eine Zeit lang, wenn auch nur wenige Jahre waren sie Reisegefährten gewesen, und es erschien Sorin seltsam, sie nun auf Innistrad zu sehen. Auf all ihren gemeinsam Reisen hatte er sie nie hierhergebracht. Ihre letzte Begegnung war auf ihrer Heimatwelt gewesen, und nach dem, wie sie auseinandergegangen waren, hatte er nicht damit gerechnet, sie je wiederzusehen.
Und doch war sie hier.
Im Augenblick schien Nahiri von dem Höllenkerker gebannt, und so näherte sich Sorin ihr still. Wenn irgendjemand sein Werk zu schätzen wissen würde, dann sie.
„Du musst mir meinen unbeholfenen Versuch, Stein zu formen, bitte vergeben, Liebes“, sagte er, als er unmittelbar hinter ihr stand. Bei seinen Worten fuhr Nahiri herum. Ein breites Lächeln formte sich auf ihrem Gesicht, als sie an den ersten Versuchen einer Erwiderung scheiterte, bis die Worte endlich aus ihr hervorbrachen.
„Mein Freund! Du lebst!“
„Und warum denn auch nicht?“ Er brachte seine Gesichtsmuskeln dazu, ein Lächeln zu zeigen, und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
„Du bist nie zu mir gekommen.“ Sie bedeckte seine Hand mit der ihren. „Als ich auf Zendikar das Signal vom Auge Ugins auslöste, hast du nie geantwortet. Ich fürchtete, dass du ...“
Sorin zog die Hand zurück. „Die Eldrazi haben sich aus ihrem Kerker befreit?“
„Das haben sie, ja.“
Eine beißende Bitterkeit stieg in Sorins Kehle auf. „Wo ist Ugin?“, fragte er.
„Auch er ist nicht gekommen“, sagte Nahiri und blickte zu Sorin auf. „Aber ich habe mich darum gekümmert. Allein. Mit aller Macht, die ich aufbringen konnte, ist es mir gelungen, den Kerker der Titanen wieder zu versiegeln.“ Sie sprach mit einem Selbstbewusstsein, an das Sorin sich bei ihr nicht erinnern konnte. Da war wahrlich Macht in ihr, wie sie sie vor einigen Jahrtausenden zu Zeiten ihrer näheren Bekanntschaft noch nicht besessen hatte. Mit einem Mal wurde Sorin sich seines eigenen geschwächten Zustands schmerzlich bewusst, als er da so neben Nahiri stand.
„Nachdem die Aufgabe erfüllt war, machte ich mich auf die Suche nach dir“, fuhr Nahiri fort. „Ich musste wissen, ob du noch am Leben bist. Und hier bist du nun.“ Nach einem Augenblick erstarb Nahiris Lächeln langsam. „Also? Wo warst du? Sorin, warum hast du nicht auf das Signal geantwortet?“
„Es hat mich nie erreicht“, sagte er.
„Wie ist das möglich?“
„Hm.“ Sorin streckte die Hand an Nahiri vorbei aus und presste sie gegen die Oberfläche des Höllenkerkers. „Du hattest dich der Aufgabe verschrieben, die eingesperrten Eldrazi zu bewachen, und mir wurde klar, dass meine Welt dringend einen eigenen Schutz brauchte, besonders während meiner Abwesenheit. Dieser Höllenkerker ist die eine Hälfte dessen, was ich als Schutz erschaffen habe. Es ist nicht undenkbar, dass dein Signal aus dem Auge die Magie, die diese Welt beschützt, nicht zu durchdringen vermochte.“
Nahiri schüttelte den Kopf. „Wusstest du zu jenem Zeitpunkt, dass das geschehen könnte?“
„Es kam mir nie in den Sinn“, erwiderte Sorin. Das war die Wahrheit, doch er spürte einen Vorwurf in ihren Worten und wog die seinen sorgfältig ab. „Ich erkenne nun jedoch, dass diese Möglichkeit bestand.“
„Die Möglichkeit? Du hast meine Welt aufs Spiel gesetzt – und mehr!“ Nun lag eine Kränkung in ihrer Stimme. „Du hast mich im Stich gelassen!“
Sorin wischte die Befürchtungen der Kor beiseite. „Ich habe lediglich die nötigen Maßnahmen zum Schutz meiner Welt ergriffen. Ich glaube kaum ...“
„Wir hatten eine Abmachung, du und ich.“ Nahiris Stimme hatte sich plötzlich verändert. Sie war eisig geworden, bar jeder Wärme wie noch vor ein paar Augenblicken.
Ein scharfes Fauchen fuhr zwischen Sorins Zähnen hindurch, und Nahiri trat auf ihn zu. Er drehte sich von ihr fort.
„Nimm das nicht auf die leichte Schulter“, sagte sie. „Ich war bereit, meine Heimat aufs Spiel zu setzen, indem wir die Eldrazi dorthin lockten. Ich versprach, mich an Zendikar zu ketten und sie zu bewachen. Ich verbrachte Jahrtausende mit diesen Ungeheuern. Weißt du, wie das ist?“ Während sie sprach, begann der Boden zu grollen. „Alles, was du zu tun hattest, war, zu kommen, als ich dich rief.“
„Maße dir nicht an, über meine Taten bestimmen zu wollen, Kleines“, erwiderte Sorin und schlug Nahiris Hand beiseite. „Ich bin zu nichts verpflichtet. Ich schulde dir nichts! Als sich dein Funke entzündete, war ich es, der dich fand. Ich hätte dich damals vernichten können, aber ich habe dich verschont.“ Er wandte sich zu ihr um, und mit einem Mal trennte kaum ein Fingerbreit ihre Gesichter. Flüsternd fuhr er fort: „Ich habe dich unter meine Fittiche genommen und dich zu dem gemacht, was du heute bist. Falls du es für nötig hältst, jemandem Vorhaltungen zu machen, dann gehe los und suche nach Ugin. Ich habe keine Geduld für so etwas.“
Die Erde erbebte abrupt, und einen Augenblick lang kämpfte Sorin um sein Gleichgewicht.
Unter Nahiris Füßen stieß eine Säule aus Felsgestein durch die Erde und hob sie in die Luft. „Ich gehe nirgendwohin.“
Sorin nahm einen Kristallkelch zur Hand und betrachtete dessen rubinroten Inhalt. Ein dünner Film hatte sich auf der Oberfläche gebildet. Sorin drehte den zarten Stiel zwischen zwei bleichen Fingern so, dass der Film sich auflöste und die Flüssigkeit wieder ungehindert umherschwappen konnte. Er hob das Glas, damit das Licht der Kronleuchter hindurchfallen konnte, und sah dabei zu, wie sich lang gezogene, rote Schemen über die Tischgedecke in der Nähe ausbreiteten.
„Weißt du, warum ich Avacyn erschaffen habe, Olivia?“, sagte er schließlich. Bei der Erwähnung dieses Namens verschwand das Grinsen aus Olivias Gesicht, wie Sorin mit einem gewissen Vergnügen bemerkte. „Ich habe sie als die Beschützerin dieser Welt erschaffen.“
Olivia schnalzte mit der Zunge, als Sorin an dem Blut im Kelch roch, ehe er ihn zurück auf den Tisch stellte. „Als Beschützerin“, spöttelte sie. „Du wagst es, in mein Haus zu kommen und meine Gäste mit einer solchen Absurdität zu belästigen?“ Nun war es an ihr, sich aus ihrem Sessel zu erheben. „Seit deinem Verrat haben wir nicht miteinander gesprochen – seit du Schande über den edlen Namen deines Großvaters gebracht hast. Die Tatsache, dass du mir an meiner eigenen Tafel gegenübersitzt, ist eine Schmach, die ich wohl ertragen muss. Doch wenn du glaubst, dass ich deinen Versuch, dich als Held aufzuspielen, dulden werde ...“
„Bist du fertig?“, fiel Sorin ihr ins Wort. Er war nicht hier, um sich zu rechtfertigen. Nicht vor ihr. Doch er war hier, um einiges zu erklären. „Es ist in der Tat wahr, dass unsere Gabe der Langlebigkeit oft mit einer gewissen Kurzsichtigkeit einhergeht, doch es gibt Wesen, die eine größere Bedrohung darstellen als unsere übereifrige Nahrungsaufnahme.“ Olivia trank das restliche Blut aus ihrem Glas. „Eines dieser Wesen“, fuhr Sorin fort, „ist hier und bedroht unsere gesamte Welt. Das kann ich nicht zulassen.“
Sorin hob den Blick dorthin, wo Nahiri auf ihrer Granitsäule über ihm aufragte. Um sie herum schwebten unzählige Steine und trotzten der Schwerkraft zugunsten einer mächtigeren Herrin. Sie waren eine gehorsame Armee, die nur auf ihren Befehl wartete. Obwohl der Wind durch Sorins Haar peitschte und am Leder seines langen Mantels zerrte, hingen die Steine bewegungslos in der Luft, und Sorin kam es vor, als hielte die gesamte Welt den Atem an. Es gab keinen Zweifel an der Macht, die Nahiri nun besaß – jene Macht, die mit ihr gereift war. Stein gehorchte ihr nicht nur einfach. Er war ein Teil von ihr, und durch ihn konnte sie nach ganz Innistrad greifen und diese Welt in Trümmer legen.
Der einzige Stein, der jenseits Nahiris Einfluss lag, schien der Höllenkerker zu sein. Also lehnte sich Sorin mit dem Rücken daran, um nicht von allen Seiten aus angegriffen zu werden. Wäre er bei vollen Kräften gewesen, wäre er mit diesem Jungspund im Handumdrehen fertiggeworden. Doch seine Energie war noch immer erschöpft, und während er sich auf sein Schwert stützte, um nicht zusammenzubrechen, verfluchte er sich selbst.
Sorin sah zu, wie sich Nahiris Säule mit dem Geräusch brechender Knochen in Bewegung setzte und die Lithomagierin gemächlich auf ihn zutrug. Die Steine teilten sich vor ihr, und als sie eine längliche Scholle passierte, streckte sie die Hand so mühelos hinein, als würde sie in einen Teich greifen. Nach einem Wimpernschlag wurde der gesamte Stein rot, um kurz darauf in unzählige Splitter zu zerbersten, bis nur noch ein Schwert in Nahiris Hand übrig blieb. Die Klinge glühte noch davon, gerade eben erst aus Stein geschmiedet worden zu sein, und Sorin sah sich ihrer weiß glühenden Spitze gegenüber.
„Sorin“, sagte Nahiri mit einer Stimme, die von sämtlichen Steinen weitergetragen wurde, sodass es schien, als würde sie von überallher gleichzeitig kommen. „Du wirst dein Versprechen einlösen. Du wirst mit mir nach Zendikar zurückkehren. Du wirst mir dabei helfen, unsere Maßnahmen zur Eindämmung der Eldrazi zu überprüfen, und dich mit mir vergewissern, dass sie auch weiterhin eingesperrt bleiben. Erst dann kannst du dich davonmachen.“
Sorin spie aus.
Dann spürte er es.
Seine Augen wanderten an Nahiris Schwert und dessen sein Ende verkündenden Spitze vorbei zu einem dunklen Wolkengebilde, das sich brodelnd über ihnen auftürmte. Er spürte es tatsächlich, und vor seinen Augen durchfuhr ein Speer aus Licht das Grau. Die Wolken zogen beiseite, und ein silbriger Komet schoss durch die entstandene Öffnung.
Avacyn. Seine Avacyn. Sie war gekommen, um Innistrad vor einer planaren Bedrohung zu beschützen – ganz dem Grund für ihre Erschaffung durch ihn entsprechend.
Anfangs schien Nahiri sie nicht zu bemerken. Und als sie es dann schließlich doch tat, geschah dies erst, als der Engel mit ausreichender Wucht auf sie prallte, um sie beide von der Steinsäule zu reißen. Sorin sah, wie sie dort, wo sie aufkamen, eine tiefe Kluft in die Erde rissen. Und mit ihnen stürzten auch die zahllosen Steine polternd zurück zu Boden.
Als die beiden Gestalten endlich liegen blieben, war es Avacyn, die sich als Erste aufrappelte. Sie hob ihren Speer, an dessen Spitze ein Licht aufleuchtete – immer heller und heller, bis es schließlich kaum mehr möglich war, es anzusehen.
Sorin ertrug das Gleißen kaum noch. Er sah, wie Nahiri von der Erde verschluckt wurde, gerade als der Erzengel seinen Speer durch leere Luft trieb. Als die Spitzen sich in den Fels bohrten, zerbarst die Oberfläche in einem Hagel aus Stein und Staub, sodass Avacyn ihr Gesicht mit den Armen schützen musste.
Von dort, wo er stand, brauchte Sorin einen Augenblick, bis er begriff, was vor sich ging, doch durch den Staub erkannte er Nahiri, die mit ihrem noch immer glühenden Schwert Hiebe austeilte. Die Klinge schnitt durch die Luft und zog dabei gelbrote Bänder aus Licht hinter sich her. Funken stoben von Avacyns Speer auf, als sie den Angriff abwehrte. Doch es waren zu viele und zu wilde Schläge. Bald befand sich Avacyn auf dem Rückzug. Sie versuchte, sich in die Luft zu schwingen, doch Nahiri erhob sich auf einer weiteren Steinsäule und zwang den Engel durch ihre unnachgiebigen Angriffe zurück zu Boden.
Nahiri würde Avacyn vernichten. Der Gedanke durchfuhr Sorin eher wie ein Blick auf die Wirklichkeit als lediglich wie eine von vielen Möglichkeiten. Nein! Die Erschaffung Avacyns hatte Sorin zu viel gekostet, um nun einfach zuzulassen, dass Nahiri sie hier vernichtete.
Mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, warf er sich vorwärts. „Genug!“, krächzte er, und als Nahiris Schwert ein weiteres Mal herabfuhr, prallte es auf Sorins eigene Waffe. „Genug“, sagte er erneut. Einen Augenblick lang starrten sich die beiden Planeswalker Klinge an Klinge an. Sorin musterte sie. Ihr Blick war fest auf Avacyn gerichtet, und in ihren Augen sah er Verwirrung.
„Was soll das, Sorin?“, fragte Nahiri durch zusammengebissene Zähne. „Wie hast du es geschafft, dir einen Engel untertan zu machen? Wer ist sie?“
„Die andere Hälfte“, gab Sorin zurück. Er griff mit der freien Hand nach Nahiris Schwert. Die heiße Klinge zischte, als seine Finger sich um die scharfe Schneide legten, und als Nahiri versuchte, sie loszureißen, führte Sorin ihr die Spitze seiner Klinge an die Kehle. Schweißperlen hatten Linien in den Schlamm gegraben, der ihre Haut bedeckte, und ihre Gesichtszüge waren hart geworden. Womöglich lag es nur am Eingeständnis ihrer Niederlage. Nahiri löste den Griff um das Heft, und Sorin warf die Klinge beiseite.
Sorin spürte, wie Avacyn sich näherte, und er hob die Hand, um ihrem Speer Einhalt zu gebieten. Dann sagte er an seinen einstigen Schützling gewandt: „Ob du es hören magst oder nicht – ich habe das alles nie gewollt, Kleines.“
„Sorin?“, fragte Olivia. Als er seinen Namen hörte, wurde Sorin der Stille gewahr, die sich während der langen Zeit, in denen er nicht gesprochen hatte, im Raum angestaut hatte. „Sorin?“, fragte Olivia erneut. „Wer ist diese Bedrohung? Oder sollte ich fragen: Was hast du getan?“
„Zu viel. Nicht genug“, sagte er und starrte die schwarze Banketttafel hinunter. Seine Gedanken kreisten noch immer um die Ereignisse, die sich vor Jahrhunderten abgespielt hatten.
„Komm schon, Sorin. Du kannst doch jetzt ausgerechnet beim besten Teil nicht so in Rätseln sprechen.“ Sorin drehte sich zu ihr um. Er schwieg, selbst als ihr spöttisches Grinsen den Weg zurück auf ihr Gesicht fand. „Ich muss zugeben, dass du mein Interesse geweckt hast. Etwas, was dir nahegeht, ist zweifellos faszinierend. Doch du bist zu mir gekommen, Sorin. Sag mir also, was ich für dich tun kann.“
Binnen eines Wimpernschlages lichtete sich der Nebel der Vergangenheit. „Rufe die Macht deiner Blutlinie herbei, Olivia. Die verbliebenen Markovs tun sich bereits zusammen. Gemeinsam können wir uns dieser Bedrohung entgegenstellen.“
„Warum sollte ich? Warum sollte ich mich dieser ... Bedrohung ... aussetzen? Bitte erleuchte mich, was es mir bringt, wenn ich ...“
Sie hielt mitten im Satz inne und brach plötzlich in ein Gelächter aus, das so gar nicht zu ihrer melodischen Stimme passen wollte. Ihre Augen blitzten vor einer fiebrigen Heiterkeit, die Sorin als etwas erkannte, was üblicherweise allein für ihre Beute bestimmt war.
„Oh, Sorin“, sagte sie, als sie die Fassung wiedergewonnen hatte. „Ich werde dir helfen. Doch zuerst wirst du mir helfen.“
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Planeswalker-Profil: Sorin Markov