Für Zendikar
Was bisher geschah: Chandra Nalaar: Gaben an das Feuer
Viele Jahre sind vergangen, seit die Welt Zendikar das erste Mal zu Nissa Revane sprach, ihr Visionen sandte und sie anflehte, jener finsteren Kreatur den Garaus zu machen, die im Innern seiner Berge eingekerkert war. Obgleich Nissa sich dieser Eldrazimonstrosität damals mutig entgegengestellt hatte, war es ihr nicht gelungen, sie zu vernichten ... oder ihre Geschwister. Seit jener ersten Begegnung hat Nissa ihr Leben dem Kampf gegen die Eldrazischwärme gewidmet, die ihre Welt plagen. Trotz zahlreicher Fehlschläge und Wirrungen scheint es, dass Zendikar noch immer Vertrauen in sie hat, denn es schenkt ihr seine Macht, wenn sie sie anruft – eine Macht, die sich als riesiges, baumartiges Elementar manifestiert, um ihr im Kampf beizustehen. Also kämpft Nissa weiter und hofft, dass Zendikar richtig daran getan hat, sie auszuwählen.
Nissa, die weise Animistin | Bild von Wesley Burt
Nissa stand an der Seite des Elementars von Zendikar auf einem steilen Grat, der den Riesenholz-Wald überragte. Aus dieser Höhe war es beinahe möglich – wenn man seinen Blick verschwimmen ließ und ein ganz kleines bisschen die Lider zusammenkniff –, nur Töne von Grün und Braun wahrzunehmen: die natürlichen Farben des Waldes.
Erwachen der Animistin | Bild von Chris Rahn
Doch sie wusste, dass es auch die fahlen Stellen gab. Sie zogen sich in zahlreichen Windungen und Kehren durch das Land wie ausgedörrte Flussbetten. Nissa wünschte, das wäre alles gewesen, was sie waren. Eine Dürre, selbst die schlimmste Trockenheit, wäre besser gewesen als das, was der Welt gerade widerfuhr.
Die unregelmäßigen, weißen Spuren der Verderbnis, die die Eldrazi aus Ulamogs Brut zurückgelassen hatten, waren der Tod. Leere. Nichts. Die Eldrazi saugten sämtlichen Geschöpfen, denen sie begegneten, das Leben und die Essenz aus. Wo sie vorbeigezogen waren, wuchs kein Grashalm mehr, und selbst die zähen Löwenfliegen mieden die verderbten Gebiete. Zunächst hatten viele der Bewohner Zendikars geglaubt, das tote Land würde sich erholen – dass im Lauf der Zeit das Leben zu ihm zurückkehren würde. Doch die Jahre vergingen, und die Bahnen der Zerstörung, die die Eldrazi hinterlassen hatten, wuchsen nur immer weiter. Es schien, als wäre der Schaden, den die Eldrazi angerichtet hatten, von Dauer. Dieses Leben hatte Zendikar für immer verloren.
Bald war ein Punkt erreicht, an dem die Welt nicht mehr viel zu geben haben würde.
„Sie wollen alles an sich reißen“, sagte Nissa. „Manchmal weiß ich nicht, ob wir sie aufhalten können.“
Sie redete hauptsächlich mit sich selbst, aber auch mit dem Elementar an ihrer Seite. In den letzten Tagen hatte sie angefangen, mit ihm zu sprechen, obwohl es schien, dass es nicht verstand, was sie sagte.
Die einzige Art eines Verständigungsversuchs, die es Nissa angedeihen ließ, war eine Geste, die es ein paarmal am Tag wiederholte: Es griff mit einer zweigartigen Hand nach etwas, was Nissa weder sehen noch verstehen konnte.
Sie hatte versucht, die Bedeutung dieses Verhaltens zu erraten, doch jedes Mal schien sie falsch zu liegen. Das hielt sie allerdings nicht davon ab, trotzdem mit ihm zu reden. Seit sie Hamadi und die anderen Elfen zurückgelassen hatten, bahnten nur noch sie beide sich einen Weg durch das, was vom Riesenholz-Wald noch übrig war, und Nissa fand es tröstlich, ihre Stimme noch für etwas anderes als Kampfschreie einzusetzen.
„Das war gute Arbeit vorhin.“ Nissa nickte über die Schulter in Richtung des Waldgebiets, das sie gerade hinter sich gelassen hatten. Zwei Eldrazikadaver lagen hinter ihnen, und das Elementar neben Nissa war dafür verantwortlich, dass dem größeren nun vier Tentakel fehlten.
Ulamogs Schläger | Bild von Todd Lockwood
Nissa wollte ihre Dankbarkeit zeigen, doch sie war noch immer dabei zu lernen, wie sie das wohl anstellen sollte. Das erste Mal, als sie das gewaltige Elementar herbeigerufen hatte, war sie von ihm nicht minder erschrocken gewesen wie ihre Begleiter. Seine Macht, seine Kraft, seine ungeheure Größe – alles an ihm war überwältigend! Sicher, sie war es gewohnt, an der Seite von Elementaren zu kämpfen. Sie war es auch gewohnt, die Kraft des Landes durch sie zu bündeln. Doch das – das war sie nicht gewohnt.
Dieses Elementar war nicht wie die anderen. Und zwar nicht nur, weil es groß genug war, um einen mittelgroßen Eldrazi mit nur einer seiner astartigen Hände in die Luft zu heben – obwohl das zweifellos nicht unerwünscht kam. Dieses Elementar wurde nach dem Kampf nicht wieder Teil des Landes.
Es blieb bei Nissa, folgte ihr und passte auf sie auf. Und obwohl es sie nicht zu verstehen schien, hörte es ihr dennoch zu.
Es hatte eine Präsenz, eine Persönlichkeit. Vielleicht sogar mehr.
Und deshalb fühlte es sich seltsam an, dass es keinen Namen hatte.
„Ich würde gern erfahren, wie ich dich nennen soll“, sagte Nissa und blickte durch die Zweige des Elementars zum Himmel hinauf, der im Licht eines neuen Morgens nach und nach aufhellte. „In Zeiten wie diesen, wenn wir uns unterhalten, möchte ich dich gern irgendwie ansprechen können. Hast du einen Namen?“
Das Elementar machte keine Anstalten, etwas zu erwidern – nicht, dass Nissa damit gerechnet hätte. Und trotzdem ... „Wärest du damit einverstanden, wenn ich dir einen Namen gebe?“
Das Elementar schien keine Einwände zu haben.
„Wie wäre es mit Ashaya?“, sagte Nissa. „Ashaya, die erwachte Welt.“ Die Idee für diesen Namen hatte sie von Hamadi. Das erste Mal, als Nissa das Elementar beschworen hatte, hatte Hamadi sie „Shaya“ genannt, was „Weltenerweckerin“ bedeutete, wie er gesagt hatte. Wenn sie die Weltenerweckerin war, dann war es nur richtig, dass das Elementar die erwachte Welt war.
Ashaya, the Awoken World | Bild von Raymond Swanland
Die Zweige des Elementars streckten und dehnten sich. Für Nissa sah es aus, als würde es sich den neuen Namen überstreifen, um ihn anzuprobieren wie ein Kleidungsstück. Als seine Wurzeln sich wieder beruhigten, wirkte es zufrieden.
„Na schön. Ashaya also“, sagte Nissa. Der Name fühlte sich richtig an. Gut. Als sich die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont tasteten, seufzte sie. „Also, Ashaya. Was machen wir jetzt?“
Diese Frage hatte Nissa sich in letzter Zeit oft gestellt.
Was sollte eine einzelne Elfe mit all dieser Macht anfangen?
Eine einzelne Elfe auf dieser schier endlosen Welt ... in einem noch viel unermesslicheren Multiversum.
Was sollte eine einzelne Elfe allein schon ausrichten?
Doch war das nicht genau das, was Hamadi versucht hatte, ihr zu sagen? Sie sollte die Welt retten. Sie sollte ihre Macht und das Elementar Ashaya einsetzen und die Eldrazi vernichten. Zendikar hatte sie auserwählt.
Doch Hamadi kannte nicht die ganze Geschichte. Zendikar hatte Nissa bereits zuvor schon einmal auserwählt. Damals, als sie noch sehr jung gewesen war, hatte es ihr Visionen gesandt und sie um Hilfe gebeten.
Und Nissa hatte zu helfen versucht.
Doch sie hatte versagt.
Nissas Offenbarung | Bild von Izzy
Sie hatte versagt.
Warum also hatte die Welt sie erneut auserwählt?
„Ganz im Ernst. Das würde ich gerne von dir wissen.“ Nissa blickte auf die Stelle auf Ashayas hölzerner Stirn, wo die Augen des Elementars gewesen wären, wenn es denn Augen gehabt hätte. „Was erwartet Zendikar von mir? Was erwartest du von mir?“
Das Elementar ließ durch nichts erkennen, dass es sie gehört hatte.
„Du bist ein Teil von Zendikar, oder?“ Nissa wollte an seinen Zweigen rütteln, um eine Antwort aus seinen teilnahmslosen, hölzernen Zügen herauszuschütteln. „Warum bist du hier – bei mir? Von all den Elfen ... All den Menschen, den Kor, dem Meervolk auf Zendikar ... Du hättest sogar einen Goblin auserwählen können. Aber mich?“ Nissa schüttelte den Kopf. „Ich habe versagt. Das letzte Mal, als du mich auserwählt hast, habe ich versagt. Was lässt dich glauben, dass es dieses Mal anders sein wird? Was lässt dich glauben, dass ich dieses Mal besser, stärker oder mutiger sein werde? Ich bin nur das, was ich schon bin. Mehr nicht.“ Nissa reckte die Arme in die Höhe, um dem Elementar zu zeigen, dass sie nicht noch weiter als das zu wachsen vermochte. „Das ist alles von mir. Und mehr werde ich auch nie sein.“
Ashaya, die erwachte Welt, bewegte sich. Es hob eine gewaltige Pranke und hielt sie mit geöffneter Handfläche vor Nissas Gesicht.
Das war dieselbe Geste, die es schon unzählige Male zuvor ausgeführt hatte. Nissa seufzte. „Was? Was bedeutet das?“
Das Elementar ballte die dicken, astähnlichen Finger langsam zur Faust.
Nissa runzelte die Stirn. „Ich verstehe nicht. Ich weiß nicht, was du mir zu sagen versuchst.“
Ashaya zog die Faust an die Brust, streckte sie wieder aus und löste dann einen Finger nach dem anderen, um die Faust wieder zu öffnen und die Pranke mit der Handfläche nach oben vor sich zu halten.
Nissa wusste, dass die Geste hiermit zu Ende war. Sie hatte sie schon oft genug gesehen.
Sie hatte versucht, ihre Hand in die des Elementars zu legen. Sie hatte versucht, ihren eigenen Arm mit der Handfläche nach oben auszustrecken. Sie hatte vermutet, es könnte bedeuten, dass sie nach oben blicken sollte, um sich ganz für Zendikar zu öffnen. Und das hatte sie getan. Ohne jeden Erfolg.
Ashaya machte die Geste ein weiteres Mal.
„Du bist genauso starrsinnig wie ich“, sagte Nissa.
Ashaya versuchte es ein drittes Mal. Und dann ein viertes.
„Genug.“ Nissa hielt das Elementar mitten in der Bewegung auf und nahm seinen gewaltigen Daumen zwischen ihre beiden Hände. Bei der Berührung wich ihr die Anspannung aus den Schultern. Sie atmete den Geruch Ashayas ein. Den Duft des Waldes ... Mutterboden, Harz, Holz und Blätter. Er war wundervoll. Er war mächtig. „Es tut mir leid. Ich wünschte, ich könnte dich verstehen.“ Ihr ehrliches Sehnen machte ihr das Herz schwer.
Ashaya legte seine andere Hand auf Nissas und drückte ihre kleine Elfenhand zwischen seinen beiden breiten Asthänden. Das war etwas Neues. Etwas, was das Elementar zuvor noch nie getan hatte.
Nissas Herz schlug schneller, und in Erwartung dessen, was wohl als Nächstes geschehen würde, kribbelten ihr die Finger.
Die Luft zwischen ihnen wurde zäher und Nissa spürte, wie aus Ashaya eine große Macht hervorströmte – und dann erklang unten aus dem Tal ein entfernter, verzweifelter Schrei.
Sowohl Nissa als auch Ashaya erschraken. Gemeinsam drehten sie sich in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war, und blickten über die Kante des Grats.
Ein zweiter, diesmal erstickter Schrei durchdrang die Dämmerung.
„Dort!“ Nissa deutete mit dem Finger nach unten. In nicht allzu weiter Ferne leuchtete die straffe, unnatürlich purpurne Haut eines Eldrazi im Licht des frühen Morgens.
So, wie es für Nissa aussah, war der Eldrazi gerade in eine kleine Siedlung eingefallen. Mindestens zwei Feuer brannten in der Nähe, und etwa ein Dutzend Zelte waren zwischen den Bäumen verstreut.
Drei Gestalten hatten den Eldrazi umzingelt. Eine sah aus wie eine Kor, die anderen beiden konnten Elfen sein. Der Eldrazi hatte offenbar eine vierte Gestalt – einen Menschen, wie es schien – unter einem seiner knochigen Ellenbogen eingeklemmt. Der Mensch schrie erneut auf.
Zurückbildung | Bild von Izzy
Nissa und Ashaya wurden Zeugen, wie die Bäume in der Nähe der kleinen Siedlung zu erzittern begannen. Mit einem schnellen, widerhallenden Knacken fielen drei der Bäume zu Boden, als zwei weitere Eldrazi – einer mit Tentakeln und einer mit zu vielen Händen – sich ihren Weg in die Siedlung bahnten. Ihre Spur aus fahler Verderbnis verzehrte die umgestürzten Baumstämme.
Drei weitere Bäume, die Zendikar für immer genommen worden waren.
Der Eldrazi mit den Tentakeln griff nach der Kor, die damit beschäftigt war, sich die ursprüngliche purpurne Monstrosität vom Leib zu halten.
„Hinter dir!“, rief Nissa, doch der Wind trug ihre Stimme weg vom Tal.
Das dickste Tentakel des Eldrazi traf die Kor in den Kniekehlen und warf sie zu Boden, sodass sie aus Nissas Sichtfeld verschwand. „Nein!“
Ashaya ließ ihre Hand los, und Nissa rannte den Grat entlang ins Tal hinunter. „Komm.“ Sie zupfte an dem Elementar, um ihm zu bedeuten, dass es ihr folgen sollte.
Das Unterholz war dicht, und es gab keinen klar erkennbaren Pfad, den sie hätten nehmen können. Obwohl Nissa geübt darin war, sich durch dichte Wälder voranzubewegen, trieb die Sorge um die Kor sie zu größerer Hast an, als es geboten gewesen wäre. Zweimal stolperte sie auf ihrem Weg nach unten und schalt sich dafür, kostbare Zeit verloren zu haben.
Sobald sie festen Boden unter den Füßen hatte, orientierte sie sich an der Sonne, eilte durch die Bäume und drängte Ashaya, ihr zu folgen. Zweige schlugen ihr ins Gesicht und Dornen bissen ihr in die Knöchel, doch sie ließ sich durch jeden Kratzer an die Stärke des Waldes erinnern – eine Stärke, die sie gegen die Eldrazi ins Feld führen würde.
Wald | Bild von Jonas De Ro
Als sie und Ashaya die kleine Siedlung erreichten, waren die Zelte, Vorräte und Leichen von Blut und der klebrigen Masse aus dem Inneren der Eldrazi bedeckt – wenn sie nicht zu leeren, fahlen Hüllen geworden waren. Und inmitten all dessen tat sich der Eldrazi mit der straffen, purpurnen Haut an der Leiche eines Elfen gütlich.
Nissa schaute gerade lange genug weg, um die Übelkeit herunterzuwürgen, die ihr die Kehle hinaufkroch. Dann drehte sich sich um und stürmte los, Ashaya hinter sich.
Sie griff nach dem Land unter dem purpurnen Eldrazi und riss ein großes Stück aus dem Boden – zusammen mit den Pflanzen, herabgefallenen Ästen und anderen Überresten des Waldes. Als das Land sich unter ihm erhob, rutschte der Eldrazi die kleine Neigung hinunter, die Nissa hatte entstehen lassen ... geradewegs in Ashayas Arme.
Nissa sandte ihre Macht in das Elementar, während es den Hals des Eldrazi – und welche innere Struktur dieses Ungeheuer auch immer zusammenhielt – zermalmte, bis es schlaff und leblos in seinem Griff hing. Auf Nissas Befehl hin ließ Ashaya den außer Gefecht gesetzten Eldrazi fallen. Mit einem dumpfen Aufprall schlug das Ungeheuer auf dem Waldboden auf und landete neben der Leiche des Elfen.
Nissa drehte sich rasch um und hielt nach den anderen beiden Eldrazi Ausschau ... Zu spät.
Ein dicker, roter Tentakel legte sich um Ashayas Bein. Der Eldrazi mit den Tentakeln – nur noch drei von ihnen, denn die Zendikari im Lager schienen es irgendwie geschafft zu haben, drei weitere abzutrennen – zog sich an das Elementar heran.
Ulamogs Ausgeburtserzeuger | Bild von Izzy
Zorn brodelte in Nissas Brust. „Geh weg von Ashaya.“
Sie rief die starken, knorrigen Wurzeln eines Baumes in der Nähe herbei, die sich um einen der hinteren Tentakel des Eldrazi schlangen. Es war ein Tauziehen: Nissa ließ Ashaya in eine Richtung ziehen und die Wurzeln des Baumes, die von der Macht des Landes erfüllt waren, in eine andere. Bald würde der Eldrazi zweigeteilt werden, sein schwabbeliges, rotes Fleisch in der Mitte auseinandergerissen.
„Hilfe!“ Nissas Konzentration wurde durch eine Stimme gestört.
Sie kam von oben. Eine Kor – die, die Nissa vom Grat aus gesehen hatte – hing in den Ästen eines hohen Baumes. Der dritte Eldrazi griff nach ihr mit acht gegabelten Gliedmaßen, die in sechzehn Händen mit je acht Fingern endeten.
Die Kor hieb mit ihrem Haken nach dem nächsten Glied und schlug drei seiner Finger an deren viertem Gelenk ab, doch sie wimmerte dabei vor Schmerz und brach auf einem der Äste zusammen. Sie war verwundet worden, wahrscheinlich in dem Kampf, den Nissa zuvor beobachtet hatte. Sie brauchte Hilfe.
Kor-Hakenkämpfer | Bild von Wayne Reynolds
Nissa griff nach den Ästen des Baumes und gebot einem Dutzend von ihnen gleichzeitig, sich um die Kor zu winden. Doch die Barriere hielt den Eldrazi nur einen kurzen Augenblick lang auf. Jeder der sechzehn Auswüchse des Ungeheuers griff nach einem der Äste und zerrte daran. Selbst die dicksten zerbrachen wie Reisig.
Nissa blickte hilfesuchend zu Ashaya, doch da sie dem Elementar nicht ihre volle Aufmerksamkeit gewidmet hatte, hatte der Eldrazi mit den Tentakeln an Boden gewonnen. Er war dem Tauziehen entronnen und hatte seinen Griff um Ashayas Bein mit einem weiteren Tentakel verstärkt. Das Elementar wurde in Richtung seines keckernden Mauls gezogen.
„Hilfe!“, rief die Kor erneut. „Bitte!“
Nissas Herz raste. Ihr Blick pendelte zwischen Ashaya und der Kor hin und her. Sie konnte nicht an zwei Orten gleichzeitig sein. Es war ganz einfach: Sie brauchte Ashayas Stärke, um die Kor zu retten. „Halte durch!“
Sie schleuderte all ihre Macht in Ashaya und zwang das Elementar, sein gefangenes Bein zu drehen und mit seinem anderen Fuß auf die Tentakel des Eldrazi zu stampfen – einmal, zweimal und noch einmal.
Aufgerüttelte Waldwildnis | Bild von Eric Deschamps
Die Wucht der Tritte ließ den Schleim im Innern des Eldrazi durch die Gegend spritzen, und das Ergebnis war schließlich, dass ihm nur noch ein Tentakel blieb. Die Verletzung schien schwer genug zu sein, ihn aus dem Gleichgewicht zu werfen. Er rutschte nach hinten und wand sich knurrend zurück zwischen die Bäume.
Nissa zögerte keinen Wimpernschlag. Sie zog Ashaya mitsamt aller abgetrennten Tentakel mit sich, um sich dem dritten Eldrazi mit den viel zu vielen Händen entgegenzustellen.
Doch er war fort.
Und mit ihm die Kor.
Nissa durchsuchte fieberhaft den Wald mit Blicken und schob verzweifelt Zweige aus ihrem Sichtfeld. Wohin war das Ungeheuer verschwunden? Wohin hatte es die Kor verschleppt?
Ein Rascheln verriet es schließlich. Nissa teilte die bebenden Bäume und legte den Pfad des Eldrazi frei. Er war bereits einige hundert Schritt voraus und schlängelte sich geschickt auf vierzehn Gliedmaßen dahin. Er hatte sich auf den Bauch gedreht, um sieben seiner Glieder zu Beinen zu machen, während das achte in einem unnatürlichen Winkel verkrümmt war, um die Kor zu seiner Fressöffnung zu befördern.
Weiße, fahle Verderbnis wand sich am Bein der Kor empor.
„Nein!“ Nissa eilte durch die Schneise, die der Eldrazi in die Bäume geschlagen hatte, doch sie konnte ihn nicht aufhalten. Der Eldrazi verschlang die Lebenskraft der Kor und verwandelte ihren reglosen, bleichen Körper zu Staub.
Der Staub trübte Nissas Sicht und stach ihr in den Augen. Sie wurde langsamer und blinzelte Tränen fort. Sie konnte nichts mehr für die Kor tun.
Sie atmete bedächtig aus, um sowohl ihre Lungen als auch ihre Gedanken frei zu machen, und begab sich auf den Rückweg zur Siedlung.
Eine Spur der Verderbnis, die wahrscheinlich von dem verstümmelten Eldrazi mit dem nur noch einen Tentakel hinterlassen worden war, kreuzte ihren Pfad. Nissa sank der Mut. Wenn dieser Eldrazi die Siedlung verlassen hatte, dann gab es dort nichts mehr, was er fressen konnte ... Rein gar nichts mehr.
Bald schon sah sie, dass sie recht hatte. Die Lichtung war der Verwüstung durch die Eldrazi anheimgefallen. Nissa zählte fünf Leichen, doch es war unmöglich zu sagen, wie viele weitere bereits zerfallen waren.
Verseuchtes Gelände | Bild von Christine Choi
Ashaya stand in der Mitte der Lichtung, der einzige Farbklecks – in Grün und Braun – vor der weiten, unnatürlich weißen Fläche. Das Elementar schien zu trauern. Diesen Kampf hatten sie verloren. Viele hatten ihr Leben gelassen. Und auch das Land hatte viel verloren. Und das betrübte Nissa zutiefst. Doch sie hatte Ashaya gewarnt. Sie hatte ihm gesagt, dass sie vielleicht nicht die richtige Wahl für Zendikar war. Jetzt musste es am Ende einsehen, dass sie recht hatte.
„Es ist nicht deine Schuld.“ Die dünne, trockene Stimme ließ Nissa zusammenfahren. Einen winzigen Augenblick lang glaubte sie, sie gehöre dem Elementar, doch dann fand sie ihren eigentlichen Ursprung: Ein Vampir humpelte aus einer Gruppe dicht stehender Bäume auf sie zu. Er trug den Körper einer bewusstlosen Menschenfrau. „Du hast alles getan, was du konntest.“ Ein paar Schritte von Nissa entfernt kniete er nieder und legte die Frau sanft auf dem fahlen Untergrund ab.
Der Anblick eines Vampirs, der sich so rührend um ein anderes Lebewesen kümmerte, war verstörend. Nissa runzelte die Stirn und blickte von dem Vampir zu der Frau.
„Sei unbesorgt. Sie hat keine Schmerzen“, murmelte der Vampir. „Dafür habe ich gesorgt. Bald wird sie sterben, und dann kann man sie begraben.“ Er musterte die blassen Leichen. „Zusammen mit den anderen.“ Er stand auf und machte einen Schritt auf Nissa zu.
Malakir-Keuler | Bild von Igor Kieryluk
Instinktiv trat sie einen Schritt zurück.
Der Vampir stieß ein tiefes, freudloses Lachen aus. „Das ist nur allzu verständlich, wenn man deine bisherigen Erfahrungen mit Vampiren bedenkt, Nissa.“
Nissa atmete scharf ein. „Woher kennst du meinen Namen? Was bist du ... Wo ...?“ Sie fand keine Worte mehr. Ihre Gedanken schwirrten durcheinander.
„So viele Fragen. Und ich werde sie alle beantworten“, gurrte der Vampir. „Doch zunächst habe ich eine Frage an dich, wenn es dir nichts ausmacht. Warum bist du noch hier? Warum bist du noch immer auf Zendikar?“
Nissa blinzelte. Ihre Verwirrung wuchs.
„Ich hatte angenommen, du wärst schon vor langer Zeit fortgegangen“, sagte der Vampir. „Zusammen mit deinesgleichen. Als ich mich anschickte, diese Aufgabe anzugehen, bin ich davon ausgegangen, jemanden zu finden, dessen Funken kurz vor dem Entfachen steht. Jemanden, den ich um Hilfe anflehen könnte, bevor er über die Macht verfügt, diese sterbende Welt zu verlassen. Doch einen Planeswalker zu finden, ehe er das erste Mal seine Welt verlässt, ist eine noch viel unmöglichere Aufgabe, als man meinen möchte.“
„Du weißt es?“ Nissa trat einen weiteren Schritt zurück. Die feinen Härchen auf ihren Armen richteten sich auf. „Bist du ... ?“
„Ich? Nein. Doch ich fühle mich geschmeichelt, dass du glaubst, dass meine Art genug Seele besitzt, um einen Funken in sich zu bergen.“
„Ich glaube nicht ....“
Der Vampir hob die Hände. „O nein, es besteht doch kein Grund, das gute Einvernehmen zu trüben, das wir hier gerade aufgebaut haben. Es ist eine gute Grundlage für das Vertrauen, das ich in dich zu setzen beabsichtige.“
Vertrauen? Einem Vampir? Diese Kreatur konnte genauso gut ein Diener Ulamogs wie ein Elfentöter sein. Nissa traute Vampiren nicht. Sie stellte sich breitbeinig hin, konzentrierte sich und nahm die Kraft des Landes in sich auf, um ihre Gedanken zu ordnen. „Es gibt kein Einvernehmen zwischen uns. Nenne mir auch nur einen Grund, weshalb ich dich nicht auf der Stelle töten sollte.“
„Ich kenne sogar vier gute Gründe. Du bekommst sie auch gleich. Sie sind Geschenke. Von Anowon.“
Nissa schauderte. Sie hatte den Namen des alten Vampirs seit sehr, sehr langer Zeit nicht mehr gehört. Sie spähte in die Schatten. Hatte er sie gefunden? War dies hier ein Hinterhalt?
Anowon, der Weise der Ruine | Bild von Dan Scott
„Fürchte dich nicht, kleine Elfe. Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung. Anowon ist nicht hier.“
„Wo ist er?“
„Das weiß ich nicht. Er ist seit vielen Jahren verschwunden. Doch zuvor sprach er häufig von dir. Deiner Macht. Deinen Fähigkeiten. Deinem Funken. Du bist die Erste, an die ich dachte, als ich diese Aufgabe in Angriff nahm, obgleich ich nie damit gerechnet hätte, dich ausgerechnet hier zu finden. Doch ich freue mich sehr darüber.“ Er zog ein kleines, zusammengefaltetes Stück grauer Seide hervor und hielt es ihr hin.
„Was ist das?“ Nissa berührte es nicht.
Mit einer zweiten Geste voller Sanftmut zog der Vampir die oberste Schicht zurück und legte vier kleine Samen frei, die in der Mitte zusammenkullerten. Er deutete der Reihe nach auf jeden einzelnen. „Kolya, rote Mangrove, Jaddiholz, Blutdorn.“
„Blutdorn.“ Nissas Herz wurde schwer, als sie an die geliebte Pflanze aus ihrer Heimat dachte, doch ihr Instinkt sagte ihr, dass er unmöglich die Wahrheit sprechen konnte. „Doch Bala Ged wurde vernichtet.“
„Bis auf diesen Samen.“ Der Vampir faltete das Seidentüchlein vorsichtig wieder zusammen und steckte es ein. „Du musst verstehen, worum ich dich bitten werde, Planeswalker Nissa. Du musst verstehen, wie sehr ich hoffe, dass du Zendikar rettest.“
Das tat Nissa. Er bat sie darum, die Samen ... zu einer anderen Welt zu bringen.
„Ich weiß, dass es eigenartig für einen Vampir sein mag, darum zu bitten. Doch in diesen Zeiten ertappen wir alle uns bei eigenartigem Treiben. Du must wissen, dass ich viel von mir selbst in den Blutdornen von Bala Ged wiederfand: Tödliches, Reizbares, Verdrehtes.“ Er lächelte. „Wenn sie also irgendwo anders weiterbestehen ...“ Er schenkte dem Himmel einen abschätzigen Wink. „Dann werde auch ich in gewisser Weise weiterleben. Wie auch alle anderen von uns.“ Er bot ihr das Seidentüchlein ein weiteres Mal an. „Bitte nimm sie.“
Nissa verengte die Augen zu Schlitzen und musterte den Vampir. Sie hatte Schwierigkeiten, diese Kreatur zu verstehen: Sie war so völlig anders als die anderen Vampire, die sie bislang kennengelernt hatte. „Du meinst das ernst?“
„Nichts ist ernster als das Ende einer Welt.“
„Und du glaubst, dass dies das Ende ist?“
„Ich weiß es.“ Der Vampir beugte sich näher zu ihr heran und wisperte: „Und du weißt es auch, Nissa.“
Die Bezichtigung schmerzte. Der Vampir irrte sich. Nissa glaubte nicht, dass dies das Ende war. Zendikar kämpfte noch immer. Es gab noch immer Hoffnung. „Du irrst dich“, sagte sie. „Es sind schwierige Zeiten, ja. Doch es gibt viele von uns, die bereit sind, aufzustehen und zu kämpfen. Und das Land selbst kämpft ebenso. Du hast die Turbulenz selbst erlebt.“
Zendikars Turbulenz | Bild von Sam Burley
„All dies sind zweifellos noble Bemühungen. So wie deine Anstrengungen heute.“ Der Vampir deutete mit ausgebreiteten Armen auf die von den Eldrazi verderbte Siedlung und die Frau, die er hierhergetragen und die in der Zwischenzeit Aufnahme in die Reihe der Toten gefunden hatte. „Das Problem ist nur, dass Bemühungen allein nicht genug sind. Besonders wenn man zahlenmäßig derart unterlegen ist wie ihr.“
„Wir können die Zahlen ändern. Es sind nun drei Ungeheuer weniger in diesem Wald als noch heute morgen“, entgegnete Nissa.
„Und wie viele mehr wurden inzwischen irgendwo auf der Welt erschaffen, um ihren Platz einzunehmen?“
Nissa öffnete den Mund, nur um festzustellen, dass sie keine Erwiderung hatte.
Der Vampir legte die Fingerspitzen zu einem kleinen Dach aneinander. „Es ist nicht deine Schuld. Dies sind unglaubliche Widerstände. Es gibt Hunderttausende von Eldrazi, und sie rücken unaufhaltsam näher. Es spielt keine Rolle, wie viele du tötest. Nicht solange die Titanen noch hier sind. Du bist eine kluge Elfe. Du weißt, dass ich recht habe. Du weißt es schon eine ganze Weile.“
Nissa schnaubte.
„Ich wollte dich nicht beleidigen. Ich sage nur, wie es ist. Selbst du bist nicht mächtig genug, einen Titanen zu töten.“
Das war die Wahrheit. Nissa wurde rot. Sie hatte versucht, Zendikar zu sagen, dass sie allein nicht ausreichte. Hätte es ihr doch nur zugehört.
„Du zögerst das Unvermeidliche nur hinaus. Doch bald bleibt keine Zeit mehr, Zendikar zu verlassen.“
„Ich werde nicht ...“ Der Vampir schnitt ihr das Wort ab.
„Du wirst. Und deshalb bin ich froh, dass sich unsere Wege gerade jetzt gekreuzt haben.“ Er drückte ihr die Samen in die Hand. „Du bist eine mächtige Planeswalkerin, und Zendikar liegt dir sehr am Herzen. Du wurdest für diese Aufgabe geschaffen. Rette unsere Welt, Nissa Revane.“
Das konnte sie. Zum ersten Mal hatte Nissa das Gefühl, tatsächlich tun zu können, was man von ihr verlangte.
Sie nahm die Samen.
Sofort strömte ihr heißes, schuldiges Blut in die Wangen. Sie erinnerte sich daran, dass das Elementar hinter ihr stand. Sie hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, ein Elementar zu haben, das nicht wieder Teil des Landes wurde, wenn sie aufhörte, es zu lenken. Ashaya war die ganze Zeit dabei gewesen und hatte zugesehen, wie sie die Samen angenommen hatte.
Nissa drehte sich langsam um, um die erwachte Welt anzusehen. Das Elementar ragte hoch über ihr auf, stoisch im Angesicht ihres Verrats. Die Scham wühlte in Nissas Eingeweiden. „Warte.“ Sie blickte zurück zu dem Vampir ... aber er war fort. Genau wie die Leichen der Gefallenen.
Sie machte keine Anstalten, nach ihm zu suchen oder ihn zu verfolgen. Sie hätte es tun können, doch sie tat es nicht.
Stattdessen stand sie in der leeren, verderbten Siedlung im Schatten des Elementars, während die Seide in ihrer Hand sich immer mehr mit Schweiß tränkte. Sie konnte das Leben in den Samen spüren, die in dem Tüchlein eingeschlagen waren. Die Bäume, die sie eines Tages werden sollten – jeder von ihnen ein kleiner Teil Zendikars. Warum also fühlte sie sich schuldig, sie retten zu wollen?
„Warum sollte ich es nicht wenigstens versuchen?“ Sie blickte zu Ashaya. „All die Zeit habe ich dir gesagt, dass ich nicht tun kann, was du von mir verlangst.“ Sie hielt inne, doch natürlich antwortete Ashaya nicht. „Aber dies ... Dies ist etwas, was ich tun kann. Zumindest weißt du es so.“ Sie verstaute das Seidentüchlein in ihrer Tasche. „So weißt du, dass Zendikar weiterleben wird. Das wird reichen müssen.“
Ashaya streckte die Hand aus und hielt sie Nissa flach entgegen. Dann machte das Elementar eine Faust und zog sie an die Brust, ehe es erst die Hand und danach die Finger einen nach dem anderen wieder ausstreckte.
„Ich verstehe noch immer nicht“, flüsterte Nissa. „Vielleicht wird es jemand anders tun.“
Nissas Worte hielten das Elementar nicht davon ab, die Geste ein zweites Mal auszuführen.
Als es zur dritten Wiederholung ansetzte, begann Nissa, es dazu zu drängen, wieder Teil des Landes – ein Teil von Zendikar – zu werden. Es war an der Zeit dafür.
Doch das Elementar befolgte Nissas Anweisung nicht. Seine Wurzeln vergruben sich nicht in der Erde, seine Zweige krümmten sich nicht.
Gaeas Rache | Bild von Kekai Kotaki
Nissa verstärkte den Druck auf das Elementar. „Geh.“
Ashaya rückte Stück für Stück dichter an Nissa heran und streckte die Hand aus, um seine Geste ein drittes Mal zu vollführen.
„Genug.“ Nissa nahm all ihre Kraft zusammen und richtete sie auf das Elementar, um es zum Weggang zu zwingen.
Doch es stand einfach nur da, streckte die Hand aus, griff in die leere Luft und wandte danach die Handfläche dem Himmel zu.
„Warum machst du das immer wieder? Ich verstehe das nicht“, sagte Nissa. „Ich verstehe nicht, was das bedeutet.“ Sie ahmte Ashayas Bewegung nach. „Was heißt das?“
Als Ashaya die Faust ballte und sie zur Brust zog, machte Nissa es ihm nach. „Ja, ich sehe das, aber ....“ Nissa stockte der Atem. Gerade hatte sie den ersten Finger wieder ausgestreckt, und nun ging eine leuchtende grüne Linie von ihm aus, die auf der anderen Seite der Verderbnis in das Land eintauchte und ein Stück weiter entfernt wieder daraus emporsteig, um sich um Bäume zu schlingen und durch die Blätter der Pflanzen zu schlängeln. Sie schimmerte vor Macht.
Nissa wagte nicht zu atmen, als sie ihren zweiten Finger streckte. Eine weitere Linie erschien. Diese bewegte sich in eine leicht andere Richtung, um dann in die Höhe zu schießen und sich mit den die höchsten Wipfeln des Waldes zu verflechten.
Drei weitere Finger, drei weitere mächtige Verbindungen. Die Welt öffnete sich vor Nissa, grün leuchtend und voller Macht. Das waren die Leylinien. Nissa hatte von ihrer Macht gehört. Von der Macht des Landes. Vom Khalni-Herzen. Von einer Macht, die die gesamte Welt durchfloss.
Expedition zum Khalni-Herzen | Bild von Jason Chan
Eine letzte Leylinie strömte aus ihrer gen Himmel gerichteten Handfläche. Dies war die dickste, mit dem Umfang einer kräftigen Wurzel. Sie erstreckte sich von Nissas Handfläche aus zu Ashaya und wand sich zwischen den Wurzeln und Zweigen hindurch, die Beine, Arme und Brust des Elementars formten. Dies war die Linie, die Nissa mit all dem verband, was Ashaya war. Dies war die Verbindung zu Zendikars Seele.
Eins.
Es war kein Wort – zumindest kein laut ausgesprochenes –, sondern vielmehr ein Gefühl, das Nissa von Ashaya empfing.
Eins.
Die leuchtende grüne Macht breitete sich von Nissas Handfläche zu ihrem Arm und ihrer Brust aus, und sie verstand. Die Macht, diese Verbindungen ... Sie waren all die Zeit über da gewesen. Sie waren es, was Ashaya versucht hatte, Nissa zu zeigen. Nun wusste Nissa, wonach sie suchen musste.
Nissa bewegte vorsichtig einzeln die Finger und tastete das Netzwerk ab. Es war, als hätte sie Hunderte neuer Gliedmaßen: Finger, die Bäume waren, Hecken als Fäuste, das Land selbst als Arme und Beine. Die Macht Zendikars durchfloss sie als wilder Strom ... und pulsierte aus ihrem Innersten hervor.
Eins.
Sie hatte sich geirrt. Hamadi hatte sich geirrt. Zendikar hatte sie nie darum gebeten, ihrer Aufgabe ganz allein nachzukommen. Es hatte sie nicht erwählt, denn es hatte keine Wahl zu treffen gegeben. Sie war ein Teil der Welt und wie jedes andere Lebewesen mit ihr verbunden. Ein Baum erwählte keinen Zweig. Der Zweig war lediglich ein Teil des Baumes – eins mit ihm. Wenn ein Baum wuchs, sich neigte oder fiel ... dann fiel der Zweig mit ihm. Und wenn der Zweig raschelte, wenn er Blätter trieb oder Früchte trug, dann trug sie auch der Baum. Nissa konnte weder von Zendikar erwählt werden, noch konnte sie Zendikar für irgendetwas erwählen, denn sie und Zendikar waren eins.
So lange Zendikar in Gefahr war, war es auch Nissa. Und so lange die Welt kämpfte, würde auch Nissa kämpfen. Ohne Zweifeln. Ohne Zaudern.
Für Zendikar. Ashaya strömte die Empfindung aus.
„Für Zendikar.“ Nissas Stimme brach.
Für Zendikar! Ashayas tiefe Überzeugung erfüllte Nissa und die leuchtenden Leylinien, die durch sie hindurchflossen, mit überschäumender Kraft.
„Für Zendikar!“, rief sie.
Als sie in den Wald hineinstürmte, leuchtete die gesamte Welt in einer Spiegelung von Nissas Kraft auf.
Ley-Linie der Lebenskraft | Bild von Jim Nelson
Sie rannte entlang der Schneise der Verderbnis, die der Eldrazi mit den Tentakeln beim Verlassen der Siedlung hinter sich hergezogen hatte: Nun hatte sie ein Ziel für ihre Leidenschaft.
Nach wenigen Schritten schon war deutlich, dass der Wald zu einem völlig neuen Ort geworden war ... und er war unbeschreiblich.
Obwohl sie bereits unzählige Male hier zwischen den Bäumen entlanggelaufen war, hatte sie nie zuvor etwas Vergleichbares erlebt. So, dachte Nissa, ist es, wenn man wahrhaftig mit dem Land verbunden ist.
Die Welt antwortete auf ihre Anwesenheit. Jedes Mal, wenn einer ihrer Füße am Boden aufkam, traf er auf makellosen Untergrund. Löcher, die ihr sonst die Knöchel hätten brechen können, schlossen sich. Wurzeln, über die sie gestolpert wäre, schmiegten sich ihr stattdessen um die Füße und schoben sie voran, dem nächsten Strauch entgegen, der sie zu einem Ast hinaufhob, der sie auffing und auf ein weiches Moosbett hinüberschwang. So fühlte es sich an, eins mit Zendikar zu sein.
Ashaya lief mit großen Schritten neben ihr her – Nissa musste keine Kraft mehr aufwenden, das Elementar dazu zu bringen, sich zu bewegen oder es auf einen bestimmten Weg zu führen. Ashaya kannte ihn schon. Es wusste, wohin Nissa gehen würde. Es wusste, was Nissa brauchte. Es wusste, was Nissa fühlte.
Ashaya kannte Nissas Reue.
Und es kannte Nissas Entschlossenheit, diese Welt in Sicherheit zu bringen, sodass sie eines Tages die Samen, die sie bei sich trug, in Zendikars eigene Erde einpflanzen konnte.
Der Vampir hatte gut daran getan, Nissa die Samen zu geben. Und er hatte recht damit gehabt, dass Nissa Zendikar retten konnte. Geirrt hatte er sich darin, dass sie fortgehen musste. Darin, dass sie einen Titanen nicht besiegen konnte. Mit der Macht der Welt an ihrer Seite – mit der Stärke Zendikars, die sie nun durchströmte – war für sie nichts mehr unerreichbar.
Sie blickte zu Ashaya. Beide fühlten dasselbe. Kühnheit. Macht. Bereitschaft. Gemeinsam waren sie genug.
Ein Felsen teilte sich, um Nissa hindurchzulassen, und gab den Blick auf den Eldrazi mit den Tentakeln frei. Das Ungeheuer, unbeirrt ob der Tatsache, dass es nur noch einen Tentakel hatte, schlängelte sich über ein Blumenfeld und hinterließ eine Spur der Vernichtung.
Genug.
Nissa stürmte voran. Teile des Felsens – das Land samt aller Dornenhecken und samt allem Moos, das auf ihm wuchs – folgten ihr und den leuchtenden Leylinien, die ihr durch die Arme flossen, richteten ihre eigenen Bewegungen nach den ihren aus und wurden zu Teilen ihrer selbst.
Riesenholz-Zendikon | Bild von Rob Alexander
Eins.
Als ihre Füße die Verderbnis des Eldrazi berührten, schwang Nissa sich in die Luft, um zuzuschlagen. Das Land formte einen Speer in ihrer Hand, der von innen heraus glühte. Hinter ihr vollzog Ashaya jede ihrer Bewegungen nach. Ihre Hiebe waren gezielt, sicher ... und tödlich. Der Speer aus dem Land durchstieß den Eldrazi im selben Moment, da Ashaya ihm die knöcherne Stirnplatte zermalmte.
Das Ungeheuer stieß ein letztes, dünnes Keckern aus, als es zusammenbrach.
Es würde keinem von Zendikars Grashalmen je wieder ein Leid zufügen.
Nissa stand schwer atmend über der gefallenen Gestalt. Sie war nicht erschöpft. Ganz im Gegenteil: Sie fühlte sich berauscht. Sie wollte mehr. Es war Zeit, sich zu erheben. Es war Zeit, endlich zu kämpfen. Es war Zeit, die Welt zu retten.
Ashaya verstand, was Nissa spürte, denn es spürte dasselbe wie sie. Es senkte die riesige Pranke und legte sie offen und einladend auf den Boden zu Nissas Füßen.
Als Nissa auf den astartigen Finger des Elementars trat, stob eine Wolke grüner Macht um sie herum auf und brachte sie schier zum Übersprudeln. „Für Zendikar!“, schrie sie.
Ashaya hob Nissa hoch und setzte sie in einen Sattel, den zwei dicke, hölzerne Hörner auf seinem Kopf bildeten. Die leuchtenden Leylinien reagierten und woben sich von Ashaya aus durch Nissa hindurch und wieder zurück. Sie hielten Nissa fest, als Ashaya durch den Wald rauschte, mit einem gewaltigen Schritt nach dem anderen.
Sie waren auf der Jagd ... und ihre Beute war ein Titan der Eldrazi.
Nissa breitete die Arme aus und sandte einen Ruf durch die Linien, die ihr aus den Fingen entsprangen.
Landhebung | Bild von Chris Rahn
Als Antwort nahm eine Armee balothgroßer Elementare Gestalt an. Sie fielen in Nissas und Ashayas Schritte ein und schlossen sich dem Ansturm an – dem Kampf um die Rettung ihrer Welt.