Die Überlebenden vom Himmelsfelsen
Was bisher geschah: Die Wallfahrt der Gläubigen
Seetor, Zendikars wichtigste Stadt, ist den Eldrazi zum Opfer gefallen, und Gideon gibt sich die Schuld daran. Er zog sich kurzzeitig aus der Schlacht zurück, um nach Ravnica zu reisen und Jace Beleren zu holen, da er hofft, dass der Gedankenmagier das Rätsel der Polyeder lösen und so das Blatt des Krieges wenden wird. Als Gideon und Jace nach Zendikar zurückkehrten, bestand für Seetor keine Aussicht auf Rettung mehr. Gideon half dem verwundeten Hauptmann Vorik und einer kleinen Gruppe Überlebender beim Verlassen der Stadt – mehr war nicht von Seetor geblieben.
Die Gruppe schlug ihr Lager auf einem gewaltigen schwebenden Polyeder auf, und bald darauf machte sich Jace gemeinsam mit der Meerfrau Jori En auf den Weg zum Auge von Ugin, um nach weiteren Hinweisen auf die wahre Macht der Polyeder zu suchen. Jace versuchte, Gideon zu überreden, sie zu begleiten, doch dieser weigerte sich, die Zendikari ein zweites Mal zu verlassen. Ihr Überleben ist für ihn nun das Wichtigste – auch wenn er nicht weiß, ob er diese Aufgabe tatsächlich zu bewältigen vermag.
Wir müssen unsere Kräfte sammeln.
Wir müssen uns neu formieren.
Wir müssen überleben.
Generalhauptmann Voriks Befehle. Dies waren die Gebote, denen zu folgen Gideon geschworen hatte.
Und von diesen Geboten war das Überleben die größte Herausforderung.
Es war nie einfach gewesen, auf Zendikar am Leben zu bleiben, doch in jüngster Zeit schien es gänzlich unmöglich. Um hier angesichts dieser monströsen Ungeheuer zu bestehen, brauchte man Patrouillen, Befestigungsanlagen, Waffen, Heilmittel, Nahrung, Wasser, Unterschlupf und Wärme. Die Liste war lang.
Daher nahm sich Gideon einen Punkt nach dem anderen vor.
Im Augenblick sorgte er für Wasser.
Mithilfe der Kor Abeena war er gerade dabei, den nächsten Felswasserfall so zu positionieren, dass sein kostbarer Strom lebensspendenden Wassers ganz am hinteren Ende des Lagers auf dem Polyeder niederging, wo die Überlebenden ihn sicher und leicht erreichen konnten.
Bild von Adam Paquette
„Alles klar!“, rief Gideon Abeena zu.
Abeena balancierte auf der schmalen Kante des Wasserfallfelsens, der im Augenblick noch zu weit vom Lager entfernt und in die falsche Richtung gedreht war und sein Wasser daher in eine breite Schlucht ergoss, wo man es weder erreichen noch abschöpfen konnte.
Die Kor hatte vier Seile zwischen dem Wasserfall und dem großen Polyeder, auf dem sich das Lager befand, angebracht. Gideon hielt zwei dieser Seile, eines in jeder Hand. Zu seiner Rechten hatten ein Meermann und ein weiterer Kor breitbeinig Aufstellung genommen und hielten das dritte Seil straff. Zu seiner Linken klammerten sich drei Menschen an das vierte.
„Von mir aus kann es losgehen!“, rief Abeena zurück.
Gideon nickte den anderen zu. „Na schön. Auf geht‘s. Zieht!“ Er straffte die Seile und ging, einen Fuß hinter den anderen setzend, rückwärts.
Auch die anderen zogen, und gemeinsam beförderten sie den Wasserfall mühsam etwas dichter an den Himmelsfelsen heran.
„Genau so“, feuerte Gideon sie an. „Gleich ist es geschafft.“ Schweiß bildete sich an seinen Schläfen, als er ein weiteres Mal an dem großen Felsen zerrte. Das Gefühl, einen echten Kraftakt zu vollbringen, war eines der besten, die er sich vorstellen konnte. Und zu spüren, wie einem eine steife Brise Zendikars um die Ohren wehte, war auch nicht zu verachten.
In der kurzen Zeit, die er auf dem Himmelsfelsen verbracht hatte, hatte er diese Welt mehr und mehr zu schätzen gelernt. Der Ausblick von hier oben war unvergleichlich. In einem anderen Leben hätte Gideon sich vorstellen können, hier zu leben und seine Tage mit Klettern, Jagen, Erkundungen und Abenteuern zu verbringen. Es war nicht schwer zu verstehen, warum so viele diese Welt liebten. Warum so viele für sie kämpften.
„Haltet ihn genau so!“, rief Abeena. „Ich drehe ihn jetzt herum.“
„Macht euch bereit!“, befahl Gideon. Er schöpfte aus seinen Kraftreserven, um eine tiefe Verbindung zu dem Polyeder einzugehen, und er wurde so unbeweglich wie der dickste Baum auf Zendikar. Die anderen festigten ihren Griff und wappneten sich, während Abeena ein weiteres Seil mit einem großen Haken um einen dritten schwebenden Felsen schlang.
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Kräftig zog Abeena an diesem Seil, das sie als Anker verwendete, um den Wasserfall um seine Achse zu drehen. Sie richtete ihn so aus, dass das Wasser in Richtung des Lagers herabstürzte. „Ich glaube, ich hab‘s!“
Jubel erschallte hinter ihnen, und Gideon drehte sich um. Er sah, dass nahezu alle Überlebenden auf dem Himmelsfelsen, die die Zeit zum Zusehen gefunden hatten, als Publikum dieses Schauspiels versammelt waren. Ihre Hoffnung war deutlich zu spüren: Sie sehnten sich nach dem ersten Schluck erquickenden Wassers.
„Wir haben hier drüben ein paar durstige Leute, Abeena“, sagte Gideon. „Bringen wir ihnen doch etwas Wasser!“
Erneuter Jubel.
„Mit Vergnügen.“ Abeena löste das fünfte Seil und kniete sich auf den Polyeder, um ihn zu lenken. „Holen wir ihn heran.“
„Das wird uns durchrütteln“, warnte Gideon die Menge. „Haltet euch fest!“
Ein letztes Ziehen bugsierte den Wasserfall geradewegs über den Himmelsfelsen. Das Wasser strömte auf das hintere Ende des Polyeders herab, und der gesamte Felsen verlagerte ob der schieren Last des sprudelnden Stroms sein Gewicht. Doch sowohl das laute Tosen als auch die Erschütterungen waren vergessen, als die Zendikari jubelnd und singend unter den Wasserfall liefen, um zu trinken und im kühlen Nass umherzutollen.
„Danke, Gideon“, sagte Abeena, als sie von dem Felsen herabkletterte. „Wir haben Glück, dass du bei uns bist.“
„Das könnte ich auch über dich sagen“, meinte Gideon. „Das war gute Arbeit mit den Seilen. Ich glaube, das hier hast du dir verdient.“ Er reichte ihr einen Becher.
„Auf dein Wohl.“ Sie erhob den Becher und schlenderte in Richtung des Wasserfalls.
Gut. Das war gut, dachte Gideon. Nun hatten sie Wasser. Sie brauchten Wasser, um zu überleben. Sie waren nun wieder einen Schritt weiter.
„Er will nicht, dass du deine Zeit mit so etwas verschwendest“, erklang Tazris Stimme hinter ihm. Sie musste aus Voriks Zelt gekommen sein, wo sie einen Großteil ihrer Zeit damit verbrachte, mit dem Hauptmann zu sprechen und Planungen vorzunehmen, während sich drei Heiler um ihn kümmerten. Der Grund für Tazris Wachsamkeit schien Gideon offensichtlich. Wenn der hartnäckige Husten, den Gideon aus dem Zelt des Hauptmanns hörte, das bedeutete, was er befürchtete – Verderbnis durch die Eldrazi –, dann würde schon sehr bald Tazri, Voriks engste Vertraute, den Platz des Hauptmanns einnehmen. Und das würde eine Menge Veränderungen für die Überlebenden auf dem Himmelsfelsen nach sich ziehen. Und für Gideon.
Tazri war ihm gegenüber stets abweisend gewesen, seit Vorik im Zuge ihrer Flucht Gideons Vorschläge den ihren vorgezogen hatte. So war es beispielsweise Gideons Idee gewesen, dass die Überlebenden auf dem schwebenden Polyeder Zuflucht suchten, wohingegen Tazri gewollt hatte, dass sie weiterzogen. Gideon glaubte zwar noch immer, richtig gehandelt zu haben, doch er wollte nicht länger mit Tazri streiten. Er brauchte ihr Vertrauen.
„Tazri.“ Gideon drehte sich um und achtete darauf, sein Lächeln beizubehalten. „Ich habe noch einen Becher übrig. Möchtest du frisches Wasser?“
„Ihre Zeit hätte wesentlich besser dazu genutzt werden können, die weitere Flucht vorzubereiten.“
„Das tun sie bereits“, sagte Gideon. „Und das wird ihnen dabei helfen. So können sie leichter ihre Trinkschläuche füllen.“
„Die haben sie sonst drunten am Fluss auch gefüllt bekommen. Wie viele waren hier dabei? Sechs gesunde, starke Leute, die auf die Jagd hätten gehen können? Mittlerweile hätten sie wohl ein oder gar zwei Baloths erlegt. Wir müssen Proviant beschaffen. So lauten Hauptmann Voriks Befehle.“
„Wir brauchen auch Wasser.“
„Nicht, um darin herumzuplanschen.“ Tazri deutete auf die Zendikari, die noch immer im Wasserfall tanzten. „Das ist Zeitverschwendung.“
Gideon konnte nicht anders, als bei dem Anblick zu grinsen. „Es ist nie Zeitverschwendung, die Moral aufrechtzuerhalten.“
Bild von Dan Scott
„Ich weiß, was du tust.“ Tazri verengte die Augen. Das Leuchten des Reifs, den sie um den Hals trug, schien sich zu verstärken. „Du versuchst, diesen Ort hier hübsch herzurichten. Um Gründe zum Bleiben zu finden. Du wartest darauf, dass er zurückkommt. Dieser andere Fremde. Der, der ist wie du.“
Jace. Sie sprach von Jace. Tazri deutete nicht zum ersten Mal an, dass sie wusste, worum es sich bei Gideon handelte: um einen Planeswalker.
„Ich habe gehört, wie ihr miteinander gestritten habt“, fuhr sie fort. „Und ich habe gehört, wie du diesen Streit verloren hast.“
Gideon schnaubte. Er hatte nicht verloren. Er wollte, dass Jace das Rätsel um die Polyeder löste. Es wäre ihm zwar lieber gewesen, wenn man die Reise zum Auge von Ugin so lange verschoben hätte, bis die Lage hier etwas stabiler war, doch dem grundsätzlichen Plan hatte er zugestimmt.
„Du kannst diese Leute nicht zwingen, hier zu warten, bis er zurückkommt“, sagte Tazri. „Es ist zu gefährlich. Hast du irgendeine Ahnung, wie lange er fort sein wird? Weißt du, wie weit Akoum von hier entfernt ist?“
Das wusste Gideon, doch sie gab ihm keine Gelegenheit, ihr zu antworten.
„Nein, tust du nicht“, behauptete Tazri. „Du stammst nicht von hier. Ich weiß über dich Bescheid. Und über ihn. Keiner von euch gehört nach Zendikar, und ihr habt kein Recht, hierherzukommen und diese Leute – meine Leute – in Gefahr zu bringen.“ Als sie geendet hatte, beugte sie sich näher an ihn heran und stieß mit dem Finger gegen die Rüstung über seiner Brust.
Gideon hob die Hände. Er wollte sie nicht belügen, denn auf diese Weise gewann man kein Vertrauen. „Du hast recht. Ich stamme nicht von dieser Welt.“ Er trat einen Schritt zurück, um Tazri etwas Raum zu geben. Dies war seine Gelegenheit, sich zu erklären. Sie musste unbedingt alles verstehen. „Aber ich kenne Zendikar. Ich kenne es gut. Ich habe seine Meere überquert und seine Berge erklommen. Ich habe seine Sonne unzählige Male auf- und untergehen sehen. Ich habe beinahe jeden Kontinent bereist und dort gekämpft. Und das werde ich auch weiterhin tun.“ Er blickte ihr fest in die Augen. „Dieses Land bedeutet mir sehr viel, und noch mehr seine Bewohner. Ich bin nur hier, um zu helfen.“
Tazri musterte ihn, als würde sie ihn zum ersten Mal erblicken und ihn wirklich ansehen. Gideon stand hoch aufgerichtet da, die Miene ernst, denn er wollte ihr unmissverständlich zeigen, wie schwer jedes einzelne seiner Worte wog.
Sie holte tief Luft. „Dann wirst du aufhören, dich einzumischen. Vorik weiß, was das Beste ist. Ich weiß, was das Beste ist. Und das hier ist es nicht.“ Tazri deutete in Richtung des Wasserfalls. „Das ist schlecht, Gideon. Sieht du das nicht? Es vermittelt den Menschen ein falsches Gefühl der Sicherheit. Es lässt sie glauben, dass sie einen Ort ihr Zuhause nennen können, obgleich dem nicht so ist. Sie sind hier nicht sicher. Jeden Augenblick können die Schwärme aus Seetor über uns hereinbrechen. Jeden Augenblick können wir gezwungen sein, erneut um unser Leben zu kämpfen. So wenige überlebten beim ersten Mal. Was glaubst du, wie viele einen zweiten Angriff überstehen werden?“
Überleben war nie leicht.
„Wenn du das Beste für diese Leute willst, wie du sagst, dann hilf ihnen bei der Jagd. Hilf ihnen, Vorräte zu sammeln. Hilf ihnen bei den Vorbereitungen für die weitere Flucht. Anders werden sie nämlich nicht überleben.“
Ein Husten aus der Richtung von Voriks Zelt zog ihrer beider Aufmerksamkeit auf sich.
„Das ist es, was Vorik will.“
Tazri drehte sich geschmeidig um und ging auf das Zelt zu. Gideon tigerte über das hintere Ende des Himmelsfelsens. Das Tosen des Wasserfalls war in der Ferne kaum mehr zu hören. Er wartete auf den Rest der Jagdgruppe: die gleichen sechs, die ihm mit dem Wasserfall geholfen hatten, würden nun versuchen, einen Knurrer aufzustöbern – oder ein Baloth, wenn ihnen das Glück hold war.
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Er war ungeduldig.
Sie verloren Licht.
Und Tazri irrte sich, was den Wasserfall anging.
Der Wasserfall war etwas Gutes.
Das Wasser war etwas Gutes.
Es galt zu überleben, und Gideon hatte entsprechend gehandelt. Das Wasser würde dafür sorgen, dass die Zendikari überlebten – ob nun noch eine Nacht, eine Woche oder einen Monat.
Je länger, desto besser.
Er war nicht mit Tazri einer Meinung und, was das anging, auch nicht mit Hauptmann Vorik.
Er glaubte, dass sie hierbleiben sollten.
Nicht nur wegen Jace, obwohl Tazri nicht unrecht hatte, dass er auf dessen Rückkehr warten wollte. Der Gedankenmagier würde nicht so lange fortbleiben, wie Tazri annahm. Die Reise nach Akoum war zweifellos lang, doch Jace würde wahrscheinlich zurück zum Lager weltenwandeln, sobald er am Auge gefunden hatte, wonach er suchte. Und so blieb nur noch die halbe Entfernung und die Hälfte der Zeit übrig. Mit dem Wissen, das Jace aufspüren würde, hoffte Gideon, ihre Überlebenschancen erheblich zu steigern. Die Verheißung der Macht der Polyeder war die Hoffnung, an die er sich klammerte. Wenn die Zendikari diese Macht nutzen konnten, überlebten sie vielleicht die Flucht, zu der Tazri und Vorik sie überreden wollten.
Doch dort draußen in der Wildnis konnte Gideon sie nicht so gut beschützen wie hier auf dem Polyeder. Zumindest waren sie hier alle an einem Fleck versammelt, und er wusste immer genau, wo sich jeder von ihnen aufhielt. Zumindest fanden sie hier Nahrung und bauten Unterkünfte – und nun hatten sie auch noch Wasser.
Wenn das Ziel das reine Überleben war, dann sollten sie hier nicht weggehen.
Wie lange also konnten sie bleiben?
Er blickte nach Norden in Richtung Seetor. Von hier aus war nur die Spitze seines Leuchtturms zu erkennen.
Was trieben die Eldrazi? Stürmten sie noch immer über die Mauern und verbreiteten ihre Verderbnis über die Felsen? Oder hatten sie sich in Bewegung gesetzt, wie Tazri es vermutete?
Wie schnell bewegten sie sich fort? Wie lange würden sie brauchen, um diesen schwebenden Polyeder zu erreichen?
Wie viele würden es sein?
Wie viele konnte Gideon aufhalten?
Solange sie nur in kleinen Grüppchen kamen, konnte Gideon einen nach dem anderen erledigen, ehe sie das Lager erreichten.
Das konnte er allein schaffen.
Niemand anders würde sein Leben aufs Spiel setzen müssen.
Er würde sich der ganzen verfluchten Meute allein stellen, falls es nötig werden sollte.
Wenn sie jedoch als Schwarm kämen . . . „Beeil dich, Jace“, hauchte Gideon.
„Gideon!“ Die Stimme erklang über ihm und schreckte Gideon auf – einen Augenblick lang hatte er gedacht, gebetet, gehofft, dass es Jace war. Doch dazu war es noch viel zu früh. Natürlich war es nicht Jace.
„Gideon!“
Gideon trat einen Schritt zurück, als ein gewaltiger blauweißer Manta von oben zu ihm hinabglitt und eine Armeslänge entfernt vor ihm schwebte. Die Elfe auf seinem Rücken wirkte zwar etwas deplatziert, doch es schien kein unbequemer Ritt für sie zu sein. Sie kniete stolz und mit geradem Rücken auf dem Rochen. In ihrer erhobenen Hand trug sie einen Speer.
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„Seble“, sagte Gideon. „Was ist los?“
„Schwierigkeiten. Steig auf!“
Gideon zweifelte nicht an den Worten der Himmelsreiterin. Sie war die einzige Kundschafterin des Lagers, die in der Luft stationiert war, und ihre Warnungen hatten das Lager bereits mehr als einmal vor einem möglichen Angriff der Eldrazi bewahrt.
Er kletterte auf das Tier.
„Eine Gruppe nähert sich von Süden“, rief Seble ihm über die Schulter zu, als sich der Manta in die Lüfte schwang. „Und sie wird von Eldrazi verfolgt.“
Gideon atmete erleichtert aus. Wenn sie von Süden kamen, dann gehörten ihre Verfolger nicht zu dem Schwarm aus Seetor. Es war noch immer Zeit.
„Es ist ein Flieger“, sagte Seble. „Und, Gideon, er ist groß!“
Gideon konzentrierte sich. Selbst wenn es nicht der Schwarm war, so war es dennoch ein Eldrazi – einer, den er vernichten musste. „Bring mich dorthin.“ Er hielt sich an Sebles Gürtel fest, als der Manta vorwärtsrauschte.
„Ich glaube, sie sind auf der Flucht“, rief die Elfe ihm zu. „Nach allem, was ich erkennen konnte, sind sie ziemlich mitgenommen.“
„Dann lass uns dafür sorgen, dass der letzte Teil ihrer Reise so angenehm wie möglich ist“, sagte Gideon.
Dies wäre dann die zweite Gruppe, die der Himmelsfelsen bereits willkommen geheißen hatte. Die letzte – eine Schar von Kor, die völlig verstört umhergeirrt waren, nachdem sie Seetor erblickt hatten – war von einem Jagdtrupp gefunden worden. Sie kamen aus Akoum und waren über zwei Kontinente und das Meer gereist, weil sie glaubten, Seetor wäre eine sichere Zuflucht. Das war die Kunde, die sich den Kor zufolge über fast die gesamte Welt verbreitet hatte. Sie sagten, es würden noch mehr kommen – von überall her. Und hier war der Beweis.
All diese Zendikari flohen zu einer Zuflucht, die es nicht mehr gab.
Als der Manta über einem großen, zerbrochenen Polyeder kreiste, erhaschte Gideon einen ersten Blick auf den riesigen Eldrazi, vor dem Seble ihn gewarnt hatte. Er flog tief, hatte erstaunlich blaue Tentakel und bewegte sich mit schlängelndem Leib knapp über den Baumwipfeln fort, um sich einen Weg durch die Ranken zu bahnen, die von den Polyedern über ihm herabhingen.
Er bewegte sich auf eine Gruppe in der Ferne zu, ganz wie Seble gesagt hatte. Diese Leute schienen sich der Gefahr, in der sie schwebten, nicht bewusst zu sein.
„Wie dicht kannst du mich heranbringen?“, rief Gideon Seble zu.
„Wie nahe willst du denn heran?“ Seble trat dem Manta in die Seite, um ihn zu einem Sturzflug auf den Eldrazi anzuspornen.
Als der Manta in die Tiefe schoss, entrollte Gideon sein Sural.
Sebles Manöver brachte sie dicht genug heran, dass sie ihn mit einem kräftigen Speerstoß erwischen konnte. Als die Speerspitze in die Seite des Eldrazi stach, hieben die vier Klingen von Gideons Sural auf seinen Rücken ein und schlugen ihm vier tiefe Wunden.
Doch das reichte nicht aus, um ihn auch nur zu verlangsamen.
„Achtung!“, rief eine panische Stimme von unten. Es war eine der Fliehenden, eine Menschenfrau mit langem, silbergrauem Haar. Sie hatte den Eldrazi entdeckt.
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Die Aufregung der Frau schien das Ungeheuer anzuziehen. Es wurde schneller.
Die Gruppe rannte los.
„Flieg ihn noch mal an!“, rief Gideon Seble zu. „Schnell!“
Beim zweiten Vorbeiflug kam Seble dem Eldrazi dichter als beim ersten Mal – so dicht, dass Gideon seine gerade freigelegten Innereien riechen konnte.
Er holte mit seinem Sural aus, und Schleim spritzte aus vier weiteren Wunden an der Seite der Kreatur. Doch auch diese Verwundungen verlangsamten sie nicht.
Er musste sie aufhalten.
Erneut schwang er sein Sural, diesmal mit der Absicht, die Monstrosität damit einzufangen, anstatt sie zu verletzen. Mit einer Bewegung seines Handgelenks schlangen sich die Klingen der Waffe um die Tentakel des Eldrazi.
Gideon zog und zerrte das Geschöpf zurück, um es von seinem Kurs in Richtung der Fliehenden abzubringen.
Allerdings hatte er dabei nicht an die Eigenheiten eines Luftkampfs gedacht. Ohne etwas, was sie der Kraft des Angriffs entgegensetzen konnten, wurden Gideon, Seble und der Manta in genau entgegengesetzter Richtung durch die Luft geschleudert.
Sie neigten sich zur Seite und gerieten ins Trudeln, während Seble versuchte, die Kontrolle über ihren Flug wiederzuerlangen. „Lass es los!“, rief sie Gideon zu.
Gideon zog an seinem Sural, um den Eldrazi freizulassen, doch zwei der Klingen hatten sich in einem Tentakel verfangen und er konnte sie nicht herausziehen.
Der Eldrazi bäumte sich auf, und der Manta wurde zur Seite gerissen.
„Lass los!“, rief Seble erneut.
Gideon begriff, dass sie meinte, er solle sein Sural loslassen, doch es war zu spät. Er verlor den Halt und rutschte vom geschwungenen Rücken des Mantas herunter.
Einen Augenblick lang fiel er frei vom Himmel. Dann fand sein Sturz dank seines Surals ein jähes Ende. Er hing vom Rücken des Eldrazi herab und konnte dabei sehen, wie Seble und der Manta dem Boden entgegentaumelten.
Die ganzen Mühen hatten ihm keinerlei zusätzliche Zeit verschafft. Der Eldrazi war noch immer auf Kurs. Wie er so an ihm herunterbaumelte, konnte Gideon die Narben und Wunden an den Armen und Beinen der Menschen erkennen.
„Bleib weg von ihnen!“ Indem er sein Sural wie eine Winde einsetzte, so wie er es Abeena hatte tun sehen, zog sich Gideon auf die Tentakel und schließlich auf die knöchernen Rückenplatten des Eldrazi hinauf.
Das Ungeheuer schlug um sich und wand sich, griff mit vier Armen nach ihm, die sich auf höchst unnatürliche Weise nach hinten durchbogen, und schaffte es dennoch, seinen Kurs beizubehalten.
Gideon bündelte die Magie seiner leuchtenden Schilde und errichtete einen an seiner Seite, dann einen an seinem Oberkörper und schließlich noch einen an seinem Bein, sodass er vor allen Gliedmaßen des Eldrazi geschützt war, während er an dessen knöchernen Platten bis zum Kopf emporkletterte.
Dort griff er nach den dünneren Tentakeln, die vage an die Fühler eines Insekts erinnerten, und setzte sie wie Zügel ein, um den Kopf des Ungeheuers zurückzureißen. Dann stieß er sie nach vorn, legte sein gesamtes Gewicht in die Bewegung und zwang den Eldrazi so zum Sturzflug.
Das Ding brüllte und zuckte und schlug mit den Tentakeln um sich, doch Gideon gab nicht nach. „Ich habe dir gesagt, du sollst von ihnen wegbleiben!“
Mit einer letzten Anrufung seiner Macht ließ er den Eldrazi abstürzen wie einen Stein und errichtete seine wirbelnden magischen Schilde gerade noch rechtzeitig, um sich selbst vor dem Aufprall zu schützen.
Durch den Einschlag kam auch sein Sural frei. Er riss die Waffe nach hinten und hob sie über den Kopf, während er von dem Eldrazi heruntersprang und schon im nächsten Atemzug nach ihm ausholte – einmal, zweimal, wieder und wieder. Er trennte Tentakel um Tentakel ab, bis er auf die verwundbarsten Teile im Fleisch des Eldrazi eindrosch.
Das Ding kreischte und quiekte, doch die unnatürlichen Laute spornten Gideon nur noch weiter an. Ein Hieb für jeden Zendikari, den er an seinesgleichen verloren hatte. Und einen weiteren für jeden, den er noch verlieren würde. Die Menschen versuchten, nur noch zu überleben, doch es waren zu viele Ungeheuer – zu viele, deren endloser Strom sich über das ganze Land ausbreitete. Für immer. Nie würde es enden.
Die Zendikari würden nie in Sicherheit sein.
Wie sollten sie denn jemals überleben?
Wie?
Zu Gideons Füßen türmte sich ein Haufen aus dem Fleisch und den Eingeweiden des Eldrazi auf. Es war nichts mehr übrig, was es noch zu vernichten gab. Er ließ den Arm sinken, und sein Sural fiel reglos neben ihm zu Boden.
Sie konnten sich nicht nach Zulaport zurückziehen.
Ganz gleich, was Vorik sagte.
Ganz gleich, was Tazri wollte.
Die Menschen vom Himmelsfelsen würden all das nie überleben. Sie würden es nie schaffen, Tazeem zu durchqueren, geschweige denn über das Meer überzusetzen.
Es waren zu viele Eldrazi.
Sie mussten bleiben. Wenn sie überleben wollten, dann mussten sie hierbleiben.
Doch was, wenn sie mehr wollten, als nur zu überleben?
Ein Windhauch und das Schlagen ledriger Flügel zogen Gideons Aufmerksamkeit auf sich. Er drehte sich um und sah Seble, die nicht weit entfernt über ihm schwebte und ihn fragend anblickte.
„Haben sie es ins Lager geschafft?“, fragte er.
Sie nickte.
„Ich muss dorthin zurück.“
Sie brachte den Manta tiefer herunter, damit er aufsteigen konnte.
Noch ehe Gideon vom Rücken des Mantas heruntergeklettert war, hörte er Tazris erhobene Stimme. Sie stritt mit der Gruppe der Neuankömmlinge. Gideon eilte im Laufschritt zu ihnen.
„Seetor kann nicht fallen“, grollte ein Kor aus der Gruppe, als sei allein der bloße Gedanke schon völlig abwegig.
„Es ist gefallen“, sagte Tazri. „Wir sind vor ein paar Tagen von dort geflohen. Es ist verloren.“
„Nein.“ Die alte Frau mit dem langen, silbergrauen Haar, die Gideon von oben gesehen hatte, griff nach Tazris Arm. „Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Dies.“ Sie hob die andere Hand und streckte einen knochigen, faltigen Finger aus. „Dies ist es, wofür wir gekämpft haben. Dies ist es, weshalb ...“ Sie biss sich auf den Knöchel, um ein Schluchzen zu unterdrücken. „Ihr macht euch keine Vorstellung.“ Ihre Stimme bebte, doch sie drängte die Tränen zurück. „Wisst ihr, was wir alles hinter uns haben? Die Turbulenz. Vier Mal. Die gewaltigen Eldrazi. Ein Schwarm von ihnen im Fluss. Tho, Zuri, Itri ... Sie alle fielen in dem Wissen, dass wir Schutz finden würden ... Nein. Deshalb kamen wir hierher.“ Sie fuchtelte mit dem Finger vor Tazris Gesicht herum. „Das ist Seetor. Seetor ist Zendikars einzige Hoffnung. Seetor ist alles, was wir noch haben. Deshalb sind wir hier.“
Die anderen hinter ihr hielten ebenfalls ihre Finger in die Höhe. Gideon erkannte die Geste. Die erste Gruppe Ankömmlinge hatte sie ebenfalls zur Schau getragen. Ihre Finger waren ein Zeichen für den Leuchtturm. Seetor. Ihre Hoffnung.
„Es tut mir leid“, sagte Tazri. „Seetor gibt es nicht mehr. Ihr könnt mit uns nach Ondu kommen.“
„Ondu?“, erwiderte eine junge Frau aus der Gruppe bestürzt. „Es ist kaum noch etwas übrig von Ondu.“
Bild von Jonas De Ro
„Jeder aus Ondu geht nach Seetor. Genau wie jeder aus Akoum. Sogar einige der Vampire aus Guul Draz. Und nun sagt ihr uns – uns allen, nach all unseren Entbehrungen, nach all unseren Kämpfen –, dass dort nichts ist? Dass es kein Ende hat?“ Sie blickte von Tazri zu Gideon. „Das kann nicht wahr sein. Bitte. Das kann doch nicht wahr sein.“ Stumme Tränen rannen ihr über die Wangen.
Gideon spürte ihre Verzweiflung.
Es konnte nicht wahr sein.
„Es ist der Hauptmann“, durchbrach Abeenas erstickte und gehetzte Stimme in Gideons Rücken das Schweigen. Er drehte sich um. „Er hat nach dir gerufen.“ Sie blickte zu Tazri.
„Es tut mir leid“, sagte Tazri zu den Überlebenden. Sie rannte bereits auf Voriks Zelt zu. „Ich muss gehen.“
„Er hat nach euch beiden gerufen“, sagte Abeena. „Gideon, dich will er auch sehen. Sofort.“
Gideon sah es in ihren Augen. Vorik würde den nächsten Sonnenaufgang nicht mehr erleben.
„Bleib bei ihnen, Abeena“, sagte Gideon.
Die Kor nickte ernst.
Gideon verließ die kleine Gruppe Überlebender und rannte hinter Tazri über den Polyeder.
Sie wandte sich zu ihm um. „Es gibt keine neuen Vorräte“, herrschte sie ihn an. „Du warst nicht auf der Jagd.“
„Nein.“ Gideon schloss zu ihr auf und hielt die Plane von Voriks Zelt auf. „Ich hatte keine Gelegenheit.“ Vorik durfte jetzt noch nicht sterben. Gideon war noch nicht bereit, Weisungen von Tazri entgegenzunehmen.
Im Innern des Zeltes war es stickig und roch nach trockenem, fauligem Schimmel – der Geruch der Verderbnis der Eldrazi. Er stammte von Voriks Atem.
Drei Heiler standen an der hinteren Zeltwand, schweigend und wachsam.
Gideon kniete sich neben das Bett des Hauptmanns. Tazri stand hinter ihm.
„Mein Herr, wir sind hier“, sagte sie.
Vorik öffnete die Augen. Sie waren blutunterlaufen und wirkten wie zersprungenes Glas. „Wie ich höre, haben wir Neuankömmlinge?“
„Ja“, sagte Tazri.
„Eine kleine Gruppe.“
„Sie sind auf der Flucht. Und viele weitere kommen jeden Tag hinzu“, sagte Gideon. „Sie wollten nach Seetor.“
Vorik schüttelte mitleidig den Kopf. „Seetor.“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Tazri funkelte Gideon an – ein Blick, der ihm zu verstehen gab, nicht weiterzureden, doch er musste einfach etwas sagen. Vorik musste die Wahrheit erfahren, bevor er starb. Jetzt, solange er noch über das Schicksal der Menschen hier entscheiden konnte. „Sie kommen von überall auf der Welt, mein Herr. Von all den anderen Orten, die den Eldrazi zum Opfer fallen. Akoum, Guul Draz . . . Ondu.“
„Seetor hätte niemals fallen dürfen.“ Vorik schüttelte noch immer gedankenverloren den Kopf. Es schien nicht so, als hätte er Gideon gehört. Er blickte zu Tazri. „Und wie steht es um die Vorbereitungen für die weitere Flucht?“
„Wir sind dabei, mein Herr“, sagte Tazri. „Die große Zahl der Neuankömmlinge führt dazu, dass wir mehr Vorräte sammeln müssen. Doch wir können noch diese Woche aufbrechen, wenn jeder seinen Teil dazu beiträgt.“ Sie warf Gideon einen weiteren Blick zu. „Ich habe einen Weg durch Tazeem festgelegt und . . .“
„Einen Weg, auf dem es von Eldrazi nur so wimmeln wird“, warf Gideon ein.
Bild von Adam Paquette
„Den sichersten Weg, den ich finden konnte“, erwiderte Tazri.
„Es gibt keinen sicheren Weg durch Tazeem.“ Gideon erhob die Stimme, ehe Tazri protestieren konnte. Er hatte einen Standpunkt zu vertreten, und genau das würde er auch tun. „Es gibt auf ganz Zendikar keinen sicheren Weg.“
„Unsere Reise wird gefährlich sein, das stimmt“, sagte Tazri. „Aber das wissen wir. Und meine Kundschafter versicherten mir, dass Boote auf uns warten werden, mit denen wir das Meer überqueren können, sobald wir erst die Küste erreicht haben.“
„Boote, die gerade erst dort angelegt haben“, sagte Gideon. „Boote, die gerade erst aus Akoum und Ondu kamen, um Menschen von dort wegzubringen. Weil diese Orte nämlich gefallen sind.“
Tazris Nasenlöcher bebten, und der Reif um ihren Hals gleißte. Sie drehte sich zu Gideon um. „Ja, ich habe dich verstanden. Wir alle haben dich verstanden. Du willst nicht, dass wir weiter fliehen. Du willst nicht, dass wir nach Zulaport gehen.“
„Nein, das will ich nicht“, sagte Gideon.
„Was sollen wir denn deiner Meinung nach stattdessen tun? Hierbleiben? Auf diesem Felsen sitzen, wo wir verwundbar und angreifbar sind, und darauf warten, dass sie uns holen? Darauf warten, dass wir sterben?“
„Nein.“ Gideon wurde bewusst, dass er tatsächlich einen anderen Plan hatte. Irgendwann während er den fliegenden Eldrazi erlegt, mit den Neuankömmlingen gesprochen und die Risse in Voriks Augen gesehen hatte, war ihm eingefallen, was zu tun war. Er begegnete Voriks flackerndem Blick. „Ich finde, wir sollten nach Seetor zurückgehen.“
„Was?“, rief Tazri aus. „Unmöglich!!“
„Seetor ist gefallen, Gideon“, hustete Vorik. Eine Staubwolke stieg aus seinem Mund auf und hing zwischen ihnen in der Luft. „Es wurde überrannt. Es ist verloren.“
Ein Teil von Gideon wollte den Blick von dem Staub und dem sterbenden Hauptmann abwenden, doch er achtete und schätzte diesen Mann zu sehr. Er blinzelte nicht einmal. „Es kann wieder aufgebaut werden, mein Herr“, sagte er. „Wir können es zurückerobern. Wir versammeln hier auf dem Himmelsfelsen eine Streitmacht – mit all den Neuankömmlingen, die hier eintreffen sollen, haben wir bereits eine beachtliche Streitmacht. Sobald sie groß genug ist, umzingeln wir Seetor so, wie sie es getan haben, und dann dringen wir dort ein und holen uns zurück, was uns gehört. Ihr selbst habt gesagt, dass dies die strategisch beste Position auf ganz Zendikar ist. Wir brauchen Seetor, mein Herr, wir brauchen es, um . . .“
„Du bist ja wahnsinnig“, schnitt Tazri ihm das Wort ab. „Du warst doch dabei, Gideon – zumindest den Großteil der Schlacht. Du hast unsere Leute sterben gesehen. Du hast die Schwärme der Eldrazi gesehen. Wie kannst du nur glauben, wir hätten eine Chance?“
Bild von Aleksi Briclot
„Die Eldrazi werden nicht lange dort bleiben“, sagte Gideon. „Sie verhalten sich nicht wie die Armeen aus vernunftbegabten Geschöpfen, die wir kennen. Sie haben kein Interesse daran, Seetor zu halten. Sie fressen, so viel sie können, und ziehen dann weiter. Genau so, wie sie es schon mit anderen Orten getan haben.“
„Sie ziehen weiter und werden schnurstracks zu uns kommen!“, sagte Tazri. „Wir können gar nicht schnell genug aufbrechen.“
„Aber es gibt keinen Ort mehr, an den wir gehen könnten, Tazri!“ Gideon ballte die Fäuste. Warum sah sie das nicht ein? „Du sagst immer wieder, wir müssen fliehen, aber nicht, wohin!“
„Zulaport“, sagte Tazri. „Wir gehen nach Zulaport, wie der Hauptmann befohlen hat.“
„Und woher wissen wir, dass Zulaport nicht ebenfalls gefallen sein wird, wenn wir dort eintreffen? Woher wissen wir, dass es nicht bereits gefallen ist? Dies ist das Ende. Die Eldrazi übernehmen alles. Wenn wir uns jetzt nicht wehren, wird ganz Zendikar vernichtet werden.“
„Genug!“, rief Vorik und wurde gleich darauf von einem neuerlichen Hustenanfall geschüttelt. Staubwolken schossen mit jedem Keuchen in die Luft.
Die drei Heiler drängten sich an Tazri und Gideon vorbei.
Bild von Anna Steinbauer
Gideon stand auf und trat einen Schritt von der Bettstatt des Hauptmanns zurück.
„Narr“, spie Tazri aus. „Das bist du. Ein Narr. Du würdest diese Leute – meine Leute, Voriks Leute – in den Tod führen.“
„Nein. Ich gäbe ihnen die Chance, mit dem Leben davonzukommen.“
„Ihre Chance, mit dem Leben davonzukommen, liegt in Zulaport. Das weißt du so gut wie ich.“
„Es reicht nicht mehr, nur zu überleben, Tazri“, sagte Gideon.
„Wie kannst du das sagen? Überleben ist alles.“
„Ich habe es auch nicht gleich erkannt. Erst jetzt. Ich war zu sehr auf das fixiert, was vor uns liegt. Das waren wir alle. Doch wir müssen das große Ganze betrachten.“ Gideon bemerkte, dass es Jaces Worte waren, die ihm da gerade über die Lippen kamen. Und in diesem Fall hatte der Gedankenmagier wohl recht. „Nicht nur Seetor wurde überrannt. Die Eldrazischwärme nehmen sich alles. Sie sind überall. Ich habe sie selbst gesehen. Wenn wir jetzt nicht handeln, wenn wir jetzt nicht zurückschlagen, dann ist diese Welt verloren. Alles und jeder auf ihr wird vernichtet werden.“
Tazri spießte Gideon mit dem Blick ihrer hellen Augen förmlich auf. „Außer dir. Du wirst einfach fortgehen.“
Gideon blinzelte überrumpelt von ihrer Anschuldigung, doch ehe er etwas erwidern konnte, erhob der Hauptmann die Stimme. „Schluss jetzt!“ Einen Augenblick lang klang es, als sei die alte Kraft des Hauptmanns zurückgekehrt und als würde er wieder Befehle über das Schlachtfeld brüllen. „Hört auf damit, solchen Krawall um mich herum zu veranstalten und tretet endlich zurück. Lasst einem alten, sterbenden Mann ein wenig Luft zum Atmen, ja?“ Er sprach zu den Heilern. „Eure Arbeit hier ist getan.“ Er nickte ihnen mit festem Blick zu. „Ich danke euch für alles, was ihr getan habt, doch nun ist es vorbei.“ Er blickte an den Heilern vorbei. „Tazri, Gideon. Kommt her. Es ist nicht viel Zeit.“
Als die Heiler gesetzten Schrittes und mit düsteren Mienen zurücktraten, näherten sich Tazri und Gideon.
„Ich sterbe und ihr streitet euch hier.“
„Mein Herr“, setzte Tazri an, doch Vorik fiel ihr ins Wort.
„Jetzt ist nicht die Zeit für Streitereien. Jetzt ist die Zeit, zuzuhören. Einander. Ihr beide seid die wichtigsten Ressourcen füreinander.“
Gideon warf Tazri einen Blick zu, doch sie starrte weiter mit versteinertem Gesicht auf Vorik.
„Und wenn ihr schon nicht aufeinander hört, dann wenigstens auf mich.“ Vorik setzte sich eine Winzigkeit auf. „Ich habe euch etwas Wichtiges mitzuteilen.“ Er leckte sich über die trockenen Lippen, doch seine Zunge war noch ausgedörrter. Schuppen rieselten von beidem herab. Er räusperte sich. „Als ich dort auf dem Schlachtfeld in der Klemme steckte, als dieses Eldrazimonstrum mich mit seiner verderbten Essenz durchdrang ... Das war das Schrecklichste, was ich jemals erlebt habe.“
Gideon spannte jeden Muskel an.
„Doch in diesem Augenblick spürte ich keinen Schrecken. Kein Bedauern. Nein. Ich fühlte Erleichterung. Ich schäme mich, es zuzugeben, aber es ist die Wahrheit. Ich spürte Erleichterung, dass mir ein leichter Ausweg vergönnt war – dass ich nicht bleiben und das mit ansehen musste, was als Nächstes kommen würde.“
Neben Gideon rührte sich Tazri unruhig.
„Doch dann dachte ich an meine Leute“, sagte Vorik. „Ich dachte an die Zendikari, und ich fühlte Bedauern. Ich wäre fort und sie wären noch hier. Ihr wäret noch hier. Ihr müsstet mit ansehen, wie die Welt endet.“ Vorik hielt inne, um ein Husten zu unterdrücken. „Doch nun habe ich Hoffnung“, stieß er mit erstickter Stimme hervor. „Ich habe Hoffnung, dass es nicht wahr ist. Ich habe Hoffnung, dass es noch eine Chance für Zendikar gibt. Gideon Jura, du hast mir Hoffnung gebracht.“ Er hob einen Finger.
Gideon dachte, Vorik wollte ihnen bedeuten, dass sie warten sollten, bis er einen weiteren Hustenanfall unterdrückt hatte . . . doch dann erkannte er es.
„Seetor“, sagte Vorik und hielt den Finger hoch. Dann richtete er ihn auf Gideon. „Diese Leute müssen auf die gleiche Weise beflügelt werden, wie du mich beflügelt hast. Sie müssen Hoffnung finden, genau wie ich. Sie brauchen einen Anführer, der stets nur den Sieg vor Augen hat, ganz gleich, unter welchen Umständen. Wenn ich fort bin, wirst du diese Leute führen. Ihr werdet Seetor zurückerobern, Generalhauptmann Jura.“
„Mein Herr“, stammelte Gideon. Der Titel . . .
„Nein“, entfuhr es Tazri.
„Tazri.“ Vorik blickte seine Beraterin an. „Du bist stark und tapfer und warst mir eine treue Beraterin. Doch du bist mir zu nahe. Mir, meinen Ideen, Zendikar. Diese Welt braucht eine neue Sicht auf die Dinge. Diese Leute brauchen etwas Neues, woran sie glauben können.“
„Aber . . .“
„Du kennst Zendikar besser als jeder andere, vielleicht besser als ich selbst. Und deshalb braucht der Hauptmann deine Hilfe. Du wirst ihm zur Seite stehen, wie du mir zur Seite gestanden bist.“
„Das könnt Ihr nicht tun, mein Herr“, sagte Tazri. „Er stammt nicht einmal von Zendikar!“
Vorik hustete erneut. Es war ein rauer, papierner Laut, der einen Brocken Verderbnis von der Größe einer Münze zutage förderte. Er rang um Atem und schüttelte den Kopf. „Es ist nicht wichtig, woher er stammt, Tazri. Er ist ebenso störrisch wie alle Zendikari.“
Vorik fasste schwach nach Gideon, der seine Finger um die welkende Hand des Hauptmanns schloss.
„Bewahre dir diese Haltung“, sagte Vorik. „Bewahre dieses Land.“
„Das werde ich, mein Herr“, schwor Gideon.
„Ich überlasse Zendikar dir, Gideon.“ Die Worte gingen in einem Husten unter, der die Lungen des Hauptmanns zu zerreißen schien. Sein Körper verkrampfte sich, und dann wurde seine Hand in Gideons schlaff.
Das Begräbnis fand bei Sonnenaufgang am Rande des Polyeders statt, mit weitem Blick über das Land.
Bild von Adam Paquette
Die Zendikari sangen Hymnen. Ihre Stimmen erklangen erst tief und stark, um sich dann zu etwas Wildem und Kühnem aufzuschwingen.
Gideon fiel ein, wann immer er konnte, doch Tazris Seitenblicke gaben ihm zu verstehen, dass er falsch sang.
Hauptmann Voriks Leichnam wurde sorgfältig in Tücher gehüllt, und die Zendikari bildeten einen Kreis um ihren gefallenen Anführer. Der Reihe nach kniete jeder von ihnen nieder, nahm ein Stück Holzkohle und malte ein Zeichen auf das Leichentuch, während er leise eine Botschaft flüsterte.
Nun war Gideon an der Reihe.
„Wenn du nicht weißt, was du sagen sollst, dann sag besser gar nichts“, zischte Tazri ihm zu, als er auf Voriks Leichnam zutrat.
Gideon kniete nieder. Er nahm die Holzkohle auf und machte schweigend sein Zeichen.
Tazri hatte recht: Er kannte die Worte der Begräbniszeremonie nicht. Doch er wusste, was er sagen wollte.
Er stand auf, sog tief die Luft Zendikars ein und ließ sich vom Duft des wilden Landes durchströmen. Er schaute die Menschen auf dem Himmelsfelsen an – seine Leute. „Heute haben wir viel verloren“, begann er. „Nicht nur unseren Hauptmann. Wir sind hier ohne unseren Anführer, unseren Auserwählten, unser Licht, das uns führt. Wie auch der Leuchtturm in Seetor stand Vorik stets aufrecht, selbst im Angesicht unseres größten Widersachers. Und obgleich er nun von uns gegangen ist, müssen wir es ihm in dieser Aufrichtigkeit gleichtun, denn wir stehen dem schlimmsten Feind gegenüber, den Zendikar je gesehen hat.
Auf die gleiche Weise, wie die Verderbnis uns unseres Freundes beraubt hat, so berauben uns die verderbten Ungeheuer unseres Landes. Jeden Tag ein bisschen mehr. Jeden Tag werden sie zahlreicher. Jeden Tag nehmen sie mehr. Und dies können wir nicht länger zulassen.“ Er deutete mit dem Kinn auf Voriks Leichnam. „Wir haben gesehen, was geschieht, wenn sie ungehindert wüten können. Wir können nicht zulassen, dass das, was unserem Anführer widerfahren ist, auch dieser Welt widerfährt.“
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Er hielt inne und blickte in die eingefallenen, müden Gesichter. „Wir haben hier und heute die Wahl. Wir können uns entscheiden, den Himmelsfelsen zu verlassen. Binnen einer Woche sind wir bereit, weiterzuziehen. Wir haben Vorräte und Nahrung. Am Hafen warten Boote auf uns. Wir können uns nach Zulaport zurückziehen.“
Ängstlich hörten die Menschen ihm zu.
„Doch wenn dies unsere Entscheidung ist, dann werden viele von uns es nicht schaffen. Die Reise wird gefährlich sein. Im ganzen Land und auf dem Wasser werden wir auf Aberhunderte von Eldrazi treffen. Ich habe das Meer überquert. Ich habe die Eldrazi in Ondu, Kabira, Fort Keff und an allen Orten dazwischen gesehen. Sie sind überall. Und jeden Tag werden es mehr. Vielleicht sind sie bereits in Zulaport. Vielleicht finden die von uns, die es bis dorthin schaffen, nichts weiter als Eldrazi.“
Tazri wollte widersprechen, doch Gideon hob die Hand und fuhr fort. „Vielleicht jedoch steht die Festung auch noch. Doch wenn das so ist – wie lange noch? Wie lange wird ihnen überhaupt noch irgendetwas standhalten?“ Er warf einen Blick zu Tazri. „Das ist ungewiss, doch wenn wir Zulaport wählen, dann wird die Zeit kommen, dass Zulaport fällt. Es wird fallen, wie Seetor gefallen ist und wie jeder andere Teil Zendikars fällt. Wählen wir den Rückzug, gehen wir gemeinsam mit dieser Welt unter.“
Es war eine grausame Wahrheit, aber es war die Wahrheit, und diese Menschen verdienten es, sie zu hören. Sie mussten die Wahrheit sehen.
„Doch wir haben noch eine andere Möglichkeit“, sagte Gideon. „Wir können uns entschließen, zurückzuschlagen. Wir können uns entschließen, nicht länger davonzulaufen. Wir können uns entschließen, zum Angriff überzugehen. Dazu, dieser denkbar größten aller Widrigkeiten aufrecht und standhaft entgegenzutreten. Ich stehe heute hier vor euch als euer Hauptmann, und ich sage: Wir kämpfen! Ich bitte euch, mir zu helfen. Helft mir, jeden Zendikari, der bereit zum Kämpfen ist, aus allen Winkeln der Welt und von jedem Kontinent um mich zu scharen. Wir werden genau hier auf dem Himmelsfelsen zusammenkommen. Die gesamte Stärke Zendikars wird an einem Ort vereint sein, und mit dieser Streitmacht werden wir zurückschlagen. Und mit der Macht des Landes hinter uns können wir nicht verlieren. Mit dieser Macht werden wir Seetor zurückerobern.“
Ein Raunen ging durch die Menge, doch Gideon fuhr fort. Es gab noch mehr, was sie hören sollten. Noch mehr, was er zu sagen hatte. „Seetor ist das Herz dieser Welt. Ihre strategischste Position. Voller Waffen, Nahrung und Vorräte. Wehrhaft und gut zu verteidigen. Seine Rückeroberung ist nur der erste Schritt. Von dort aus führen wir unseren eigenen Angriff. Wir werden zu Jägern. Wir stellen den Eindringlingen nach. Wir löschen die Verderbnis aus. Wir schwärmen durch das ganze Land aus und holen uns das zurück, was uns gehört.“ Er schwang sein Sural durch die Luft. „Wir holen uns Zendikar zurück!“
Bild von Dan Scott
Er blickte die versammelten Zendikari der Reihe nach an. „Wer ist dabei?“
Nach einem langen Augenblick hob Seble die Faust. „Für Zendikar!“
„Für Zendikar!“ nahm Abeena ihren Ruf auf.
Jubel brandete mit solcher Wucht aus der Menge auf, dass die Stimmen den Polyeder erbeben ließen, auf dem sie standen. „Für Zendikar!“
Gideon blickte zu Tazri, die mit vor der Brust verschränkten Armen neben ihm stand.
„Ich werde nicht fortgehen“, schwor Gideon. „Ich werde hier sein, wenn das Ende kommt.“
Tazri blickte ihn an.
„Darauf gebe ich dir mein Wort“, sagte er. „Ich werde für Zendikar kämpfen.“
Der Reif um Tazris Hals gleißte auf, und sein Licht spiegelte sich in den Tränen, die ihr in den Augen standen. Sie nickte.
„Für Zendikar, Hauptmann. Für Zendikar kämpfe auch ich.“