Was bisher geschah: Rachefeldzug

Als wir Thalia, Odric und Grete das letzte Mal sahen, waren sie jenem Übel, das im Rat der Lunarchen – dem Leitungsorgan der Kirche Avacyns – lauerte, entflohen und hatten sich in einer entlegenen Kapelle in Heidenau in Gaven versammelt. Thalia stellte ihren Freunden den Orden von Sankt Traft vor. Dieser war nach einem uralten Heiligen benannt und buchstäblich auch von selbigem inspiriert – einem Heiligen, der bekannt dafür war, gegen Dämonen zu kämpfen. Thalia hatte sich als Gefäß für den Geist von Sankt Traft zur Verfügung gestellt. Mit heiliger Macht ausgestattet führte sie eine bunte Schar rebellischer Krieger, Katharer und anderer Geistlicher an, um die Mission der Kirche trotz der Verderbnis in ihrem Inneren weiterzuführen.

Doch nun hat sich die Welt verändert. Wie können die letzten Überreste der Kirche Avacyns ihre Aufgabe fortsetzen, wo Avacyn nun tot ist? Und welche Macht kann sie noch am Leben erhalten, nun da ihre Welt am Rand des Untergangs steht?


„Ich höre nur sehr wenig Neuigkeiten“, sagte Grete, „und die Hälfte davon widerspricht sich.“

Thalia nickte seufzend. „Manchmal kehren unsere Kundschafter nicht zurück“, sagte sie, „und manchmal sind sie kaum in der Lage, Bericht zu erstatten.“ Etwas krampfte sich in ihrem Magen zusammen, als sie an Halmig dachte, der sich gestern früh dem Marsch angeschlossen hatte und der vollkommen ...verändert ... gewesen war. Sie hatte sich gezwungen gesehen, ihn zu töten. Ihn oder wozu auch immer er geworden war – mehr ein sich windendes Ding als ein Mensch. Sie konnte nur Vermutungen darüber anstellen, was ihm auf seiner Kundschaftermission widerfahren und was mit den Soldaten unter seinem Befehl geschehen war.

„Ist es wahr, dass Hennweier zerstört ist?“, fragte Grete.

„Die Wahrheit ist viel schlimmer.“ Thalia fuhr mit den Fingern durch das glänzende Fell ihres Reittieres und tat so, als sähe sie Gretes hochgezogene Augenbraue nicht. Grete ihrerseits hakte nicht weiter nach.

Schweigend und jede ihren eigenen Gedanken nachhängend ritten sie eine Weile weiter. Das letzte Mal, als eine Armee nach Thraben marschiert war, hatte es sich dabei um eine von den Geschwistern Sesani erschaffene Horde aus Ghulen und Skaabs gehandelt, wie sich Thalia erinnerte. Nun war sie Teil einer voranmarschierenden Horde – wenn man so wenige Soldaten überhaupt als solche bezeichnen konnte. Sie waren nicht minder abgerissen und heruntergekommen wie Zombies, denn die Kämpfe der vergangenen Wochen hatten sie ausgezehrt. Die Welt schien vom Wahnsinn verschlungen worden zu sein. Doch so lange sie noch atmeten und so lange sie noch einen Hoffnungsschimmer fanden, an den sie sich klammern konnten, so lange würden sie weiterkämpfen.

Zumindest die meisten von ihnen. Odric war zurückgeblieben. Sein Geist war gebrochen, nachdem er sich gegen den Rat der Lunarchen gewandt und Thalia aus ihrem Kerker befreit hatte. Thalia trauerte um ihn, doch sie durfte keinen Deut ihres eigenen Glaubens darauf vergeuden, den seinen wieder zu stärken.

„Ich habe gehört, Seeta und ihre Inquisitoren setzen ihre Arbeit fort“, sagte Grete schließlich.

Thalia schnaubte verächtlich. „Sollen sie uns ruhig finden“, sagte sie. Nachdem Thalia dem Rat der Lunarchen entgegengetreten und gemeinsam mit Odric und Grete aus Thraben geflohen war, hatte eine eifrige Inquisitorin namens Seeta die Jagd auf sie angeführt. Seetas Schlachtruf lautete: „Reinigt die Unreinen!“, und sie reiste an der Spitze einer Prozession rollender Fallbeile. Die von Ochsen gezogenen Hinrichtungsanlagen hatten sie bislang so sehr aufgehalten, dass sie den Orden von Sankt Traft noch nicht gefunden hatte. Und nun war dieser groß genug geworden, dass Thalia glaubte, wenig von dem, was von der Inquisition noch übrig war, fürchten zu müssen.

Grete schüttelte den Kopf. „Sie nennen sich nun die Sündenfreien“, sagte sie. „Sie behaupten, die Verwandlung wäre ein Zeichen dafür, dass die Sünde aus ihren Körpern getilgt wurde.“

Thalia verzog angeekelt den Mund. „Sie versuchen, das als eine ... Tugend ... auszulegen?“

Grete nickte und starrte auf den steinigen Pfad vor ihnen.

„Wie tief wir doch gesunken sind“, sagte Thalia halb zu sich selbst.

„Was ist es denn dann?“, fragte Grete. „Angenommen, es ist keine Tugend, meine ich. Wodurch wird es verursacht?“

„Wenn es eine Antwort darauf gibt, werden wir sie in Thraben finden.“

Sie fragte sich, was sie tatsächlich dort finden würden – in der Stadt, in der Kathedrale. Ihr Herz schlug schneller und ihr Magen krampfte sich bei dem Gedanken an Thraben, das über so viele Jahre hinweg ihre Heimat gewesen war, noch schmerzhafter zusammen. Was, wenn es das gleiche Schicksal wie Hennweier ereilt hatte? Wenn dort Menschen und Dinge zu einer einzigen Wesenheit verschmolzen waren? Was, wenn es nichts mehr zu retten gab? Was, wenn Avacyn wirklich ...?

Ein einsames Pferd stand ein Stück den Pfad hinunter. Thalia nickte Grete zu, spornte ihr Reittier an und galoppierte vorwärts. Sie lehnte sich gegen den Kopf ihres Tieres und der Dommelgreif breitete die Schwingen aus, um sich anmutig in die Luft zu erheben, an Gretes voranpreschendem Pferd vorbeizuschweben und sich neben Rem Karolus niederzulassen, ohne das kleinste Staubkorn am Boden aufzuwirbeln.

Rem war ein weiterer ergebener Diener der Kirche gewesen – die Klinge der Inquisitoren –, doch der Wahnsinn der Engel hatte ihn verändert. Er war seit jeher kein Mann vieler Worte gewesen und hatte seine Pflichten mit grimmiger Entschlossenheit erfüllt. Doch er hatte seinem Titel schon früh alle Ehre gemacht und seine berühmte Klinge gegen die wahre Bedrohung Innistrads geführt. „Engelstöter“ nannte man ihn nun, auch wenn er selbst diesen Namen nicht für sich verwendete. Und obgleich sie nie mit ihm darüber gesprochen hatte, vermutete Thalia, dass Rems Glauben gemeinsam mit dem ersten Engel, den er niedergestreckt hatte, gestorben war.

Als Grete ihr Pferd neben ihnen zügelte, schnitt Rem zwei Riemen an der Seite seines Sattels durch und ein langer, metallener Schaft fiel dumpf zu Boden. Selbst mit zerbrochener Spitze war Avacyns Speer unverwechselbar.

„Es ist also wahr“, flüsterte Thalia.

„Hast du sie getötet?“, entfuhr es Grete .

Rem machte ein abschätziges Geräusch. „Du überschätzt mich“, sagte er. „Versteh mich nicht falsch: Ich hätte es getan, wenn ich gekonnt hätte. Doch es sieht so aus, als sei mir jemand zuvorgekommen.“

Thalias Herz wurde schwer. Sie glitt vom Rücken des Greifen und fiel neben dem Speer auf die Knie, als würde die Last auf ihrer Brust sie nach unten ziehen. Ihr Greif stupste ihr Gesicht an. Sein eigenes war nass von ... Tränen? Trauerte er ebenso um Avacyn wie sie selbst?

Sie wankte nach vorn und griff nach dem Speer.

Rem rief noch halb: „Das würde ich nicht ...“

Ein Gleißen heiligen Lichts brach aus dem Schaft, wo ihre Hand ihn berührte, und Thalia zog die Finger zurück, als ein Schmerz ihr durch den gesamten Arm fuhr.

„... tun“, endete Rem flach. „Ich hätte mir schier etwas gebrochen, als ich ihn an der alten Jedda hier festzurrte. Ich konnte ihn nicht anfassen.“

Thalia schenkte ihm keine Beachtung. Kannst du das?, fragte sie den Geist in sich.

Ihre Hand begann in einem warmen, weißen Licht zu leuchten, als die Macht von Sankt Traft ihr den Rücken entlangfuhr. Sie fühlte sich leichter. Mit oder ohne Avacyn: Die Welt war noch nicht verloren.

Sie griff erneut nach dem Speer, und diesmal schloss sich ihre Hand fest um den Schaft. Sie stand auf und hob den Speer über den Kopf. Seine Spitze leuchtete unter dem bewölkten Himmel wie die Sonne. Rems Mund stand offen und Thalia versuchte, ihn nicht anzugrinsen.

„Grete, nimmst du bitte die Standarte aus meinem Sattel?“, fragte Thalia.

Grete stieg ab und näherte sich dem Greifen – zunächst zaghaft, doch als sie nahe genug war, um ihn zu berühren, sah Thalia, wie ihre Angst dahinschwand. Dommelgreifen wirkten beruhigend.

Grete entfernte geschickt den langen Speer, an dem das Banner von Sankt Traft beim Reiten über Thalias Kopf wehte, und Thalia platzierte Avacyns Speer an seiner Stelle.

„Wir reiten nun unter diesem Banner“, sagte sie.

Rem war noch immer völlig verblüfft. „Wie hast du ...?“

„Du solltest häufiger mit mir reiten, Rem. Du würdest eine Menge überraschender Dinge sehen.“

„Und Dinge, die dir Hoffnung geben“, fügte Grete hinzu.

„Nun, wir werden sehen“, sagte Rem. Doch er blickte auf den Speer, der noch immer im matten Sonnenlicht schimmerte, und etwas glitzerte in seinen Augen, wenngleich es auch keine Hoffnung war.

Thalia kletterte zurück in ihren Sattel, wendete den Greifen in Richtung der sich nähernden Armee und ließ ihn sich wieder in die Luft schwingen. Sie flog über die gesamte, bunt zusammengewürfelte Schar hinweg und achtete darauf, dass jeder Avacyns Speer zu sehen bekam. Verhaltene Rufe erklangen – die Rufe von Soldaten, die ihrer Anführerin zujubelten –, doch als die Leute erkannten, was sie da vor sich sahen und was es bedeutete, wurden ihre Rufe zu Schreien der Verzweiflung.

Sie lenkte den Greifen in ihre Mitte. Mithilfe des Geistes hob sie den Speer erneut mit beiden Händen über den Kopf. Er war zu schwer, als dass sie ihn im Kampf hätte führen können, doch er war ein mächtiges Symbol.

„Avacyn ist tot!“, rief sie. Verzweifeltes Stöhnen und ungläubige Rufe erschallten um sie herum. „Ihre Kirche ist unwiderruflich verderbt. Und namenlose Schrecken kriechen und winden sich über unser Land.“

Mit schmerzendem Herzen hielt sie einen Augenblick inne. Die Trauer, die sie in den Gesichtern um sich herum sah, spiegelte ihre eigene wider. Jeder hier hatte Familie, Freunde und sein Zuhause verloren – und nun standen sie kurz davor, auch noch ihre letzte Hoffnung zu verlieren. Das Gewicht des Speeres ließ die Muskeln in ihren Schultern brennen.

„Doch wir sind noch hier!“, rief sie. „Wir, die wir gegen diese Schrecken kämpften. Wir, die wir uns dem Bösen und dem Wahn der Kirche entgegengestellten. Wir, die wir im Angesicht der Verzweiflung Hoffnung in unserem Glauben fanden – wir sind noch hier! Und wenn kein Erzengel mehr uns den Weg durch das Dunkel erhellt, dann müssen wir unser eigenes Licht sein. Wenn kein Schutzzauber die Schrecken mehr im Zaum hält, dann müssen unsere Schwerter diese Aufgabe übernehmen. Wenn wir keinen Glauben mehr in Avacyn finden, dann müssen wir an jene Ideale glauben, für die Avacyn vor ihrem Wahnsinn stand.“

Beim Sprechen sah sie, wie Katharer auf die Knie sanken und ihnen Tränen über die vom Kampf verhärmten Wangen rannen, während sie den Blick zum Himmel gerichtet oder die Gesichter dem Staub entgegengewandt hielten. Jeder von ihnen würde auf seine Weise und zu seiner Zeit mit der Trauer fertigwerden müssen. Ihr Schmerz setzte ihr zusätzlich zu ihrer eigenen Trauer zu – eine Bürde, die weitaus schwerer wog als der Speer, den sie mühsam erhoben hielt.

Sie erinnerte sich an das, was sie Odric vor Monaten gesagt hatte, und sagte alles, von dem sie wusste, dass es ihnen die Herzen etwas leichter machen konnte. „Vor all dem hier hielt das sanfte Licht des Mondes die Schrecken der Nacht zurück. Vor all dem hier hielten die Bande zwischen uns die Furcht fern, die uns zu trennen versuchte. Vor all dem hier strebten wir danach, mehr als nur gewöhnliche Menschen zu sein. Wir strebten nach Heiligkeit und nach einer Vollkommenheit, wie wir sie in den Engeln sahen.

Und das werden wir erneut tun. Liebe Freunde, wir sind noch hier! Und das ist es, wofür wir streiten! Für die Erinnerung an Avacyn, an das Licht und an die Güte, die aus der Welt verschwunden sind – dafür streiten wir! Für Innistrad und all seine Bewohner – für sie marschieren wir!“

Sie jubelten trotz ihrer Tränen. Sie standen auf und erhoben die Gesichter zum wolkenverhangenen Himmel und reckten ihm ihre Schwerter und Speere entgegen. Thalia berührte den Kopf des Greifen, und er stieg auf, um ein weiteres Mal über den Soldaten ihrer kleinen Armee zu kreisen. Dann landete sie erneut neben Grete an der Spitze ihrer Streitmacht und sie marschierten voran: nach Thraben und in ein letztes, verzweifeltes Gefecht gegen den Albtraum, der Besitz von ihrer Welt ergriffen hatte.


Die Türme und Wehrgänge Thrabens ragten dort hoch über der Mündung des Flusses Kirch auf, wo sich seine Wasser über zerklüftete Klippen ins Meer ergossen. Die sich sanft dahinerstreckende Heide, aus der ein Großteil Gavens bestand, sorgte dafür, dass die Helle Stadt bei klarem Himmel aus vielen Meilen Entfernung zu sehen war. Thalia konnte sich jedoch nicht erinnern, wann sie das letzte Mal einen wolkenlosen Himmel gesehen hatte. Als sich die Schleier aus Regen und Nebel nun schließlich lüfteten und den Blick auf die Stadt freigaben, waren sie nur noch eine Stunde Fußmarsch von ihr entfernt.

Der Weg vor ihnen war allerdings von Schrecken übersät. Es würde kein leichter Marsch werden. Es waren Massen aus mit Geflecht überzogenem Fleisch und pockigen Tentakeln, verzerrten Zügen und missgestalteten Leibern – Dinge, die einst Vieh, wilde Bestien oder wesentlich gewöhnlichere Ungeheuer gewesen waren. Einige waren nicht einmal mehr als von der Natur geschaffene Lebewesen zu erkennen. Und viele – viel zu viele – waren einmal Menschen gewesen, und nun zeigten ihre grässlichen Züge nur noch in sehr unterschiedlichem Maße hier und da etwas, was man als menschlich hätte beschreiben können.

Im Vergleich dazu kamen einem die entsetzlichen Skaabs, die Geralf Sesani nach Thraben geschickt hatte – Flickwerke aus menschlichen und tierischen Körperteilen, die er den Eingebungen seiner wahnwitzigen Vorstellungskraft folgend zusammengesetzt hatte –, nicht weiter bemerkenswert und geistig gesund vor. Zumindest hatte eine klar als solche erkennbare Intelligenz sie geschaffen – ein menschlicher Verstand mit einem abscheulichen Geschmack und frei von jeder Art von Moral, aber immerhin ein menschlicher Verstand. Diese Dinge konnten nur der Vorstellung eines vollkommen fremdartigen Bewusstseins entsprungen sein – dem irgendeines wahnsinnigen Gottes, der im rastlosen Schlaf der Ewigkeiten träumte.

Auch sie fanden sich in Thraben zusammen. Sie schlurften auf knochenleeren Beinen oder krochen auf sich windenden Tentakeln oder zogen sich auf dem, was einst Hände gewesen sein mochten, über den Boden voran. Manche flatterten taumelnd auf membrandünnen Flügeln durch die Luft, während andere einfach auf dem Wind dahinglitten, ganz so, als sei die Schwerkraft nur ein weiteres Gesetz der Natur, dem sie keinerlei Bedeutung beizumessen brauchten.

Zunächst schienen sich die Schrecken mehr dafür zu interessieren, den Weg nach Thraben zurückzulegen, als Thalia und ihre Katharer aufzuhalten. Sie befahl den Soldaten, ihre Kräfte zu schonen und nur dann zu kämpfen, wenn sie angegriffen wurden. So übel ihr auch dabei war, die zappelnden Ungeheuer am Leben zu lassen, so sicher war sie sich, dass ihre Soldaten all ihre Kräfte brauchen würden, sobald sie die Stadt erreichten.

Doch dann kam sie einem dahinschlurfenden Ding von den Ausmaßen eines großen Pferdes zu nahe, und es wirbelte zu ihr herum. Sie schätzte, dass es tatsächlich früher einmal ein Pferd gewesen war – nein, ein Pferd samt Reiter, die nun zu einer einzigen entsetzlichen Masse aus Fleisch verschmolzen waren. So etwas wie sechs Beine trugen das Ding, und miteinander verwobene Stränge violetten Fleisches bedeckten seine Flanken und hielten Pferd und Reiter zusammen. Gezackte Zähne stachen aus verschiedenen kieferartigen Gebilden unter einer räudigen Mähne hervor, und ein rotgelbes Leuchten unter einen Dreispitz musste wohl früher das Antlitz des Reiters gewesen sein. In dem Gewirr aus Tentakeln war halb eine Hellebarde versunken.

Ehe sie ihr Reittier wenden konnte, um sich der Kreatur zu stellen, als befänden sie sich in einer Art irrsinnigen Tjoste, erhob sich das Geschöpf auf drei Hinterbeine und rammte ihr einen Huf in die Schulter. Thalia wurde aus dem Sattel geschleudert. Mit einem Rascheln seines zerzausten Gefieders erhob ihr Greif sich in die Luft. Thalia machte sich die kurzzeitige Ablenkung der Kreatur zunutze, um sich aufzurappeln und eine Kampfhaltung einzunehmen.

Als es näher kam, zuckte ihre Klinge und schlug zwei Wunden in das, was der Hals des Pferdes gewesen sein musste. Ein bräunliches Etwas tropfte aus den Schnitten – kein Blut, denn es wand sich und zappelte wie Würmer, von denen es unter einem umgedrehten Stein wimmelte. Die Kreatur schien es nicht zu bemerken.

Ein Huf am Ende von etwas, was kein Bein war, schlug nach ihr aus. Sie stieß ihn beiseite und schnitt in das Fleisch genau darüber. Diesmal sickerte gelblicher Eiter hervor. Als sie jedoch nach einer Seite parierte, hieb ein Tentakel – vermutlich einer der Arme des Reiters – von der anderen Seite nach ihr. Ihr Gesicht schmerzte ... und dann nicht mehr. Wo die fleischige Masse sie erwischt hatte, wurde ihre Haut taub und kalt.

Sie stolperte zwei Schritte vorwärts und nahm ihr Schwert in die andere Hand, als sich die Taubheit auf Hals und Schultern ausbreitete. Das Ding folgte ihr und bäumte sich auf, um erneut zuzuschlagen, doch dann fuhr Thalias Greif herab und trieb seinen Schnabel mitten in die fleischige Masse des Dings. Ein Heulen fuhr aus einer Vielzahl von Mündern, die am Leib des Monstrums klafften.

Thalia versenkte ihre Klinge tief in das Ding – gleich über einem Fuß, der noch immer in einem Steigbügel steckte, wie sie mit einem Anflug von Abscheu bemerkte –, und das Geheul wurde lauter. Eine Reihe anderer Katharer waren ihr zu Hilfe geeilt und schwangen schwerere Schwerter und Äxte, bis der Schrecken zuckend zu ihren Füßen lag.

Und Dennias, der vor einem Jahr noch ein gutmütiger Schüler in Ellgau gewesen war, kniete am Boden und hielt sich den Kopf, als wollte er etwas in seinem Schädel daran hindern, aus ihm herauszubrechen. Sein Mund stand in einem stummen Schrei offen, und seine geweiteten Augen starrten ins Nichts. Sein Freund Mathan fiel neben ihm auf ein Knie, legte ihm einen Arm um die Schultern und murmelte leere, tröstende Worte. Thalia wandte sich ab.

Dann schrie Mathan.

Thalia wirbelte herum und sah, wie Mathan zurücktaumelte. Sein Gesicht war weiß wie das eines Greifen. Dennias hatte sich nicht bewegt, doch lange Tentakel schlängelten sich wie violette Bänder aus seinen Fingern. Und aus seinem Ohr.

Sein Gesicht wurde fahl, und er wirkte, als würde er sich übergeben. Thalia schüttelte traurig den Kopf und machte einen Schritt auf ihn zu. Sie wusste, was nun kommen würde.

Er beugte sich vornüber, als wollte er seinen Mageninhalt entleeren, doch stattdessen kamen weitere Tentakel aus seinem Mund. Etwas Großes zuckte unter seiner Rüstung.

Er war verloren.

Ihre Klinge beendete sein Leben schnell – viel schneller, als Ross und Reiter gefallen waren, und zweifellos auch rascher als die Verderbnis, die langsam das Leben aus ihm herausgesaugt hätte. Sie nahm die Bürde seines Todes auf sich, damit niemand anders sie schultern musste, doch sie überließ einem anderen die noch edlere Aufgabe, seinem Freund Trost zu spenden.

Dommelgreifen wirkten beruhigend. Als sie zurück in den Sattel kletterte, wurde ihr Herzschlag ruhiger und sie nahm einen tiefen, schaudernden Atemzug. Sie konnte den Speer nicht ansehen.


Thraben zog sie nun alle an.

Thalias Gedanken waren klar und ihr Blick unbeirrt auf die Türme der Hohen Stadt gerichtet, doch sie spürte dennoch den Sog. Die Soldaten, die neben und hinter ihr marschierten, hatten den Blick auf Avacyns Speer geheftet, der von ihrem Sattel aus zum Himmel zeigte, doch auch sie spürten ihn. Das wusste sie. Mit Spitzhacken und Mistgabeln bewaffnete Menschen aus der Stadt schlossen sich ihnen an, ganz so, als wüssten sie, dass dies die letzte Gelegenheit war, für das Schicksal ihrer Welt zu kämpfen.

Und die wankenden, zappelnden, erzitternden Dinge um sie herum kannten nur den Sog. Einige waren noch immer weitestgehend menschlich – Städter und Dörfler, die in die Roben der Küstenkulte gehüllt waren und Krabbenscheren oder pockige Tentakel oder froschartige Mäuler hatten. Einige waren offenkundig einmal menschlich oder tierisch gewesen, wenn auch nun nicht mehr. Einige waren derart entstellt, dass Thalia sie nicht einmal ansatzweise zu beschreiben vermochte. Doch Thraben zog sie alle an.

Nein. Nicht alle. Ein Trupp Ritter auf gepanzerten Pferden ritt über die Heide auf Thalia und ihre Armee und nicht auf die Stadt zu. Eine Kompanie Soldaten marschierte hinter ihnen.

„Grete, Rem“, sagte sie und riss die beiden aus ihrem entrückten Zustand. Sie deutete zu den anrückenden Einheiten. Rem nickte grimmig, während Grete die Stirn runzelte.

„Weitere Feinde?“, fragte Grete.

„Vielleicht die Sündenreinen“, sagte Rem.

„Nenn sie nicht so“, herrschte Thalia ihn an. „Aber ich glaube nicht, dass das Seetas Leute sind.“

„Wer sind sie dann?“, fragte Grete.

„Ich werde es herausfinden.“ Thalia hatte nicht einmal Zeit, ihrem Reittier die Sporen zu geben, bevor es sich auch schon in die Luft erhob, als erahnte es ihre Gedanken.

Als sie sich den Rittern näherte, schwang sich eine Gestalt an ihrer Spitze ebenfalls in die Luft – nur eine menschliche Gestalt ohne irgendein Reittier, das sie trug.

Als ihr Greif sich der Gestalt annäherte, erkannte Thalia eine Mähne aus feuerrotem Haar, eine schwarze Rüstung – und ein langes schwarzes Kleid, das gänzlich ungeeignet für den Kampf schien. Die Gestalt hatte bleiche, beinahe weiße Haut und trug eine absurd lange Klinge, die dadurch leichter gemacht worden war, dass man sie so weit ausgehöhlt hatte, dass nun der graue Himmel durch sie hindurchschimmerte.

Das war also kein Mensch. Ein Blutsauger.

Die Vampirin hob beide Hände als Zeichen, dass sie sprechen wollte, obwohl sie noch immer offen ihre Klinge trug – was kein großes Wunder war, denn Thalia wollte sich kaum ausmalen, wie eine Scheide für dieses Ungetüm aussehen mochte. Thalia erwiderte die Geste. Ihre eigene schmale Klinge hing an ihrer Seite. Langsam schwebten sie aufeinander zu, bis sie nahe genug für einen Wortwechsel waren.

In gewisser Weise wirkte das alles geradezu lachhaft, doch es war tödlicher Ernst. Thalia saß auf einem Dommelgreifen, dessen Schwingen gerade so sehr schlugen, um sie in der Luft zu halten – von Angesicht zu Angesicht mit einer Vampirin, die dank ihrer eigenen Magie vom Erdboden abgehoben hatte. Und sie würden sich unterhalten.

„Wir haben ein gemeinsames Ziel, Mensch“, rief die Vampirin. „Ich bin Olivia Voldaren, Herrin von Ludenstein und Begründerin der Linie der Voldaren.“

Thalia verschlug es einen Augenblick lang völlig die Sprache. Kaum einen Steinwurf entfernt schwebte eine der mächtigsten Vampirinnen Innistrads. Gerüchten zufolge war sie eine exzentrische Einzelgängerin und dafür bekannt, ausschweifende Feste auszurichten, auf denen sie sich selbst allerdings nur selten zeigte. Und sie war vollständig für den Kampf gerüstet – ein wahres Sinnbild eleganter Aristokratie in Kriegszeiten.

Mit einem tiefen Atemzug fand Thalia ihre Stimme wieder. „Ich grüße Sie, verehrte Frau Voldaren. Ich bin Thalia, die Erbin von Sankt Traft.“

Wirklich? Ich traf ihn einst, müssen Sie wissen. Ich muss zugeben, Sie machen ihm alle Ehre, wie Sie da auf Ihrem Greifen sitzen mit Avacyns Speer an Ihrer Seite.“

Olivias Erinnerung daran, dass sie deutlich älter war, als Thalia zu begreifen vermochte, war subtil. Eine sanfte Warnung, vermischt mit einem Hauch von etwas, was beinahe Achtung hätte sein können.

„Was geht hier vor sich, Vampirin? Ich werde nicht tatenlos zusehen, wie meine Soldaten zu einem weiteren der berüchtigten Festmahle der Voldaren werden.“

„Entspannen Sie sich, Liebes.“ Sie lachte. Ein melodisches Geräusch, das die Lage noch absurder zu machen schien. „Wie ich bereits sagte haben wir ein gemeinsames Ziel. Ich glaube, wir sind alle aus dem gleichen Grund hier: um die Welt zu retten. Immerhin scheint Ihr kostbarer Engel ja kaum in der Lage dazu.“

Thalia unterdrückte eine unfreundliche Erwiderung. Wenn die Vampire hier waren, um zu helfen, würde sie sie nicht abweisen. Ja, wenn einige ihrer eigenen Truppen den Marsch nach Thraben überlebten, würden sich die Vampire zweifellos anschließend hungrig von der Schlacht auf sie stürzen. Doch dies war verglichen mit der finsteren Wirklichkeit der Ungeheuer, die sich auf die Hohe Stadt zuwälzten, während sie hier sprachen, nur graue Theorie.

„Na gut“, sagte sie. „Wir werden die Welt gemeinsam retten. Sie mit Ihrer Armee, ich mit der meinen. Ich kann nicht von meinen Soldaten verlangen, Seite an Seite mit Vampiren zu kämpfen, aber wir ziehen gegen denselben Feind ins Feld.“

Im Verlauf ihrer Unterhaltung war Olivia näher gekommen – nahe genug, um eine Hand auszustrecken. Zu Thalias Rechten, mit dem Greifen zwischen ihr und Avacyns Speer.

„Kein Biss und keine Klinge eines Vampirs wird menschliches Blut kosten, solange dieser Kampf nicht beendet ist, Erbin von Sankt Traft. Haben wir eine Vereinbarung?“

Thalia konnte es nicht ganz fassen, dass sie tatsächlich eine Hand ausstreckte und die der Vampirin schüttelte.

„Keine menschliche Klinge wird Ihresgleichen ein Leid zufügen. Wir sind da einer Meinung.“

Olivia neigte sich in der Luft nach vorn, um ihr Gesicht dicht an ihrer beider Hände zu bringen, die sich noch immer berührten. Sie sog tief Luft durch die Nase ein – war das ein Schnuppern? – und blickte Thalia dann in die Augen. Ihre Fänge blitzten bei ihrem Lächeln deutlich sichtbar auf.

„Vorzüglich“, sagte sie. Eine letzte Warnung, dann drehte sie sich um und schwebte hinunter zu ihrer Streitmacht aus Vampiren.

Thalia erschauderte und kehrte zu ihren Soldaten zurück. Sie wusste noch nicht recht, was sie ihnen sagen sollte.


Thalia ritt eine Weile mit geschlossenen Augen und vertraute ihrem Greifen, den Weg zu finden und sie vor Gefahren zu warnen. Sie zog sich in sich selbst zurück, nahm Verbindung mit dem Geist auf, mit dem sie sich einen Körper teilte, und erinnerte sich:

Es war, nachdem sie Odric in der Kathedrale zur Rede gestellt hatte, als sie ihm zum ersten Mal begegnet war. Sie hatte nicht gewusst, wohin. Also war sie abseits der Wege in die Heide hinausgeritten, bis sie auf einen überwucherten Pfad gestoßen war. Etwas zog sie seinen verschlungenen Weg entlang, bis sie auf eine alte Kapelle in der Nähe jener Hügel stieß, die sich bis zur Geierweite Stenzens erstreckten.

Ein Gemälde im Inneren zog ihren Blick auf sich. Es zeigte Traft, wie sie inzwischen wusste, oder vielmehr seinen Geist, wie er hinter einer rothaarigen Frau stand, die ein Schwert in ihrer vierfingrigen Hand hielt. Seine Hand ruhte auf ihrer Schulter.

Diese Frau, die als junges Mädchen von einem dämonischen Kult gefangen genommen worden war, um Traft in sein Verderben zu führen, war die erste Erbin von Sankt Traft gewesen. Die Kultisten hatten ihren Finger abgetrennt und ihn Traft geschickt, um sich seiner Zusammenarbeit zu versichern. Nach seinem Tod hatte er eigens über sie gewacht, während sie zu einer großen Kriegerin und Dämonenjägerin heranwuchs. Und da die Engel Traft zugetan waren, hatten sie auch auf sie herabgelächelt und an ihrer Seite gekämpft.

Als Thalia das Gemälde in jener abgelegenen Kapelle betrachtete, schien sich der Geist auf dem Gemälde zu bewegen. Sein ruhiges Gesicht wandte sich ihr zu, sein Blick traf den ihren und dann streckte er die Hand nach ihr aus. Ohne Zögern hatte sie sie ergriffen, und sie fühlte sich so fest wie Fleisch und Knochen an – kalt jedoch ... So kalt ... Furcht ergriff von ihr Besitz, sie sank auf die Knie und wandte den Blick von diesen leeren Augen ab, doch er hielt weiter ihre Hand fest und trat näher, als würde er aus dem Gemälde heraussteigen. Er kniete sich auf den Boden vor ihr, und seine andere Hand hob sanft ihr Kinn an.

„Wirst du mich aufnehmen?“, flüsterte er.

Sie nickte, er lächelte und ihre Angst war verflogen. Sie holte tief Luft und er füllte ihre Nase, ihren Mund und ihre Lungen aus. Kaltes Feuer brannte in ihrem Inneren, und sie warf den Kopf zurück, als er durch ihre Adern strömte und ihr ganzer Körper in Flammen stand.

Dieses kalte Feuer war in den Monaten, die seitdem vergangen waren, nie erloschen. Die meiste Zeit über war es wie ein Knoten in ihrem Hinterkopf, der bisweilen Schauer ihren Rücken hinauf und in ihren Kopf hinein jagte, wenn der Geist sie an seine Anwesenheit erinnerte – oft als Warnung oder aus Ärger heraus. Manchmal – wie als sie Avacyns Speer ergriffen hatte – fuhr sein Feuer erneut durch sie hindurch und es war nicht mehr sie, die sich bewegte, sondern der Geist, der sie führte.

Er hatte sie bis hierher getragen. Das wusste sie. Er hatte an ihrer Seite gestanden, als sie Jerren und dem Rat der Lunarchen entgegengetreten war. Er hatte ihr geholfen, all diese Katharer – vermeintliche Ketzer – um sich zu scharen, um jenes Übel zu bekämpfen, das der Kirche von innen wie von außen zusetzte. Er würde sie nicht verlassen, wenn sie ihre Truppen nach Thraben führte. Irgendwie hatte er ihr zumindest dies versichert. Doch sie konnte sogar von ihm ein leises Zaudern spüren.

Würde seine Hilfe ausreichen? Das konnte er ihr nicht versprechen. Doch es war alle Hoffnung, die sie hatte.

Der Greif erbebte unter ihr und sie schlug die Augen auf, um sich nach dem umzusehen, was ihn gestört hatte. Die Mauern Thrabens waren nun nicht mehr fern. Die Streitmacht aus Vampiren, die langsam weiter vorgerückt war, während Thalia und ihre Leute sich der Hohen Stadt genähert hatten, befand sich nun dicht an ihrer linken Flanke. Es war nicht mehr möglich, den schlurfenden Schrecken aus dem Weg zu gehen: Sie alle strömten auf die Stadt zu und Kämpfe entbrannten an den vordersten Reihen ihrer Soldaten.

Doch ihre Leute wussten um die Bedeutsamkeit ihrer Aufgabe. Thalia konnte die Wildheit in ihrem Blick sehen, die Verzweiflung, die aus der stärker werdenden Überzeugung geboren wurde, dass die Welt enden würde und sie in eine letzte apokalyptische Schlacht zogen.

Sie ließ ihren Greifen aufsteigen, um über der Front zu kreisen und den Verzweifelten und Verzweifelnden aufmunternde Worte zuzurufen. Doch dies war mehr als Verzweiflung, wie sie bald erkannte. So entsetzlich es auch sein mochte, diese pervertierten Ungeheuer zu bekämpfen, die einst ganz gewöhnliche Lebewesen und manche von ihnen sogar Menschen gewesen waren – es war nicht das Einzige, was ihre Leute in die Hoffnungslosigkeit trieb. Da war noch etwas anderes – etwas, was sie als eine Art Druck in ihrem Bewusstsein wahrnahm. Er zwang ihren Verstand, sonderbare Gedanken, Triebe und Wahrnehmungen auszubilden. Am Rand ihres Blickfelds sahen Menschen und Soldaten wie Ungeheuer aus. Der Himmel schien von blauen und purpurnen Tentakeln zu wimmeln, die die Wolken aufwühlten. Der Boden bäumte sich unter ihr auf, das Innere ihres Greifen wurde nach außen gekehrt, Avacyns Speer krümmte sich, um auf ihre Brust zu deuten –

Nein.

Es hallte wie eine Glocke in ihrem Geist wider: ein Wort der Macht, gesprochen vom Geist eines Heiligen, der schon lange tot war. Ihre Gedanken und ihre Wahrnehmung klarten wieder auf. Klarheit.

Doch die Soldaten unter ihr konnten nicht auf Trafts Schutz zurückgreifen, und sie sah, wie der Wahnsinn Besitz von ihnen ergriff, als sie sich voller Furcht umblickten.

Sie sind nicht bereit, flüsterte Traft in ihrem Geist.

„Das spielt keine Rolle“, sagte sie laut. „Wir müssen es jetzt tun.“

Es wird ihnen wehtun.

„Dieser Wahnsinn wird sie töten oder sie werden sich gegenseitig töten. Es ist Zeit.“

Dann tu es.

Sein Feuer durchströmte sie erneut, und sie packte Avacyns Speer, während sie ein weiteres Mal über den Frontlinien kreiste.

„Katharer von Sankt Traft!“, rief sie. „Der Wahnsinn, der von unserer Welt Besitz ergriffen hat, dringt auf uns ein. Ich weiß, ihr könnt ihn spüren. Ihr stellt eure Gedanken infrage und traut euren Augen und Ohren nicht. Hört mir zu!“

Ihr wurde klar, dass es für einige von ihnen zu spät war. Sie sah Katharer, die am Boden zuckten und sich den Kopf hielten oder sich zu einem Ball zusammengerollt hatten. Verdammt! Sie hatte zu lange gewartet. Doch es gab noch Katharer, die sie retten konnte.

„Ihr wisst, dass mir der Geist von Sankt Traft innewohnt“, rief sie und als sie es ausgesprochen hatte, ließ der Geist blauweißes Licht um sie herum aufleuchten. „Einst war er der Liebling der Engel, und die Gesegneten schützten ihn, wie Avacyns Kirche uns einst beschützt hat. Doch Avacyn ist nicht mehr, ihre Engel sind dem Wahnsinn verfallen und nur die Toten sind noch übrig.“

Es war Traft, der sie gerufen hatte, und sie waren seinem Ruf gefolgt. Vom Boden, vom brodelnden Himmel und aus der Hohen Stadt kamen sie herbei: Hunderte von leuchtend weißen Gestalten. Aus den Mausoleen und aus den Gesegneten Gräbern, die nicht länger durch die heiligen Schutzzauber verschlossen lagen, deren Magie durch Avacyns Tod verflogen war, kamen die Geister der Toten den Lebenden zu Hilfe. Einige ritten auf Geisterstuten, einige trugen Geisterspeere und Geisterschwerter, einige waren alt und kampferprobt und einige waren kleine Kinder.

„Seht die Geister der Gläubigen, die vor uns getreten sind“, rief Thalia. Oder vielleicht war es Traft, der mit ihrer Stimme rief. „Heißt sie willkommen. Ehrt die Opfer, die sie erbracht haben, um heute mit uns gemeinsam zu kämpfen. Öffnet euch ihnen und erlaubt ihnen, euch zu schützen!“

Und sie sah, wie ihre Soldaten – die verzweifelten, abgerissenen, gesegneten Katharer des Ordens von Sankt Traft – vom Feuer ergriffen wurden. Einige von ihnen, die es sofort verstanden hatten, breiteten die Arme aus und umfingen die Geister, die auf sie zuschwebten und sie ausfüllten. Thalia sah, wie die heilige Ekstase über sie kam und die anderen es ihnen rasch gleichtaten. Es gab genug Geister für ihre gesamte abgekämpfte Arme, und selbst dann blieb noch eine ganze weitere Streitmacht übrig, um an der Seite der Lebenden zu marschieren.

Als das Feuer in ihnen loderte, stürzten sie sich erneut in den Kampf, und klägliche Schreie erklangen von den Frontlinien, während sie sich ihren Weg durch die ungeheuerlichen Schrecken bahnten.

Manche von ihnen können die Geister nicht einladen, sagte Traft und richtete ihren Blick auf die Soldaten, die sich noch immer den Kopf hielten oder sich zusammengekauert hatten.

Sie konnte sie retten. Sie konnte die Geister anweisen, gegen ihren Willen Besitz von ihnen zu ergreifen, den Wahnsinn zu vertreiben und den Nebel um ihren Verstand zu lichten. Ihr Magen zog sich vor Mitgefühl und Trauer zusammen.

„Nein“, sagte sie. „Ich kann diese Entscheidung nicht für sie treffen. Die anderen werden ihnen so gut helfen, wie sie können.“

Sie lenkte ihren Greifen erneut zu Boden, wo sie zwischen Grete und Rem Karolus aufsetzte. Sie sah das weiße Feuer in Gretes Augen, aber Rems Gesicht war wie versteinert und grimmig.

„Kein Geist für dich, Rem?“

Der alternde Soldat schüttelte den Kopf. „Das ist so, als würde man sich einen Blutegel in den Nacken legen, um die Vampire fernzuhalten“, sagte er.

Beunruhigt darüber, was ihm widerfahren mochte, wenn er mitten im Kampf die Beherrschung über seine Sinne verlor – ihm und den Soldaten um ihn herum –, setzte sie zu einer Erwiderung an. Doch auch diesmal konnte sie ihn zu nichts zwingen. Und wenn ein Soldat hier inmitten dieses Wahnsinns allein durch puren Starrsinn bei Verstand bleiben konnte, dann war es Rem Karolus, den man die Klinge der Inquisitoren und den Engelstöter nannte.


Ihr Marsch wurde zu einer schier endlosen Schlacht. Jeder Schritt vorwärts wurde von einem der Schrecken infrage gestellt. Die pervertierten Abscheulichkeiten – selbst diejenigen, die noch weitestgehend menschlich aussahen – kämpften wie die Dämmerwaldschweine. Sie knurrten und schlugen trotz Dutzender Wunden um sich, ehe sie schließlich irgendwann zu Boden fielen und ihr entsetzliches Zucken ein Ende fand. Doch die heiligen Geister ließen Thalias Soldaten beinahe ebenso wild werden, und sie sah schwer verwundete Soldaten sich in aller Ruhe aufrappeln, während die Geister in ihnen ihre Wunden schlossen und ihre Stärke wiederherstellten.

Sie bemerkte kaum, wie sie die äußere Mauer hinter sich ließen und das eigentliche Thraben betraten. Nur ein flüchtiger Gedanke – Das Ende ist nah – strich durch ihr Bewusstsein, ehe sie eine Kreatur erstach, die einst ein Werwolf gewesen war, um dann herumzuwirbeln und einen seltsam verkrümmten Tentakel zu durchtrennen, der unbeholfen nach ihr griff.

Sie kämpften nun Schulter an Schulter mit Vampiren und bahnten sich ihren Weg durch die Straßen der Stadt. Die Vampire gaben furchteinflößende Verbündete ab: Sie töteten mit der gleichen Entschlossenheit und Freude verformte und verderbte Menschen, als sie es gemeinhin mit gesunden taten. Jedes Überbleibsel menschlicher Züge, die Thalia an einem von ihrer Klinge niedergestreckten Ungeheuer sah, mehrte die Last auf ihren Schultern, doch für die Vampire waren all diese Geschöpfe einfach nur Beute. Sie bemerkte sogar einige Vampire, die eigens anhielten, um sich an ihnen zu laben, ehe sie weiter voranstürmten. Sie rang eine in ihr aufsteigende Übelkeit nieder und zwang sich, wegzusehen.

Ein großer, offener Platz erstreckte sich vor der Kathedrale von Thraben – einem Ort, an dem sich in glücklicheren Zeiten Menschenmassen versammelt hatten, um an einem heiligen Festtag einer Ansprache der Lunarchen zu lauschen. Auch jetzt waren hier Massen versammelt: Massen aus brabbelnden, zuckenden, widerwärtigen Dingen, die gegen das kämpften, was von der Stadtwache und den Wächtern der Kathedrale noch übrig war. Thalia lenkte ihren Greifen aufwärts und kreiste über dem Platz, um sich einen Überblick über die Schlacht zu verschaffen.

Verzweifelte Städter schwangen Schaufeln und Sensen und versuchten, Horden pervertierter Kultisten abzuwehren. Kühne Katharer stürmten in einem schmalen Keil vor, um die Reihen der gesichtslosen Ungeheuer aufzubrechen, nur um sich von allen Seiten umzingelt wiederzufinden. Ein kleines Rudel Werwölfe, das von zwei Bestien mit weißem Fell angeführt wurde, fiel in die Reihen seiner vollständig verderbten Artgenossen ein. Ein massiger Skaab stand über der Leiche eines armen Gelehrten und verteidigte mit letzter Kraft seinen Schöpfer. Tod. So viel Tod.

Als sie zu den vorrückenden Soldaten zurückkehrte, die sie hinter sich gelassen hatte, bemerkte sie eine Gruppe schwer gepanzerter Krieger, die die Reihermasken der Inquisition der Lunarchen trugen. Missbildungen ragten unter ihren Hauben und Roben hervor, und sie kreisten eine Gruppe verängstigter Städter ein. Thalia sah, wie ein paar der Bürger auf die Knie fielen und um Gnade durch die Kirche bettelten, die sie doch eigentlich beschützen sollte. Und dann erkannte sie Seeta, die Anführerin der sogenannten Sündenreinen. Mit dem Schwert in der Hand und Wut in den Augen stieß Thalia auf die blasphemische Katharerin hinab.

Dann sah sie, wie urplötzlich eine gezackte Klinge aus Seetas Brust hervorwuchs, und die Anführerin der Sündenreinen fiel auf die Knie. Hinter ihr blickte das bleiche Gesicht Olivia Voldarens Thalia an.

„Also schön“, murmelte sie und lenkte ihren Greifen erneut nach oben, um in dem Gewühl nach Rem Karolus oder Grete zu suchen.

Warum macht dir das so viel aus?, flüsterte Trafts Stimme in ihrem Kopf. Deine Feindin ist geschlagen, aber du wolltest es selbst tun?

„Ich bin keine Heilige“, sagte sie laut.

Gesichter wandten sich zu ihr hinauf und sie sah ungeahntes Grauen in den Blicken ihrer eigenen Soldaten. Endlich entdeckte sie Rem. Sein Gesicht war bleich und seine Augen geweitet. Sein Schwert landete scheppernd auf dem Kopfsteinpflaster und er deutete hinauf – hinter sie.

Sie wendete ihren Greifen und sah den Grund für sein Entsetzen. Vor der Kathedrale schwebte eine gewaltige Abscheulichkeit aus verzerrtem Fleisch, sich windenden Tentakeln und ... gefiederten Schwingen.

Die beiden Köpfe des riesigen Engels gaben ein schrilles Kreischen von sich, das ihr in den Ohren schmerzte und sie aus dem Gleichgewicht warf, sodass sie sich an ihrem Sattelknauf festklammern musste, um nicht in die Tiefe zu stürzen. Unter ihr stürmten Ungeheuer vor, als unverderbte Menschen sich an die Ohren griffen oder vor dem neuerlichen Angriff zurücktaumelten. Das Engelsding drosch mit einem seiner dicken, unteren Tentakel in die Massen auf dem Platz ein und stieß Menschen und Schrecken gleichermaßen durcheinander oder schleuderte sie zu Boden.

Wenn jemand sich diesem Albtraum stellen konnte, dann musste es Thalia sein. Die Flügel ihres Greifen machten es möglich – und das war mehr, als irgendjemand am Boden von sich behaupten konnte. Sie setzte sich in ihrem Sattel zurecht, festigte den Griff um ihr Schwert und stieg auf Augenhöhe mit dem Engel über das zerstörte Dach der Kathedrale auf.

Trotz der enormen Ausmaße der Kreatur waren ihre Köpfe nicht größer als der Thalias, und manche ihrer Züge als Engel waren noch im Ansatz zu erkennen – darunter eine zerzauste rote Haarmähne.

„Du Abscheulichkeit!“, rief sie und schluckte ihre Furcht und ihr Entsetzen herunter. Sie wollte irgendeine Art von formeller Herausforderung aussprechen, doch die passenden Worte wollten ihr nicht einfallen. Also stieß sie schließlich einfach nur zu einem Angriff hinab.

Einer der unmöglich langen Arme des Engelsdings schlug aus, um sie zur Seite zu fegen, doch der Greif ließ sich darunter hinwegsacken und Thalia hieb im Vorbeiflug danach. Die beiden Köpfe öffneten erneut ihre Münder, um zu heulen – einer davon war nur ein klaffendes Loch im Hals des anderen –, doch das Geräusch riss ab, als Thalia ihr Schwert in so etwas wie eine Schulter rammte, aus der mindestens drei Arme auf der linken Seite der Kreatur sprossen. Gleichzeitig riss der Schnabel ihres Greifen an dem knorpeligen Fleisch an einem dieser grässlichen Köpfe.

Als Erwiderung hob der Engel einen seiner eigenen Arme und hieb mit einem Dutzend Fingerklauen nach Thalias Hüfte und über die Flanke des Greifen, um sie beide in Richtung der Stufen der Kathedrale hinabzuschleudern. Der Greif versuchte verzweifelt, sich abzufangen, während er nach unten trudelte, doch ein Flügel war ganz offensichtlich gebrochen, und es gelang ihm nur, sich zwischen Thalia und die harte Steintreppe zu bringen.

Thalia tat alles weh, und ihr Bein war unter dem Greifen in einem schrägen Winkel eingeklemmt. Schmerz schoss bei der kleinsten Bewegung ihre Seite hinauf. Ihr war schwindelig. Sie legte den Kopf auf den Stein und starrte zu ihrem Verderben hinauf.

Irgendwie erschien es passend, dass sie durch die Hand eines Engels – der Verkörperung von allem, dem sie ihr Leben gewidmet hatte – ihr Ende finden würde. Die Verderbnis des Engels schien all jene Pfade widerzuspiegeln, auf denen ihr Leben in den vergangenen Monaten in die Irre gelaufen war. Die verschmolzenen Engel schwebten zu ihr hinab, um zu beenden, was sie begonnen hatten.

Bevor Thalia jedoch die Hand heben und sich verteidigen konnte, schob sich etwas Helles zwischen sie und das Engelsding.

„HALLO, MEINE SCHWESTER“, sagte das Engelsding mit seiner grässlichen doppelten Stimme, in der ungeahnte Ewigkeiten mitschwangen.

„Ihr seid nicht mehr meine Schwestern“, sagte die reine, klare Stimme. Thalia sah inmitten des Lichts eine Gestalt: einen Engel, der eine Sense hielt, deren Kopf wie ein Reiher geformt war.

„Sigarda“, flüsterte sie. Der Erzengel der Reiherschar hatte sich nie gegen die Menschheit gewandt – selbst dann nicht, als Avacyns Wahnsinn seinen Höhepunkt erreicht hatte. Sogar jetzt noch stellte sie sich ihren ... Schwestern? ... entgegen. Das bedeutete, dass das verschmolzene Engelsding aus Bruna und Sela bestand, den Erzengeln der anderen beiden Scharen. Verzweiflung senkte sich wie Blei in Thalias Eingeweide.

„DU HÄTTEST UNSEREM RUF FOLGEN SOLLEN.“

„Um ein Teil des ‚Großen Werks‘ zu werden?“, erwiderte Sigarda.

Sigarda verschaffte ihr Zeit, sich zu erholen, erkannte Thalia. Mit aller verbleibenden Kraft stieß sie den toten Greifen von ihrem Bein. Beinahe hätte sich ihr ob der Welle aus Schmerz, die davon ausgelöst wurde, der Magen umgedreht.

„JA. DAS GROSSE WERK IST BEINAHE VOLLENDET.“

Das Engelsding streckte beide seiner gewaltigen Klauen nach Sigarda aus, und vier kleinere Hände aus seiner Brust reckten sich ihr ebenfalls entgegen. Sie erinnerten Thalia auf absonderliche Weise an ein Kind, das nach seiner Mutter griff.

„Euer Werk endet hier, Schwestern“, sagte Sigarda. „Ihr seid zu dem geworden, was wir zu vernichten bestimmt sind.“

Thalia spürte, wie Traft in ihr arbeitete, den Schmerz linderte, die Wunden schloss und sogar Knochen richtete. Wenn Sigarda ihre Schwestern nur ein klein wenig länger in Schach halten konnte, würde Thalia erneut kampfbereit sein. Sie sah sich nach ihrem Schwert um.

Es war fort. Der Aufprall, der sie und den Greifen zu Boden geschleudert hatte, konnte ihre Waffe über den halben Platz gefegt haben. Wie sollte sie denn nun ohne ein verdammtes Schwert kämpfen?

„DU KANNST UNS JETZT NICHT MEHR VERLETZEN, SCHWESTER“, sagte das Engelsding.

Sigarda hob die Klinge, in der sich ein verirrter Mondstrahl verfing und sie so zum Leuchten brachte.

„Das muss ich“, sagte sie und schwang die Sense in einem weiten, tödlichen Bogen über Arme und Brust ihrer Schwestern.

Einer dieser gewaltigen, sonderbar gegabelten Arme pflückte Sigarda aus der Luft. Thalia schnappte erschüttert nach Luft, als die riesige Hand die sich wehrende Gestalt des Engels vor das leuchtende Maul auf der Brust des Engelsdings trug, wo sie von den vier kleineren Armen umfangen wurde. Lange Fleischstränge quollen aus ihnen hervor und legten sich um Sigardas Arme.

„Nein, nein, nein“, sagte Thalia. Sie konnte nicht einfach so danebenstehen und dabei zusehen, wie der letzte Engel von dieser Ungeheuerlichkeit verschlungen und in sich aufgenommen wurde. Sie suchte fiebrig nach irgendetwas, was ihr als Waffe dienen konnte.

„ENDLICH WERDEN WIR WIEDER VEREINT SEIN“, sagten die verschmolzenen Engel.

Traft lenkte Thalias Blick auf Avacyns Speer.

„Er ist zu schwer“, sagte sie.

Nicht für uns beide, erwiderte der Geist des Heiligen.

„Na schön.“ Sie trat um ihr gefallenes Reittier herum und bückte sich, um den Speer aufzuheben. Ein Schauer fuhr ihr den Rücken hinunter, als Trafts Macht sie erneut durchströmte, um sie vor der Magie des Speers zu beschützen. Und einen Augenblick lang erzitterte sie vor schierer Ekstase, als sie leuchtende, durchscheinende Schwingen an ihrem Rücken ausbreitete – der Segen eines unsichtbaren Engels.

Einst war ich der Liebling der Engel, erinnerte sie Traft.

Der zerbrochene Speer schien im Licht der Fackeln und der kleinen Feuer auf dem Platz beinahe zu glühen. Sie ergriff ihn mit beiden Händen und richtete ihn himmelwärts.

So mühelos wie ihr Greif hoben ihre Engelsschwingen sie in die Luft. Traft hatte natürlich recht gehabt: Mit ihren vereinten Kräften fühlte der Speer sich genauso leicht wie ihr schlankes Schwert an. Sie schwebte hinauf, dorthin, wo das Engelsding Sigarda festhielt, die nun unter einer Schicht faserigen Fleisches kaum noch zu erkennen war.

Als Bruna-Sela Avacyns Speer in Thalias Händen schimmern sah, stieß das Geschöpf einen weiteren heulenden Schrei aus. Als eine dieser monströsen Klauen nach ihr ausholte, blockte Thalia sie mit dem Schaft des Speeres, ehe sie die gezackte, zerbrochene Spitze tief in das kränkliche blaue Fleisch rammte. Das Heulen wurde von einem der Trauer zu einem der körperlichen Pein, und Thalia stach erneut mit dem Speer zu, um ihn in die gleiche Schulter zu stoßen, die sie mit ihrem Schwert bereits verwundet hatte.

Die andere Klaue kam auf sie zu, und Thalia drehte den Speer, um ihn in etwas hineinzutreiben, was eine Handfläche hätte sein müssen. Sie riss an der Klinge und drehte sie, um die Wunde zu weiten und durch das Netz aus Fleisch und Knochen zu schneiden, aus dem die abscheuliche Gliedmaße bestand.

Sigarda schien ihre Kräfte wiederzufinden, während ihre verschmolzenen Schwestern schwächer wurden, und sie stemmte sich gegen die Tentakel, die sie festhielten. Thalia schlug nach der Brust des Engelsdings, um Sigardas Fesseln zu lockern, und stieß dann ihre Klinge durch das Gewirr aus Rippen und Sehnen in das rote Leuchten des Unterleibs hinein. Sie spürte den Schmerz in ihren eigenen Eingeweiden, während sie auf den blasphemischen Engel einstach.

Instinktiv vor Schmerz um sich schlagend traf das Engelsding Thalia mit seiner weniger verletzten Klaue und sandte sie erneut taumelnd in Richtung des Bodens. Diesmal jedoch fingen ihre Engelsflügel sie in einem weiten Bogen ab und trugen sie zum Rücken des Engels hinauf, wo sie Avacyns Speer durch gefiederte Schwingen stieß, um ihn tief im Rückgrat und dem zu versenken, was immer den Bauchraum dieser kranken Kreatur wohl ausfüllen mochte. Erneut durchzuckte Schmerz ihre eigene Brust.

Das entsetzliche Heulen des Engels jedoch verklang.

Er zuckte und wand sich. Er hieb wild mit seinen gewaltigen Klauen um sich und versuchte, hinter sich zu greifen. Flügel peitschten brausend in der Luft und das Knäuel aus Tentakeln, aus dem die Beine des Engels bestanden, bekam nichts mehr zu fassen.

Sigarda brach – von Blut und Eingeweiden bedeckt wie bei einer grausigen Geburt – aus der Brust ihrer Schwestern heraus und stürzte auf den Platz unter ihnen.

Thalia klammerte sich an den Speer und ritt ihn wie eine ungebändigte Stute, als das Engelsding im Todeskampf wütete.

„Schwester“, krächzte es.

Und es folgte Sigarda auf die harten Steine unter ihnen, wo es sich wie eine tote Spinne zusammenrollte. Thalia rutschte von seinem Rücken herunter und fiel neben ihm zu Boden. Sie starrte hinauf in die Dunkelheit.


Sigarda half Thalia auf die Beine, und ihr Schmerz verschwand und ihr Blick wurde wieder klar. Der gesegnete Engel – der letzte Erzengel – lächelte sie an.

Sieg. Das Wort huschte durch ihren Geist, und sie erwiderte das Lächeln.

Dann wurde Sigardas Ausdruck wieder ernst und sie schüttelte den Kopf, als hätte sie Thalias flüchtigen Gedanken gelesen.

Thalia schaute sich um. Noch immer tobte der Kampf, doch es schien, als hätte sich das Blatt gewendet: Menschen und Vampire und Werwölfe trieben dank ihres so unwahrscheinlich wirkenden Bündnisses die brabbelnden Horden der Dunkelheit zurück.

Dann hob sich ihr Blick zum Himmel.

Das Ding dort oben in der Luft war unfassbar riesig. Es erinnerte vage an die verschmolzenen Engel Bruna und Sela. Sein kuppelförmiger Leib wurde von einer Masse seltsamer Tentakel getragen, und in seiner Mitte glühte ein rötliches Leuchten.

Doch nichts an seiner Gestalt erinnerte an natürliches Leben, geschweige denn an die Majestät und Anmut eines Engels. Sein Dasein trotzte der natürlichen Ordnung, verstieß gegen alle ihre Gesetze und spottete der Heiligkeit des Lebens. Seine schiere Anwesenheit lud jenen Wahnsinn ein, der trotz des Schutzes des Heiligen wie ein stumpfes Messer gegen Thalias Verstand drückte.

Als es sich näherte, brandete eine Woge aus verdorbenen Schrecken vor ihm auf, brach über den Platz herein und wendete das Blatt in dieser Schlacht erneut – hin zu ihrer aller völligen Vernichtung.


Düstermond-Storyarchiv

Schatten über Innistrad-Storyarchiv

Weltbeschreibung: Innistrad