Was bisher geschah: Unerwünscht

Tief und dunkel liegt der Zhava-See im Hochland Nefalens unweit der Grenze zu Gaven. Die Dorfbewohner, die am Ufer des Sees leben und in seinen Gewässern fischen, sprechen schon seit langer Zeit von einem Ungeheuer, das in seinen Tiefen haust. Doch trotz des Flehens der Dörfler entsandte die Kirche Avacyns bislang weder einen Katharer noch einen Engel, um sie zu beschützen. Doch wie werden die Einheimischen nun, da in Innistrad der Wahnsinn immer weiter um sich greift, dem Grauen aus dem See die Stirn bieten?


Mia glaubte nicht an die alten Schauermärchen.

Nicht etwa, weil sie nicht an grauenhafte Schrecken glaubte. Ganz im Gegenteil. Sie glaubte an vieles, was selbst die meisten Erwachsenen sich nicht auszumalen wagten. Geister, die die Lebenden heimsuchten. Wiederbelebte Leichen, die von Wahnsinnigen zusammengeflickt worden waren. Werwölfe, gefräßig und wild. Vampire, für die ein Dorf nichts weiter war als eine Auswahl köstlicher Leckerbissen. Sie glaubte an diese Dinge. Dinge, von denen zu sprechen es sich nicht schickte – als ob sie dadurch irgendwie weniger wirklich würden.

Nein, es gab zu viele Schrecken auf der Welt – Schrecken, deren Namen die Dorfältesten nicht auszusprechen gewillt waren –, als dass Mia allzu viel auf das vage und um so hysterischere Geschwätz im Dorf gegeben hätte.

Wilbur war da ganz anderer Ansicht.

„Er ist viel zu wirklich," beharrte er und schlug mit der Faust ins Gras. „Veryl meinte, er hätte ihn einmal gesehen – nur ganz kurz zwar, aber er war so groß wie sein Schiff.“

Mia verdrehte die Augen. „Veryl behauptet auch, er hätte einen Engel geküsst“, sagte sie. „Wie lange hören wir schon die Geschichten über den Gitrog? Und wie viele glaubwürdige Leute haben ihn gesehen? Sind wir nicht ein bisschen zu alt, um an diesen Unsinn zu glauben?“

Wilbur stand auf und schüttelte den Kopf. „Das ist nicht einfach nur eine dumme Geschichte. Du fährst nicht jeden Tag auf den Zhava-See hinaus, Mia. Du siehst nicht, was ich sehe. Besonders in letzter Zeit. Der unnatürliche Nebel. Die schleichende Kälte. In diesen Tiefen gibt es mehr als nur Fische.“

„Ist dies deine fachkundige Einschätzung als Fischer? Als Fischer, der schon fünfzehn ist und noch immer nicht allein raussegeln darf?“

Wilbur wurde rot. „Das hat damit gar nichts zu tun, Mia! Ich meine es ernst, und du bist gemein.“

Mia zuckte die Schultern und ging in Richtung ihrer Herde. Ein paar Tiere hatten sich weiter von den anderen entfernt, als ihr lieb war. „Es hat keinen Sinn, Angst vor der Dunkelheit zu haben, Wil. Du solltest dich lieber vor dem fürchten, was sich in der Dunkelheit befindet.“

Wilbur runzelte die Stirn und eilte ihr nach. „Was ist das? Noch so ein Ausspruch deines oberschlauen Vaters?“ Mia ging nicht darauf ein, aber Wilbur ließ nicht locker. „Der berühmte Jäger, der das Land als nobler Abgesandter des Schildvolks bereist, aber zu beschäftigt ist, sich um die Ungeheuer bei ihm daheim zu kümmern?

Zu beschäftigt für die weinerlichen Wahnvorstellungen kleingeistiger Dörfler!“ Mia wirbelte herum und hob ihren Hirtenstab. „Sieh dich doch um, Wilbur. Nichts hiervon ist wichtig. Dieses Dorf ist nicht wichtig. Wir sind nicht wichtig. Dieser dumme kleine Weiler ist nicht einmal groß genug, als dass ihn irgendwelche echten Gespenster je heimsuchen würden! Wir sind einfach nur ein namenloses Kaff in den Bergen, das sich dank der blühenden Fantasie seiner Bewohner selbst in den Wahnsinn treibt.“

Bild von Andreas Rocha

Sie drehte sich um, blickte zu ihrer Herde und seufzte. Ein Schaf war weit von den anderen weggestromert. Das kleine Glöckchen um seinen Hals klingelte leise, während es den steinigen Hang des Hügels erkundete. Sie ging ihm nach.

„Hat das dein Vater zu dir gesagt, als er dich hier zurückließ? Dass du nicht wichtig bist?“

Mia blieb wie vom Blitz getroffen stehen und warf Wilbur einen wütenden Blick zu. Zu seiner Verteidigung musste man vorbringen, dass er angemessen peinlich berührt wirkte – als wollte er die Worte, die ihm da gerade aus dem Mund gepurzelt waren, am liebsten wieder herunterschlucken. Mia runzelte die Stirn.

„Das hast du nicht so gemeint.“

„Vielleicht doch ...“

„Wir beide wissen, dass du es im Kampf nicht mit mir aufnehmen kannst. Du hast es nicht so gemeint.“

Sie wandte sich von Wilbur ab, ehe er antworten konnte, und lief los, wobei sie ihren Stab über dem Kopf kreisen ließ. Nach einem kurzen Spurt, ein paar scharfen Kommandos und einem Griff mit dem krummen Ende des Stabs nach dem Hals eines sturen Schafs hatte sie einen Großteil ihrer Herde in der Mitte der Weide zusammengetrieben.

Sie warf einen Blick zurück, um zu sehen, ob Wilbur nach Hause gelaufen war. Zu ihrer Überraschung stand er noch immer da. Er sah dumm und hilflos aus.

„Ich habe es nicht so gemeint“, rief er quer über das Feld. Mia seufzte. Ein Lächeln stahl sich in ihr Gesicht.

„Ich weiß.“ Sie stieß einen schrillen Pfiff aus und trieb ihre Schafe auf den Heimweg. Wilbur eilte über das Feld, um zu ihr aufzuschließen.

„Und das liegt nicht daran, dass du mich im Kampf besiegen könntest. Ich meine, das könntest du sicher. Aber das ist nicht der Grund.“ Wilbur ging neben ihr her. Mia lachte.

„Ich weiß, Wil. Deshalb mag ich dich doch.“

Die beiden gingen weiter. Das einvernehmliche Schweigen zwischen ihnen wurde nur vom gelegentlichen Blöken der Schafe unterbrochen.


Später in dieser Woche erwachte Mia in einer kalten, grauen Dämmerung, nur um feststellen zu müssen, dass der Zaun ihres Schafpferchs an einer Stelle eingerissen war. Ein Schaf fehlte, wie eine rasche Zählung ergab. Sie verbrachte den Morgen mit einer ergebnislosen Suche. Wahrscheinlich war ein vorwitziges Schaf aus dem Pferch ausgebrochen, wie es hin und wieder vorkam, und war danach in den Wald gewandert, um sich von Wölfen fressen zu lassen. Mia verfluchte ihr Pech und flickte den Zaun wieder.


Mia ging über den Marktplatz und begutachtete die mageren Waren. Der Marktplatz des Dorfes war nie sonderlich geschäftig gewesen, doch die karge Ernte des letzten Jahres und die immer weniger werdenden Händlerkarren, die über den Bergpass kamen, ließen die Auswahl noch spärlicher ausfallen als ohnehin schon. Selbst die Auslagen mit Fisch schienen leerer. Das beste Angebot war ein trauriger Sack mit Dorsch.

„Schlechter Fang diese Woche, Lehren?“ Mia nickte dem alten Fischer zu.

Lehren schüttelte seufzend den Kopf. „Ich habe nicht viel Zeit auf dem Wasser verbracht. Der Nebel ist dichter als gewöhnlich. Gefährlich.“

„Das ist er allerdings“, krächzte eine Stimme. „Und nicht nur wegen des Nebels. Kluge Fischer halten sich vom See fern.“

Bild von John Stanko

Mia sah, wer dort sprach, und verdrehte die Augen. „Wären alle Fischer so klug wie du, Veryl, dann wären sie mittlerweile verhungert.“

„Wer klug ist, der weiß, dass der Gitrog sich wieder regt!“, verkündete Veryl mit höhnischer Stimme. „Nur ein Narr fischt in seinem See.“

„Ich bin noch nie einem Fischer begegnet, der so viel Angst vor dem See gehabt hätte oder sein eigenes Unvermögen so dringend einem eingebildeten Ungeheuer anlasten wollte.“ Mia nahm sich den fettesten Dorsch aus Lehrens Fang und drückte dem Fischer mit viel Aufhebens einige Münzen mehr in die Hand, als nötig gewesen wären.

„Pass auf, was du hier eingebildet nennst, Mädchen“, grollte eine tiefe Stimme.

Mia drehte sich um, um den Sprecher anzusehen, und stutzte überrascht. Kalim, stämmig über den Rest der Händler aufragend, blickte so streng drein wie eh und je. Dichte Brauen, ein ebenso dichter, dunkler Bart, dicke Arme, gestählt vom Einholen der Netze – das einzig Schlanke an seinem Leib war das geschwungene Fischermesser an seinem Gürtel.

„Es gibt den Gitrog wirklich. Sicherlich ist die Tochter eines Jägers schlau genug, nicht an den Ungeheuern dieser Welt zu zweifeln.“

Mia bemerkte, dass sich weitere Händler und Marktbesucher vorbeugten, um zuzuhören und ihr verstohlene Blicke zuzuwerfen. Sie knirschte mit den Zähnen.

„Die Tochter eines Jägers weiß, dass man zunächst alle anderen Möglichkeiten ausräumt, bevor man wie ein verängstigtes Kind ‚Da! Ein Ungeheuer!‘ ruft.“

Veryl stellte sich hinter Kalim auf. Sein fettiges, blondes Haar fiel ihm in die Augen. „Unhöfliche Worte von einem Hirtenmädchen. Du sprichst, als wärst du die Jägerin.“

„Ich bin mehr Jägerin als du Fischer, Veryl.“ Sosehr sie ihm auch seine Selbstgefälligkeit – und zumindest ein paar Zähne – aus dem Gesicht schlagen wollte, war sie klug genug, nicht die Fäuste zu heben, wenn Kalim in der Nähe war. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit voll auf ihn.

„Bestimmt glaubst nicht ausgerechnet du Veryl, dass er den Gitrog tatsächlich gesehen hat, Ältester Kalim.“

„Ich glaube es. Denn ich habe ihn gesehen.“

Der Marktplatz wurde still und Mia verlor sämtliche Fassung: Sie starrte Kalim mit offenem Mund an. Veryl wollte etwas sagen, doch Kalim legte ihm eine Hand auf die Brust, um ihn zum Schweigen zu bringen, und wandte sich an den gesamten Marktplatz. „Die Ältesten haben sich letzte Nacht beraten und verfügen hiermit, dass das Fischen im See bis auf Weiteres untersagt ist. Wir werden den Erlass noch heute Nachmittag auf dem Dorfplatz aushängen.“ Er hob die Hand, als gequältes Stöhnen und alarmierte Rufe aufkamen. „Die Sicherheit des Dorfes steht an erster Stelle. Außerdem ... habe ich die Kirche Avacyns um Hilfe ersucht.“ Sein Blick fiel wieder auf Mia. „Vielleicht könntest du auch deinem Vater schreiben.“

Schweigen senkte sich über den Platz. Mias Herz schlug schneller, als sie Kalims Blick erwiderte. Trotz der Ruhe und dem beherrschten Äußeren sah sie ihn: den Schrecken, tief und grollend, ein reißender Strom unter seinem ansonsten so entschlossenen Blick. Sie schluckte, als ihr nacktes Grauen die Kehle hinaufkroch und ihr die Luft abschnürte.

„Vater, ich habe endlich Koriander gefunden!“ Mia und Kalim drehten sich um, als Wilbur die Marktstraße entlanggerannt kam. Er wedelte, ein dümmliches Grinsen im Gesicht, mit den grünen Blättern herum – bis er hinfiel und über die Pflastersteine schlidderte. Mia stieß ein nervöses Lachen aus – und bemerkte erst dann, dass sie bis eben noch den Atem angehalten hatte. Um sie herum kehrten die Schaulustigen zu ihren gewohnten Tätigkeiten zurück. Einige lachten Wilbur aus, viele flüsterten und murmelten beim Auseinandergehen, als die Spannung des Augenblicks aufgehoben war.

Kalim nahm den Koriander und fuhr Wilbur durchs Haar. Wilbur blickte sich verschüchtert um, bis er Mia sah. Vom einen Augenblick zum anderen wandelte sich sein Gesichtsausdruck von dümmlicher Scham zu großem Ernst und er legte die Stirn in Falten. Alles gut?, formte er eine stumme Frage mit den Lippen.

Mia blinzelte überrascht und zuckte mit den Schultern. Sie setzte zum Sprechen an, aber Wilbur hatte sich bereits Kalim zugewandt, um ihn schwatzend von ihr und dem Marktplatz wegzuführen. Sie stand einsam da, als eine Welle aus Empfindungen, Gedanken und Fragen über sie hinwegspülte.


„Er hat dich gebeten, deinem Vater zu schreiben?“ Wilbur starrte sie ungläubig an. Mia nickte und rührte langsam im Topf herum. „Aber ... er hasst deinen Vater.“

„Glaub mir. Das habe ich nicht vergessen.“

Mia kostete die Suppe und hielt Wilbur anschließend den Löffel hin. Er nippte, zog ein Gesicht und gab eine weitere Prise Salz in den Topf.

Die beiden kauerten in Mias Hütte in der Nähe eines kleinen Herdfeuers beisammen. Der flackernde Schein tauchte den Raum in warmes Licht, während der Rauch der Kochstelle sich mit dem herzhaften Duft des Hammeleintopfs vermischte. Mia nahm den Topf vorsichtig vom Feuer und stellte ihn auf einem Tisch in der Nähe ab, während Wilbur einen frischen Laib Brot aus seinem Beutel zog. Mia ließ sich auf einen Stuhl fallen und nahm ein Messer von ihrem Gürtel, um das Brot zu schneiden. Wilbur runzelte die Stirn. „Bitte sag mir, dass du das geputzt hast, seit du heute Morgen damit im Schafpferch Seile geschnitten hast. Oder seit du damit den Hammel für den Eintopf zerlegt hast. Oder seit du dir vor drei Monaten die Haare damit geschnitten hast.“

Mias Miene verfinsterte sich ein wenig. „Das ist mein bestes Messer. Vielseitig verwendbar.“

Wilbur zuckte die Schultern, holte ein paar Schüsseln vom nahen Regal und setzte sich, um sich eine gehörige Portion Eintopf aufzutun. „Weißt du überhaupt, wie du ihn erreichen kannst?“ Mia blickte verwirrt auf. „Deinen Vater, meine ich.“

„Ich weiß, bei welchem Zweig des Schildvolks in Durnau er ist“, sagte sie und steckte das Messer weg. Sie tunkte das Brot in den Eintopf und nahm einen Bissen. Sie staunte immer wieder, wie viel besser er schmeckte, wenn Wilbur bei der Zubereitung half.

„Hat er dir je geantwortet?“ Wilbur beobachtete Mia aufmerksam und rührte seinen Eintopf nicht an.

„Ich habe ihm nie geschrieben.“

„Wieso?“

„Ich wollte ihn nicht mit Nichtigkeiten langweilen.“ Mia aß einen weiteren Löffel Eintopf und deutete auf Wilburs Schüssel. Wilbur grummelte und aß seinerseits einen Löffel.

„Wirst du ihm denn jetzt schreiben?“

Mia aß weiter und versuchte, sich ihre Gereiztheit nicht anmerken zu lassen. Wilbur schien sie nicht aufzufallen.

„Glaubst du, dass er kommen wird? Und die anderen mitbringt? Ich meine, ich glaube nicht, dass selbst er es ohne Hilfe mit dem Gitrog aufnehmen könnte ...“

„Ich weiß es nicht!“ Mia schlug mit der Faust auf den Tisch. „Ich weiß nicht mal, ob ich ihm überhaupt schreiben werde.“

„Aber ... ich meine, das ist doch seine Aufgabe, oder? Ungeheuer zur Strecke zu bringen?“

Mia stand auf und warf verzweifelt die Hände in die Luft. „Wir wissen noch nicht einmal, ob es überhaupt ein Ungeheuer gibt!“

Wilbur glotzte Mia verdutzt an. „Du glaubst das immer noch nicht?“

„Ich weiß es noch immer nicht mit Gewissheit. Es sind doch alles nur Geschichten ...“

Nun stand auch Wilbur auf. Ein leichter Ärger hatte sich in seine Stimme geschlichen.

„Mein Vater hat es gesehen! Veryl hat es gesehen! Mia, ich weiß nicht, warum du dich weigerst –“

„Veryl ist ein Dummkopf, und dein Vater ist ... dein Vater.“ Mia schaute Wilbur in die Augen. Die beiden standen sich mit geröteten Gesichtern und erregten Gemütern am Tisch gegenüber. Ungeachtet der Hitze ihrer Auseinandersetzung kam Mia nicht umhin zu bemerken, dass sie nun einander auf Augenhöhe begegneten. Noch im letzten Sommer hatte sie ihn um eine Handbreit überragt.

„Mein Vater ist was, Mia?“

„Ein Ältester. Es ist seine Aufgabe, erst einmal das Schlimmste anzunehmen“, wich Mia aus.

„Er sagt, dass er ihn gesehen hat. Er erlässt keine Anordnungen, nur weil er das Schlimmste annimmt. Er hat ihn gesehen.“

„Es sei denn, er hat ihn nicht gesehen.“ Mia setzte sich wieder und aß weiter von Wilburs Eintopf.

„Nennst du meinen Vater einen Lügner?“ Der Schmerz in Wilburs Stimme schnitt viel tiefer als das wütende Geschrei zuvor.

„Menschen machen Fehler. Sie sehen Dinge im Nebel. Das war schon immer so. Ein Jäger muss unterscheiden können, ob –“

Wilbur stöhnte. „Hör auf, so zu reden, Mia! Du bist kein Jäger!“

„Und du bist kein Fischer!“ Mias Augen blitzten wütend.

Wilburs Brauen zogen sich kurz zornig zusammen, doch dann glättete sich seine Stirn wieder und er seufzte.

„Keiner von uns ist das mehr. Ein Fischer, meine ich. Nicht, solange keine Hilfe von der Kirche kommt.“ Wilbur ging zum Topf, schnappte sich Mias leere Schüssel und füllte sich neuen Eintopf auf. Mia runzelte die Stirn. Dieser dumme Wil. Er blieb nicht einmal lange genug wütend für einen richtigen Streit. Sie löffelte sich Eintopf in den Mund, während Wil sich wieder setzte.

Beide aßen eine Zeit lang schweigend. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.

„Es sind nicht nur Geschichten.“

Mia blickte Wilbur neugierig über ihre Schüssel hinweg an. Wilbur starrte in seine. „Boote werden zerstört. Besitz beschädigt. Und seit Kurzem verschwindet Vieh. Vater meint, wir haben Glück, dass noch kein Mensch zu Schaden gekommen ist.“

Mia hielt inne. Ihr fehlendes Schaf ...

Wilbur blickte auf. „Bitte, Mia. Du musst mir glauben. Oder zumindest so tun. Nur um ... sicherzugehen? Ich ... Ich will nicht, dass dir etwas zustößt.“

Mia zögerte. Wilbur blickte sie mit der gleichen Ernsthaftigkeit an wie auf dem Markt. Eine Ernsthaftigkeit, die auf einem derart vertrauten Gesicht sonderbar fremd schien. Sie ließ ihn älter wirken. Sie gab ihr das Gefühl ... Mia wusste nicht so recht, was sie in ihr auslöste. Daher schaute sie einfach weg.

„Du hast recht“, seufzte sie. „Ich sage nicht, dass ich überzeugt bin“, fügte sie hinzu, als ihr aus dem Augenwinkel Wilburs wachsende Begeisterung auffiel. „Aber es gibt genug Grund zum Zweifeln. Die Möglichkeit besteht. Und in dem Augenblick, in dem wir uns vom Unwahrscheinlichen zum Möglichen bewegen, müssen wir wachsam sein. Nun sind Wachsamkeit und Fleiß gefragt – wenn du auf Wache bist, ist kein Geräusch harmlos und kein Schatten darf ignoriert werden.“

„Warum redest du immer so, als würdest du irgendein Handbuch für Jäger zitieren?“ Wilbur stützte den Kopf in die Hand, hob eine Augenbraue und ließ ein schiefes Lächeln über sein Gesicht huschen.

„Ich bin vielleicht noch keine Jägerin, aber in nur zwei Monaten werde ich fünfzehn.“ Mia ging zum Schrank hinüber und begann, darin herumzuwühlen – teils, um etwas darin zu finden, und teils, um nicht weiterhin Wilburs dummes Gesicht sehen zu müssen. Sein dummes, einfältiges, freundliches, süßes Gesicht.

„Du willst dich dem Schildvolk anschließen?“

Mia schob einige alte Pergamente und Bücher beiseite und suchte weiter. „Ich will es versuchen. Ich habe nicht die Absicht, mich den Rest meines Lebens um Schafe zu kümmern. Aha!“ Mia drehte sich um und brachte eine kleine Truhe an den Tisch. Trotz ihrer Schlichtheit wirkte sie robust – Eichenholz, eiserne Beschläge, ein schweres Schloss. Mia griff nach der Kette, die in ihrer Bluse verborgen war, nahm den Schlüssel und schloss die Truhe auf.

„Oh, schau mal einer an.“ Wilburs Augen weiteten sich, als sie eine kleine Armbrust mit silbernen Verzierungen aus der Truhe hervorzog. Die feine Handwerkskunst war selbst im schwachen Kerzenlicht nicht zu verkennen. Heilige Runen verzierten beide Seiten des Griffs. Obwohl sie schlank und leicht war, spürte Mia die Macht dieser Waffe, als sie mit geübter Hand die Sehne spannte. Sie legte die Armbrust an und richtete sie auf das Fenster, während ihr Finger leicht über den Abzug streifte. Ein dumpfes Schwirren erklang, und von der schwingenden Sehne aufgewirbelter Staub flimmerte im flackernden Licht.

„Gehört sie deinem Vater?“

„Sie gehört mir.“ Mia grinste. „Du glaubst doch nicht, dass Olgard, der berühmte Schildträger des Schildvolks, die Peinlichkeit ertragen könnte, eine wehrlose Tochter zu haben, oder?“

„Ich weiß wohl, dass du bei einem Kampf gut zurechtkommst. Ich dachte nur nicht, dass du weißt, wie man schießt.“ Wilbur lehnte sich zurück und bewunderte die Waffe. „Warum hältst du sie unter Verschluss?“

„Waffen fördern Spannungen und Gefahren, selbst wenn es im Vorfeld nicht einmal welche gibt.“ Mia nahm den Köcher mit Bolzen hervor und zählte die Geschosse. „Halte deine Waffe nur bereit, wenn es nötig ist. Ziehe sie nur, wenn du musst.“

Wilbur schüttelte grinsend den Kopf. „Ich glaube, schon bald kann keiner von uns dir mehr sagen, du sollst nicht wie eine Jägerin reden.“

„Das will ich doch sehr hoffen.“ Mia nahm Armbrust und Köcher und ging zu der kleinen Nische im hinteren Teil des Raumes, wo ihr Bett stand. Als sie zurückkehrte, hatte Wilbur bereits die Schüsseln abgeräumt. Er lächelte ihr zu.

„Danke, Mia. Selbst wenn du das nur für mich tust.“

„Jetzt bilde dir bloß nichts ein.“ Mia grinste ihn an und achtete nicht weiter auf das flaue Gefühl in ihrem Magen.

Wilbur stand auf. „Du wirst schon sehen. Die Kirche wird Hilfe schicken. Oder falls du dich doch entschließt, diesen Brief zu schreiben, kommt dein Vater bald zurück. In der Zwischenzeit werden wir alles tun, was wir können, um den Gitrog in Schach zu halten.“

„Wenn es ihn denn gibt.“ Mia konnte sich nicht zurückhalten. Wilbur überging ihre Bemerkung dankbarerweise.

„Ich vertraue darauf, dass mein Vater alles tut, um uns zu beschützen.“

Wilbur schaute sie wieder ernst an.

„Und ich tue auch alles, um uns zu beschützen.“

Mia ging auf ihn zu, bis ihre Nasenspitzen einander beinahe berührten.

Dann legte sie ihm eine Hand auf die Stirn und gab ihm einen leichten Schubs.

Wilbur lachte überrascht auf und stolperte einen Schritt zurück. Mia verdrehte die Augen.

„Raus aus meinem Haus, Wil. Pass auf, dass der Gitrog dich nicht auffrisst, wenn du im Dunkeln heimgehst.“

Wilbur grinste und winkte ihr zum Abschied, ehe er sich umdrehte und die Hütte verließ. Mia ging zur Tür und sah zu, wie er in der Nacht verschwand.

Ja. Das war die richtige Antwort auf sein dummes Gesicht.


Die Heiterkeit dieses Abends währte nicht lang. Tage wurden zu Wochen, die kalt und trüb dahinkrochen. Als der Winter nahte, streckte der Nebel seine grauen Hände weiter und weiter vom See her aus, um nach dem Dorf zu greifen, bevor die schwache Sonne ihn zurück zum Ufer treiben konnte. An kälteren Morgen erreichte er sogar Mias Hütte auf dem Hügel.

Mia behielt ihre Armbrust nachts neben ihrem Bett und nahm sich die Zeit, um an ihrer Treffsicherheit zu üben.

In all der Zeit kam kein Jäger der Kirche. Bald blieben die Händlerkarren ganz aus, und mehr und mehr Fischer lungerten zusammengekauert, grummelnd und flüsternd auf dem Marktplatz herum. Mia gab nach und schrieb ihrem Vater. Ein Dutzend Entwürfe zerknüllte sie, bevor sie eine kurze und förmliche Bitte um Hilfe entsandte.

Sie erhielt keine Antwort. Kurz darauf kam auch der Postreiter nicht mehr ins Dorf. Innerhalb von zwei Tagen wurde die Geschichte, der Gitrog habe ihn gefressen, vom Gerücht zur Erzählung zur Tatsache. Mia dachte sich, der arme Bursche hatte angesichts der Kälte vielleicht einfach nicht die beschwerliche Reise in irgendein entlegenes Dorf auf sich nehmen wollen. Wahrscheinlich hatte er stattdessen beschlossen, den Winter in Durnau zu verbringen.

Es gab jedoch eine Menge Gerüchte über den Gitrog, für die Mia keine so einfache Erklärung fand. Bis zum ersten Schneefall waren drei weitere Schafe verschwunden. Jedes Mal war der Zaun an einer anderen Stelle zerstört – als würde jemand die Belastbarkeit ihres Pferchs auszuloten versuchen. Oder, wie Mia sich selbst gemahnte, verängstigte Schafe brachen einfach nur an verschiedenen Stellen des Zauns durch. Doch wovor hatten sie Angst? Beim letzten Mal hatte sie den Zaun des Nachts bersten hören, aber als sie aus der Hütte gestürmt war, die Armbrust in der Hand, war dort nichts weiter zu finden als zersplittertes Holz und beunruhigtes Blöken.

Danach hatte sie sich endlich durchgerungen, den örtlichen Zimmermann darum zu bitten, ihr dabei zu helfen, den Zaun ihres Pferchs zu verstärken, und das Geld, das ihr Vater ihr hinterlassen hatte, dafür anzurühren. Obwohl sie es hasste, etwas auszugeben, was sie nicht selbst verdient hatte, wusste sie, dass sie Glück hatte, einen solchen Notgroschen zu besitzen. Die Fischer, die schon seit Beginn der Jahreszeit vom See verbannt waren, hatten mit Einsetzen des Schneefalls arge Mühe, ein Auskommen zu finden. Viele vertrauten auf die Hilfsbereitschaft ihrer Nachbarn – doch die kargen Felder des Dorfes brachten kaum genug Nahrung für alle hervor. Die Zahl der Kämpfe in der Dorfschenke nahm zu. Die Flüche auf den Gitrog wurden lauter. Mehr und mehr Dorfbewohner zogen sich früher und früher am Abend in ihre Häuser zurück, versperrten die Türen und vernagelten die Fenster, als der hartnäckige Nebel dichter und dichter herankroch als je zuvor.

Währenddessen schien Wilbur Recht damit zu behalten, als er gemeint hatte, sein Vater würde gewiss etwas unternehmen. Als der Winter strenger wurde, begannen bewaffnete Männer und Frauen auf den Straßen zu patrouillieren. Einige trugen Fackeln und Klingen, doch viele hielten nur eine Mistgabel oder ein Fleischermesser in Händen. Sie trugen stets schwere Mäntel, deren Kapuzen sie sich tief in die Gesichter zogen – zum einen als Schutz vor der Kälte, zum anderen jedoch auch als Uniform. Mia wusste nicht so recht, was ein Bäcker mit einem Brotmesser gegen den Gitrog ausrichten sollte. Es nagte an ihr, bis sie eines Nachmittags den Fehler beging, Wilbur danach zu fragen.

„Es sind Patrouillen. Zusätzliche Augen. Du hast es doch selbst gesagt, Mia. ‚Wachsamkeit und Fleiß.‘ Wir passen auf und schlagen Alarm, wenn wir etwas sehen.“ Wilbur wirkte gereizt, seine schlaksige Gestalt triefte vor Nässe ob des Regens.

„Ich frage mich nur, ob es tatsächlich etwas nützt.“ Mia fragte sich außerdem, warum er sich weigerte, Mantel und Stiefel auszuziehen. Oder sich zu setzen. Oder zu lächeln.

„Ich habe mich nur gefragt, ob du mir etwas Wolle verkaufst, damit ich nach Hause gehen kann.“

„Du bleibst nicht zum Essen?“

„Manche von uns haben sich noch um anderes zu kümmern als nur um sich selbst.“ Wilbur verschränkte die Arme vor der Brust, und Mia fragte sich, wann er ihr über den Kopf gewachsen war.

„Was denn? Musst du so herumlaufen und deine Angelrute schwingen, um die Leute zu beschützen?“ Die Worte waren schon heraus, bevor ihr Herz sie anflehte, doch bitte lieber zu schweigen.

„Es gibt Dinge, die ich dir nicht erzählen kann. Du hast nur einen oberflächlichen Einblick darin, was wir tun, um das Dorf zu beschützen und um die Menschen am Leben zu halten, und alles, was du tust, ist spotten.“

Die Wahrheit in seinen Worten schabten ihr wie Sandpapier übers Herz und ließen es blutig und zerschunden zurück.

„Warum bist du noch hier, Mia?“

Mia betrachtete die strenge Linie seines Mundes, seine gerunzelte Stirn und seine kalten, fragenden Augen. Ihr Magen grollte mit einer Mischung aus Ärger und Traurigkeit, während Bitterkeit ihr in der Kehle aufstieg. Wilbur fuhr fort: „Warum hast du dich nicht zum Hauptquartier des Schildvolks aufgemacht, um deine Prüfung abzulegen und uns zurückzulassen, so wie dein Vater es getan hat?“

„Ich bin nicht mein Vater. Und ich ... Ich bin noch nicht fünfzehn.“

Wilbur lachte und Mias Herz krampfte sich zusammen. Dieses Lachen hatte sie noch nie von ihm gehört – bar jeder Freude und voller Dolchspitzen.

„Du wusstest, dass es vor deinem Geburtstag zu schneien anfangen würde. Du wusstest, dass es danach so gut wie kein Durchkommen mehr über den Pass geben würde. Wenn du die Prüfung wirklich ablegen wolltest, hättest du dich schon längst auf den Weg gemacht.“ Seine Worte trafen sie so kalt und beißend wie die klirrend kalte Luft. „Du hast Angst. Angst davor, dass du zu nicht mehr imstande bist, als all diese Regeln auswendig zu lernen und dich aufzuspielen.“

Mia griff nach einem Bündel Wolle und warf es nach ihm. „Nimm es. Raus hier.“

Wilbur fasste nach der Geldkatze an seinem Gürtel, doch Mia versetzte ihm einen kräftigen Stoß. „Ich sagte: ‚Raus hier!‘ Behalte das Geld deines Vaters. Ich will es nicht.“

„Du meinst, du brauchst es nicht.“

Mia biss sich auf die Lippe. Es war ihre Schuld, dass er genau wusste, womit er sie am heftigsten kränken konnte.

Wilbur drehte sich mit der Wolle unter dem Arm um und warf die Geldkatze hinter sich auf den Boden, als er über die Schwelle trat. Die Münzen fielen heraus und verteilten sich klimpernd über den Boden.


Mia legte eine Pause ein. Trotz der Kälte schwitzte sie. Das war das dritte Mal, dass sie heute das Wasser für ihre Schafe wechseln und das Eis aufbrechen musste, das sich in den Trögen bildete. Daneben und ob all der anderen Besorgungen und Hausarbeiten, die sie zu erledigen hatte, blieb ihr kaum Zeit zum Verschnaufen. Die Sonne versank bereits hinter dem Horizont und warf ein paar letzte, schwache Strahlen an den Himmel voll bleierner Wolken. Der Wind heulte, als sie zu ihrer Hütte zurückkehrte, und fuhr ihr durch ihren Mantel bis ins Mark.

Wenigstens schneit es nicht, dachte sie.

Zwei Stunden später sah sie durchs Fenster zu, wie das weiße Wirbeln langsam die Landschaft einhüllte. Natürlich. Welch passendes Ende für einen kalten und elenden Geburtstag.

Sie hatte gehofft, es noch ins Dorf zu schaffen, gehofft, einen Weg zu Wilburs Haus zu finden. Seit ihrem Streit hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen. Die verstreichende Zeit wog mit jedem Tag schwerer und nährte das Schweigen zwischen ihnen und verbreiterte die Kluft, die sie nun trennte. Obwohl sie wenig Hoffnung hegte, hatte sie doch geglaubt, dass ihr Geburtstag womöglich dafür sorgte, dass Wilbur sie besuchte, wie er es sonst immer getan hatte.

Sie seufzte und legte mit dampfendem Atem die Stirn gegen die Fensterscheibe.

Sie wusste nicht, wann sie weggedöst war. Sie wusste nur, dass etwas sie einige Zeit später weckte.

Sie streckte sich. Das Feuer war zu warm leuchtender Glut heruntergebrannt, und draußen zeichnete das fahle Mondlicht die Umrisse der Landschaft so scharf nach wie ein Scherenschnitt. Der Sturm war klarer Kälte gewichen, und Sterne funkelten am Himmel. Alles wirkte so friedlich. Doch was hatte sie aufgeweckt?

Dann hörte sie es erneut.

Ein lautes Bersten erklang vor der Hütte. Mia setzte sich ruckartig und mit rasendem Herzen auf. Sie lauschte und spähte ins silbrige Halbdunkel – alle Sinne geschärft, die Gedanken rasend. Stille. Nichts als Stille.

Sie holte tief Luft und lehnte sich zurück. Schon sank ihr der Kopf wieder schläfrig auf den Arm. Es war wahrscheinlich nur ein gefrorener Baum, der zerbarst, als sein Harz sich in der Kälte ausdehnte. Nichts, weswegen man sich Sorgen zu machen brauchte, wenn da nichts and...

Urplötzlich sprang Mia auf, griff nach ihrer Armbrust, warf sich den Mantel über und rannte nach draußen, während Angst und Grauen sich ihr wie Eisenbänder um die Brust legten.

Es war nicht das Geräusch, das sie erschreckte.

Es war die Stille, die darauf folgte.

Kein Blöken erschreckter Schafe. Kein Klingeln von Glöckchen. Selbst als sie in den Schnee hinausrannte, hörte sie nichts. Sie hielt die Armbrust schussbereit und verlangsamte ihre Schritte zu einem zügigen Gehen, als sie sich dem Pferch näherte.

Der Anblick, der sich ihr bot, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.

Die gesamte Seite des Pferchs lag in Trümmern, die Zaunpfähle sauber aus dem Boden gerissen. Zersplitterte Bretter lagen im Schnee verstreut, und während sie noch hinsah, knickte einer der Stützpfeiler am Unterstand weg, dessen Vordach in sich zusammenbrach.

Langsam schlich Mia näher, noch immer bangend und hoffend, obwohl sie schon wusste, was sie erwartete. Als sie vorsichtig in den Pferch trat, wurden ihre Befürchtungen bestätigt.

Zur Schlachtbank führen | Bild von Christine Choi

Kein einziges Schaf war mehr zu sehen. Stattdessen bedeckten Blut und Eingeweide den Boden und beschmierten die wenigen verbliebenen Bretter. Kalter Wind fegte durch die Trümmer, und der beißende Geruch von Innereien traf sie. Sie krümmte sich. Die Armbrust fiel zu Boden, als sie sich die Ärmel ihres Mantels vor den Mund presste und versuchte, ihren Magen zu beruhigen.

Als sie sich wieder gefangen hatte, zog eine seltsame Form im Schnee ihren Blick auf sich. Sie sprang mit erhobener Armbrust auf und blinzelte das ... Ding ... an. Sie verfluchte sich, dass sie keine Fackel mitgebracht hatte, und bewegte sich leicht zur Seite, um ihren Schatten zu verlagern.

Das bleiche Mondlicht fiel auf einen gewaltigen Fußabdruck im frischen Schnee. Sie ging näher heran. Der Abdruck sah wie ein großer Fuß mit Schwimmhäuten und drei krallenartigen Spitzen an einem Ende aus. Als sie sich im Pferch umschaute, erblickte sie weitere Abdrücke dieser Art zwischen Schleifspuren und Blutlachen.

Der Gitrog.

Mias Herzschlag dröhnte ihr in den Ohren, als sie in die Weite hinausblickte. Eine breite Schneise aus Schleifspuren und dreizehigen Fußabdrücken führte vom Pferch weg in Richtung des Waldes unweit des Sees.

Ein Schwindel drohte sie zu erfassen. Es gab den Gitrog wirklich! Er hatte ihre Herde verschlungen. Und das bedeutete auch, dass er ziemlich weit vom See entfernt unterwegs war. Und das bedeutete, dass er wahrscheinlich auch im Dorf gewesen war! Sie musste Wilbur Bescheid sagen. Sie musste sich entschuldigen. Sie musste ihn warnen! Sie machte sich mit im Schnee knirschenden Stiefeln auf ihren Marsch in Richtung der schwachen Lichter in der Ferne, als eine hartnäckige Stimme in ihrem Kopf sie zum Anhalten brachte.

Wenn eine Bedrohung seitens eines Ungeheuers und nicht seitens eines Menschen als gesichert gilt, so muss ein Jäger das Ungeheuer verfolgen und es unschädlich machen. Halte es fern von Dörfern und Städten – vermeide die Panik und das Chaos verängstigter Unschuldiger.

Mia stand da und ihr Atem gefror zu bleichen Wolken, während sie hin- und hergerissen war, was sie denn nun tun sollte. Zweifellos gab es keine Möglichkeit, dass sie mit so etwas wie dem Gitrog allein fertigwurde. Dem Dorf keine Warnung zukommen zu lassen, erschien ihr unfassbar töricht. Sie musste mit Wilbur – oder vielmehr mit dessen Vater – sprechen. Kalim und die Ältesten würden wissen, was zu tun war.

Doch würden sie ihr überhaupt helfen? Nach all ihren Zweifeln? Und selbst wenn: Was konnten sie schon ausrichten? Der Anblick von Bäckern und Bauern, die mit Brotmessern und Mistgabeln bewaffnet waren, tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Wenn der Gitrog ihre gesamte Herde ohne ein Geräusch verschlingen konnte ...

Mia blickte auf die Armbrust in ihrer Hand herunter. Das Silber glänzte im Mondlicht. Sie strich mit den Fingern über die Runen, die an der Seite eingraviert waren. Sie griff nach ihrer Hüfte und legte die Hand auf das Heft des langen Dolches dort. Die vertraute Klinge war deutlich häufiger als Messer verwendet worden, doch ihre Schneide aus kalt geschmiedetem Eisen war dazu gedacht, Geistern und Hexen den Garaus zu machen.

Sie hatte immer davon geträumt, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten und eine Jägerin zu werden. Er jedoch hatte sie hier, wo es „sicher“ war, zurückgelassen und ihr eine Herde gegeben, mit der sie sich zerstreuen – nein, ablenken – sollte. Ihre Waffen staubten ein oder wurden zu Haushaltswerkzeugen, obgleich sie versuchte, ihre Fähigkeiten auf eigene Faust weiter zu verfeinern. Und da war sie nun: fünfzehn Jahre alt und unvermittelt im Angesicht einer großen Gefahr. Sie hatte die Rolle der Schäferin viel zu lange gespielt, während sie auf die Erlaubnis wartete, zu dem zu werden, wozu ihr innerster Wesenskern sie antrieb.

Mia holte tief Luft durch die Nase. Die Kälte half ihr, ihre Aufmerksamkeit besser zu bündeln. Das war er nun. Ihr erster Schritt dabei, zur Jägerin zu werden. Eine praktische Prüfung. Selbst wenn sie dem Gitrog nicht selbst den Garaus machen konnte, konnte sie ihm zumindest nachstellen, mehr über seine Gewohnheiten lernen oder ihn vielleicht sogar zu Gesicht bekommen, wenn er zurück in den See glitt – und dann konnte sie dieses Wissen zu Kalim oder ihrem Vater und dem Schildvolk von Durnau tragen.

Mia schulterte die Armbrust und folgte den Spuren. Ihre leichtsinnige, aus Angst geborene Eile verlangsamte sich zugunsten eines umsichtigeren Vorgehens.


Es ergab alles keinen Sinn.

Sie war den Spuren in den Wald gefolgt. Das war nicht schwer gewesen, da der Gitrog kaum etwas unternommen hatte, um seine Anwesenheit zu verbergen. Die Spuren hörten jedoch schon kurz hinter der Baumgrenze einfach auf. Das ergab keinen Sinn, es sei denn, der Gitrog konnte auf Bäume klettern oder sich in gefrorenen Boden hineingraben. Etwas, was derart große Fußspuren hinterließ, verschwand nicht einfach.

Sie beugte sich nach unten und betrachtete die Spuren etwas genauer, um ihre Suche danach auf die nähere Umgebung auszudehnen. Und da fand sie ihn: einen frischen Fußabdruck in einiger Entfernung von dort, wo die Spur des Gitrogs geendet hatte. Zunächst befürchtete sie, dass er jemanden gefangen hatte. Der schwache, einzelne Abdruck deutete jedoch nicht auf einen Kampf hin. Irgendetwas ging hier nicht zusammen.

Mia hielt erneut die Armbrust schussbereit und machte sich von dem Fußabdruck aus mit gespitzten Ohren auf die Suche nach Hinweisen. Nur zwei Spannen entfernt fand sich eine Reihe weiterer Fußabdrücke und Schleifspuren – aber sie stammten nicht von dem Gitrog. Menschliche Spuren vermischten sich mit langen Furchen wie von den Kufen eines Schlittens. Sie führten in Richtung des Sees.

Mias Furcht wurde durch Wut ersetzt. Sie ging schneller. Ihr Blick huschte zwischen den Spuren und der Umgebung hin und her. Jemand hatte sich die Mühe gemacht, einen Angriff vorzutäuschen, falsche Spuren zu legen und seine eigenen zu verwischen. Jemand wollte sie wie eine Närrin aussehen lassen. Jemand hatte ihre Schafe dahingemetzelt.

Jemand würde dafür bezahlen.

Die Spuren führten sie beinahe geradewegs zum See. Als sie sich ihm näherte, machte sie langsamer. Flackernder Fackelschein tanzte am Ufer umher. Sie huschte von Baum zu Baum und hielt sich versteckt. Bald war sie nahe genug heran, um Stimmen durch die kalte Nachtluft klingen zu hören. Die Fackeln erhellten eine Reihe von Gestalten, alle in dunkle Mäntel gekleidet und die Kapuzen tief in die Gesichter gezogen. Mia konnte weder einzelne Gesichter ausmachen noch die gesprochenen Worte verstehen. Die Vermummten standen im Kreis, die Köpfe gesenkt und in einen dumpfen Singsang vertieft. Einen Augenblick später kletterten sie in ein nahes Fischerboot von beachtlicher Größe. Lehrens Boot, erkannte Mia mit sinkendem Mut. Was spielte sich hier bloß ab?

Mia sah zu, wie die vermummten Gestalten an Bord gingen. Sie knirschte mit den Zähnen und unterdrückte einen Wutschrei, als sie sah, wie jede von ihnen kurz anhielt, um das, was sie von einem Schlitten in der Nähe herbeitrugen, abzuladen: Schafskadaver. Sie legte einen Bolzen auf, bereit, lautstark eine Erklärung zu fordern, als ein merkwürdiger Anblick sie innehalten ließ.

Eine der Gestalten stand auf der Laderampe und versperrte den Weg. Selbst von ihrem erhöhten Standpunkt aus wirkte die Gestalt auf der Rampe im Vergleich zu der vor ihr, die einen imposanten Schatten im Mondlicht warf, geradezu zwergenhaft. Die größere Gestalt beugte sich vor und flüsterte derjenigen auf der Rampe etwas zu, ehe sie anschließend weiterging. Die beiden stießen mit den Schultern aneinander, und das Gesicht der Gestalt auf der Rampe wurde vom Mondlicht erfasst. Mia unterdrückte einen Aufschrei, als Wilbur einen letzten Blick in den Wald warf, bevor er an Bord ging.

Unzählige Fragen schossen ihr durch den Kopf – doch dafür hatte sie jetzt keine Zeit, da das Boot begann, sich vom Ufer zu entfernen. Sie schlang sich die Armbrust über die Schultern und rannte los, um im Sprung das ablegende Boot einzuholen und sich an eine kleine Leiter an dessen Heck zu klammern. Sie war sicher, dass man sie entdecken würde, aber als sie an Deck spähte, sah sie, dass die meisten der Gestalten sich zum Bug begeben hatten und nach vorn blickten. Ein paar von ihnen hielten Fackeln und Laternen, die die Gruppe schwach beleuchteten. Nur ein Vermummter stand in ihrer Nähe, und dessen Augen waren fest auf den Horizont gerichtet, während er das Boot lenkte. Zwei weitere stakten an jeder Seite und stießen Eisschollen vom Boot weg. Mias Fußspitzen wurden ins Wasser getaucht, als das Boot rollte, und sie kletterte eine Sprosse höher. Weiter hinauf wagte sie sich nicht.

Während sie sich am Schiff festklammerte, konnte sie Stimmen erhaschen – vertraute Stimmen, die sie schon unzählige Male gehört hatte. Sie sprachen über das Wetter und die eisigen Bedingungen, als würden sie auf dem Marktplatz miteinander plaudern. Wären da nicht die Mäntel und die Kapuzen und der Haufen toter Schafe gewesen, der in der Mitte des Decks aufgeschichtet war, hätte man glauben können, dies wäre ein ganz gewöhnlicher Ausflug auf den See. Alles wirkte unwirklich – wie ein schrecklicher Traum, der zum Leben erwacht war.

Sie war nicht sicher, wie lange sie sich schon an den Rand des Bootes klammerte. Es wurde kälter, als sie weiter aufs Wasser hinausfuhren, und der Nebel dichter. Gerade als sie glaubte, sich nicht länger festhalten zu können, endete die Fahrt des Schiffes plötzlich. Mia blickte sich um. In alle Richtungen verschleierte grauer Nebel ihren Blick. Das Wasser wirkte ruhig. Nur ein paar zerklüftete Eisschollen dümpelten in der Nähe.

„Wir sind da“, verkündete eine tiefe Stimme. Mia kannte diese Stimme und sie erahnte das Gesicht dazu, schon ehe sie über das Deck blickte und noch bevor sie sah, wie Kalim die Kapuze zurückzog und sich vor die versammelte Menge stellte.

„Brüder und Schwestern, heute Nacht bringen wir ein Opfer in der Hoffnung, dass es uns Frieden beschert. Heute Nacht bieten wir das dar, was von einer Ungläubigen gegen ihren Willen gegeben wurde. Heute Nacht beschenken wir den Gitrog mit den Schafen der Tochter des Jägers.“

Willkommen im Bund | Bild von David Palumbo

Flüche und dunkles Gemurmel erklangen unter den vermummten Gestalten, doch da hörte Mia schon nicht mehr hin. Sie hatte sich über die Reling des Bootes gezogen und den Griff ihrer Armbrust auf das gerichtet, von dem sie sehr sicher war, dass es sich dabei um Lehrens Hinterkopf handelte. Nur ein schneller, gezielter Schlag, dachte sie.

Die Gestalt stieß ein trauriges, keuchendes Husten aus. Mia verzog das Gesicht. Sie konnte keinen schwachen alten Mann schlagen.

Einen schwachen alten Mann, der dem halben Dorf dabei geholfen hat, deine gesamte Herde abzuschlachten.

Sie seufzte. Lehren begann, sich umzudrehen.

Ein dumpfer Schlag. Ein Aufprall.

Lehren ging wie ein nasser Sack zu Boden. Sofort drehte Mia die Armbrust um und zielte auf die Gruppe von Vermummten – gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie sie begannen, die Schafe über Bord zu werfen.

„Was zum Henker macht ihr da?!“

Beinahe gleichzeitig wandten sich sämtliche Vermummten um und starrten sie an. Niemand sprach auch nur ein Wort. Mia machte unruhig einen Schritt zurück und nahm die Armbrust ein Stückchen höher.

„Du verstehst das nicht, Kind.“ Kalim beendete das Schweigen und ging auf sie zu. Er klang ruhig und beherrscht. Sie richtete die Armbrust auf ihn und Kalim blieb stehen.

„Du hast mir einiges zu erklärten“, knurrte sie, „und mich für einiges zu entschädigen.“

„Deine Schafe dienen dem Gemeinwohl“, sagte Kalim. Viele der vermummten Gestalten murmelten zustimmend und wiederholten Kalims Worte.

„Und welches Wohl ist das?“ Sie schwang die Armbrust herum, um auf eine Gestalt zu zielen, die sich auf sie zuzubewegen begann. Die Gestalt hielt inne, und von unter der Kapuze starrte Mia Veryls Gesicht entgegen. Sie erschauderte ein wenig, da sie es beinahe nicht erkannt hätte. Die Wangen wirkten eingefallen, und Veryls Blick huschte irr zwischen ihr und Kalim hin und her, um dann schließlich in irgendeine willkürlich anmutende Richtung zu schauen.

„Wir müssen den Gitrog besänftigen“, rief eine der Gestalten.

„Den Gitrog!“, wiederholte die Menge.

„Es gibt keinen Gitrog! Ihr habt meinen Pferch zerstört und meine Herde getötet!“ Eine plötzliche Erkenntnis überkam sie. „Ihr alle wart das, nicht wahr? Ihr habt meine Schafe getötet. Eins nach dem anderen, und nicht erst heute Nacht.“

„Sie sind das Einzige, was ihn aufhalten kann.“ Kalim kam wieder auf sie zu. Seine rechte Hand bewegte sich wie zufällig zu seiner Hüfte. Mia hob erneut die Armbrust, doch dieses Mal setzte er seine gemächliche Vorwärtsbewegung fort, um Mia Stück für Stück zurückzudrängen. „Das Einzige, was seinen Hunger stillen konnte. Das Einzige, was ihn davon abgehalten hat, uns heimzusuchen.“

„Du bist ja wahnsinnig. Du bist der Einzige, der ihn gesehen hat.“ Mia machte einen weiteren Schritt zurück. Ihre Ferse stieß an die Reling.

„Wir alle haben ihn gesehen. Was glaubst du denn, warum wir alle sonst hier sind? Wir haben die Wahrheit gesehen. Wir haben in seine Augen geblickt. Wir wissen, dass wir ihn nicht aufhalten können. Wir können ihn nur füttern, damit er uns nicht auffrisst.“ Kalim war fast bei ihr angelangt. Ihr Blick irrte zu den anderen Dorfbewohnern. Vertraute Gesichter, verzerrt von Schatten und Mondlicht, stierten sie von unter den Kapuzen heraus an. Sie wollte nicht auf Kalim schießen, aber wenn er nicht stehen blieb ... Plötzlich hatte sie einen Einfall.

„Dann zeig ihn mir.“

Kalim hielt an und musterte sie. Mia straffte die Schultern. „Zeig mir deinen Gitrog.“ Kalim blickte sie lange an.

Schließlich trat er einen Schritt zurück und winkte mit der Hand. Die anderen Dorfbewohner eilten zu dem Haufen toter Schafe, trugen die Kadaver zum Bug und begannen, sie über Bord zu werfen. Ein lautes Klatschen nach dem anderen durchbrach die Starre des Sees und die Stille der Nacht. Bald war nur noch ein blutiger Fleck auf dem Deck übrig. Die Vermummten traten von der Reling zurück. Mia hielt die Armbrust auf Kalim gerichtet und ging mit dem Rücken an der Reling entlang, bis sie an einer Seite zum Bug hinunterschauen konnte. Sie sah, wie sich eine tintige Schwärze im Wasser ausbreitete: das Blut der Schafe. Ein paar Bläschen drangen an die Oberfläche, und dann war sie wieder ruhig.

Eine angespannte Stille senkte sich über die Gruppe, die angestrengt das Wasser beobachtete.

„Nichts“, flüsterte Mia. „Da ist nichts.“

Sie wandte sich an die Dorfbewohner auf dem Boot. „Seht ihr es nun alle? So etwas wie den Gitrog gibt es ni...“

Ein plötzliches Aufwallen von Wasser und ein brüllendes Geräusch schnitten Mia das Wort ab. Der entsetzliche Klang knackender Knochen erklang vom Wasser, und die Dörfler bahnten sich kopflos und schubsend ihren Weg zum Heck des Bootes. Mia hingegen schob sich durch die verängstigte Menge und eilte zum Bug, um zu sehen, was dort vor sich ging.

Unweit des Bootes begann das Wasser zu brodeln. Mia kniff die Augen zusammen, um im Mondlicht erkennen zu können, was sich dort draußen befand. Als das Wasser sich wieder beruhigte, sah sie es. Das Ungeheuer. Den Gitrog.

Sie stieß ein verächtliches Schnauben aus.

„Das? Das ist er? Das ist der Gitrog?“ Sie blickte zu den Dorfbewohnern, die sich am Heck zusammenkauerten. „Das ist nur ... ein riesiger Frosch.“

Veryl lief zu ihr und schlug die Kapuze zurück. Ehe sie ihre Armbrust hochreißen konnte, griff er nach ihren Schultern und schüttelte sie heftig. In seinen Augen spiegelte sich blankes Entsetzen.

Bild von David Gaillet

„Du verstehst das nicht, Mia! Wenn ihm die Schafe nicht reichen, dann werden wir alle –“

Mia fand nie heraus, was er sagen wollte. In diesem Augenblick wurde Veryl rückwärts vom Boot geschleudert und verschwand schreiend mit einem Platschen im Wasser. Mia verstand nicht, was gerade geschehen war – bis sie sah, wie der Gitrog erneut das Maul öffnete und ein dunkler, schmaler Schemen in Richtung des Bootes schnellte. Sie duckte sich, als das Ding über sie hinwegschoss und gegen den Mast schlug. Holzsplitter wirbelten umher. Während die Dorfbewohner schrien und wimmerten, begriff Mia, dass dieses Ding seine Zunge war.

Ein weiteres lautes Krachen ertönte, als der Gitrog einen neuerlichen Angriff unternahm. Dieses Mal schlug er ein ganzes Stück aus dem Mast. Als er die Zunge zurückzog, sprang Mia auf und zielte mit der Armbrust. Gerade als sie den Abzug betätigte, traf sie jedoch etwas von hinten und sie landete unsanft auf dem Deck.

Sie wälzte sich auf den Rücken und sah eine vermummte Gestalt, die ihre Beine umklammerte. „Was tust du denn?“, rief sie und versuchte, sich aus dem Griff zu winden.

„Du darfst den Gitrog nicht verärgern! Wir dürfen seinen Zorn nicht auf uns ziehen!“ Die Kapuze wurde im Gewühl heruntergerissen, und Mia erkannte den Bäcker des Dorfes, der ihre Beine umso fester umklammerte. Seine Stimme überschlug sich.

„Dazu ist es zu spät“, knurrte Mia und befreite eines ihrer Beine. Sie trat zu und traf den Bäcker mit einem vernehmlichen Knacken an der Nase. Er ließ sie los, und Mia rollte sich zur Seite, um sich aufzurappeln.

„Die Schafe besänftigen ihn nicht mehr!“ Sie blickte zurück zu den aufschreienden Dorfbewohnern.

„Er will mehr.“

„Verfüttern wir doch das Mädchen an ihn!“

„Was hast du da gerade gesagt?" Sie starrte die Frau an, die den letzten Satz gerufen hatte. Es handelte sich um die Gattin des Schmieds. Sarah, die ihr einmal Kekse zum Geburtstag gebacken hatte.

„Tötet sie! Ein Opfer für den Gitrog!“ Sarah stieß einen markerschütternden Schrei aus und stürzte sich mit einem garstig aussehenden Messer in der Hand auf Mia. Brüllend taten es die anderen ihr gleich und zogen ihre behelfsmäßigen Waffen. Mia stolperte rückwärts und legte einen neuen Bolzen auf ihrer Armbrust auf, während die irren Dörfler auf sie zukamen. Sarah hieb nach Mias Gesicht und kam mit jedem Schwung näher, ehe ein weiterer Angriff der Zunge des Gitrogs sie und zwei andere Dörfler über Bord fegte.

Schreie erschallten, die von plötzlichem Gurgeln und gedämpften Hilferufen erstickt wurden. In dem Aufruhr griff ein Paar Hände von hinten nach Mias Kehle und drückte zu. Mia schlug blindlings mit einem Ellenbogen um sich. Der Griff lockerte sich, und sie drehte sich um und schoss dem Angreifer in den Bauch.

Der Mann stolperte zurück und Mia erblickte vertraute, blaue Augen – Kyle, der Lehrling des Schumachers –, bevor eine weitere vermummte Gestalt sich mit zurückgezogener Kapuze auf sie stürzte: Terrance, Veryls jüngerer Bruder. Mia griff nach einem neuen Bolzen, doch er war schon über ihr. In der Hand hielt er ein Schwert. Mia stolperte zurück und fiel, als die Schwertspitze ihr einen blutigen Schmiss an der Schulter beibrachte. Terrance holte zum tödlichen Schlag aus, als ein anderer Vermummter ihm einen Knüppel auf den Hinterkopf drosch. Als Terrance zu Boden sackte, hatte Mia endlich einen Bolzen aufgelegt. Sie zielte auf die knüppelschwingende Gestalt, den Finger am Abzug.

„Warte! Mia, ich bin‘s!“ Die Gestalt schlug die Kapuze zurück und Mia schrie auf.

„Wilbur! Was ist –“

„Es tut mir so leid. Alles ist völlig aus dem Ruder gelaufen. Wir haben bloß versucht, das Dorf zu beschützen, aber dann fingen sie an, deine Schafe zu stehlen ...“

Erneut krachte es laut hinter ihnen, als die Zunge des Gitrogs vorbeischnellte.

„Du hast ihn also früher schon gesehen?“

Wilbur schüttelte den Kopf. „Nur Luftblasen.“

Holzsplitter rieselten auf die beiden herab. Sie blickten auf – gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie sich die Zunge des Gitrogs zurückzog und ein riesiges Loch im Mast hinterließ. Mit einem langsamen, ächzenden Quietschen neigte sich der Mast, ehe er schließlich zerbrach und umkippte, wobei er erst gegen die Seite des Bootes und dann ins Wasser krachte.

„Erzähl es mir später.“ Mia griff nach seiner Hand, feuerte die Armbrust auf eine weitere Dörflerin ab, die mit einer Mistgabel auf sie zustürmte – Verna, das Blumenmädchen –, und rannte zum Heck des Bootes.

„Wo gehen wir hin?“, rief Wilbur.

„Ich ... Ich weiß es nicht!“ Mia blickte auf das sie umgebende Chaos. Mit jedem Schlag der Zunge des Gitrogs wurden weitere Dörfler ins Wasser geschleudert oder geschnappt und mit Haut und Haar verschlungen. Einige kauerten nur auf dem Boot und versuchten, sich zu verstecken. Ein paar wenige waren ins Wasser gesprungen und versuchten, davonzuschwimmen. Mia dachte ebenfalls darüber nach, über Bord zu springen, bis sie sah, wie ein Schwimmer – der Sohn des Ältesten Ethan – unter Wasser verschwand und nichts als ein paar Bläschen zurückließ.

Bild von James Paick

„Es gibt kein Entkommen.“ Mia und Wilbur wirbelten herum und sahen den Mann an, der diese Worte gesprochen hatte. Kalim stand vor ihnen und hatte den Blick auf Mia gerichtet.

„Vater! Was machen wir denn nun? Das ... Das ist Wahnsinn!“ Wilbur hielt Mias Hand noch immer fest umklammert, und selbst in all dem Aufruhr konnte sie seinen Puls durch seine Finger rasen spüren.

„Dein Vater hat recht“, sagte sie und blickte Wilbur mit plötzlicher Klarheit an. „Wir können nicht weglaufen. Wir müssen versuchen, ihn zu töten.“ Mia ließ Wilburs Hand los und hob die Armbrust. Sie legte einen Bolzen auf, während sie zu Kalim zurückschaute. „Das ist nun unsere einzige Hoffnung.“

Zu ihrer Überraschung lachte Kalim auf.

„Du bist eine Närrin. Du kannst den Gitrog nicht töten. Es bleibt nur noch eins zu tun.“ Kalims Augen verengten sich. „Eine Opferung.“

Kalim sprang nach vorn und hielt plötzlich sein Fischermesser in der Hand. Er hieb nach Mias Kehle. Mia stolperte überrascht zurück, fiel aufs Deck und konnte dem Angriff nur um Haaresbreite ausweichen. Sie krabbelte weiter nach hinten, als Kalim das Messer wie einen Eispickel hielt und sich auf sie stürzte. Mia rollte sich aus dem Weg dieses zweiten Angriffs und feuerte wild die Armbrust ab. Der Bolzen grub sich in Kalims Schulter, doch der Älteste schien es nicht zu bemerken. Er hieb erneut nach Mias Gesicht – gerade als Wilbur ihn ansprang und zu Boden rang.

Mia legte einen neuen Bolzen auf und zielte auf die beiden raufenden Männer. Sie konnte kein freies Schussfeld finden. In diesem Augenblick neigte sich das Boot mit einem plötzlichen dumpfen Schlag nach steuerbord. Alle drei drehten sich nach der Ursache des Geräuschs um. Sofort stoben Wilbur und Kalim auseinander und rappelten sich auf, wohingegen Mia ihre Armbrust herumriss und sich so schnell wie möglich zurückzog.

Der Gitrog kroch weiter auf das Boot. Seine mit Schwimmhäuten versehenen Füße wuchteten seinen Leib über die Reling und platschten nass auf das Deck. Kalim, Wilbur und Mia standen wie angewurzelt da und starrten ihn an. Der Gitrog glotzte mit leeren, toten Augen zurück. Blitzschnell griff Kalim nach Mia, drückte ihr das Messer an die Kehle und hielt sie wie ein Bär umschlungen, um sie so dem Gitrog anzudienen.

„O großer Gitrog! Ich biete dir dieses Mädchen als Opfer an! Friss und vergib diesem Dorf seine Sünden und schlummere, auf dass wir in Frieden leben mögen!“

Er ist wahnsinnig. Mia zerrte an seinen Fingern, aber sein Griff war zu stark. Wilbur rief etwas, doch Mia sah nur, wie Kalim die Hand hob und sein Dolch im Mondlicht aufblitzte.

Ein Platschen! Die Zunge des Gitrogs schnellte vor und prallte geradewegs in Kalims Gesicht. Der Dolch flog ihm aus der Hand und überrascht ließ er Mia los, um mit beiden Händen nach der Zunge zu greifen. Der Gitrog zog und Mia ging zu Boden, als Kalim nach vorn gerissen wurde. Seine Schreie wurden von der monströsen Zunge erstickt, die sich ihm um den Kopf gewickelt hatte. Mia rappelte sich auf und feuerte einen, zwei, drei Bolzen auf den Gitrog ab, während er Kalim über das Deck schleifte. Das Ungeheuer zuckte nicht einmal, als sich die Bolzen in sein Fleisch bohrten. Langsam zog es die Zunge zurück. Mia beobachtete voller Grauen, wie Kalims Kopf im Schlund der Bestie verschwand und wie seine Füße verzweifelt einmal, zweimal austraten und schließlich erstarrten, als der Gitrog das Maul zuklappte. Ein weiteres Schlucken, und Kalims Füße verschwanden.

Mia nahm vage wahr, dass Wilbur etwas rief, als sie sich umdrehte, um erneut nach seiner Hand zu greifen. Sie warf die Armbrust von sich, als sie zum Heck des Bootes rannte und nur anhielt, um eine Fackel aufs Deck zu stoßen. Als die Flammen aufloderten, sah sie, wie der Gitrog langsam auf sie zuwatschelte und dann doch lieber erst die Dörfler verschlang, die sich hinter einigen Fässern zusammengekauert hatten. Sie sah, wie er die bewusstlose Gestalt Lehrens auffraß. Sie sah, wie er teilnahmslos durch die Flammen patschte und langsam in ihre Richtung kam.

Erst dann kam Mia wieder zu sich. Sie drehte sich um und tauchte ohne Zögern in das eisige Wasser, Wilbur mit sich ziehend.

Die beiden schwammen zügig, von Schrecken und Aufregung über ihre Grenzen getrieben. Nach und nach wurde das Boot zu nichts mehr als einem hellen Schimmer, der im Nebel verblasste. Die beiden schwammen weiter. Das Wasser stach wie Nadeln in ihre Haut. Zehen und Finger wurden ihnen taub, dann ihre Hände und dann ihre gesamten Leiber, als sie in wildem Kraul versuchten, das Ufer zu erreichen. Mia war sicher, dass der Gitrog sie jeden Augenblick finden, sie unter Wasser ziehen und verschlingen würde.

Irgendwie schafften sie es zurück an Land.

Die beiden krochen fort vom Wasser. Wilbur sackte zu Boden und drückte zitternd das Gesicht in die Kiesel. Mia zwang sich, sich aufzusetzen und nachzudenken. Sie mussten es zurück zu ihrer Hütte schaffen. Zurück in die Wärme. Ansonsten würde die Kälte sie töten, noch ehe der Gitrog es tat. Und dann, sobald sie wieder warm und trocken waren, würden sie fortgehen. Aus dem Dorf fliehen. Alles zurücklassen. Irgendwohin rennen. Sich lieber Tausenden von Vampiren, Werwölfen oder Ghulen stellen. Irgendwo, wo es keinen Gitrog gab.

Ein nasses Platschen erklang hinter Mia.

Sie hockte wie angefroren da.

Ein weiteres Platschen.

Sie musste auf die Füße kommen. Musste etwas sehen. Musste rennen.

Doch nichts davon vermochte sie.

Ein weiteres Platschen. Plötzlich zog Wilbur sie hoch und mit sich. Sie kamen nicht weit, bevor sie auf den Steinen zusammenbrachen. Mias Muskeln schrien. Der Kampfesrausch war verflogen und hinterließ nichts als steife, vor Furcht gelähmte Glieder. Langsam rollte sie sich auf die Seite.

Der Gitrog ragte über ihr auf und füllte ihr gesamtes Blickfeld aus. Er starrte auf sie herab. Seine Augen waren zwei schwarze, bodenlose Abgründe, bar jeden Gefühls und jeden Gedankens. Mia starrte ihm in die Augen und sah ... nichts. Wilbur zog sie wieder auf die Füße, rief irgendetwas übers Losrennen, doch Mia hörte ihn nicht. Ein leises Dröhnen hallte in ihrem Schädel wider und wurde lauter und lauter, während sie in jenen endlosen Abgrund fiel, den der Blicks des Gitrogs darstellte. Sie fiel, taumelte durch träge Schatten, fiel durch die Schichten ihres Bewusstseins, durchbrach die Grenze zum schwammigen Schlamm des Deliriums, umfangen von einer absonderlichen Wärme, die ihr in die Knochen kroch und die beißende Kälte aus Zweifel und Angst und Ungewissheit vertrieb. Sie wusste es. Sie wusste nun alles. Sie sah die Wahrheit in ihrer schwärzesten Gestalt, die Klarheit Tausender von Lebzeiten, die zu diesem einen Augenblick verdichtet waren.

Sie drehte sich zu Wilbur, der noch immer an ihrem Arm zog. Sie sah, wie sich seine Lippen bewegten, blau und bebend, als er den Gitrog ansprach. Bettelnd, flehend. Sie strich ihm zärtlich über die Wange, um sein Stammeln zu beenden. Er sah es nicht. Er hörte es nicht. Er wusste es noch nicht. Wilbur drehte sich um, sein von Angst verwirrter Blick fand Mias, während der Gitrog über ihnen aufragte. Wie grün sie waren. Wie zwei kristallklare Seen. Tränen glänzten in ihnen. Mia spiegelte sich in ihrer gebrochenen, gesprenkelten Oberfläche. Sie lächelte, und für einen Wimpernschlag schien Wilbur etwas ruhiger zu werden. Sie sah Vertrauen und Zuversicht in seinen Augen, und sie lächelte, als sie ihm die Wange liebkoste, lächelte, als sie mit den Fingern durch sein sandfarbenes Haar fuhr, lächelte, als sie den Dolch aus dem Gürtel zog und ihn ihm mit einer geschmeidigen Bewegung zwischen die Rippen stieß.

Jetzt hörte sie ihn. Endlich übertönte er das Dröhnen in ihrem Kopf. Sie hörte, wie er überrascht nach Luft schnappte und wie sein Atmen von einem keuchenden Rasseln, das der Unterkühlung geschuldet war, zu einem von Schmerz und Schrecken erfüllten Röcheln wurde. Mia lächelte sanft und legte ihm einen Finger auf die Lippen, zog den Dolch aus ihm heraus und stieß ihn wieder in ihn hinein. Diesmal in den Bauch. Sie lächelte, als Wilbur an ihrer Seite endgültig zusammensackte, lächelte, als er schwach ihren Namen wisperte. Sie flüsterte ihm leise ins Ohr.

„Huldigt dem Gitrog“, hauchte sie mehr, als dass sie sprach. Sie legte das Ohr an Wilburs Brust und hörte zu, wie sein Herz langsamer wurde und schließlich ganz zu schlagen aufhörte. Sie schaute zum Gitrog auf und neigte demütig den Kopf.

„Alles ist ein Opfer.“

Der Gitrog blickte auf Mia herab. Dann öffnete sich langsam sein Maul und die entsetzliche Zunge fuhr aus ihm heraus, um nach dem zerschundenen Leib des Jungen neben Mia zu greifen. Sie rührte sich nicht. Ein breites Grinsen legte sich über ihr Gesicht, als neben ihr ein Schlürfen und Knacken von Knochen, Blut und Eingeweiden erklang. Sie lächelte, als das Platschen von Schwimmhäuten auf Stein sich von ihr wegbewegte. Lächelte, bis es wieder still war und der kalte Nebel von der Morgensonne durchbrochen wurde. Dann erhob sie sich, noch immer lächelnd, und stolperte vom Ufer fort.


Als der Frühling in diesem Jahr anbrach und endlich der Schnee schmolz, führte ein junger Lehrling sein Pferd über einen Bergpass in ein verschlafenes kleines Fischerdorf unweit des Zhava-Sees. Er trug einen Beutel voller Briefe bei sich, von denen viele schon längst überfällig waren, geschrieben vor dem ersten Schneefall des vergangenen Winters. Er dachte sich nicht viel dabei, als Fenster und Türen bei seinem Vorbeireiten zuschlugen. So manch kleine Siedlung misstraute Leuten aus der Stadt, besonders nach einem harten Winter. Er bemerkte zwar die vielen leeren Häuser, die es hier zu geben schien, und die beachtliche Zahl an Briefen, die zu eindeutig verlassenen Anwesen geliefert werden sollten, doch auch darüber machte er sich kaum Gedanken.

Sein letzter Brief führte ihn zu einer kleinen Hütte auf einem Hügel. Als er zu ihr hinaufritt, kam er nicht umhin, einen verfallenen Pferch in der Nähe zu bemerken, dessen Zaun vor sich hin rottete. Er fürchtete schon, nur ein weiteres leeres Heim vorzufinden, bis ihm die kleinen Rauchwölkchen auffielen, die aus dem Kamin aufstiegen. Er klopfte an die Tür und ein Mädchen mit wildem Blick tat ihm auf. Sie schien wenig Interesse an dem Brief zu zeigen und nicht im Geringsten beeindruckt davon, dass er vom Schildvolk aus Durnau kam. Ihre Augen begannen jedoch zu leuchten, als er den See erwähnte. Sie bot ihm etwas zu essen und ein Obdach für die Nacht an. Und sie würde ihn sogar zum See bringen, sofern er dies denn wollte. Der Junge errötete und willigte ein, denn er war schon immer neugierig gewesen, was Boote und Wasser anging. Er dankte ihr für ihre Freundlichkeit.

Mia lächelte.

Das Gitrog-Monster | Bild von Jason Kang

Schatten über Innistrad-Storyarchiv

Weltenbeschreibung: Innistrad