HUATLI

Bild von Yeong-Hao Han
Bild von Yeong-Hao Han

Die Immerwährende Sonne verschwand unter ihren Füßen, und Huatli, Tishana, Vona und Angrath stürzten durch das Loch im Boden in die leere Kammer darunter.

Huatli stöhnte und setzte sich auf. Sie fühlte sich zerschlagen und wund und dennoch irgendwie ... leichter. Sie schaute zu Angrath, der verdutzt blinzelte. Beide sahen nach oben. Dort, wo die Immerwährende Sonne gewesen war, war nun nur noch ein Loch in der Decke.

Angrath lachte herzlich auf. Er stand auf und funkelte jeden im Raum an.

„ICH HASSE DIESE WELT, ICH HASSE DIESE STADT, UND ICH WÜNSCHE EUCH ALLEN EINEN GRAUSAMEN, QUALVOLLEN TOD!“ Sein Körper leuchtete in einem warmen, strahlenden Orange auf, und er rief: „AUF NIMMERWIEDERSEHEN, IHR ERBÄRMLICHEN NARREN!“, bevor er die Welt verließ.

Tishana starrte auf die Stelle, an der er gerade noch gestanden hatte. Sie blickte Huatli verwirrt und beunruhigt an. „Er ist weg“, sagte sie verblüfft.

Huatli nickte schwach. „Und ebenso die Sonne“, sagte sie flach. Sowohl die Immerwährende Sonne als auch die Barriere. Vielleicht gab es doch einen Zusammenhang zwischen beidem.

„NEIN!“, schrie Vona das Loch in der Decke an. Sie fauchte vor Wut und stampfte mit dem Fuß auf den Boden auf. „Wo ist sie hin?! Wer von euch hat sie weggenommen?!“

„Was ist geschehen?!“, rief der Hieromagier schwach aus dem Raum über ihnen. „Ich kann nichts sehen.“

„SIE IST WEG, MARVEN!“, rief Vona mit gequälter Stimme hinauf. „Die Immerwährende Sonne ist weg!“

Ein weit entferntes, schockiertes Keuchen. Ein sehr weit entferntes „Neeeeiiin“. Huatli war zu erschöpft, um darüber zu lachen, wie kindisch es klang. Breeches und die Sirene Malcolm spähten durch das Loch nach unten.

„WO IST SONNE?!“, schrie Breeches.

„Sie ist weg, Goblin!“, rief Tishana.

„Was machen wir denn jetzt?“, fragte Malcolm Breeches leise.

„Weglaufen?“, schlug Letzterer leise vor.

Malcolm nickte. „Klingt vernünftig.“

„WEGLAUFEN!“, kreischte der Goblin und kletterte auf Malcolms Kopf. Die Sirene zögerte einen Augenblick, und ihr Kopf neigte sich kurz, als lauschte sie auf etwas.

„WEGLAUFEN?“, wiederholte Breeches.

Malcolm schüttelte ab, was ihn da überkommen hatte, breitete die Flügel aus und machte sich davon. Huatli half Tishana auf die Beine. Die beiden sahen sich in der Kammer um. Ein zerfleddertes Nest aus trockenen Blättern und Gras war in einer Ecke aufgetürmt worden: eine Schlafstätte für irgendeine riesige Kreatur, von der der gleiche modrige Geruch ausging, der den Rest von Orazca durchzog. Eine wuchtige Tür öffnete sich nach draußen, durch die Licht in einen Raum fiel, der seit Jahrhunderten dunkel gewesen war.

Tishana machte eine Handbewegung, und Huatli hörte einen dumpfen Aufschlag, gefolgt von einem schmerzerfüllten Stöhnen aus dem Raum über ihnen. Augenblicke später kletterte Mavren Fein durch das Loch in der Decke und begab sich an Vonas Seite.

Ein Schatten erschien an der Tür, von der sinkenden Sonne eingerahmt.

„Ist sie fort, Kinder der Nacht?“, fragte der Schatten.

Huatli wusste sofort, um wen es sich handelte, und spürte, dass es den anderen ebenso erging, denn Tishana ballte die Fäuste zur gleichen Zeit, wie Vona und Mavren Fein auf die Knie sanken.

Sankt Elenda näherte sich schweigend. Ihre goldenen Augen blickten leer auf das Loch in der Decke, wo einst die Immerwährende Sonne gewesen war. Sie sah auf Vona herab, die vor einem Gefühl erzitterte, das Huatli nicht ganz zu deuten wusste. Erstaunen? Schuld? Oder eine Mischung aus beidem?

„Hat das Untier sie wieder mitgenommen?“, fragte Elenda.

Vona schaute auf. Ihre Miene war die eines verwirrten Kindes. „Sankt Elenda, ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht“, stotterte sie.

„Das azurne Untier“, erklärte Elenda barsch. „Hat es die Immerwährende Sonne mitgenommen?“

„Sie ist unter unseren Füßen verschwunden“, sagte Huatli laut und wurde sich plötzlich bewusst, dass alle vier sie anstarrten. „Aber ich habe vor nicht allzu langer Zeit etwas Großes davonfliegen sehen.“

Sankt Elenda sann einen Augenblick schweigend darüber nach. „Sie ist also für immer fort.“ Sie sah nach oben und nickte. „Ich verstehe.“

Sie wandte sich um und begann, zurück auf die Tür zuzugehen. Mavren Fein rappelte sich auf. „Sankt Elenda, wartet! Ihr müsst sie zurückholen! Wir müssen die Immerwährende Sonne bergen!“

Elenda lächelte sanft und schüttelte den Kopf. „Nein, mein Kind. Wir sind frei. Sie ist für immer fort. Spürst du nicht die Veränderung in der Stadt?“

„Die Macht, die hier gebunden war, ist frei“, sagte Tishana. „Orazcas Magie wurde aufgezehrt, solange die Immerwährende Sonne hier war. Doch nun fließt sie so ungehemmt wie meine Namensvettern.“

Vona erhob sich aus ihrer knieenden Position, als stünde plötzlich der Boden in Flammen. Binnen eines Wimpernschlags überwand sie die Entfernung zwischen sich und Elenda und fing zu kreischen an. „Wie lang? Wie lang wart Ihr hier? Wie lang? WIE LANG?“

Elenda verzog keine Miene. „Meine Reise endete vor Jahrhunderten, als ich diesen Ort fand.“

Vor Wut bebend fasste Vona sich lange genug, um zu fragen: „Warum? Warum habt Ihr unser Volk verraten? Warum habt Ihr uns wahre Unsterblichkeit verwehrt?“

„Es war nie mein Ziel gewesen, wahre Unsterblichkeit zu finden, mein Kind. Du hast vergessen, wer wir waren. Wer wir sind. Warum ich nach Torrezon zurückkehrte, um vor so langer Zeit das große Geschenk zu überreichen. Es war die Aufgabe unseres Ordens, die Immerwährende Sonne zu bewahren, und nicht, sie einzusetzen. Diese dunkle Macht, die wir uns aufluden, all die Schrecken, die wir entfesselten – all das sollte uns die Kraft verleihen, die Immerwährende Sonne zu finden und sie vor jenen wie Pedron dem Verderbten und solchen, die ihre Macht nur für ihre eigenen, eigennützigen Zwecke missbrauchen wollten, zu schützen. Unsere Demut und unsere Achtung vor Mächten, die stärker sind als wir selbst, erleuchten den Weg zu unserer Erlösung, nicht die Immerwährende Sonne. Als ich diesen Ort endlich gefunden hatte, wusste ich ohne jeden Zweifel, dass ich ihn nicht anrühren durfte. Hier war die Immerwährende Sonne so viel sicherer, als sie es in Torrezon jemals hätte sein können. Endlich kannte ich den Sinn meines Opfers: Ich sollte meine Macht nutzen, um hier Wache zu halten. Daher schloss ich mich ein, wartete, dass andere unseres Ordens diesen Ort finden, auf dass ich ihnen den Weg zeigen konnte ... Auf dass ich endlich frei sein konnte.“

„Das ist nicht wahr“, sagte Vona. „Das kann nicht wahr sein.“

Mavren Fein ließ beschämt und verwirrt den Kopf hängen.

Elenda sprach erneut. „Ich suchte in den Tiefen meiner Hingabe und fand Erleuchtung in meinem Opfer. Was habt ihr gefunden? Was ist aus meinem Volk geworden?“

„Wir haben Torrezon erobert“, spie Vona aus. „Wir haben Euch zu Ehren ein Imperium errichtet!“

„Imperien sind nur von kurzer Dauer. Als Unsterbliche solltest du das wissen, Kind“, sagte Elenda und starrte Vona von oben herab an.

„Sankt Elenda“, sagte Huatli. „Bitte kehrt nach Torrezon zurück und lasst Ixalan in Frieden. Euer Volk hat nicht verstanden, was Ihr es lehren wolltet, uns es hat in Eurer Abwesenheit die Erinnerung an Euch beschmutzt. Ihr müsst es sein, die Eure Geschichte erzählt. Nicht sie.“

Elenda näherte sich Huatli. Huatli konnte nicht anders, als sich angesichts der Gegenwart dieses uralten Geschöpfs klein zu fühlen. „Du bist weise Huatli, Poetin des Krieges, und vor dir liegt eine Zukunft, in der du Welten fernab deiner eigenen dienen wirst. Möge dein Pfad gesegnet sein.“

Mavren Fein weinte unverhohlen, als er sich endlich aufrappelte. „Bring mich zu Königin Miralda“, sagte Elenda knapp.

„Bringt Euch doch selbst zu ihr!“, zischte Vona. „Ihr seid keine Heilige –“

Vonas Einwand wurde von einem raschen Schnitt in die Wange durch Mavren Fein unterbrochen. Sie fauchte vor Schmerz und durchbohrte ihn mit Blicken. Mavren zog seine Waffe. „Sprich nicht schlecht von einer Heiligen!“, warnte er.

Vona fuhr zu ihm herum. „Ich spreche schlecht, von wem es mir gefällt!“

Sie funkelte nun Elenda an, die endlich die Geduld verloren zu haben schien. Elenda schnippte verärgert mit den Fingern, und Vonas Knie gaben nach. Ihr Gesicht prallte – scheinbar aus eigenem Antrieb – auf dem Boden auf. Sie knurrte, als sie gegen die goldenen Bodenplatte gedrückt wurde.

„Du wirst mich zu Königin Miralda bringen“, befahl Elenda mit furchterregender Stimme.

Vona richtete sich langsam auf. Ihr Körper gehörte nun wieder ihr, und sie wischte sich über die Wunde auf ihrer Wange. Sie und Mavren Fein schritten beschämt auf die Tür zu, und die drei Vampire traten aus den Raum ins Licht.

Huatli atmete langsam und zitternd aus.

Es war still in der Kammer, und Tishanas Augen waren geschlossen. Das Meervolk öffnete sie, und ein Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus.

„Orazca wurde gefunden“, sagte sie, „und es herrschte Frieden auf Ixalan.“

Huatli sah zur Decke hoch. „Was bedeutet das, nun da die Immerwährende Sonne fort ist?“

„Es bedeutet, dass die Stadt frei ist. Es liegt alte Magie in ihren Mauern, Magie, die das Imperium der Sonne in jeden Stein und in jede Platte gewoben hat. Dies ist noch immer ein Ort der Macht.“

Huatli nickte, und ihre Gedanken rasten. Sie erinnerte sich an die Geschichten über alte Imperatoren, Eroberungen und Schlachten und daran, wie grausam die Flussherolde immer gezeichnet worden waren. Nun kannte sie Tishana. Sie wusste, dass man sich ihrer nicht auf diese Weise erinnern würde, wenn sie es gewesen wären, die ihre eigenen Geschichten erzählt hatten.

„Orazca gehört niemandem“, sagte Huatli. „Der Anspruch des Imperiums der Sonne ist alt, aber er spiegelt nicht die wahren Besitzverhältnisse wider. Die Stadt sollte für alle sein.“

Tishana sah Huatli ernst an. „Glaubst du das wirklich?“

„... Ja. Ich werde nach Pachatupa zurückkehren und genau dies dem Imperator vorschlagen. Er wird mir zuhören, wenn ich ihm sage, dass die Flussherolde zu Verhandlungen bereit sind.“ Huatli blickte Tishana wissend an. „Seid ihr das?“

Tishanas Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. Nach einem langen Atemzug nickte sie. „Ja. Die Flussherolde sind dazu bereit.“

Huatli senkte das Haupt. „Danke, Älteste Tishana. Ich bin sicher, dass wir einander wiedersehen werden.“

„Das werden wir, Poetin des Krieges. Hilf anderen, ihre Geschichten zu erzählen.“

„Das werde ich. Auf Wiedersehen, meine Freundin.“

Ihre Hände berührten sich zum Abschied, und Huatli wandte sich zum Gehen. Im Laufen stahl sich ein Gedanke in ihren Verstand. Huatli ging zu einer der Mauern und legte die Hand auf die Oberfläche – neugierig und unsicher ... Wird das klappen?

Sie griff nach den Linien der Macht in der Stadt und sandte einen Ruf aus.

Das dreifache Brüllen einer Dinosaurierältesten drang ihr in die Ohren, und Huatli lächelte.


Von Huatlis Aussichtspunkt aus sah Pachatupa unfassbar klein aus.

Die Heimreise hatte dank der großen Schritte ihres neuen Reittiers erfreulich wenig Zeit in Anspruch genommen, und obwohl sie sich wegen des Absteigens aus solch größer Höhe sorgte, war Huatli froh, einen Beweis von Orazcas Erwachen mitgebracht zu haben – in Gestalt einer Dinosaurierältesten.

Huatli ließ Zacama anhalten und bat den Dinosaurier höflich, sie abzusetzen. Zacama war nicht im eigentlichen Sinne vernunftbegabt, doch sie war sich irgendwie bewusst, dass sie einen Namen hatte, den sie Huatli über ihre magische Verbindung mitteilen konnte. Zacama zu befehligen, war anders, als Huatli es von jedem anderen Reittier gewohnt war, das sie je gelenkt hatte. Es war mehr, als würde man einen ganzen Fluss leiten, als nur ein Boot zu steuern, aber Huatli hatte sich nach einigen kleineren Fehlversuchen daran gewöhnt.

Nun blickte sie auf ihre Heimatstadt hinunter, verzaubert von ihrer vergleichsweisen Winzigkeit. Die ganze Stadt sah aus wie das Spielzeugdorf eines Kindes und nicht wie die Metropole, die sie war. Eine Menschenmenge hatte sich auf dem Platz vor dem Tempel der Brennenden Sonne versammelt und schaute erstaunt zu, wie Huatli vom rechten Kopf Zacamas zu Boden gelassen wurde.

Huatlis Absteigen war alles andere als anmutig, und als sie endlich den Boden erreicht hatte, wartete Imperator Apatzec bereits.

Er schnaubte, als Huatli Zacama entließ und die Erde unter jedem Schritt des gewaltigen Dinosauriers erbebte.

„Ich nehme an, du hast Orazca gefunden?“, fragte er zaghaft.

Huatli lächelte. „Das habe ich. Treffen wir uns doch in einem Augenblick im Tempel, Imperator“, sagte sie und suchte nach Intis Gesicht in der Menge.

Imperator Apatzec nickte und begann, die Stufen des Tempels wieder hinaufzusteigen. Seine argwöhnischen Blicke galten noch immer Zacamas kleiner werdenden Köpfen über den Baumwipfeln in der Ferne.

Inti stand bei seiner Mutter und seinem Vater, und sie alle schauten Huatli mit mehr Begeisterung an, als sie jemals im Gesicht irgendeines Menschen gesehen hatte.

Sie alle schlossen Huatli stürmisch in die Arme, und sie lachte, als mehr und mehr Verwandte sich einen Weg durch die Menge bahnten, um ihr gratulierend auf den Rücken zu klopfen oder sie ernsthaft zu umarmen.

Sie drangen mit unzähligen Fragen und aufgeregten Glückwünschen auf sie ein, und Huatli errötete ob all der Zuwendung. Trotz einer lebenslangen Vorbereitung darauf, in der Öffentlichkeit zu stehen, war ihre Heimkehr reichlich überwältigend. Irgendwann fand sie schließlich Inti wieder.

„Ich muss mit dem Imperator sprechen“, sagte sie.

Ihr Vetter warf ihr einen todernsten Blick zu. „Du bist auf einer dreiköpfigen Dinosaurierältesten zurückgekehrt. Er soll bloß zusehen, dass er dir diesen Titel gibt! Geh nicht wieder fort, bevor dieser Helm nicht auf deinem Kopf sitzt, Poetin des Krieges!“

Huatlis Mut sank. Sie hatte ihren Titel ganz vergessen.

Inti drehte sie an den Schultern herum und schob sie die Treppe hinauf, während er die Faust gen Himmel reckte. „Du schaffst das! Geh und erzähl dem Imperator, was für eine Heldin du bist!“

Huatli lächelte und machte sich auf den Weg zum Tempel der Brennenden Sonne.

Als sie die oberste Stufe erreicht hatte, wartete eine kleine Gruppe Wachen, um sie zur Residenz des Imperators zu begleiten. Die Formalität war enervierend, und Huatli folgte ihrer Eskorte dichtauf. Plötzlich war sie sich unsicher, wie der Imperator wohl reagieren würde. Was, wenn ihm nicht gefiel, was sie zu sagen hatte? Huatli wischte den Gedanken beiseite. Es war nicht wichtig, ob es ihm gefiel oder nicht. Er musste die Wahrheit erfahren.

Die Wachen stellten sich rechts und links von ihr auf, und Huatli betrat die Versammlungshalle des Imperators. Die Wände waren mit Schnitzereien all der Helden des Imperiums der Sonne geschmückt. Große Männer und Frauen, Krieger und Schamanen und Poeten des Krieges allesamt, jeder von ihnen ein schillernder Held, und Huatli kannte ihre Geschichten auswendig.

Wer die Geschichten erzählt, bestimmt die Wahrheit, dachte Huatli und erschauderte.

Imperator Apatzec stand am anderen Ende des Raumes. Huatli ging auf ihn zu und kniete zur Begrüßung nieder. Er bedeutete ihr mit einer Handbewegung aufzustehen und sich zu setzen. Huatli bemerkte, dass der Helm der Poetin des Krieges auf einem Tisch vor ihr lag.

„Du hast erfüllt, worum ich dich gebeten habe“, sagte er mit mehr als nur ein wenig Stolz in der Stimme. „Morgen wird eine Zeremonie stattfinden, bei der er dir offiziell verliehen wird.“

Huatli starrte auf den Helm, und ein merkwürdiges Gefühl beschlich sie.

Der Helm bestand aus silbrigem Stahl und warmem, goldenem Bernstein. Er war wunderschön. Und endlich gehörte er ihr. All die Jahre des Lernens, all die Mühen, die sie auf sich genommen hatte, all die Umstände und die Vorbereitungen. Doch Huatli hatte die Geschichten schon in ihrer Jugend gekannt und Dutzende Gegner besiegt, bevor sie achtzehn Jahre alt war. Und jetzt konnte sie zu einer anderen Welt reisen, wenn sie wollte. Was machte etwas so Unbedeutendes wie ein Titel denn schon aus?

Apatzec saß ihr gegenüber und stellte einen Becher Xocolātl auf den Tisch vor ihr. Vorsichtig nippte er an seinem eigenen Getränk. „Poetin des Krieges“, sagte er, „erzähle mir, wie du Orazca entdeckt hast.“

Huatli holte tief Luft und begann.

Sie versuchte nicht, ihm zu sagen, was er hören wollte. Sie sagte ihm die Wahrheit.

Huatli berichtete ihm von Tishanas Mut und Weisheit, wie sie in den Dschungel gereist waren und wie sie tagelang die Vampire verfolgt hatten. Sie betonte, dass den Flussherolden nicht der Sinn danach stand, ihr altes Gebiet zu beanspruchen, sondern stattdessen jene Kräfte beseitigen wollten, die ihr Land und das des Imperiums der Sonne bedrohten. Sie erzählte Apatzec von Angrath und der Existenz anderer Welten und sogar von Sankt Elenda und wie sie Frieden durch Demut und Opferbereitschaft gefunden hatte. Sie erzählte ihm, dass die Immerwährende Sonne fort, aber die Macht der Stadt ungebrochen war. Doch vor allem erzählte sie ihm, dass Orazca nicht mehr länger ihnen gehörte.

„Ich beschwöre Euch, eine Einigung mit den Flussherolden herbeizuführen“, sagte sie eindringlich. „Arbeiten wir zusammen, um einen Weg zu finden, für Frieden zu sorgen.“

Imperator Apatzec saß schweigend da. Er starrte auf seinen leeren Becher, und seine mahagonifarbenen Augen huschten hin und her, während er seine Antwort überdachte.

Schließlich sprach er. Langsam. Betont. „Das ist nicht die Geschichte, die du morgen erzählen sollst.“

Huatli schluckte. Nickte. Sie hatte bereits geahnt, dass das seine Antwort sein würde.

Der Imperator schüttelte den Kopf. „Wir sind nur Wochen davon entfernt, Fort Adanto im Süden einzunehmen. Ich will, dass die morgige Botschaft eine Botschaft des Ansporns und der Eroberung ist. Orazca gehört uns, und wenn unser Volk den Dinosaurier sieht, auf dem du hier eingetroffen bist, und eine Geschichte davon hört, an der Seite der Flussherolde zu arbeiten, werde ich nicht mehr genug Unterstützung für unseren Feldzug haben.“

Ein kleines, zorniges Flämmchen loderte in Huatlis Herzen auf.

„Nach allem, was ich Euch gerade erzählt habe, glaubt Ihr noch immer, dass das am wichtigsten ist?“

„Du hast es selbst gesagt: Mavren Fein und die Schlächterin von Magan waren Ungeheuer.“

„Ungeheuer, die von ihrer eigenen Heiligen gemaßregelt wurden. Fort Adanto wird leer sein, wenn wir dort eintreffen. Die Kirche wird wollen, dass Elenda sofort zurückkehrt!“ Huatli machte eine ausladende Geste.

Apatzec blieb standhaft. „Dann ist es umso leichter für uns, es zurückzuerobern.“

„Selbst wenn das Gebiet von den Flussherolden beherrscht wurde, bevor die Legion des Zwielichts eintraf?“

„Ja“, beharrte der Imperator. „Unser Imperium kann nicht wachsen, wenn wir uns nicht ausdehnen.“

„Unser Imperium hat die Gelegenheit, in Frieden zu leben!“

Huatli bemerkte, dass ihre Hand auf dem Helm der Poetin des Krieges ruhte. Überrascht schaute sie darauf und erhaschte den grimmigen Blick des Imperators. Er stand auf und sah ungeduldig auf sie herab.

„Die Zeremonie wird wie geplant stattfinden, aber es wird keine Oration geben. Ich werde den Menschen berichten, was in Orazca geschehen ist“, sagte er.

Huatli war außer sich. Sie machte sich nicht die Mühe, den Abscheu in ihrem Gesicht zu verbergen. „Es ist das Recht der Poetin des Krieges, das Wort an die Menschen zu richten. Ich werde mich nicht Eurer Pläne wegen zum Schweigen bringen lassen.“

„Es ist zum Wohle der Pläne des Imperiums der Sonne, Huatli.“ Apatzec wandte sich um und machte sich auf den Weg zu seinen Privatgemächern. „Die Zeremonie findet morgen zur Mittagszeit statt. Geh und überbringe deiner Familie die guten Nachrichten.“ Ohne ein weiteres Wort schritt er davon.

Huatli schaute den Helm der Poetin des Krieges an und schäumte vor Wut. Sie drehte sich um und ging die Treppe hinunter.


Huatli ging zum Haus ihrer Tante und ihres Onkels, bevor sie zu den Kasernen zurückkehrte.

Ihre Familie pries sie, gratulierte ihr und bot ihr einen Tisch mit gewaltigen Mengen an Tamales mit Kaninchen und Kraushorn nebst vier verschiedenen Soßen an. Sie schmausten und stellten ihr zehntausend Fragen, die Huatli nur allzu gern beantwortete. Ihre Tante, ihr Onkel und Dutzende Vettern und Basen versammelten sich, um ihrer Geschichte zu lauschen. Sie staunten und jubelten und halfen bisweilen einem jüngeren Verwandten, eine Frage zu stellen, aber hauptsächlich hörten sie freudig zu. Huatli erwartete, dass die meisten Fragen sich um Orazca drehen würden, doch es war das Weltenwandeln, das ihre Aufmerksamkeit am meisten fesselte.

Zunächst glaubten sie ihr nicht, aber als sie es vorführte, indem sie verschwand und einen Augenblick später mit einem Stein von einer anderen Welt zurückkam, waren sie außer sich vor Freude.

Huatli erzählte, was sie auf der anderen Seite gesehen hatte (einen zerklüfteten Strom in einem Wald mit dichtem Unterholz), und ihr Onkel jauchzte laut auf. „Du kannst nicht einfach hierbleiben und das Schoßtier des Imperators werden! Du musst dort hinausgehen, Huatli!“

Der Rest der Familie jubelte zustimmend, und ihr Onkel zerzauste ihr liebevoll das Haar. Der jüngste Vetter lachte und gluckste vor all der Aufregung. Huatlis Lächeln erstarb.

„Aber ich bin die Poetin des Krieges. Es ist mir bestimmt, hierzubleiben.“

„Es ist dir bestimmt, Geschichten und Legenden zu sammeln!“, sagte Inti mit einem Mund voll Kürbis. „Warum solltest du nur die Geschichten von hier erzählen, wenn du woanders hingehen kannst?“

Die Familie stimmte lauthals zu. Huatli lächelte und wurde verlegen und ein bisschen unruhig.

Inti fuhr fort: „Und wenn das, was der Imperator sagt, wahr ist, kannst du hier überhaupt nichts tun. Dein Schicksal liegt nicht hier.“

Huatli vertraute ihrem Vetter mehr als jedem anderen. Seine Einschätzung hatte Hand und Fuß. Sie holte tief Luft und nickte. „Ich gehe für eine Woche fort.“

Ihre Tante sprang auf die Füße. „Ich packe für dich!“

Inti begann, Tamales in einen Beutel zu stopfen. „Du brauchst doch Verpflegung!“¬

Ihr Onkel und ein besonders tollkühner Vetter ballten die Fäuste. „Du gehst nicht weg, bevor wir dir nicht den Helm der Poetin des Krieges beschafft haben!“

Huatli stammelte: „Aber ich komme doch bald zurück!“, doch ihr Einwand ging in der aufgeregten Hektik ihrer Familie unter.

Die nächsten paar Stunden vergingen wie im Flug.

Huatli wurde geküsst und geherzt und gebeten, sich nicht von der Stelle zu rühren, während ihre Familie in den Tempel der Brennenden Sonne schlich, um den Helm der Poetin des Krieges zu besorgen. Nach einigen Stunden voller Spannung kehrten sie sicher zurück. Inti trug den Helm auf dem Kopf und hatte ein diebisches Grinsen im Gesicht.

Zur nächsten Morgendämmerung verabschiedete Huatli sich. Sie versprach, nur eine Woche fortzubleiben, und schwor, sich bei ihrer Rückkehr um das Imperium zu kümmern. Ihre Tante weinte nicht, wohl aber ihr Onkel, und sie verabschiedete sich von jedem ihrer Vettern und Basen auf eine andere Art, jedoch mit der immer gleichen herzlichen Umarmung.

Der letzte Abschied galt Inti. Er rückte den Helm auf Huatlis Kopf zurecht und lächelte. „Du bist die Poetin des Krieges. Es ist deine Pflicht, Geschichten zu sammeln. Niemand hat je gesagt, dass es nur unsere sein müssen.“ Inti trat lächelnd zurück.

Huatli zog die Riemen ihrer Reisetasche fest und lächelte ebenfalls. „Auf Wiedersehen, ihr alle! Ich komme bald zurück!“

Ihre Familie winkte ihr zu, und Huatli griff nach dem Funken in ihrem Inneren.

Ihr Blickfeld wurde hell wie die Mittagssonne, und Huatli betrat eine andere Welt.


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Weltenbeschreibung: Ixalan