Was bisher geschah: Augen so mitleidlos und leer

Jace Beleren ist auf der Suche nach dem Vampirfürsten Sorin Markov nach Innistrad gekommen, von dem er sich Hilfe bei der Lösung eines Rätsels erhofft. Innistrad ist für ihn jedoch unbekanntes Terrain, und die einzige Person, die er kennt und die ihm womöglich den Weg hindurch weisen könnte, wird sich wahrscheinlich kaum als hilfreich erweisen – insbesondere wenn man berücksichtigt, wie ihre letzte Begegnung ausging.


Hufschlag gab einen gemächlichen Takt vor. Die schroffen Berge der Provinz namens Stenzen ragten drohend vor ihnen auf, doch Jaces Ziel lag nicht weit jenseits der Grenze und er hatte genug von den Gedanken seines Fremdenführers gelesen, um zu wissen, dass sie es fast schon erreicht hatten.

„Ich habe keine Ahnung, warum ich mir überhaupt die Mühe mit ihr mache“, sagte Jace. „Ich sollte es besser wissen.“

„Mm“, gab der Fremdenführer zurück. Es handelte sich um einen wettergegerbten, bärtigen Mann, der nicht viele Worte verlor. Jace hatte aus Langeweile damit begonnen, die Stille zu füllen, und war schließlich auf den Grund seines Besuchs zu sprechen gekommen.

„Ich meine, ich habe in meinem Leben viele schlechte Entscheidungen getroffen, und zwar selbst dann, wenn ich nur die zähle, die mir im Gedächtnis haften geblieben sind. In schrecklich vielen davon taucht sie auf.“

„Hm“, gab der Mann zurück.

Kühler Regen fiel aus zerfaserten Wolkenbändern, und etwas heulte in der Nacht. Jace war erst seit zwei Tagen auf Innistrad, und er hatte es bereits hassen gelernt. Das Einzige, was ihn bislang ein wenig versöhnlich stimmte, war ein neuer Ledermantel, den er sich gekauft hatte, um vor dem Regen und der schlimmsten Kälte geschützt zu sein.

„Verflucht! Ein Teil von mir hofft sogar, dass sie mich hochkant rauswirft und ich sie danach nie mehr wiedersehen muss.“

„Ah“, gab der Mann zurück.

Der Vollmond lugte hinter den Wolken hervor. Sein gewaltiges, silbernes Antlitz trug ein Mal, in dem die Einheimischen einen Reiher sahen. Jace konnte die Ähnlichkeit erkennen.

„Es ist nur so, dass ich diesmal tatsächlich ihre Hilfe brauche“, sagte er.

„Ahhhhh“, gab der Fremdenführer zurück, ein erstickter Laut, den Jace als Anzeichen von Langeweile deutete.

„Tut mir leid“, sagte Jace. „Ich sollte dich nicht mit meinen Schwierigkeiten behelligen.“

Er bereitete einen Zauber vor, um die letzten Augenblicke der Unterhaltung vollständig und sauber aus dem Geist des Mannes auszulöschen.

„Ahhhhhrrrrrrrrrgggggghhhhh“, gab der Fremdenführer zurück. Das war keine Langeweile. Vielleicht Verärgerung?

Jace griff in den Geist des Mannes hinein – und traf auf eine Wand aus schierem, allumfassendem Zorn und das wilde Halbdenken eines Raubtiers.

Er drehte sich zu ihm um, begleitet von Geräuschen, bei denen sich ihm der Magen umzudrehen drohte: das Knacken von Knochen und das Reißen von Stoff. Das Gesicht des Mannes wirkte grauenhaft ausgebeult, ein Auge war übergroß angewachsen und hatte eine gelbe Farbe angenommen, sein Kinn sprang weit nach vorn. Beide Pferde trippelten ängstlich.

„Oh“, machte Jace.

Die Verwandlung war binnen weniger Wimpernschläge vollzogen. Fell spross überall auf dem Leib des Mannes, Klauen brachen ihm aus den Fingern hervor, seine Zähne wurden lang und scharf, und sein Gesicht verlängerte sich zu einer Schnauze. Das Pferd des Führers geriet in Angst, und der Mann – der Wolfsmensch – grub ihm die Zähne in den Hals.

Es war Zeit zu verschwinden.

Jace spornte sein Pferd zu einem Galopp an, vorbei an diesem Ding, das einmal sein Führer gewesen war, und dessen panischem und nun regelrecht schreiendem Reittier. Es war nicht mehr weit. Er konnte es auf eigene Faust dorthin schaffen.

Hinter ihm wurde der Schrei des Pferds von einem feuchten Knirschen abgeschnitten. Der Werwolf heulte aus voller Kehle und erhielt Antwort aus dem Wald um sie herum: Erst ein Heulen, dann zwei und danach noch mehr überlagerten einander, bis Jace die Größe des Rudels nicht einmal ansatzweise einzuschätzen vermochte.

Jace hetzte im gestreckten Galopp über die mondbeschienene Straße, viel schneller, als es sicher gewesen wäre. Vor sich sah er die Lichter eines großen Herrenhauses in geradezu quälend kurzer Distanz, doch eine gähnende Schlucht trennte ihn davon. Er riss die Zügel des Pferds nach links und warf einen raschen Blick zurück.

Mindestens drei grässlich anzusehende Mischwesen aus Mensch und Wolf setzten ihm mit weiten Sprüngen nach. Sie waren nicht wie die Krasisexperimente des Simic-Kombinats, deren einzelne Teile stets zu verraten schienen, dass sie von unterschiedlichen Arten stammten. Menschenähnliche Hände mit scharfen Krallen, muskelbepackte Arme, die von Fell überzogen waren, Wolfsgesichter, die dennoch von einer gewissen Intelligenz zeugten: Diese Geschöpfe waren beinahe vollkommen menschlich und vollkommen wölfisch zugleich.

Er hatte von Werwölfen gehört, aber gehofft, nie welchen zu begegnen.

Jace ließ sein Pferd so schnell galoppieren, wie er es eben gerade noch wagte, während die Lichter des Herrenhauses seinem Bemühen zu spotten schienen. Die Strecke wand sich um die Schlucht herum, schnitt durch Dickicht und führte über kleine Bäche, die sich rechter Hand unter erstaunlich lautem Plätschern in die Erdspalte ergossen. Über dem Hufschlag seines Pferds und dem rasenden Pochen seines eigenen Herzens hörte er nichts von den Schritten der Wolfskreaturen.

Er ließ einen illusorischen Doppelgänger seiner selbst hinter sich vom Pferd taumeln. Sein Duplikat stand auf und nahm eine Kampfhaltung an, doch die Werwölfe rannten einfach durch es hindurch. Er riskierte einen Blick über die Schulter und sah, wie fünf der Wesen zu ihm aufholten, die Nüstern weit gebläht.

Die Witterung. Natürlich. Sie würden auf nichts achten, was keinen echten Geruch verströmte.

Damit konnte er arbeiten.

Er beschwor eine weitere Illusion herauf, diesmal eine mit Form und Substanz. Ein massiger Bär aus strahlendem blauem Licht nahm hinter ihm Gestalt an, ein Wesen aus reiner Magie anstelle eines bloßen Trugbilds – das jedoch nach wie vor keinen eigenen Geruch besaß.

Traumbär | Bild von Ryan Yee

Die Werwölfe rannten arglos darauf zu, da sie es wohl für ein weiteres feinstoffliches Phantom hielten. Der Bär richtete sich drohend auf die Hinterbeine auf. Er machte einen Satz und fiel einen der Werwölfe an. Als Jace erneut hinter sich schaute, sah er die beiden Kontrahenten in einem wirren Knäuel aus Fell und Licht zu Boden gehen.

Er wandte sich im Sattel wieder nach vorn und sein Pferd geriet durch die Bewegung aus dem Tritt, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick. Mehr brauchte es jedoch nicht. Rasch war der Rest des Rudels heran, um ungeduldig mit den Klauen nach ihm zu schlagen und mit den Mäulern nach ihm zu schnappen. Der Atem der Kreaturen, der in der kühlen Nachtluft dampfte, war heiß und faulig.

Jace streckte die Finger seines Geistes aus und ertastete denjenigen seiner Verfolger, der sein Führer gewesen war – derjenige, dessen Gedanken er schon einmal berührt hatte. Mittlerweile war aus ihnen ein einziges Chaos aus Hunger und Zorn geworden, doch Jace erkannte dennoch die Erinnerungen und Neigungen des Mannes wieder, den er angeheuert hatte, um sich von ihm nach Stenzen führen zu lassen. Spannend.

Jaces Geist bahnte sich seinen Weg in den des Werwolfs, der von Gedanken ans Zerreißen und Zubeißen und Fressen zerrüttet war. Aus Sicht des Werwolfs war der Mond am Himmel stark angeschwollen, sein Licht ein kränkliches Rot und der Reiher grell grinsend. Schließlich war die Verbindung geknüpft. Jace hatte die Kontrolle.

Sein Führer sprang zur Seite und schnappte nach einem seiner Rudelgeschwister. Demjenigen, den die dumpfen Gedanken des Wolfsmenschen als Leitwölfin markierten. Jace übernahm die Kontrolle nur für einen winzigen Wimpernschlag, doch das reichte bereits: Die Leitwölfin versetzte ihrem Angreifer ihrerseits einen Hieb. Jaces Fremdenführer, der nun wieder Herr seiner selbst war, knurrte und schlug zurück. Ihre Möglichkeiten der Verständigung waren anscheinend nicht weit genug entwickelt, um so etwas wie Der Gedankenmagier hat mich dazu getrieben zu sagen – auch wenn diese Entschuldigung selbst unter sprachgewandteren Geschöpfen in der Regel nicht fruchtete.

Bald schon umkreisten die beiden Wolfswesen einander. Die Jagd war für sie völlig vergessen, und eine weitere der Kreaturen – der Gefährte der Leitwölfin? Ein neuer Herausforderer? – blieb zurück, um das Duell zu beobachten. So hatte Jace es nur noch mit einem einzigen Angreifer zu tun. Doch der Pfad folgte nun in engen Kurven dem trügerischen Verlauf der Schlucht, und er brauchte seine volle Aufmerksamkeit, um zu verhindern, dass sein Pferd vom Weg abkam.

Das arme Tier hatte mittlerweile vor lauter Erschöpfung und Panik Schaum vorm Maul. Jace konnte den heißen Atem des Werwolfs beinahe schon über seinen Nacken streifen spüren. Er warf einen Blick über die Schulter – er hatte sich das nur eingebildet, doch viel hatte dazu nicht mehr gehört. Die Kreatur stellte sich in den engen Kurven wesentlich geschickter an als Jaces Pferd und holte rasch auf.

Schließlich öffnete sich das Gelände irgendwann vor ihm und die Schlucht knickte zur Seite hin ab, sodass zwischen ihm und den Lichtern des Herrenhauses nur noch ein Stück flache, schlammige Straße lag. Und das war nicht irgendein Herrenhaus, wie er nun erkannte, als er es so vor sich aufragen sah. Es war ihr Herrenhaus. Sein Ziel.

Hoffentlich würde sie ihm verzeihen, dass er noch jemanden im Schlepptau hatte.

Er war schon in Rufweite des Tors, als der Werwolf zuschlug. Eine Pranke fuhr quer über das Hinterteil des Pferdes, dessen Beine seitlich wegrutschten. Jace sprang aus dem Sattel, landete im Schlamm und rollte sich ab. Er rappelte sich auf und rannte los. Hinter ihm attackierte der Werwolf grollend das gestürzte Pferd.

Das Gittertor war geschlossen und verriegelt, kein Türsteher in Sicht und der Hof dunkel. Jace warf einen Blick über die Schulter und sah, wie der Werwolf vom Kadaver des Pferds aufschaute, die Schnauze blutig im Mondlicht. Das Wesen richtete sich auf und schritt auf ihn zu, als wäre ihm das Pferd nun völlig gleich.

Dann würde es also ein kleiner Einbruch werden. Noch besser.

Er mahnte sich selbst zur Ruhe, wandte seine Aufmerksamkeit dem Schloss zu und verdrängte sämtliche Gedanken an das Ungeheuer hinter sich. Jaces Telekinese übte keine sonderlich große Kraft aus. Sie lag nicht über der seiner Muskeln und ihr Einsatz war wesentlich anstrengender. Dafür konnte er sie sehr fein zur Anwendung bringen. Unsichtbare Finger aus geistiger Energie tasteten im Inneren des Schlosses umher, fanden die Stifte und brachten sie rasch in die richtige Position. Das Schloss sprang mit einem Klicken auf, und Jace drückte gegen das wuchtige schwarze Eisentor. Es klemmte – womöglich war es eingerostet –, und er musste es mit aller Macht aufstemmen. Das Tor öffnete sich mit einem Quietschen, das laut genug war, um selbst die Toten aufzuwecken, und Jace stolperte in den Hof hinein, wo er auf ein Knie fiel.

Er drehte sich um, trat das Tor zu und hatte es auf geistigem Wege gerade wieder verriegelt, als auch schon der Werwolf dagegenkrachte. Jace kroch rückwärts davon, fort von den Klauen, die ihn packen wollten. Der Werwolf nahm laut Witterung auf – einmal, zweimal –, und dann war er verschwunden, um irgendeiner anderen Beute nachzujagen.

Etwas bewegte sich hinter ihm. Er stand auf und wandte sich um. In der Dunkelheit, die auf dem Hof des Anwesens herrschte, konnte er eben so ein Dutzend Gestalten ausmachen, die ihn stumm umringten. Nun roch er ihn auch, jenen Geruch von Fäulnis, der den Werwolf abgeschreckt hatte. Eine schnelle Überprüfung mittels seiner Gedankenmagie bestätigte es: In diesen Leibern steckte kein Verstand mehr. Sie waren tot.

Sie drängten ihn lautlos gegen das Tor. Eine Horde Zombies vor ihm, ein Werwolf irgendwo hinter ihm, und über all dem dieser unerbittlich herabstarrende Mond ...

Die Zombies traten kurz auf der Stelle, ehe sie sich wie zu einer Gasse teilten und ihm so einen klaren Weg zur reich verzierten Tür des Herrenhauses aufwiesen. Ein Empfangskomitee. Ihre Gastfreundschaft überstieg seine Erwartungen bei Weitem.

Er schritt an den versammelten Toten entlang und versuchte, nicht weiter auf sie zu achten, während er zum ersten Mal die Zeit fand, das Gebäude eingehender zu betrachten. Es war groß und bot ausreichend Platz für eine größere Sippschaft und deren Bedienstete, aber abgesehen von einem unheimlichen purpurnen Leuchten schien in keinem der Zimmer Licht zu brennen. An einer Ecke erhob sich ein steinerner Turm, der wie ein Anbau aus jüngerer Zeit wirkte, gekrönt von einer kompliziert aussehenden Metallapparatur, deren Zweck sich Jace nicht erschließen wollte. Sie sah aus wie etwas, was ein Elektromagier der Izzet hätte bauen können, ehe man ihn fortschaffte, um ihn einer strengen Überprüfung seiner geistigen Gesundheit zu unterziehen.

Kaum hatte er eine kurze Steintreppe hinauf zum Eingang erklommen, schwang die Tür auf und gab den Blick auf einen dunklen Hausflur frei. Er blieb auf der Schwelle stehen.

„Darf ich reinkommen?“, fragte er.

Ein weiterer Zombie trat hinter der Tür hervor. Dieser trug eine Art makabrer Parodie einer Dienstbotenuniform und bedeutete Jace, ihm zu folgen. Nun gut.

Jace schlug die Kapuze zurück und folgte seinem neuen Führer, überrascht von der Feststellung, dass selbiger etwas muffig, aber nicht verwest roch. Das musste irgendein Zauber sein, um das Gesinde frisch zu halten. Sein Führer geleitete ihn in einen großen, von Mondlicht und Zauberei erhellten Raum, in dem ein halbes Dutzend Zombies umherschlurfte.

Und dort, locker in einen Sessel gefläzt, der schon eher die Bezeichnung „Thron“ verdient hatte, wartete Liliana Vess. Sie schlug einen großen, in Leder gebundenen Folianten zu, in dem sie gerade gelesen hatte, und gab ihn an einen ihrer untoten Diener weiter.

„Hallo, Jace“, sagte sie. Sie musterte ihn von oben bis unten, unverhohlene Abschätzigkeit im Blick. „Hübscher Mantel.“

Sie stand auf und ging mit der trägen Geschmeidigkeit einer Katze auf ihn zu. Sie blieb stehen, als sie ein winziges Stückchen zu dicht an ihn herangekommen war. Sie schaute ihn aus ihren uralten violetten Augen an und studierte sein Gesicht Detail für Detail. Ihm fiel ein, dass sie sich sehr genau darüber im Klaren sein musste, wie sich seine Muskeln unter der Haut bewegten.

Diesmal sah er ihr in die Augen, trotz der Erinnerungen, die dies in ihm weckte.

Sie fasste nach seinem Gesicht ... und schnippte ihm gegen die Nasenspitze.

„Au! Was –“

„Ich wollte mich nur vergewissern, dass du auch persönlich erschienen bist“, sagte sie.

„Nur dass du es weißt: Ich kann feste Illusionen erschaffen“, sagte Jace und rieb sich die Nase.

„Das schon. Doch ich bezweifle, dass du sie so überzeugend winseln lassen kannst.“

„Ich hatte auf einen herzlicheren Empfang gehofft“, sagte Jace. „Du hast da einige sehr unfreundliche Nachbarn.“

„Ich habe davon gehört“, sagte sie. „Es gibt Schlimmeres dort draußen als Werwölfe.“

„Wie etwa Vampire?“

„Engel“, sagte sie voller Abscheu.

Jace verdrehte die Augen.

„Deine Haltung zu diesem Thema ist bestens dokumentiert“, sagte er. „Ich hingegen wäre dankbar für ein wenig Unterstützung dort draußen seitens eines Engels.“

„Das ist nicht, was...“, sagte Liliana, ehe sie sich selbst unterbrach. „Tja. Ich schätze, es ist deine Sache, wem du vertraust. Aber einem Engel würde ich an deiner Stelle nicht vertrauen.“

„Ich pflege niemandem zu vertrauen“, sagte Jace. „Und nichts, was bisher geschah, hätte mich von dieser Haltung abbringen können.“

„Kluger Junge“, sagte sie. „Möchtest du etwas trinken?“

Liliana ging zurück zu ihrem Thron und setzte sich, während ein Zombie mit einer Flasche heranschlurfte, in der ... etwas ... schwappte.

„Danke, aber ich verzichte“, sagte er.

Liliana goss sich ein Glas ein und nippte daran.

„Nun also“, meinte sie. „Das ist eine Premiere. Was verschafft mir die Ehre?“

„Ich ...“ Jace wog seinen Stolz gegen seine praktischeren Überlegungen ab und gelangte endlich zu einer Entscheidung. „Ich bin hier, um mich zu entschuldigen.“

Liliana hob in gespielter Neugier eine Augenbraue. „Tatsächlich? Wofür denn bloß?“

„Dafür, dass ich Ravnica verließ, obwohl ... die Dinge zwischen uns nicht geklärt waren.“

„Dafür, dass du mich im Stich gelassen hast, meinst du wohl“, sagte sie mit einem grausamen Lächeln. „Um dich dann zusammen mit diesem wandelnden anatomischen Schaubild in irgendeine Hinterwäldlerwelt aufzumachen.“

Sie sprach von Gideon. Jace unterdrückte ein Lachen.

„Ich bezweifle, dass er das als Kompliment auffassen würde.“

„Das ist es aber!“, sagte sie. „Er wird den perfekten Leichnam abgeben, solange er sich nur Zeit zum Sterben nimmt, bevor alles an ihm schlaff wird.“

„Auch das würde er keinen Fall als Kompliment auffassen“, sagte Jace. Sie musste es immer übertreiben.

„Dann bereust du es also, mit ihm gegangen zu sein?“, fragte Liliana.

„Oh, so würde ich das nicht sagen“, antwortete Jace. „Wir haben gute Arbeit geleistet. Wir haben sogar tatsächlich diese ganze Welt gerettet. Mit der Hilfe zweier anderer Planeswalker.“

Er lächelte.

„Stell dir vor: Wir haben einen Eid geschworen, dass wir ... so was auch in Zukunft machen. Uns Bedrohungen für alle Welten entgegenzustellen.“

„Wie reizend“, sagte Liliana. „Höchst heldenhaft. Und ... was kommt jetzt? Bis du hier, weil du fragen möchtest, ob ich mich deiner kleinen Gesellschaft da anschließen will?“

„Nein“, sagte Jace. „Dazu kenne ich dich zu gut.“

Liliana wartete ab. Auch sie kannte ihn nur allzu gut.

„Ich habe natürlich darüber nachgedacht“, sagte er mit einem Achselzucken. „Du könntest ein paar Freunde gebrauchen, die auf dich achtgeben. Aber ich wusste, dass du dich nicht darauf einlassen würdest.“

„All das schert mich nicht“, sagte Liliana. „Weder deine Freunde noch eure Eide.“

„Das hatte ich auch nicht anders erwartet“, sagte Jace.

Liliana seufzte.

„Jace, ich weiß, dass du nicht hier bist, um mich anzuwerben“, sagte sie. „Du bist nicht hier, um mir zu helfen. Du bist nicht hier, um dich zu entschuldigen.“

„Wie kommst du darauf?“, fragte er und fügte dann hinzu: „Ich habe mich entschuldigt.“

„Du hast es doch selbst gesagt“, fuhr sie fort. „Ich habe dich verraten. Ich habe Garruk verflucht. Ich habe immer noch den Kettenschleier. Ich war dir nie freundlich gesinnt. Nicht wirklich. Und weißt du: Ich hatte auch nie um deine Hilfe gebeten. Hat sich daran auch nur irgendetwas geändert?“

„Nein.“

„Was bedeutet, dass du in Wahrheit hier bist, weil du etwas brauchst. Du weißt, dass ich in gewissen Nöten stecke, und du glaubst, wir könnten eine Abmachung treffen.“

Sie wartete lange genug, bis er ein „Ich ...“ hervorbrachte. Dann schnitt sie ihm das Wort ab.

„Beweise mir das Gegenteil“, sagte sie. Sie stand auf und reckte stolz das Kinn. „Ich verzichte auf deine freimütig gewährte Hilfe, Jace Beleren. Falls du hier bist, um mir ohne Gegenleistung helfen zu wollen, dann dreh dich um und verschwinde durch diese Tür.“

Jace sagte nichts. Selbst wenn es nur ein Bluff war, konnte er es sich nicht leisten, es darauf ankommen zu lassen.

„In Ordnung dann“, sagte Liliana und drapierte sich wieder auf ihrem Thron. „Da wir nun beide wissen, wie viel uns unsere persönliche Geschichte bedeutet ... Was kann ich für dich tun, mein Lieber?“

Sie lächelte, raubtierhaft und verlockend. Sie konnte recht großmütig sein, solange sie die Lage vollständig beherrschte.

„Nur aus reiner Neugier“, sagte Jace. „Hättest du mich wirklich rausgeworfen, wenn ich nur hier wäre, um dir zu helfen?“

„Eine faszinierende Frage“, sagte Liliana. „Vielleicht findest du bei Gelegenheit einmal die Antwort darauf heraus.“

Sie nippte an ihrem Glas und wartete.

„Ich bin auf der Suche nach Sorin Markov“, sagte Jace.

Lilianas Gesicht verriet echte Überraschung. Jace erlaubte sich ein klein wenig Freude darüber.

„Jace, weißt du, was du da verlangst?“, fragte sie. „Weißt du, wer er ist? Was er ist?“

„Ich weiß, dass er ein Vampir ist. Der sogenannte Fürst von Innistrad“, antwortete Jace. „Ich weiß, dass er uralt und mehr als nur ein bisschen zwielichtig ist, und ich weiß, dass er gerade in Schwierigkeiten ist oder Schwierigkeiten verursacht. So oder so muss ich ihn finden.“

„Warum?“, wollte Liliana wissen.

„Vor Tausenden von Jahren...“

Liliana stöhnte auf.

„Dann also die Kurzfassung. Drei Planeswalker arbeiteten zusammen, um außerweltliche, alles verschlingende Ungeheuer, die man die Eldrazi nennt, auf Zendikar einzusperren. Sorin war einer dieser drei Planeswalker.“

„Tatsächlich?“, sagte Liliana. „Das klingt überhaupt nicht nach ihm.“

„Meine Quelle – einer von Sorins alten Verbündeten – meinte, er hätte es aus einem Anflug von ‚edelsinnigem Eigennutz‘ oder so etwas in der Art getan. Er wusste, dass die Eldrazi sich irgendwann auch ihren Weg nach Innistrad bahnen konnten, weshalb er sich auf ein gemeinsames Unterfangen einließ, sie woanders einzusperren.“

„Und dann ... hast du sie befreit“, sagte sie lächelnd. „Oder trügt mich da meine Erinnerung?“

Er wünschte sich, sie würde sich nicht so köstlich darüber amüsieren.

„Nein“, sagte Jace. „Unter Manipulation und Zwang befreiten zwei andere Planeswalker und ich die Titanen der Eldrazi unabsichtlich aus ihrem Gefängnis. Sorin tauchte kurz auf und verschwand dann wieder, nachdem er versucht hatte, eine Art Sicherheitsvorkehrung zu benutzen, die sie eingesperrt hätte halten sollen. Er hätte sich eigentlich mit einem seiner Verbündeten – meiner Quelle – wieder auf Zendikar treffen sollen, aber er hat sich dort nicht wieder blicken lassen.“

„Das hört sich schon eher nach ihm an“, sagte Liliana.

„Natürlich gibt es jetzt ja auch keine Veranlassung mehr für ihn, nach Zendikar zu gehen“, fuhr Jace fort. „Doch der Planeswalker, mit dem ich zusammengearbeitet hatte, spricht nicht mehr mit mir, und sowohl Sorin als auch das dritte Mitglied des Trios gelten als vermisst. Ich mache mir Sorgen, dass sie das Interesse eines gewissen Drachenplaneswalkers auf sich gezogen haben könnten ... aber davon weißt du wohl selbstverständlich nichts, oder?“

„Ich habe es dir doch schon gesagt: Ich arbeite nicht mehr für ihn.“

„Du hast viele tolle Eigenschaften, Liliana, aber schonungslose Offenheit fällt nicht darunter.“

„Jace“, sagte Liliana. „Hör mir gut zu. Sorin wird dir nicht helfen. Hältst du mich für selbstsüchtig? Hältst du mich für grausam? Sorin hatte Tausende von Jahren, um sich an die Vorstellung zu gewöhnen, dass Menschen nur Vieh sind und das Leben Sterblicher nicht das Geringste zählt.“

„Du kennst ihn?“

„Ich bin ihm schon begegnet“, sagte Liliana. „Einmal. Kurz nach meiner allerersten Ankunft in Innistrad. Er suchte mich auf, stellte mein Können in der Schlacht auf die Probe und ließ mich wissen, dass ich zu schwach wäre, um eine Bedrohung für ihn darzustellen. Danach erzählte er mir, dass Innistrad ihm gehört und ich mich besser als gesitteter Gast erweisen sollte – ansonsten würde er mich finden und mich umbringen.“

„Herzallerliebst“, sagte Jace. „Wann war das?“

„Vor langer Zeit“, sagte Liliana. „Und ja, diese Art von Zusammenstößen war damals noch wesentlich häufiger. Ich sehe allerdings keinen Grund, weshalb er sich geändert haben sollte. Sorin hat nicht mehr Anlass, dir gegenüber freundlich aufzutreten, als dieser andere Planeswalker, mit dem du geredet hast, und seine Vorstellung von Schweigsamkeit könnte sein, dass er dich einfach umbringt. Geh nicht.“

„Das kommt leider nicht infrage“, sagte Jace.

„Er ist uralt, er ist skrupellos und er ist mächtig. Du hast dich da etwas übernommen.“

Ich habe mich übernommen?“, fragte Jace. „Du hast gut reden.“

„Ja“, sagte Liliana. Ihre Stimme barg keinerlei Heiterkeit mehr. „Ja, das habe ich. Und ich sage dir: Geh nicht. Er wird dir nicht helfen, und keine noch so schlaue List kann dich davor bewahren, von einem jahrtausendealten Vampir getötet zu werden.“

„Wenn ich es nicht besser wüsste“, meinte Jace, „würde ich meinen, du bist um mein Wohlergehen besorgt.“

„Dreh dir das nicht so hin, als ginge es hier um uns!“, sagte sie. „Du wärst nicht hier, wenn du mir nicht etwas anzubieten hättest. Ich würde gern herauszufinden, was das ist, bevor du losgehst, um dich in Sorins Schwert zu stürzen, wenn es dir nichts ausmacht.“

„Wenn du so besorgt um mich bist, dann komm doch einfach mit. Vielleicht kannst du uns einander vorstellen.“

„Was?“, sagte sie. „Nein. Ich sagte es doch bereits: Ich habe meine eigenen Schwierigkeiten und meine eigenen Lösungen dafür. Und es kümmert mich nicht, wie viel Hilfe du mir im Gegenzug glaubst angedeihen lassen zu können: Nichts davon bringt mir etwas, wenn Sorin uns beide tötet. Sofern wir ihn denn überhaupt finden, wo die Straßen dort draußen doch in noch schlechterem Zustand sind als je zuvor. Ich gehe nirgendwohin.“

„Also schön“, sagte Jace. „Ich hatte gehofft, du könntest mir helfen, aber ich schätze, ich werde wohl der einzigen Spur folgen müssen, die ich habe. Zum Anwesen der Markovs geht es da lang, richtig?“

Er deutete in die Richtung, von der er ziemlich sicher war, dass es sich bei ihr um die richtige handelte.

„Das Anwesen der Markovs?“, sagte sie. Sie verdrehte die Augen, packte sein Handgelenk und bewegte es mehrere Fingerbreit zur Seite. „Jace, das ist ja noch schlimmer!“

„Es ist der Sitz seiner Familie, oder etwa nicht? Sollte seine Familie denn nicht wissen, wo er abgeblieben ist?“

„Weißt du denn überhaupt irgendetwas über Innistrad?“, blaffte Liliana. „Oder hast du einfach nur ‚Anwesen der Markovs‘ auf einer Karte gesehen und dir gedacht: ‚Oh, gut – dort wird man mich ja wohl unmöglich brutal ermorden!‘?“

„Ich habe hier und da ein paar Gedanken gelesen, aber sie stammten von niemandem, der besonders viel wusste“, sagte er. „Warum? Was ist mir denn entgangen?“

„Sorin wird von seinesgleichen geächtet“, sagte sie. „Er ist schon seit mindestens hundert Jahren nicht mehr auf dem Anwesen der Markovs willkommen. Möglicherweise sogar noch länger. Wenn du dort auftauchst und nach ihm fragst, töten sie dich oder tun dir noch Schlimmeres an.“

„Mag sein“, sagte Jace, „aber wenn du mir nicht helfen willst, habe ich kaum eine andere Wahl. Das Anwesen der Markovs ist die beste Spur, die ich habe.“

Liliana setzte sich wieder auf ihren Sessel. Ihre Miene wurde hart, und ihre Augen begannen, purpurn zu glühen.

„Was –“

Ihre Zombiediener wankten nach vorn. Jaces Herz pochte ihm heftig gegen die Rippen.

„Lili, was machst du da?“

Die Zombies kamen weiter auf ihn zu.

„Ich unterstreiche meinen Standpunkt“, sagte sie.

Zu nah. Sie waren ihm zu nah.

Jace sprach einen raschen Unsichtbarkeitszauber, doch die Zombies stolperten weiterhin in seine Richtung. Die Hälfte von ihnen hatte ohnehin keine Augen.

Eine kalte Hand legte sich ihm wie eine Klammer um den Arm.

Er bündelte seine Gedanken, und sein Körper sonderte eine wahre Wolke von illusionären Duplikaten ab. Ein halbes Dutzend Jaces wirkten Sprüche oder hasteten auf das Fenster zu oder unternahmen einen Sturmangriff auf Liliana.

Die Zombies achteten nicht auf sie. Schon spürte er überall zupackende Hände und die Zombiehorde drängte ihn gegen die Wand – klammer Stein, eisiges Fleisch. Finger schlossen sich um seine Arme, seine Beine, seine Kehle. Schlafzauber, illusionäre Fesseln: Für das eine waren die Zombies unempfänglich, für das andere gab es schlichtweg zu viele von ihnen. Jace war hilflos.

Sie würde ihm nicht wirklich wehtun. Zumindest nicht, solange er ihr keinen triftigen Grund dafür bot.

„Lili“, brachte er gequetscht hervor. „Gegen die Toten bin ich zu nichts zu gebrauchen, aber gegen eine ... Nekromagierin kann ich bestehen. Wenn das ein echter Kampf wäre, hätte ich schon längst deinen Verstand benebelt.“

Die Zombiehorde hielt inne, ohne ihn aus ihrem Griff zu entlassen.

„Vielleicht“, sagte sie, erhob sich und ging auf ihn zu. „Aber selbstredend würden sie dich in Fetzen reißen, wenn sie nicht unter meiner Kontrolle stünden. Das wäre zwar nur ein schwacher Trost für mich ... aber ich gehe einmal davon aus, dass für dich dasselbe gilt.“

„Worauf willst du hinaus?“

Sie baute sich vor ihm auf, und die Zombies machten Platz, damit sie auf ihn herabschauen konnte.

„Diese Welt ist gefährlich“, sagte sie. „Insbesondere für dich. Und du wirst keinen uralten Planeswalker besiegen, dessen Geist du nicht berühren kannst – oder willst.“

In diesem Augenblick wirkte sie höchst fremdartig auf ihn, gebadet in Mondlicht und nekromagische Macht. Manchmal vergaß er, wie alt sie war – mindestens ein Jahrhundert älter als er, ein Relikt aus einer Zeit, als die Planeswalker zugleich mehr und doch weniger gewesen waren als Menschen. Und Sorin war noch weitaus älter.

„Das ist eine Sackgasse“, sagte sie. „Geh nach Hause, Jace. Ich bin sicher, du hast Formulare abzulegen.“

Untote Hände gaben ihn frei. Er richtete sich auf und rieb sich die Kehle. Er verspürte das plötzliche Bedürfnis, ein Bad zu nehmen.

„Es tut mir leid, dich belästigt zu haben“, krächzte er. „Ich mache mich dann mal allein zum Anwesen der Markovs auf.“

Er wandte sich zur Tür.

„Bei den neun Höllen! Du bist ein leichtsinniger Narr!“

Er drehte sich wieder zu ihr um.

„Natürlich bin ich das“, sagte er. „So bin ich doch überhaupt erst an dich geraten. Ich bin dann mal weg.“

Er wandte sich erneut zum Gehen, wobei er versuchte, nicht an Mondlicht und blutige Schnauzen und Lilianas Augen und die Tatsache zu denken, dass er sowohl sein Pferd als auch seinen Führer eingebüßt hatte.

„Sei kein Narr“, sagte sie. „Du kannst morgen früh aufbrechen.“

„Im Ernst?“, fragte er ungläubig. „Nach dieser grandiosen Zurschaustellung wechselseitiger Gleichgültigkeit bittest du mich, die Nacht bei dir zu verbringen?“

Sie ging auf ihn zu und lehnte sich so dicht heran, dass ihre Lippen fast sein Ohr berührten. Es schnürte ihm die Kehle zu.

„Gleichgültigkeit“, wisperte sie, „beschleunigt weder den Puls noch lässt sie einen erröten.“

Er spürte die Wärme ihres Körpers, doch ihr Atem auf seiner Wange war kalt wie Eis. Die Kühle verweilte noch einen Augenblick, als sie sich von ihm löste. Ein vorübergehender Drang floh zurück in die Schatten, wo er hingehörte.

„Bilde dir bitte nicht zu viel auf dich ein“, sagte sie laut. „Ich habe ein Gästezimmer.“

„Ah.“

„Im Keller“, meinte sie. „Um ehrlich zu sein, ist es mehr ein Kerker.“

„Entzückend“, sagte er.

Sie drehte sich um und ging davon.

„Die Diener werden dir dein Zimmer zeigen“, sagte sie. „Gute Nacht, Jace.“

Sie wandte sich im Mondlicht um und schaute aus einer Entfernung zurück zu ihm, die wesentlich größer schien, als sie es tatsächlich war.

„Bis zum Morgen“, sagte sie mit fester Stimme. „Danach bist du auf dich allein gestellt.“

„Ich weiß“, sagte er.

Er zögerte, da er noch etwas hinzufügen wollte, doch er war sich nicht sicher, was. Liliana trat aus dem Strahl Mondlicht heraus und verschwand in der Dunkelheit.


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Planeswalker-Profil: Jace Beleren

Planeswalker-Profil: Liliana Vess

Planeswalker-Profil: Sorin Markov

Weltenbeschreibung: Innistrad