Alte Freunde
Was bisher geschah: Gideon Jura – Grenzen
Der Gedankenmagier Jace Beleren ist für viele Menschen sehr viele unterschiedliche Dinge. Die wichtigste seiner derzeitigen Aufgaben ist wahrscheinlich die als lebender Gildenbund: der magisch eingesetzte Schlichter der Zwiste unter den Gilden der Stadtwelt Ravnica. Er hat jedoch noch einige andere Versprechen gegeben und sich einer Vielzahl anderer Schwierigkeiten angenommen – und jedes dieser ungelösten Rätsel nagt an ihm.
Einige aber wohl mehr als andere.
Jace lächelte verkrampft, als die Abgesandten der Golgari aus dem Raum schlurften. Er murmelte rasch einen Zauberspruch, um den schimmligen Verwesungsgeruch der hochverehrten Botschafter und ihrer Zombiediener zu vertreiben.
Kaum hatte sich die Tür hinter ihnen geschlossen, erstarb sein Lächeln. Er setzte sich an den großen Schreibtisch, den er nun endlich sein Eigen nennen durfte. Der Schreibtisch knarrte. Er runzelte die Stirn. Er brauchte immer noch einen schönen großen Sessel, in den er sich hineinfallen lassen konnte. Mit Lederpolstern. Irgendein teures Stück.
„Bitte sag mir, dass das für heute alle waren“, sagte er.
„Ich würde doch nie die Unwahrheit sagen“, meinte seine Gehilfin Lavinia – in ziemlich schelmischem Tonfall, wie er fand.
Jace, der entfesselte Telepath | Bild von Jaime Jones
Er stöhnte. Es war nicht so, dass die Arbeit schwer war. Ganz im Gegenteil. Es mochte ein ganzer Haufen Arbeit sein, doch sie war nur bedingt anspruchsvoll.
„Aber“, fuhr sie fort, „wie der Zufall es will, kann ich ausnahmsweise einmal ganz aufrichtig sagen, dass dies die letzte Unterredung für heute war. Doch selbstverständlich bilden die morgigen Bittsteller bereits eine lange Schlange.“
Kein Sonnenlicht fiel mehr durch die hohen Fenster der Kammer des Gildenbunds. Wann hatte er zuletzt etwas gegessen?
„Sie werden warten müssen“, sagte er. „Vielleicht kann ich all ihren Anliegen entsprechen, aber nicht allen an einem Tag.“
Er wandte sich zu ihr um. Sie blickte so grimmig drein wie eh und je. Er runzelte die Stirn.
„Du bist noch nicht mal müde, oder? Die Menschen reden sicher schon über Jace Belerens illusionäre Gehilfin . . . Welcher Mensch könnte zwölf Stunden lang in voller zeremonieller Rüstung herumstehen, ohne dass man es ihm anmerkt?"
Sie drehte sich um und musterte ihn von oben bis unten.
„Ihr hättet mehr Ausdauer, wenn Ihr Euch hin und wieder körperlich ein wenig ertüchtigen würdet, wisst Ihr“, sagte sie. Sie lächelte, doch das hieß nicht, dass sie es nicht ernst meinte.
„Zur Kenntnis genommen.“
Er wandte sich zum Gehen.
„Gildenbund“, sagte Lavinia. Er drehte sich um. „Ruht Euch etwas aus.“
Lavinia aus dem Zehnten | Bild von Willian Murai
„Kaffee“, sagte Jace. „Der lebende Gildenbund bescheidet, dass Kaffee ein annehmbarer Ersatz für Ruhe ist, ganz gemäß Unterabschnitt . . . Sei‘s drum.“
Lavinia war zu diszipliniert, um die Augen zu verdrehen, doch sie schüttelte den Kopf, als er den Raum verließ.
Nachdem er einige verwinkelte Korridore hinter sich gelassen hatte, schlüpfte Jace durch einen geheimen Gang in seine persönlichen Gemächer. Außer ihm und Lavinia kannte niemand diesen Geheimgang, und selbst sie wusste nicht, wie man ihn öffnete. Es gab auf vielen Welten Geschichten über Tyrannen, die Baumeister umbringen oder ihnen die Zunge herausschneiden ließen, um die Geheimnisse ihrer Grabmäler und Schlösser zu bewahren. Jace hatte einfach nur die Erinnerungen der Baumeister gelöscht: Das war weitaus gnädiger, sagte er sich oft, auch wenn er es an manchen Tagen selbst nicht so ganz glauben wollte.
In seinen Gemächern türmten sich Schaubilder, laufende Vorhaben und halb gegessene Mahlzeiten. Die Illusion eines Polyeders von Zendikar schwebte mitten im Raum, die Runen darauf quälenderweise noch immer nicht entziffert. Auf Globen und Karten verschiedener Welten markierten Nadeln Orte von Bedeutung. Das Horn eines Onakkeogers lag auf einem langweiligen Gesetzesentwurf des Azorius-Senats.
Jaces Refugium | Bild von Adam Paquette
Jace hatte keine Bediensteten. Das wäre zu riskant gewesen, und außerdem fühlte er sich unwohl bei dem Gedanken. Doch bisweilen rief er eine einfache Illusion herbei, um den Raum in Ordnung zu bringen, für gewöhnlich immer dann, wenn er Gäste erwartete. Und ab und an empfing er – ungeachtet des Geheimnisses um diesen Raum – tatsächlich welche. Bei der Tür handelte es sich in Wahrheit um ein von den Izzet hergestelltes Teleportal, und er änderte den Ort, an den es führte, in regelmäßigen Abständen. Er konnte kommen und gehen, wie es ihm gefiel, ja, er konnte sogar Gäste empfangen, und das Geheimnis um den lebenden Gildenbund wurde nur umso größer.
Er blinzelte müde. Was wollte er noch gleich tun?
Genau. Kaffee.
Es klopfte an der Tür.
Nun ja, nicht wirklich. Doch es klopfte an einer Tür irgendwo im Siebten Bezirk, und das Geräusch wurde durch das Portal übertragen, das mit der Tür zu diesem Raum hier verbunden war. Und das war nicht minder merkwürdig.
Er schlug die Kapuze hoch, sammelte Mana an und näherte sich vorsichtig der Tür. Er hielt einen Zauberspruch bereit, um das Portal nötigenfalls rasch zu entzaubern. Vorher wirkte er noch einen Spruch, durch den er sehen konnte, was sich auf der anderen Seite befand.
All diese aus reinem Verfolgungswahn geborenen Vorbereitungen waren wahrscheinlich unnötig. Wahrscheinlich handelte es sich nur um einen verwirrten Bürger, der einfach an die falsche Tür im Siebten Bezirk klopfte. Schlimmstenfalls war es ...
Liliana, die abtrünnige Nekromagierin | Bild von Karla Ortiz
... Liliana?
Ihm klappte die Kinnlade herunter.
Jace hatte Liliana Vess nicht mehr gesehen, seit ihm klargeworden war, dass sie ihn benutzt hatte. Er hatte ihr Techtelmechtel frühzeitig abgebrochen – nachdem er tödlicher Gefahr ausgesetzt gewesen war, Freunde hatte sterben sehen und ihm buchstäblich wahre Folter angetan worden war –, und all das hatte er zumindest teilweise ihr zu verdanken. Sie war eine unmoralische, eigennützige Todesmagierin, die ihn auf Geheiß des Planeswalkerdrachen Nicol Bolas aufgesucht hatte. Sie war die erste wirkliche Liebhaberin, die er je gehabt hatte, und er hatte seither versucht, sich nicht nach ihr zu verzehren. So dumm war er nicht.
Die Nekromagierin stand viele Meilen entfernt vor einer unscheinbaren Tür, und soweit er dies erkennen konnte, war sie ohne Begleitung unterwegs. Sie hatte sich stolz aufgerichtet, doch sie spähte gelegentlich von rechts nach links, als ob sie nervös war. Oder vorsichtig.
Oder im Begriff, ihn zu verraten. Einmal mehr.
Eine Illusion? Durch das Portal hindurch war das schwierig zu beurteilen. Wenn ja, dann war sie vollkommen überzeugend, bis hin zu einem gereizten Wippen mit dem linken Fuß.
Er sollte lieber nicht aufmachen. Ob sie es nun tatsächlich war oder nicht: Hierbei handelte es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um eine Falle. Selbst wenn sie nicht vorhatte, ihn ein weiteres Mal zu verraten, so neigte ein Leben mit Liliana doch dazu, rasch einen sehr fauligen Beigeschmack anzunehmen. So dumm war er nicht.
Er seufzte, machte sich unsichtbar und beschwor einen illusionären Doppelgänger. Dieser öffnete mit einem sachten telekinetischen Schubs seinerseits die Tür.
„Liliana?“, sagte er durch den Mund des Doppelgängers und zauberte einen überraschten Ausdruck auf dessen Gesicht. „Was machst ...“
Sie schlenderte wie beiläufig durch den illusionären Jace hindurch.
„Darf ich reinkommen?“, fragte sie über die Schulter hinweg.
Jace runzelte die Stirn, drückte die Tür zu und machte seiner Unsichtbarkeit, seinem verwirrt dreinblickenden Ebenbild und nur zur Vorsicht auch noch dem Teleportal ein Ende. Er eilte ihr nach.
„Was, wenn ich Nein gesagt hätte?“
„Hast du aber nicht“, sagte sie.
Er lief um sie herum und stellte sich ihr in den Weg. Sie spähte an ihm vorbei und musterte die Räumlichkeiten.
„Ein hübsches Örtchen. Eine Schande, was du daraus gemacht hast.“
Sie hatte sich überhaupt nicht verändert. Doch warum sollte sie auch? Nicht weniger als vier Dämonenpakte, die ihr mit grässlichen Runen in die Haut geritzt waren, sorgten dafür, dass sie blieb, wer sie war. Er hatte diese Zeichen immer gehasst und versucht, sie ... sie nicht zu berühren.
Schließlich blickte sie ihm in die Augen.
„Hallo, Jace.“
Jace hatte es sich nie zur Gewohnheit gemacht, auf die Augen anderer zu achten. Das musste er nie, um ihre Absichten zu erkennen, und obgleich er inzwischen gelernt hatte, Menschen in die Augen zu sehen, wenn er mit ihnen sprach, so hatte er doch nie gelernt, ihnen echte Aufmerksamkeit zu schenken. Doch an Lilianas Augen erinnerte er sich: alt und grauviolett und voll verheißener Gefahren. Er versuchte, ihr unverwandtes Starren zu erwidern, doch er stellte fest, dass er die Erinnerungen, die dies in ihm aufsteigen ließ, schlicht nicht ertrug. Er heftete seinen Blick zu guter Letzt einfach an ihre Nase, dem Einzigen an ihr, was ihm kein größeres Unbehagen bereitete.
„Nichts, was du sagst, könnte mich dazu veranlassen, dir zu vertrauen“, sagte er. „Nicht nach deinem Verrat.“
Sie verdrehte die Augen. Er nahm ihren Duft wahr – Flieder und Zimt –, der den leichten Geruch von etwas Verfaulendem überdeckte, was nicht von dieser Welt war.
„Du bist derjenige, der mich versetzt hat“, sagte sie.
„Ja, nachdem du mich verraten hast!“
„Das ist doch ewig her“, sagte sie, griff nach dem Onakkehorn und spielte damit herum. „Ich arbeite nicht mehr für Bolas, und ich wollte nie, dass dir etwas zustößt.“
„Und sollte ich das nicht besser nachprüfen?“, fragte er, während er ihr das Horn aus der Hand nahm und es weglegte. „Oder verfügst du noch immer über deine kleinen Schutzmaßnahmen?“
Bei ihrer allerersten Begegnung hatte er geglaubt, ihre Gedanken gelesen zu haben, doch irgendwie hatte sie seine telepathischen Fähigkeiten überlistet. Er hatte seine Vermutungen, und die Tatsache, dass sie damals insgeheim für einen jahrhundertealten Drachenerzmagier gearbeitet hatte, war eine der lautesten.
Sie sagte nichts. Stattdessen streckte sie langsam die Hand nach seinem Gesicht aus. Ein Teil von ihm wollte vor ihrer Berührung zurückschrecken. Ein anderer Teil von ihm wollte genau das Gegenteil. Er entschied sich dafür, einfach still zu halten. Doch sie berührte ihn nicht, sondern nahm nur den Saum seiner Kapuze zwischen zwei Finger und schlug sie zurück. Einen Augenblick lang musterte sie ihn.
Jace der Gedankenarchitekt | Bild von Jaime Jones
„Du siehst älter aus“, sagte sie.
„Ich weiß nicht, wie ich das verstehen soll.“
„In deinem Alter, mein Teurer, ist das ein eindeutiges Kompliment.“ Sie legte den Kopf schräg. „Hast du etwa damit angefangen, dir das Haar zu kämmen?“
Er begann, sich ertappt das Haar glatt zu streichen, aber nur kurz, denn dann zog er die Hand rasch zurück. Er hatte es sich tatsächlich angewöhnt, sich zu kämmen. Nicht, dass sie das irgendetwas anginge. Er legte die Stirn in Falten.
„Ich nehme nicht an“, sagte er, „dass du dir die Mühe gemacht hast, mich aufzuspüren, nur um mein Aussehen zu beurteilen. Kommen wir doch einfach zur Sache. Wie hast du mich gefunden und wer weiß noch davon?“
Sie seufzte theatralisch.
„Ich habe für einen sehr hohen Preis einen sehr guten Spion angeheuert“, sagte sie. „Und niemand anders weiß davon, denn seine Leiche schlurft gerade auf der Suche nach mir durch den Siebten Bezirk.“
„Verdammt!“, sagte er. „Du sprichst über einen Bürger Ravnicas.“
„Mach dir keine Gedanken. Ich habe dafür gesorgt, dass es jemand ist, der es verdient hat. Nur für dich“, sagte sie. „Seine Akte in Neu-Prahv ist so lang wie dein Arm. Mord, Brandstiftung, Diebstahl, Wucher ... und jede Menge anderer Abscheulichkeiten, von denen die Azorius noch nicht einmal wissen. Ich habe deinen Freunden im Senat einen Gefallen getan.“
„Ein Haftbefehl führt üblicherweise zu einem Verfahren“, herrschte er sie an. „Nicht zu einer standrechtlichen Hinrichtung! Ich muss mir jetzt über solche Sachen nämlich Gedanken machen. Ich bin das Gesetz. Ich bin buchstäblich das Gesetz. Ich ... Warum lächelst du, verdammt?“
„Lazlo Lipko.“
Er sog durch zusammengebissene Zähne scharf Luft ein.
„Uh, ja, das ist ein ziemlicher Widerling.“
„War“, sagte sie grinsend.
Er seufzte.
„Na schön. Es ist nicht so, dass ich nicht auch schon außerhalb des Gesetzes agiert hätte. Selbst als Gildenbund.“
Sie standen sich nach wie vor in seinem unordentlichen Empfangszimmer gegenüber, ein bisschen zu dicht vielleicht.
„Also?“, sagte sie. „War‘s das mit der hochnotpeinlichen Befragung?“
„Noch nicht ganz“, sagte er. „Was hast du Garruk Wildsprecher angetan?“
Auf Garruks Pfad | Bild von Chase Stone
„Oh“, sagte sie. „Das.“
„Das.“
„Darf ich mich wenigstens setzen?“
Er zuckte die Schultern und deutete auf einen der Stühle mit hoher Lehne, die um seinen Tisch verteilt waren. Sie lief stattdessen um den Tisch herum und fläzte sich auf sein Sofa. Er mochte es nicht, über ihr aufzuragen, wollte sich jedoch auch nicht neben sie setzen. Daher zog er sich einen Stuhl heran und ließ sich darauf nieder. Sie starrte ihn erwartungsvoll an.
„Garruk“, wiederholte er.
„Garruk.“ Sie runzelte die Stirn. „Da gibt es nicht viel zu erzählen.“
„Na dann erzähle es doch.“
„Er hat mich angegriffen“, sagte sie. „Ich habe gewonnen. Ich schätze, er grollt mir.“
„Nein.“
Sie kniff diese uralten violetten Augen zusammen.
„Nein?“
„Erzähle mir von dem Kettenschleier“, sagte Jace.
„Oh“, sagte sie und blickte zur Seite. „Das.“
Er wartete.
„Es wäre leichter, wenn du mir sagen würdest, was du bereits weißt“, sagte sie.
„Ich glaube, ich erfahre mehr, wenn ich das nicht tue.“
Genau genommen wusste er bereits eine Menge über den Kettenschleier, dessen Eigenschaften und Lilianas Begegnungen mit Garruk. Doch er wollte gern erfahren, wie viel sie bereit war, ihm zu erzählen. Und außerdem amüsierte es ihn, dabei zuzusehen, wie sie so am Haken zappelte.
„Na schön“, sagte sie. „Er ist ein sehr mächtiges, sehr altes Artefakt.“
„Und böse“, warf er ein.
„Ja, danke schön“, sagte sie augenrollend. „Einer meiner dämonischen Gläubiger schickte mich danach aus – als Teil meiner Dienste für ihn. Ich beschloss, den Schleier zu verwenden, um mir meine Freiheit zu verdienen. Auf die unbequeme Art.“
Kothophed der Seelensammler | Bild von Jakub Kasper
„Du glaubst wirklich, du kannst es mit vier Dämonen aufnehmen?“
„Zwei“, sagte sie.
„Was?“
„Zwei sind schon erledigt“, sagte sie und hielt grinsend zwei Finger hoch. „Zwei sind noch übrig.“
„Oh“, sagte er. „Das . . . ändert einiges.“
„Nicht wahr?“
Vor langer Zeit hatte er fest vorgehabt, ihr dabei zu helfen, einen Weg aus den Pakten zu finden, um zu erfahren, wer sie unter all der Verzweiflung und all den Lügen wirklich war. Doch nun war sie schon ohne seine Hilfe halb daraus entkommen . . . und in etwas verstrickt, was womöglich noch schlimmer war.
„Was hast du mit Garruk gemacht?“
„Der Schleier ist verflucht“, sagte sie. „Er wurde erschaffen, um jemanden zu einem Gefäß für die Wedererweckung einer längst toten Kultur zu machen. Doch diese Last ist zu schwer, als dass eine Seele sie allein tragen könnte. Ich glaube, er tötet seinen Träger, wenn dieser nicht stark genug ist.“
„Du glaubst?“
„Was soll ich sagen? Ich war so beschäftigt damit, all diese Dämonen zu töten, dass ich keine Zeit für einen Abstecher in die Bibliothek fand.“
„Na gut“, sagte er. „Du wirkst aber nicht, als seist du tot.“
„Nein“, sagte sie. Ihre Augen funkelten. „Ich bin zu stark.“
„Du weißt, was mit denen geschieht, die er nicht tötet, oder?“
Sie sank in sich zusammen – vielleicht die erste echte Regung, die sie zeigte, seit sie in diesen Raum hineinspaziert war.
„Ja“, sagte sie. „Dämonen.“
Die Macht des Schleiers war überwältigend und verwandelte selbst seine stärksten Träger in Ungeheuer.
„Und das ist es, was aus Garruk wird. Vielleicht schon geworden ist. Aber nicht aus dir.“
„Nicht aus mir“, sagte sie. „Ich weiß nicht, ob es an meinen Pakten oder an meiner Nekromagie lag. Oder vielleicht gelang es mir auch, den Fluch auf ihn zu übertragen, gleich nachdem ich dieses Ding aufgesammelt hatte. Was auch immer der Grund sein mag: Garruk ist es nun, der zu einem Ungeheuer wird. Und ich nicht. Zumindest nicht mehr, als ich es vorher bereits war.“
„Also gut“, sagte er. „Du bist noch am Leben, du bist noch immer ein Mensch und du bist zwei Dämonen losgeworden. Wo liegt dann das Problem?“
Sie hob eine Augenbraue.
„Wer hat denn gesagt, dass es ein Problem gibt?“
„Lili, was machst du hier?“
Sie zog einen Schmollmund.
„Kann ich nicht einfach vorbeischauen, um einen alten Freund zu besuchen?“
„Lass das“, schnappte er. „Wir mögen vieles gewesen sein, aber eines ganz gewiss nicht: Freunde.“
Dann herrschte Schweigen. Ihr Blick wurde hart.
„Ich ...“
„Lass es“, sagte sie.
Er schloss den Mund.
„Du hast recht“, sagte sie. „Und es tut mir leid. Es tut mir leid, was du durchmachen musstest. Es tut mir sogar leid, was mit Garruk geschieht, wenn es dir dann besser geht.“
Sie lehnte den Kopf gegen das Kissen und seufzte.
„Ich weiß es nicht, Jace. Ich schätze, ich hatte gehofft, wir . . . könnten noch mal von vorn anfangen.“
Sie hob den Kopf. Ihr Blick hielt seinem stand.
„Noch mal von vorn anzufangen – das ist der erste Trick, den ich je gelernt habe“, sagte er und zwang sich zu einem Lächeln. Er hob eine Hand und ließ sie leuchten, wie er es oft tat, wenn er seine Gedankenmagie wirkte. Wenn er Erinnerungen auslöschte. „Du brauchst es nur zu sagen . . .“
Jace, der lebende Gildenbund | Bild von Chase Stone
„Nein“, sagte sie. „Nicht so.“
Sie runzelte die Stirn und breitete die Hände zu einer hilflosen Geste aus. Es fiel ihm schwer zu glauben, dass sie aufrichtig nervös war, doch ihre Vorstellung war ziemlich überzeugend.
„Nur . . . diese eine Unterhaltung zumindest?“, sagte sie. „Können wir die noch mal von vorn anfangen?“
„Nun, es ist ein bisschen zu spät, damit anzufangen, dass du nicht in mein Haus polterst.“
„Das ist wahr“, sagte sie. „Wo fangen wir dann an?“
„Wie wäre es, wenn du dich dafür entschuldigst, in mein Haus gepoltert zu sein?“
Ihr Gebaren änderte sich: Es wurde ernst und reumütig. Sie faltete die Hände sittsam im Schoss und setzte eine durch und durch zurückhaltende Miene auf. Ihr Blick wirkte jedoch nach wie vor verspielt.
„Es tut mir so leid, einfach so hereingeplatzt zu sein“, sagte sie mit übertriebenem Anstand. „Ich war in der Stadt, und ich konnte einfach nicht widerstehen, bei dir vorbeizuschauen. Ich bedauere die Unannehmlichkeiten unserer letzten Begegnung zutiefst und hoffe, wir können noch einmal von vorn anfangen.“
Es war ein Spiel. Alles war ein Spiel für sie. Doch er war die Spiele leid. So dumm war er nicht. Falls er aber jetzt nicht herausfand, was sie im Schilde führte, würde sie ihn einfach zu einem späteren Zeitpunkt in Schwierigkeiten bringen. Und sie war nicht die Einzige, die Spielchen spielen konnte.
„Was für eine angenehme Überraschung“, sagte er. „Es ist mir eine Freude, dich wiederzusehen – es fühlt sich keineswegs merkwürdig oder unpassend an. Was für eine Art von Neuanfang hattest du dir denn vorgestellt?“
Sie grinste verschlagen.
„Lädst du mich zum Essen ein?“
Er schnaubte.
Sie lächelte ungerührt.
„Oh, das ist dein Ernst?“, sagte er.
Sie grinste.
„Ich scherze nie.“
Noch mehr Spielchen. Noch mehr Täuschungen.
So dumm war er nicht.
Arm in Arm schlenderte das Paar durch den eleganten Zweiten Bezirk Ravnicas. Es war eine laue Nacht, und auf den Straßen herrschte geschäftiges Treiben.
„Also, wie ist das so?“, fragte Liliana. „Der Gildenbund zu sein?“
„Anstrengend“, sagte Jace. „Jeder will etwas von mir. Man wird ständig in zehn Richtungen gleichzeitig gezogen.“
Bild von Dave Kendall
„Das klingt ja schrecklich“, sagte Liliana. „Vier waren schon schlimm genug. Herrje, auch nur überhaupt in irgendeine Richtung gezogen zu werden, ist schon selten gut.“
„Die Gilden sind nicht meine Herren“, sagte Jace. „Mehr wie . . . Kunden. Ich habe nun mehr Freiheiten als damals, als ich noch zu Tezzerets Konsortium gehört habe. So viel ist sicher.“
„Aber du bist nicht der König“, sagte Liliana. „Du erlässt keine Gesetze. Du bist nur an sie gebunden.“
Er zuckte mit den Schultern.
„Ich würde auch gar nicht König sein wollen“, sagte er. „Aber ja. Es kann . . . beengend sein.“
„Mein Herr!“, sagte eine rundliche kleine Frau, die einen Korb voller Rosen trug. „Mein Herr! Kauft Eurer Freundin doch eine Blume!“
„Sie ist nicht meine ...“
„Ihr braucht nicht weiterzusprechen, mein Herr!“, sagte die Frau mit einem Zwinkern. „Aber eine Blume ist stets ein schönes Geschenk für eine Dame.“
„Sie ist keine ...“
Liliana stieß ihm den Ellenbogen in die Seite.
„Natürlich“, sagte Jace. Er drückte der Frau eine Münze in die Hand, hieß sie, das Wechselgeld zu behalten, und überreichte Liliana schwungvoll eine Rose.
„Mein Herr!“, rief die Frau, die sich bereits dem Pärchen hinter ihnen zugewandt hatte. „Mein Herr! Eine Blume für Euren Freund?“
Liliana nahm die Blume vorsichtig entgegen und starrte sie an. Binnen Sekunden verwelkte und vertrocknete sie zu einer schwarzen Hülle. Sie steckte sie sich ins rabenschwarze Haar und lächelte ihn an.
„Wirst du es nie leid, dich so anzustellen?“, fragte er.
Sie schenkte ihm ein flüchtiges, betörendes Grinsen.
„Nie.“
Sie kamen an ihrem Ziel an.
Das Tausendjährige war eines der feinsten Restaurants im Zweiten Bezirk, in dem man nur einen Tisch bekam, wenn man im Vorfeld reserviert hatte. Jace wechselte ein paar leise Worte mit dem Oberkellner – einem tüchtigen, rattenähnlichen kleinen Mann namens Valko –, und der lebende Gildenbund und sein Gast wurden zu einem Tisch für zwei – mit Kerzen und allem – draußen auf der Terrasse geleitet.
„Gut zu wissen, dass du deine Macht nicht missbrauchst“, sagte Liliana.
Er rückte ihr den Stuhl zurecht, und sie setzte sich.
„Ich verbringe zehn Stunden am Tag damit, mir Gebietsstreitigkeiten und Schadenersatzforderungen anzuhören“, sagte Jace und setzte sich ebenfalls. „Auf die Schnelle einen Tisch in einem schönen Restaurant zu kriegen, ist das Mindeste, was diese Stadt im Gegenzug für mich tun kann.“
„Und du verfügst über so viel Geld?“, fragte Liliana und studierte die Speisekarte.
„Für gewöhnlich esse ich hier umsonst“, sagte er. Er versuchte, peinlich berührt zu klingen, hauptsächlich deshalb, weil er das auch war. Doch es war nicht einfach, der Gildenbund zu sein, und sicher war es auch nicht. Daher scheute er sich auch nicht, ein paar der Vorteile seines Amtes zu nutzen. Nicht allzu sehr zumindest.
„Natürlich“, sagte sie. „Es ist das Mindeste, was sie tun können.“
Sie bestellten und Liliana hielt sich nicht zurück – nicht, dass er das erwartet hätte. Eine Flasche teurer roter Kasarda von schier unbeschreiblichem Alter rundete das Essen ab, und Jace wob einen raschen Stillezauber, um ihnen die nötige Ungestörtheit zu verschaffen.
„Das ist etwas völlig anderes als die Löcher, in denen wir uns sonst immer versteckt haben“, sagte Liliana. „Wie hieß dieser schreckliche kleine Laden noch? Das Bittere Ende?“
Er hob das Glas.
„Darauf, die Vergangenheit . . . vergangen sein zu lassen.“
Sie nippte und stellte dann das Glas rasch ab.
„Ich habe gehört, was du getan hast“, sagte sie. „Um Garruk aufzuhalten.“
„Oh“, sagte er. „Das.“
„Das war riskant“, sagte sie. „Ich hätte nicht gedacht, dass du das für mich tun würdest.“
„Ich habe es auch nicht deinetwegen getan“, sagte Jace. „Garruk wird zu einer Gefahr für jeden Planeswalker.“
„Hör dich nur an“, sagte sie und schüttelte den Kopf. „Jace Beleren, der Retter des Multiversums. Du kannst nicht zugeben, dass du dir Sorgen um mich gemacht hast, ohne so zu tun, als hättest du dir nicht auch Sorgen um buchstäblich alle anderen gemacht.“
„Sollte ich denn um dich besorgt sein?“
Zorn verfinsterte ihre Miene. Sie griff in die Falten, die ihr Kleid an der Hüfte warf, und Jace verbrachte einen panischen Wimpernschlag damit, einen Gegenzauber vorzubereiten, bevor er erkannte, was sie da tat.
Der Kettenschleier | Bild von Volkan Baga
Das Ding, das sie hervorzog, konnte nur der Kettenschleier sein. Eine Kakophonie aus unverständlichem Wispern erfüllte seinen Kopf. Nur für einen Augenblick, ehe er sie auch gleich wieder aus seinem Bewusstsein verdrängte. Was immer das war, das war Lilianas Angelegenheit, nicht seine. Die Glieder des Schleiers bestanden aus poliertem Gold und waren derart fein gearbeitet, dass sie die Struktur von Seide zu besitzen schienen. Er sah schwer aus, und im gedämpften Licht des Restaurants umflorte ihn ein unnatürlicher Glanz. Er war schön und verlockend und gefährlich.
Fast ungewollt streckte er die Hand danach aus. Sie riss den Schleier zurück, fort aus seiner Reichweite – es war eine plötzliche und beinahe würdelose Geste.
„Hast du Angst, ich nehme ihn dir weg?“, fragte er belustigt.
Ihr Blick traf seinen, und einen flüchtigen Moment lang sah er Schmerz und Angst und Flehen in diesen alten Augen.
„Ich habe Angst vor dem, was er dir antun könnte“, sagte sie leise. „Aber du kannst ihn dir ohnehin nicht nehmen, selbst wenn ich es wollte. Verstehst du es schon? Verstehst du, was er ist?“
Er konnte ihn nicht nehmen? War er irgendwie an sie gebunden? Oder hatte er seine Fänge einfach nur so tief in sie hineingeschlagen? Er hätte beides ohne Umschweife geglaubt.
„Ich beginne es zu ahnen“, sagte er.
Die Art und Weise, wie das Kerzenlicht über dieses Ding hinwegtanzte, war sonderbar düster.
„Falls du nicht vorhast, mich ihn ansehen zu lassen, dann stecke ihn weg“, sagte er. „Er bereitet mir eine Gänsehaut.“
Sie verstaute ihn wieder.
„Mir auch“, flüsterte sie.
Die Kerzen flackerten.
„Das klingt fast, als seien die Dinge vielleicht doch nicht ganz so unter Kontrolle.“
Er verstand nun, weshalb sie hier war. Um sowohl seine Gefühle als auch seine Neugier auszunutzen. Sie selbst in Gefahr und ein Rätsel, das es zu lösen galt: zwei Dinge, von denen sie ahnte, dass er ihnen nur schwer widerstehen konnte. Und vielleicht – nur vielleicht – hatte sie sogar recht damit.
Doch sie würde darum bitten müssen.
Ihre Augen waren wie dunkle Seen.
„Jace, ich . . .“
Vor dem Restaurant – dort, wo sich die Terrasse zur Straße hin öffnete – gab es einen Tumult. Jace fuhr herum, bereit, einen von einem halben Dutzend Schutzzauber zu wirken, die er kannte.
Ein großer, breitschultriger Mann stand auf der Straße und stritt mit Valko. Er trug eine Rüstung – oft gebraucht, aber gut in Schuss gehalten – und war von Blut und Dreck und irgendeiner Art von Schleim bedeckt. Er deutete auf Jace. Er befand sich nahe genug, dass Jace mühelos einen Blick auf seine inneren Vorgänge hätte werfen können, doch eine Kombination aus Lippenlesen und oberflächlichen Gedanken verriet Jace bereits, was der Mann sagte. Ich muss mit dem Gildenbund sprechen.
Er wedelte mit einer Borosinsignie herum, drängte sich an dem verblüfften Oberkellner vorbei und ging auf ihren Tisch zu. Er war ein ganzes Stück größer als Jace, mit gebräunter Haut und erstaunlich hellen Augen.
„Jace Beleren“, sagte er. „Ich brauche Eure Hilfe.“
Der Mann entsprach der Beschreibung eines Planeswalkers, von dem Jace schon gehört hatte – einem, der Ravnica mit ungewöhnlicher Regelmäßigkeit besuchte und wieder verließ.
Gideon, Champion des Rechts | Bild von David Rapoza
Valko eilte hinter dem Mann heran.
„Gildenbund“, sagte Valko. „Verzeiht bitte vielmals. Er sagt, es ginge um Gildenangelegenheiten.“
„Nein, das habe ich nicht gesagt“, meinte der Mann. „Ich habe Euch nur meine Marke gezeigt.“
„Ich bin nicht im Dienst“, sagte Jace. Planeswalker hin oder her: Die Schwierigkeiten dieses Mannes gingen Jace nichts an. „Kommt morgen zur Halle des Gildenbundes und lasst Euch eine Nummer geben. Und in ein paar Tagen ...“
„Es geht um einen Ort namens Zendikar“, sagte der Mann.
Liliana sah aus, als hätte sie einen Nagel verschluckt.
„Guter Mann“, sagte Valko. „Worum es auch immer geht, Ihr seid vollkommen unangemessen gekleidet. Ich muss darauf bestehen ...“
„Er kann bleiben“, sagte Jace. „Falls Ihr Euch darum sorgt, was die Leute denken könnten, dann mache ich den ganzen Tisch einfach unsichtbar.“
„Das“, sagte Valko, „wird es ausgesprochen schwierig machen, Euch Euer Essen zu servieren.“
„Und es wird auch nicht gegen den Geruch helfen“, sagte Liliana.
„Ich mache es wieder gut“, sagte Jace und scheuchte Valko fort.
„Was ist mit mir?“, sagte Liliana.
„Mein Name ist Gideon“, sagte der Mann. Er warf einen Blick zu Liliana.
„Sie weiß Bescheid“, sagte Jace. „Setzt Euch.“
„Ich bleibe lieber stehen“, sagte Gideon.
Jace stand auf. Das war ein Fehler. Er musste sich noch immer den Hals verrenken, um Gideon in die Augen sehen zu können, doch nun war der Größenunterschied zwischen ihnen unverkennbar. Er hasste es, sich klein zu fühlen. Er hasste es sehr.
„Nun da Ihr mir den Abend vollständig verdorben habt“, sagte Jace, „könntet Ihr dann bitte zum Punkt kommen?“
Gideons Augen verengten sich.
„Wart Ihr tatsächlich schon einmal auf Zendikar?“
„Ja“, sagte Jace. „Kein sehr angenehmer Ausflug.“
„Seetor ist gefallen.“
„Was?“, fragte Jace. „Wann? Wie?“
„Vor einigen Stunden“, sagte Gideon. „Vielleicht ist es auch noch kürzer her. Ich ging fort, ehe es vorbei war, doch der Ort war dem Untergang geweiht. Und was das Wie anbelangt . . . Was wisst Ihr über die Eldrazi?“
„Sie tauchten gerade erst auf, als ich das letzte Mal da war. Ich habe einen gesehen. Kurz vor meinem Aufbruch“, sagte Jace. ‚Einen gesehen haben‘: So konnte man das ausdrücken. ‚Sie alle unabsichtlich aus ihrer Jahrtausende währenden Gefangenschaft befreit haben, damit sie nun ganz Zendikar in Angst und Schrecken versetzen konnten‘: So hätte man es auch nennen können. Jace fragte sich, ob Gideon davon wusste. „Ich kenne einige Gelehrte in Seetor. Habt Ihr von ihnen gehört?“
„Ihre Archive sind verloren“, sagte Gideon. „Deshalb habe ich mich auf die Suche nach Euch gemacht. Sie standen kurz vor irgendeinem Durchbruch bei den Polyedern. Er drehte sich um etwas, womit man die Eldrazi bekämpfen könnte. Und Ihr habt den Ruf, ein geschickter Rätselknacker zu sein.“
Talent des Telepathen | Bild von Peter Mohrbacher
Ein kurzer Blick in den Geist des Mannes bestätigte, dass er die Wahrheit sagte.
„Das Polyedernetzwerk?“, meinte Jace. „Was für ein Durchbruch?“
„Das weiß ich nicht“, sagte Gideon. „Sie nannten es das ‚Rätsel der Ley-Linien‘, und sie glauben, es hängt mit den Eldrazi zusammen. Werdet Ihr mitkommen und mir helfen, es zu lösen?“
„Ley-Linien!“, sagte Jace. Instinktiv wollte er nach seinen Notizen greifen, doch natürlich waren die in seinen Gemächern. „Ich hätte die Polyeder nie mit Ley-Linien in Verbindung gebracht. Das ist . . . faszinierend.“
Er rieb sich die Schläfen. In gewisser Weise waren die Eldrazi seine Verantwortung. Er hatte seither einige Zeit damit zugebracht, sie und die Polyeder zu erforschen. Aber er hatte so viele andere Pflichten!
„Wenn Ihr Zendikar kennt und die Eldrazi gesehen habt, dann wisst Ihr, wie ernst die Sache ist“, sagte Gideon. „Ich weiß, Ihr werdet das Richtige tun.“
Liliana trank ihr Glas leer, schob ihren Stuhl zurück und ging an Jace vorbei.
„Lili, warte ...“
Sie ging weiter.
„Gebt mir einen Moment“, sagte er zu Gideon.
Er rannte hinter ihr her und holte sie ein. Er war klug genug, nicht nach ihrem Arm zu greifen – das war eine sichere Möglichkeit, beim Heiler zu landen.
„Liliana!“
Sie hielt an und drehte sich zu ihm um. Ihre Augen funkelten vor Wut.
„Ich suche dich nach all dieser Zeit auf“, sagte sie. „Ich vertraue mich dir an. Und jetzt – nach allem, was wir gemeinsam durchgemacht haben – willst du einfach so mit diesem halbgaren Nichtsnutz aus Sonnenheim mitgehen, nur weil er gefragt hat?“
„Das, was auf Zendikar vor sich geht . . .“, sagte er. „Es ist meine Schuld. In gewisser Weise. Es geschah unabsichtlich, und ich vermute, ich wurde manipuliert, doch das ändert nichts an der Tatsache, dass diese Eldrazi frei sind, weil ich in etwas hineingeraten bin, was ich nicht verstanden habe.“
„Und jetzt willst du dich sofort wieder hineinstürzen“, sagte sie. „Worauf wartest du noch?“
„Du könntest mit uns kommen“, sagte er.
„Wie bitte?“
„Komm mit uns“, sagte Jace. „Setze deine Fähigkeiten ein, um echte Ungeheuer zu bekämpfen. Vielleicht kannst du dich mit diesem Gideon zusammentun.“
„Nein“, sagte Liliana. „Manche von uns bürden sich nicht noch zusätzlich die Schwierigkeiten anderer auf, wenn sie selbst schon genügend davon haben.“
„Ich reise nicht vor dem Morgengrauen ab“, sagte Jace. „Überleg es dir. Komm zur Halle, falls du deine Meinung änderst.“
„Nein.“
„Dann warte auf Ravnica auf mich“, sagte Jace. „Welche Nachforschungen er auch immer von mir erwartet, sie werden nicht lange dauern. Ich komme wieder. Wir können unser Gespräch dann fortsetzen. Und falls du mir irgendwann endlich einmal erzählst, weshalb du hier bist, können wir auch darüber sprechen, was als Nächstes geschehen soll.“
„Du bist verrückt“, sagte sie. „Ich habe Dämonen zu töten.“
„Na denn“, sagte Jace. „Viel Glück dabei. Und Liliana?“
Sie wartete.
„Er hat darum gebeten.“
Sie zog sich die tote Rose aus dem Haar und warf sie ihm vor die Füße, ehe sie sich auf dem Absatz umdrehte und davonging.
Jace bückte sich, um die verwelkte Blume aufzuheben, als sich Gideons schwere Schritte hinter ihm näherten.
„Fertig?“, fragte Gideon.
Jace fuhr herum, um ihn barsch anzugehen, doch Gideons Züge waren so von Aufrichtigkeit geprägt und zugleich so verhärmt, dass er es nicht übers Herz brachte. Liliana bedeutete ohnehin nur Ärger. So dumm war er nicht.
Bild von Michael Komarck
„Fertig“, sagte Jace. „Kommt. Ich kenne einen guten Heiler, der Euch zusammenflicken kann.“
„Keine Zeit“, sagte Gideon. „Wir müssen gehen.“
„Ich verlasse diese Welt nicht vor dem Morgengrauen“, sagte Jace. „Ich muss Vorbereitungen treffen und meine Aufzeichnungen holen. Und Ihr! Ihr werdet Zendikar nicht helfen, wenn Ihr vor Erschöpfung tot umfallt. Ihr müsst Euch ausruhen.“
Gideon starrte einen langen Moment auf ihn herab.
„Na schön“, sagte er schließlich. „Bringt mich zu diesem Heiler.“
„Erzählt mir von den Eldrazi“, sagte Jace.
Er machte einen Schritt, doch Gideon legte ihm die Hand auf die Schulter und hielt ihn so auf. Jace griff nach oben und schob die Hand fort.
Gideon blickte auf die verwelkte Rose, die Jace noch immer zwischen den Fingern drehte. „Habe ich Eure volle Aufmerksamkeit?“
„Natürlich“, sagte Jace. „Erzählt mir alles, was Ihr wisst.“
Er ließ die tote Rose auf das Kopfsteinpflaster fallen und ging an Gideons Seite davon.
So dumm war er nicht.
Planeswalker-Profil: Jace Beleren
Planeswalker-Profil: Liliana Vess