Was bisher geschah: Gideon Jura: Das Blutbad in der Zuflucht


Nachdem sie endlich ihre hemmenden Zweifel und Ängste abgestreift hatte, knüpfte Nissa ein perfektes Band mit der Macht des Landes und der Seele Zendikars. Diese Verbindung gestattet es ihr, sich wie ein Geschöpf gemeinsam mit dem riesigen, baumartigen Elementar Ashaya zu bewegen, Angriffe mit mehreren kleineren Elementaren zu koordinieren und bestimmte Aspekte des Waldes – Bäume, Ranken, den Boden und das Unterholz – als Erweiterung ihrer selbst im Kampf gegen die Eldrazi zu befehligen. Sie trägt eine Handvoll Samen von Bäumen mit sich, die von den Eldrazi ausgerottet wurden, und sie wird nicht ruhen, bis sie sie wieder sicher auf Zendikar aussäen kann.

Nissa kämpft mit einem einzigen Ziel: jenen Eldrazititanen zu finden und zu vernichten, der die Schwärme erschafft. So will sie Zendikar – ihre Heimat, ihre Welt, ihren Freund – retten.


Wie hatte Nissa nur so viele Jahre auf dieser Welt – dieser störrischen, betörenden, wunderschönen Welt – leben und dennoch so vieles übersehen können?

Jeden Tag gab es etwas Neues – etwas, was Zendikar Nissa lehrte, etwas, was sie überraschte und entzückte. Das Land hütete Hunderte von faszinierenden Geheimnissen, und all diese teilte es nun mit ihr.  

Nie hätte sie sich erträumt, dass die riesigen Mantis einen Duft absonderten, der den Geruch frischer Würmer nachahmte und so kleine Singvögel anlockte – nicht jedoch als Nahrung für die Mantis, sondern um sich an ihrem Gesang zu erfreuen, jenen Melodien, die als eines der wenigen Dinge in der Lage waren, den Mantis einen friedlichen Schlummer zu bringen.

Bild von Lake Hurwitz

Auch hätte sie niemals geglaubt, dass die Ranken, die sich zwischen den eng beisammenstehenden Herzbäumen des Riesenholz-Waldes spannten, wie Arme waren: Arme, die sich an den Händen hielten. Jede Ranke wuchs aus dem Stamm zweier Bäume. Sie gehörte zu keinem mehr als zu dem anderen, sondern wurde gleichermaßen von ihnen geteilt – ein Band, das sie zusammenhielt. Die Ranken verbanden einen Herzbaum mit seinem erwählten Gefährten und erlaubten es beiden Bäumen, ihre Erinnerungen, Gefühle und Träume miteinander auszutauschen.

Diese Bäume waren einen Bund fürs Leben eingegangen, und sie taten dies nur ein einziges Mal.

Und die Knurrer – die albernen, hinterhältigen, tückischen Knurrer – hatten ein Ritual, das sie vor den meisten anderen auf Zendikar zu verbergen wussten. In den dunkelsten Nächten, in denen kein Mond schien, aber der Himmel klar war, erklommen sie die höchsten Bäume, reckten die Hände zum Firmament hinauf und lachten die Sterne an. Es war ein leises, heiseres Kichern, das für jeden, der es hörte, nur wie das Rascheln der Zweige im Wind klang. Es war ein Scherz, der allein sie zu erfreuen wusste.

Bild von Kev Walker

Ebenso beeindruckend war der Stamm Menschen, der unter dem tiefsten Blätterdach der Bäume des Riesenholzes lebte – nicht in einer einzigen Ansiedlung, sondern über den ganzen Wald verstreut. Fünf oder sechs Menschen teilten sich einen Weiler aus Baumhäusern – und es gab mehr als ein Dutzend solcher Dörfchen. Dem Stamm gelang es, immer genau über die Bewegungen und die Bedürfnisse all seiner Mitglieder Bescheid zu wissen, denn ihre Ahnen hatten die Sprache der Plapperfaultiere sorgsam studiert. Und so sandten die Menschen einander Botschaften, in dem sie mit einem Plapperfaultier in der Nähe plauderten. Es dauerte nicht lange, ehe es die Neuigkeiten seinen Nachbarn erzählt hatte, die sie dann in Windeseile durch das Netzwerk der Baumbewohner weitergaben. Schon bald hatte alle Menschen im Stamm dank der kleinen Plaudertaschen die Neuigkeiten aus jenem Dorf erhalten, in dem die Nachricht auf den Weg gebracht worden war.

Heute war diese Nachricht ein Hilferuf.

Ashaya erzählte sie Nissa, als sie sich im ersten Morgengrauen im Schlaf regte.

Weitholzweiler wird belagert. Zwei Eldrazi. Schickt Hilfe.

Sie würden helfen.

Ja. Natürlich würden sie helfen.

Wann auch immer etwas, was nicht zu dieser Welt gehörte, auch nur das winzigste von Zendikars Geschöpfen bedrohte – sei es ein Tier des Waldes, ein Fisch des Meeres oder eine Blume auf den Ebenen –, erhob sich die Welt gegen die Bedrohung. Nissa und Ashaya waren die Welt. Solange sie zusammen waren, würde nichts, was Zendikar gehörte, auf sich allein gestellt kämpfen müssen.

Sie folgten dem Geplapper der Faultiere bis zu seinem Ursprung, wobei sie Schritt für Schritt gemeinsam rannten, während sich der Wald vor ihnen teilte, um sie passieren zu lassen. Es dauerte nicht lange, bis sie die Eldrazi selbst und all die Zerstörung und all das Leid spüren konnten, das sie anrichteten. Doch das Geplapper hatte sich geirrt – es waren drei Eldrazi, nicht zwei. Nissa und Ashaya spürten ganz eindeutig drei von ihnen.

„Wir müssen schneller laufen“, sagte Nissa.  

Ashaya bremste seine Schritte gerade so lange, um Nissa eine gewaltige, zweigartige Hand anzubieten, die er ausgestreckt vor die Elfe auf den Waldboden legte. Nissa hielt sich am Daumen des Elementars fest und kletterte auf seine Handfläche. Ein Hauch von Macht, von Zusammengehörigkeit, von Zendikar umwehte sie, als Ashaya sie auf die sattelartige Gabel oben in seinen Zweigen hob.

Bild von Raymond Swanland

Nissa trat zwischen die beiden dicken, hölzernen Hörner des Elementars. Von hier aus konnte sie über die Wipfel der meisten Bäume hinwegsehen, während Ashaya durch den Wald hastete. Seine langen Schritte trugen sie doppelt so schnell, wie Nissa selbst hätte laufen können. Sie stiegen auf einen flachen Hügel hinauf, ehe das Geplapper der Faultiere verklang, und sie konnten von dort aus die Eldrazi erkennen.

Es waren drei – ganz so, wie Nissa es gespürt hatte –, und jeder hinterließ eine Schneise der Verderbnis. Die Schneisen zogen sich wie Rinnsale durch den Riesenholz-Wald.

Zwei der Ungeheuer bewegten sich sehr schnell nebeneinander her, und ihre Spuren der Zerstörung verliefen parallel. Sie waren groß und hatten den gleichen Körperbau – mit einer knöchernen Gesichtsplatte, langen Tentakeln als Ersatz für Beine und weiteren Tentakeln, die ihnen aus dem Hinterkopf wuchsen. Sie waren auf dem Weg zu der Ansammlung von Baumhäusern und dem Dutzend Menschen, die sich zusammengetan hatten, um sie zu verteidigen.

Der andere Eldrazi war viel kleiner. Er schlängelte sich mehr, als dass es ging, ein Stück abseits seiner Artgenossen auf rosafarbenen, wurmartigen Tentakeln voran. Dieser Eldrazi bewegte sich geradewegs auf einen Hain alter, hoch in den Himmel gewachsener Herzbäume zu.

Ashaya war unschlüssig. Welchen Weg sollten sie nehmen?

Nissa fühlte sich wie versteinert, und ihr Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen.

Es hatte doch nur ein Ziel geben sollen: den Weiler. Doch nun gab es zwei. Zwei Familien wurden bedroht, zwei Gemeinschaften hofften verzweifelt auf ihre Hilfe.

Welchen Weg sollten sie nehmen? Ashaya wusste es nicht.

Es war mehr oder minder ein Ding der Unmöglichkeit, beide – sowohl den Weiler als auch den Hain – rechtzeitig zu erreichen. Beide befanden sich zu weit voneinander entfernt, und die Eldrazi waren ihren jeweiligen Zielen schon zu nahe gekommen.

Einen Atemzug lang bewegten sich weder Nissa noch Ashaya. 

„Wir müssen so viel Hilfe gewähren, wie wir können“, sagte Nissa schließlich. Sie deutete zu dem Weiler und den Eldrazizwillingen. „Nehmen wir diesen Weg.“

Ashaya willigte ein. Zuerst die zwei. Zwei, denn zwei richteten mehr Zerstörung an als einer.

„Und danach dieser eine.“ Nissa deutete auf den dritten, wurmartigen Eldrazi.

Sie würden die Herzbäume schon rechtzeitig erreichen. Oder?

Nissa schob ihre Zweifel beiseite. Die Entscheidung war gefallen.

Ashaya raste den Hügel hinab auf das Dörfchen zu. Binnen weniger Wimpernschläge hatten sie die Ansammlung von Baumhäusern erreicht.

Die Eldrazizwillinge ragten über ihnen auf, und die Menschen versuchten, sich von den Bäumen aus gegen sie zu behaupten. Sie schwenkten ihre Waffen – Schwerter und Speere, Bögen und Dolche –, die niemals etwas gegen derart gewaltige Feinde ausrichten konnten. Doch Nissa würde sich den Eldrazi stellen: Mit Zendikar an ihrer Seite konnte sie es mit ihnen aufnehmen.

Bild von Jack Wang

Der Eldrazi, an dem sie am dichtesten standen, holte mit seinem gegabelten Arm aus und hieb auf die Äste ein, auf denen sich die Menschen versammelt hatten.

Er wurde mit Schreien und Stichen empfangen, doch dies war nicht genug, um ihn von seinem Ziel abzubringen: Einer der Menschen wurde von seinem Baum heruntergeschleudert.

Ashaya reagierte blitzschnell. Er griff nach der herabfallenden Gestalt, fing sie in der Luft auf und setzte sie auf dem Boden ab.

Der Mensch blickte verblüfft zu dem riesigen Elementar auf.

„Zurück!“, rief Nissa ihm zu. Sie sprang von ihrem Platz auf Ashayas Kopf herunter. „Dort hinüber!“ Sie deutete auf einen großen Felsen, der zeitweilig Schutz bieten würde. „Los!“

Der Mensch zögerte einen weiteren Augenblick und rannte dann geduckt davon.

Nissa blickte zu Ashaya. „Wir müssen die anderen dort rausholen.“

Ashaya griff mit seiner riesigen Hand in das Blätterdach und sammelte zwei Frauen und einen Mann aus den Zweigen, um die verwirrten und verängstigten Menschen dann neben dem Mann hinter dem Felsen abzusetzen.

Nissa kannte einen schnelleren Weg. Sie reckte Hand und Geist gleichermaßen und vollführte die Geste, die Ashaya sie gelehrt hatte – jene Geste, welche ihr die Macht des Landes eröffnete.

Als sie das nächste Mal blinzelte, erstrahlte die Welt hell. Leuchtende, grüne Leylinien durchzogen den Weiler. Sie verliefen durch die Baumhütten, die Menschen und die Bäume selbst. Es war ein Netz aus Macht, und bei Nissa liefen all seine Fäden zusammen.

„Haltet durch dort oben!“, rief sie den restlichen Menschen in den Bäumen zu.

Mittlerweile hatten sie sich umgewandt, um das gewaltige Elementar zu betrachten, das sie aus den Bäumen sammelte. Ihren entsetzten Blicken nach zu urteilen, wussten sie nicht, worauf sie ihre Waffen richten sollten. Ihnen musste es erscheinen, als würde die Gefahr von allen Seiten kommen.

„Es ist alles gut“, rief Nissa ihnen zu. „Wir sind hier, um zu helfen. Ich schaffe euch da runter!“

Sie stieß den Arm nach vorn und richtete ihn nach der Leylinie aus, die durch den Stamm des dicksten Baumes verlief. Als beide Eldrazi mit allen acht Händen ausholten, zog Nissa an dem Baum, um ihn in ihre Richtung zu neigen. Der Baum gehorchte.

Es war, als würde er sich verbeugen. Die Menschen klammerten sich an Blätter und Zweige und hingen seitlich aus der Krone, während die gierigen Finger der Eldrazi nur durch leere Luft fegten.

„Kommt! Hier entlang!“ Nissa bedeutete den Menschen, zu dem Felsen zu eilen. „Dort drüben ist es sicher.“

Nach nur kurzem Zögern ließen die Dörfler den Baum los und sprangen zu Boden. Kaum spürten sie die Erde unter den Füßen, rannten sie los. Nun waren die Eldrazi wütend. Ihre Gliedmaßen hieben auf den gebeugten Baum ein.

„Bleibt unten“, wies Nissa die Gruppe an. „Wir werden sie aufhalten.“

„Danke.“ Eine der Frauen ergriff Nissas Hand, als die anderen vorbeihasteten. „Bei den Engeln des Landes, ich danke Euch.“

„Geht!“ Nissa bedeutete der Frau, schleunigst weiterzulaufen, und als diese sich zu den anderen hinter dem Felsen gesellt hatte, griff sie nach den Leylinien, die die Erde um ihn herum durchzogen.

Bild von Wesley Burt

Sie zog am Land selbst, rollte es zu einem niedrigen Wall auf und ließ es eine schützende Barriere um die Menschen bilden – mit dem Felsen als Ankerpunkt.

Hier würden sie sicher sein und keinen Schaden nehmen. Die Herzbäume jedoch ... Nissas Gedanken schweiften ab.

Sie verloren Zeit.

Ashaya zog sie zurück.

Hier. Hier war Schmerz. Hier war Not.

„Du hast recht.“

Da die Menschen hinter ihnen nun in Sicherheit waren, wandten sich Nissa und Ashaya den Zwillingen zu. Es war an der Zeit, ihrer Zerstörungswut im Riesenholz-Wald ein Ende zu setzen.

Der vordere Zwilling attackierte sie, indem er sie durch die Lücke, die der gebeugte Baum hinterlassen hatte, zu packen versuchte.

„Es gibt hier nichts für dich“, sagte Nissa. „Verschwinde.“ Sie löste ihren Griff um den Baum. Mehr noch: Sie legte ihr gesamtes Gewicht in die Bewegung, mit der er sich wieder aufrichtete. Er schnellte mit einer solchen Wucht zurück, dass er beim Aufprall auf den Eldrazi dessen knöcherne Kopfplatte zerschmetterte.

Dicke, weiße Knochensplitter regneten zu Boden.

Der Eldrazi stolperte zurück.

„Erledige ihn“, sagte Nissa zu Ashaya.

Das Elementar stakste durch die Bäume und stieß seine Astfinger tief in das entblößte Gesicht des Eldrazi,

der sich wand und um sich schlug – zumindest einen Augenblick lang. Dann fasste ihm Ashaya durchs Gesicht hindurch bis in den Hals hinunter und zog einen gewaltigen Brocken Innereien aus ihm heraus. Seine Gliedmaßen erschlafften, bevor das Ungeheuer zurücktaumelte und auf dem Waldboden aufschlug.

Jubelrufe ertönten hinter dem Felsen.

„Einer ist erledigt. Zwei sind noch übrig“, sagte Nissa.

Ashaya wandte sich dem zweiten Zwilling zu, als dieser gerade nach den Hörnern des Elementars griff. Er legte seine plumpen Finger darum und zerrte sie nach unten, ehe er Ashaya zwei seiner dunkelroten, dicken Tentakel um den Kopf wand und ihn so festhielt.

Nissa spürte die Angst des Elementars, seinen Schmerz.

Ashaya war in Gefahr, und Nissa handelte instinktiv.

Sie folgte den Leylinien, die durch die dicksten, tiefsten Wurzeln führten, und krallte sich in ihnen fest.

Jede Wurzel wurde zu einer Erweiterung eines ihrer Finger. Sie hob die Wurzeln hoch über den Boden. Erdbrocken, Felsen und Geröll prasselten herab. Sie streckte die Finger aus, und auch die Wurzeln streckten sich. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten, und die Wurzeln taten es ihr gleich. Nun hatte Nissa ihre eigenen Tentakel – und sie peitschte mit ihnen nach dem Eldrazi. Zehn vorschnellende Wurzeln schnitten in den verbliebenen Zwilling.

„Lass ihn los.“ Mit einer Drehung ihres Handgelenks zog Nissa die Wurzeln zurück und holte erneut aus. Diesmal packte sie ihren Gegner: Die stacheligen Teile der Wurzeln wurden zu ihren Fingernägeln, die sie in die Muskeln des Eldrazi schlug, um ihren festen Griff zu sichern. Dann zog sie und zerrte erst einen Tentakel und dann einen zweiten von Ashaya weg.

Als es befreit war, stürmte das Elementar aus der Reichweite des Eldrazi und richtete sich zu voller Größe auf, grollend wie ein Erdbeben. Ashaya vergeudete keine Zeit. Er drehte sich zu dem Eldrazi um und schlug ihm wieder und wieder in den verwundbaren Bereich seines Bauch.

Nissa holte ein weiteres Mal mit ihren Wurzelhänden aus und fügte ihre Kraft dem Angriff Ashayas hinzu. Sie schlang ihre Wurzeln um jeden der Tentakel des Eldrazi, hielt sie einzeln fest und zog sie dann ruckartig auseinander. Sie spaltete den Rumpf des Eldrazi in der Mitte, was ihn seinen sicheren Stand kostete.

Da er sich nicht gleichzeitig Ashayas Angriffen erwehren und sein Gleichgewicht behalten konnte, geriet er ins Wanken. Nissa zog stärker. Es reichte ihr nicht, ihn einfach umzuwerfen: Sie hatten keine Zeit für etwas anderes als seine möglichst rasche Vernichtung. Sie rupfte dem Eldrazi die Tentakel einfach aus. Er fauchte und kreischte und starb, als er zu Boden stürzte – genau auf die Menschen zu, die sich hinter dem Wall aus Erde und Felsen zusammenkauerten.

Nissa fuhr herum, streifte die Wurzeln von ihren Fingerspitzen ab und griff in das Land selbst hinein. Sie bediente sich der Macht der Leylinien im Boden, um Felsen, Pflanzen und Erde zu einer riesigen Woge aufzutürmen, die die Menschen davontrug, bevor der Eldrazi aufschlug.

Sie schrien, als sie in die Luft gehoben wurden, doch sie waren in Sicherheit. Nissa hatte sie gerettet.

„Einer ist noch übrig“, sagte Nissa zu Ashaya.

Die Menschen des Riesenholz-Waldes eilten zu ihr, um ihr ihre Dankbarkeit zu zeigen. Sie fassten sie an den Schultern, umarmten sie und weinten in ihren Umhang.

Obgleich sie von ihrer Wärme umströmt wurde, spürte Nissa nur den Schmerz der Herzbäume. Der dritte Eldrazi hatte den Hain erreicht.

„Wir müssen gehen“, sagte Nissa.

„Nein, bitte bleibt doch!“, sagte die Frau, die Nissas Ellenbogen umklammert hielt. „Ihr müsst bleiben. Feiert diesen Sieg mit uns!“

„Dies ist kein Sieg.“ Nissa ließ den Kopf sinken und löste sich aus dem Griff der Menschen. „Da ist noch ein weiterer Eldrazi.“

„Wo?“ Ein junger Mann blickte sich um und hob seinen Speer.

Nissa deutet in Richtung des Hains. „Ich muss gehen.“

„Oh, der.“ Ein großer Mann winkte geringschätzig ab. „Den habe ich von oben gesehen. Sein Weg führt ihn nicht mal in die Nähe. Wir sind in Sicherheit.“

„Bleibt“, drängte die Frau sie erneut. „Erlaubt uns, Euch zu danken. Wir bereiten ein Mahl für Euch. Ihr musst am Verhungern sein.“

„Ihr seid in Sicherheit, doch die Herzbäume sind es nicht“, sagte Nissa. Sie blickte zu Ashaya und nickte. Die beiden machten sich in Richtung der Bäume auf, ohne ein weiteres Wort mit den Menschen zu wechseln. Es blieb keine Zeit mehr. Sie hatten ohnehin schon zu lange gebraucht.

Zendikar teilte Nissas Angst. Als sie durch den Wald rannte, teilten sich die Bäume, Wurzeln bewegten sich aus ihrem Weg und Felsen wichen beiseite, um sie hindurchzulassen. Zweige boten sich ihr dar, damit sie sich an ihnen festhalten konnte. Mit der Hilfe des Waldes kam Nissa beinahe ebenso schnell voran wie Ashaya.

Je näher sie kamen, desto stärker wurde das Gefühl von Verlust und Zerstörung.

Sie waren zu spät.

Nissa stockte bei dem Anblick der Atem.

Der Hain war nicht länger ein Hain: Er war zu einem verderbten Ödland geworden. Von der Gruppe uralter Herzbäume waren nur noch zwei übrig. Sie standen, durch ihre Ranken verbunden, in der Mitte einer fahlweißen Lichtung. Alle anderen waren zu Staub zerfallen.

Der Eldrazi hatte sich in der Krone eines der beiden verbliebenen Bäume niedergelassen und seine Tentakel um dessen Stamm gewunden – er war gerade im Begriff, das Leben aus ihm herauszusaugen.

Bild von Izzy

„Nein!“ Nissa schrie auf.

Sowohl Ashaya als auch sie selbst gingen zum Angriff über, doch der Eldrazi war zu schnell. Er festigte seinen Griff und begann damit, sich zu nähren.

Die Verderbnis breitete sich rasch durch den Baum aus – den Stamm hinunter, die Zweige hinauf und in das Band hinein.

Mit einem wütenden Grollen schleuderte Ashaya das Ungeheuer aus der Baumkrone. Es taumelte zu Boden.

Weniger als einen Atemzug, nachdem es aufprallte, rief Nissa nach dem Land zu beiden Seiten der Verderbnis jenseits dessen, was einst der Hain gewesen war, und ließ es sich wie zwei Flutwellen auftürmen und über den Eldrazi hereinbrechen.

Das Ungeheuer wurde mit nur einem Streich getötet und begraben zugleich.

Ashaya blickte zu Nissa. Drei. Sie hatten alle drei erledigt.

„Aber zu spät.“ Nissa richtete ihren Blick auf das Herzbaumpaar.

Die Ranke zwischen ihnen war zertrennt. Der verderbte Teil hatte sich aufgelöst. Nun hing das, was von dem Band zwischen den beiden Bäumen übrig war, schlaff von dem verbliebenen Baum und bewegte sich in der leichten Brise – einer Brise, die einem Baum fremd sein musste, der bislang in einem geschützten Hain gestanden hatte.

So viel hatte sich für diesen Baum in so kurzer Zeit verändert. Wie sollte Nissa ihm das erklären?

Der Gefährte des Baumes war fort ... für immer. Doch der lebende Baum konnte das nicht wissen. Er würde weiter an ihrem Band festhalten und weiter mit seiner Hand, seinem Herzen, seiner Seele nach dem anderen greifen – und er würde nur Leere finden, ewige Leere.

Wie konnte Nissa ihm das begreiflich machen? Wie konnte sie ihm sagen, dass sein Gefährte ihn nicht freiwillig verlassen hatte? Dass der eine Herzbaum den anderen niemals im Stich lassen würde?

Nissa näherte sich dem Baum. Sie schritt über das Geröll des Grabs des Eldrazi. Sie legte die Hand gegen seinen Stamm. „Verzeih“, sagte sie. „Es tut mir leid, dass wir zu spät waren.“ Ihr schnürte sich die Kehle zusammen, und Tränen brannten ihr in den Augen.

Ashaya gesellte sich zu Nissa und legte seine eigene, riesige Handfläche auf den Stamm. Nissa spürte, welche Botschaft Ashaya dem Baum im Namen Zendikars sandte. Zendikar versprach, dass der Gefährte des letzten Baumes nie vergessen sein würde. Zendikar würde sich wehren. Zendikar würde nicht ruhen, bis die Eldrazi fort waren. Bis dieser Schmerz für immer beendet sein würde.

Zendikar hoffte noch immer, dass dieser Tag kommen würde.

Ashaya hoffte noch immer.

Nissa schöpfte ihre Hoffnung aus der ihres Freundes.

Sie würden weitermachen. Sie würden immer weitermachen – bis sie den Titanen gefunden und ihn vernichtet hatten. Bis zu ihrem Sieg.


Tagelang durchstreiften Nissa und Ashaya den Riesenholz-Wald. So lange sie regelmäßiger auf Eldrazi stießen und so lange der Wald dichter von Ausgeburten bevölkert war, glaubte Nissa, dass sie auf dem richtigen Weg waren – auf dem Weg zu dem Titanen.

Ihre Verfolgung hatte sie vom südlichen Ende des Waldes durch die Haine und nun hinaus in Richtung des Meeres geführt.

Vielleicht bedeutete der Geruch des salzigen Meerwassers, dass der Titan, den sie verfolgten, sich nicht auf Tazeem befand. Sei‘s drum. Dann würden sie eben ein Boot in Richtung Guul Draz nehmen oder Akoum oder Murasa – Nissa würde sogar zurück ins gefallene Bala Ged gehen, wenn es nötig wäre.

Doch nun wollte sie innehalten, nur einen Augenblick, und etwas trinken. Sie waren an einem schmalen, gewundenen Bach angelangt, der in einem Wasserfall endete, wie Nissa dem Geräusch rauschenden Wassers gleich hinter einer Baumgruppe entnahm.

Nissa kletterte von Ashayas Kopf herunter und war froh, einen Augenblick im Schatten verweilen zu können. Sie kniete neben dem Bach nieder und schöpfte Wasser mit den Händen.

Zwischen den frischen, klaren Schlucken lehnte sich Nissa zurück und genoss den Anblick dieses unversehrten Hains. Von hier aus konnte sie keinerlei Zerstörung durch die Eldrazi erkennen. Es war ein perfektes Bild Zendikars.

Ashaya teilte ihr Gefühl von Frieden.

Dieser Teil Zendikars hatte Glück gehabt. Er hatte noch keinen Schmerz erlebt. Und Nissa versprach, dass sie alles tun würde, um dafür zu sorgen, dass er das auch nie musste.

Bild von Andreas Rocha

Nachdem sie sich satt getrunken hatte, blickte Nissa zu ihrem Freund auf. „Wollen wir zum Meer gehen?“

Ashaya beugte sich herab, senkte die Hand und Nissa griff nach dem dicken, astartigen Daumen –

und dann blieb ihr der Atem röchelnd im Hals stecken. Sie bekam keine Luft.

Ein stechender Schmerz fuhr ihr durch die Brust und lähmte sie.

Ein Eldrazi ... Es musste ein Eldrazi gewesen sein ... der sie in die Brust gestochen hatte.

Woher war er gekommen?

Sie blickte nach unten und erwartete, einen Tentakel zu sehen oder ein knöchernen Sporn in ihrer Brust ... doch da war gar nichts.

Sie spähte in den Hain. Nichts. Kein Eldrazi. Keine Verderbnis.

Unter ihr begann Ashayas Hand zu zittern. Auch das Elementar hatte Schmerzen. Unerträgliche Schmerzen.

Eine zweite, brutalere Welle aus Schmerz schoss durch Nissa hindurch. Diesmal fühlte es sich an, als würden ihr die Eingeweide aus dem Bauch gerissen.

Ashaya bäumte sich auf, schlug um sich und warf dabei Nissa, die weiter erstickt um Atem rang, von seiner Hand.

Nissa griff nach ihrem Freund, doch die Welt schien sich ins Unermessliche auszudehnen und der Abstand zwischen Nissa und Ashaya wurde zu einem unüberwindlichen Abgrund.

Es war nicht Nissas Inneres gewesen, das ihr entrissen worden war, sondern Zendikars. Ashaya. Die Verbindung zwischen ihnen wurde durchtrennt.

Ashaya drehte sich einmal um die eigene Achse und stolperte mit schwankenden, unsicheren Schritten auf Nissa zu. Nissa konnte das Elementar nicht mehr spüren. Konnte auch Ashaya sie nicht mehr spüren?

„Ashaya!“ Nissas Schrei quälte sich heiser aus ihrer Kehle.

Das Elementar drehte den Kopf in die Richtung, aus der Nissas Stimme kam. Es hatte sie gehört – oder vielleicht kippte es auch nur um. Ashaya stürzte, und sein dicker, stammähnlicher Körper raste geradewegs auf Nissa zu.

Nissa bereitete sich auf den Aufprall vor – viel mehr konnte sie nicht tun.

Doch im letzten Augenblick streckte Ashaya einen Arm aus und stieß sich zur Seite ab, weg von der kleinen, zerbrechlichen Elfe.

Nissa sah zu, wie Ashayas Äste zerbrachen und am Boden zersplitterten. „Nein!“

Eine dritte Welle aus Schmerz riss Nissa entzwei.

Alles wurde dunkel.

Endlos lange war da nichts.

Kein Geräusch.

Kein Licht.

Kein Leben.


Als Nissa endlich wieder zu sich kam, holte sie in tiefen Zügen Luft. Sie konnte gar nicht genug davon bekommen.

Die Stille um sie herum war schwer und bedrohlich. Und ihr Blick war getrübt.

Ashaya. Alles, woran sie denken konnte, war Ashaya.

Nissa fasste in das Land hinein, um das Elementar herbeizurufen.

Doch da war nichts, wonach sie greifen hätte greifen können.

Ashaya.

Sie griff tiefer hinein, tastete mit all ihrem Fühlen nach dem Land.

Doch von genau dort kam die Stille.

Nissas Ohren dröhnten, und die Welt drehte sich.

Ashaya.

Sie schleppte sich zu dem Haufen aus Ästen und den kleinen Hügeln aus Erde hinüber. Mit zitternden Händen strich sie über die zerschlagenen Einzelteile. Welcher Holzsplitter war Ashayas Finger gewesen? Welches Blatt war oben auf seinem Kopf gewachsen? Wo waren die Wurzeln, die seine Seele in sich geborgen hatten?

Ashaya.

Die Stille war ohrenbetäubend.

Nissa rappelte sich auf, doch ein Schwindelgefühl ließ sie wieder zu Boden taumeln. Sie schlug hart auf. Ein spitzer Stein schnitt ihr in die Wange, und ein Haufen Geröll grub sich ihr in die Seite. Das Land beschützte sie nicht, umsorgte sie nicht – es tat ihr weh.

Nein.

Das ergab keinen Sinn.

Ashaya.

Nissa zog sich an den dornigen Zweigen und dünnen Ranken auf die Füße.

Allein bahnte sie sich einen Weg zum Waldrand, dort wo der Bach zu einem Wasserfall wurde.

Sie blickte über das Land und suchte nach ihrem Freund.

Der Ausblick vor ihr war nicht der, den Nissa erwartet hatte. Sie hatten den Rand Tazeems erreicht – nicht weit von hier konnte sie das Meer erkennen. Doch unter ihr befand sich ein weiteres Meer. Eines, das aus aufgetürmten Eldrazileibern bestand. So hoch, dass Nissa den Boden nicht sehen konnte.

Waren es diese Eldrazi gewesen? Hatten sie Zendikar etwas angetan? Hatten sie Ashaya geholt?

Ashaya.

Nissa blickte zu den herabgefallenen Zweigen zurück.

Dort war nichts. Ashaya war nicht hinter ihr.

Sie stürmte los, den Abhang hinunter auf das Meer von Eldrazi unter ihr zu. In der Ferne machte sie den Leuchtturm von Seetor aus. Nicht aber Ashaya.

Wenn diese Eldrazi ihr Zendikar, Ashaya, genommen hatten, dann würde Nissa sie zwingen, ihn ihr wieder zurückzugeben.

Sie stolperte einmal, noch einmal. Das Land reagierte nicht auf ihre Gegenwart. Die Dornenhecken wichen nicht zur Seite, damit sie nicht gekratzt wurde. Die Ranken ließen sie stolpern, anstatt sie zu tragen.

Es fühlte sich an, als fehlten ihr eigene Glieder. Es fühlte sich an, als fehlte ihr ein Teil ihrer Seele.

Nissa stolperte in die Massen von Eldrazi. Sie knurrten und scharrten überall um sie herum.

„Ashaya!“, rief sie und glitt zwischen den Ungeheuern hindurch. „Ashaya!“

Sie versuchte erneut, in das Land hineinzugreifen, doch sie konnte sich nirgends erden. Hier war so viel Verderbnis, so viele sich kreuzende Spuren davon – war überhaupt noch etwas von Zendikar übrig?

Bild von Jung Park

„Pass auf!“

Der Ruf kam von hinter ihr, doch ehe sich Nissa umdrehen konnte, schlug ihr etwas Hartes, Scharfes in den Rücken und warf sie auf den verderbten Boden.

Eine Wolke fahlen Staubs hüllte sie ein, und als sie versuchte, sich aufzurichten, hielten zwei Hände sie an den Schultern am Boden fest. „Bleib unten.“

Nissa wand sich so weit auf die Seite, wie es ihr möglich war, um herauszufinden, was sie da festhielt. Es war eine Angehörige des Meervolks, die in eine dicke, scharfkantige Rüstung aus Muscheln gekleidet war.

„Was machst du denn?“ Ihre Stimme klang vorwurfsvoll. „Du wärst beinahe schnurstracks in dieses Ding hineingelaufen!“ Sie nickte in die Richtung, in der sich ein gewaltiger Eldrazi entlangwalzte. „Bist du verletzt?“

Ja, Nissa war verletzt. Der Schmerz war noch immer da, in ihrer Brust, in ihren Eingeweiden. Am ganzen Leib. Überall, wo Zendikar nicht mehr war – und Zendikar war nirgends mehr.

„Ich sehe keine Wunden.“ Die Meerfrau musterte Nissa. „Keine Verderbnis.“ Sie lockerte den Griff um Nissas Schulter. Der Eldrazi war weitergezogen.

„Pass auf“, sagte die Meerfrau. „Ich weiß, wir sind hier in einer ziemlich misslichen Lage, aber du musst mir bitte zuhören. Nur so kommen wir hier lebend raus. Hörst du zu?“

„Es ist fort.“ Nissa blinzelte zu der Meerfrau. „Hast du es auch gespürt?“

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst“, sagte die Meerfrau und rappelte sich auf. Zum ersten Mal bemerkte Nissa, dass sie verwundet war – ziemlich schwer sogar. Eines ihrer Beine war eng mit einem blutdurchtränkten Tuch abgebunden. „Aber ich weiß, dass es Zeit ist, von hier zu verschwinden.“ Sie zerrte an Nissas Arm. „Komm schon!“

Das Zupfen. Das Blut. Die Anspannung in der Stimme der Meerfrau. Die Eldrazi kamen näher, und die Wirklichkeit um sie herum wurde Nissa mit einem Schlag bewusst.

Sie erschauerte. Es war, als wäre sie blindlings in diesen Alptraum gestolpert.

Ashaya war nicht hier. So viel war sicher. Und nun befand sich Nissa in großer Gefahr. Ebenso wie die Meerfrau. Zu viele Eldrazi waren hier.

„Mach schon.“ Die Meerfrau zog erneut an ihr. „Es kommt!“

Einer der Eldrazi – ein bauchiger mit viel zu vielen Gliedmaßen – robbte unmittelbar auf sie zu.

Nissa musste etwas tun. Sie stemmte sich in die Höhe. „Dieser Weg ist frei.“ Sie deutete in die Richtung, aus der sie gekommen war, zum Abhang hin.

Die Meerfrau nickte. Halb humpelte sie, halb schleppte sie sich neben ihr her. Sie würde es nie schaffen, sie war nicht schnell genug. Nissa musste mehr tun.

„Ich habe dich.“ Nissa hob die Meerfrau hoch und warf sie sich über die Schulter. Gerade rechtzeitig. Ein Eldrazi in der Nähe holte mit einem Tentakel nach ihnen aus.

Nissa rannte.

Wie konnte sie auf ihrem Weg hierher nichts davon wahrgenommen haben? Die Leichen. Die Zerstörung. Die Verderbnis.

Dies war Seetor – sie erinnerte sich an den Leuchtturm. Seetor war die Wurzel der Zivilisation auf Zendikar. Es war ein Handelszentrum, eine Bastion des Wissens. Hier gab es Macht, Magie. Tausende von Menschen lebten und arbeiteten hier, und Tausende weitere hatten sich in die Sicherheit seiner Mauern geflüchtet. Wie war es möglich, dass Seetor nun ... dies war? Wie hatte Seetor fallen können?

War Ashaya deshalb fort?

Ein niederfahrender Tentakel schnitt durch Nissas Verzweiflung.

Ein langer, purpurner Eldrazi wuchtete sich ihr in den Weg.

Bild von Chase Stone

Sie stockte, verlagerte das Gewicht der Meerfrau auf ihrer Schulter und drehte sich auf der Suche nach einem Ausweg im Kreis. Um sich herum sah sie nur Tentakel und Gliedmaßen.

Die Meerfrau spannte sich an und wand sich. „Es sind zu viele!“

Nissa klammerte ihren Arm enger um die Muschelrüstung der Meerfrau und hielt sie fest. „Ich weiß.“

Sie holte tief Luft und zog ihr Schwert.

Es fühlte sich fremd an.

Es war lange her, dass sie es zum letzten Mal getan hatte. Die Klinge wirkte nicht ausgewogen, das Heft hart und unnatürlich. Es war nichts im Vergleich zu den lebendigen Leylinien, an die sie gewohnt war, nichts im Vergleich zu einer Armee von Elementaren oder dem Land selbst, doch es würde reichen müssen. Sie hatte keine andere Wahl.

Mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, hieb sie die Klinge in den fleischigen Teil des langen, purpurnen Eldrazi. Der Aufprall pflanzte sich durch ihre Handflächen fort und sandte ihr Schockwellen aus Schmerz die Arme hinauf und in die Brust. Sie hatte vergessen, wie sehr es den Körper beanspruchte, auf diese Weise zu kämpfen. Doch sie hörte nicht auf. Sie riss die Klinge aus der flachen Wunde, die sie in die Seite des Eldrazi geschlagen hatte, und hieb erneut zu.

Dieses Mal schlug der Eldrazi zurück und fegte sie mit einem seiner Vorderbeine beiseite, sodass sie ins Straucheln geriet. Mit dem ungewohnten Gewicht des Schwertes in der Hand und der Meerfrau auf dem Rücken konnte sie sich nicht auf den Beinen halten.

Sie gingen zu Boden, und Nissas Schwert wurde von ihr fort in Richtung der Verderbnis geschleudert.

Der Arm des Eldrazi fuhr erneut auf sie herab, doch kurz bevor er sie traf, riss die Meerfrau die stachelige Muschel ab, die ihre Schulter bedeckte, und hielt sie wie einen Schild vor sich. Der Eldrazi schlug hart zu, kam aber nicht durch.

Er wich zurück. Gleich würde er ein weiteres Mal ausholen.

„Glaubst du, du kannst ihn aufhalten, bis ich mein Schwert zurückgeholt habe?“, fragte Nissa die Meerfrau.

Diese nickte.

„Ich bin gleich wieder da.“ Nissa krabbelte über den Boden auf ihr Schwert zu, hielt den Kopf unten und hoffte, dass der Eldrazi sie gerade nicht mehr wahrnehmen konnte.

Drei Mal versuchte sie, durch das Land hindurch nach ihrem Schwert zu greifen. Drei Mal wollte sie eine Kuhle im Boden schaffen, damit ihre Waffe auf sie zurutschte. Drei Mal bat sie Zendikar um Hilfe. Doch es antwortete nicht.

Die endlose Stille blieb ungebrochen.

Nissa fühlte sich unsagbar einsam. In der Mitte dieses Schwarms aus Eldrazi fühlte es sich an, als sei nichts und niemand mehr für sie da.

Einer der dicken Rückententakel des Eldrazi drosch auf sie herab, als sie sich nach ihrer Klinge bücken wollte. Ihre Hand schloss sich um das Heft, doch der Tentakel landete auf ihrem Arm. Es war, als hätte das Ungeheuer es gewusst. Als hätte es auf ihren Arm gezielt, um sie aufzuhalten. Doch es konnte es nicht gewusst haben. Sie wussten so etwas nicht – nicht so.

Sie zog mit aller Kraft an ihrem Arm, doch der Tentakel war zu schwer. Sie saß in der Falle.

Panik stieg in ihr auf. Was kam als Nächstes? Würde es sich an ihr laben? Ihr Arm konnte jetzt in diesem Augenblick bereits der Verderbnis des Eldrazi anheimfallen – woher sollte sie wissen, ob dies nun das Ende war?

Von irgendwo über ihr schossen drei Seile herab, jedes mit einer langen, scharfen Klinge an seinem Ende. In schneller Folge gruben sich diese Klingen in den Tentakel auf Nissas Arm.

Im nächsten Augenblick wurde der Tentakel von ihr weg und dann aus dem Körper des Eldrazi herausgerissen.

Als der Eldrazi aufkreischte, rollte sich Nissa zur Seite. Ihr erster Gedanke galt ihrem Arm. Sie wagte nicht, Atem zu holen, als sie ihn sich ansah. Da war kein Zeichen von Verderbnis. Sie würde leben. Ihre Schulter jedoch war so schwer verletzt, dass sie ihr Schwert mit der linken Hand aufheben musste.

„Hier oben!“ Ein weiteres Seil mit einem Haken fiel herab. Nissas Blick folgte ihm hinauf zu einem Meer aus Gesichtern, die von einem hohen, fliegenden Felsen auf sie herabblickten. Das bleiche Gesicht eines Kors war ganz vorn. Nissa war noch nie in ihrem Leben so dankbar gewesen, einen Kor zu sehen.

„Nimm das Seil. Binde die Meerfrau daran fest“, wies der Kor sie an.

Nissa wirbelte herum. Sie hatte die Meerfrau in dem Aufruhr völlig vergessen. Sie stieß einen erleichterten Seufzer aus, als sie am Boden auf sich zukriechen sah.

„Das wird gehen“, keuchte die Meerfrau. „Binde mich fest.“

Nissa ließ sich auf die Knie fallen und befestigte die Meerfrau in der Rundung des Hakens. Dann schlang sie das Seil um ihren Gürtel, sodass sie sie mit sich nach oben ziehen konnte, wenn sie hinaufkletterte. 

Sie zog an dem Seil als Zeichen, dass sie bereit war, und wandte sich zur Meerfrau. „Mein Arm ist verletzt. Nimm du das Schwert.“

„Gern.“ Sie wirkte begeistert, eine Waffe zu haben. Sie hielt Nissas Schwert in einer Hand und den Haken in der anderen.

Nissa begann zu klettern und die Meerfrau dabei mithilfe ihres linken Arms mit sich nach oben zu befördern. Währenddessen zogen der Kor und seine Gefährten das Seil Stück für Stück nach oben, sodass die Geschwindigkeit von Nissas Aufstieg sich verdoppelte, wenn nicht gar verdreifachte. Sie hoffte, dass es reichen würde.

Tentakel und andere Gliedmaßen wogten überall um sie herum, und sie konnte hören, wie die Meerfrau auf einen Eldrazi unter ihr einschlug, doch Nissa schenkte all dem keine Beachtung. Sie konzentrierte sich einzig auf das Seil und auf das Klettern.

Irgendwann, als ihr die Arme müde wurden und ihre Handflächen zu schwitzen begannen, streifte ein kühler, erfrischender Wind durch Nissas Haar. Sie hatten die Spitze des Schwarms hinter sich gelassen. Der Tag war nicht so dunkel, wie es vom Boden aus gewirkt hatte. Nissas nächster Atemzug war der erste seit langer Zeit, der nicht nach Eldrazi, Verwesung und Blut schmeckte. Sie holte tief Luft und gestattete sich, für einen Augenblick innezuhalten.

„Gleich geschafft“, rief der Kor, während er noch mehr Seil nach oben zog. „Wir haben euch.“

Nissa lächelte zu ihm hinauf. Dann blickte sie nach unten zu der Meerfrau. „Wir schaffen es.“

Die Meerfrau erwiderte das Lächeln und lockerte ihren Griff um Nissas Schwert. Hier oben gab es keine Eldrazi zu bekämpfen. „Wir schaffen es.“

Unter ihnen befand sich der Dschungel aus Eldrazi, dessen Blätterdach aus knöchernen Panzern, Tentakelranken und gegabelten Zweigen sie nun hinter sich ließen. Nissa konnte keinen einzigen Flecken Erde ausmachen, selbst dort nicht, wo sie gerade noch gestanden hatten. Sie schuldeten ihr Leben den Zendikari dort über ihnen auf dem Felsen.

„Nein!“, schrie die Meerfrau auf.

Das Seil ruckte, und Nissa schaute nach oben, um zu sehen, was es mit dem entsetzten Gesichtsausdruck der Meerfrau auf sich hatte. Ein Eldrazi von der Größe eines ausgewachsenen Leviathans hatte sich von der Kante eines zweiten schwebenden Felsens abgestoßen. Er krachte auf den Felsen, auf dem der Kor und seine Gefährten standen. Drei der Zendikari wurden unter dem riesigen, zuckenden Ungeheuer begraben, ein vierter taumelte über den Rand des Felsens und stürzte an Nissa und der Meerfrau vorbei in die Tiefe. Sie konnten nichts tun, um seinen Sturz aufzuhalten.

Bild von Clint Cearley

Die verbleibenden Zendikari zogen die Waffen und hieben auf die dicken, blauen Gliedmaßen ein. Nissa klammerte sich an dem Seil fest, das heftig unter dem schwankenden Felsen hin und her schwang.

„Er ist zu groß!“, rief die Meerfrau von unten.

Sie hatte recht. „Gib mir das Schwert.“ Nissa griff nach unten.

„Was hast du vor?“

„Das Schwert!“

Die Meerfrau reichte es Nissa herauf. Sie steckte es in die Scheide, löste sich von dem Haken und begann zu klettern, ohne auf den Schmerz in ihrer Schulter zu achten.

„Sei vorsichtig!“, rief die Meerfrau ihr nach.

Doch die Zeit für Vorsicht war längst vorbei.

Nissa hielt den Blick während ihres Aufstiegs starr nach oben gerichtet. Die einzigen Hinweise darauf, was auf dem Felsen vor sich ging, waren die Geräusche: das Knirschen, das Malmen, das Schlitzen. Waren es der Kor und seine Freunde, die auf den Eldrazi einhieben, oder war es andersherum?

Als sie oben angelangt war, sah sie ein Wirrwarr aus Tentakeln und Gliedmaßen vor sich. Sie zog sich die scharfe, schroffe Kante des schwebenden Felsens hinauf, zog ihr Schwert und begann, wieder und wieder auf das dicke, blaue Fleisch vor sich einzuhacken.

Innereien des Eldrazi spritzten ihr ins Gesicht und trübten ihren Blick. Ihr nächster Hieb ging ins Leere und zerschnitt nur die Luft. Nissa holte erneut aus – in die Richtung, in der sie durch den zähen Schleim, der ihr in den Augen brannte, einen Tentakel zu erkennen glaubte. Auch dieser Hieb ging ins Leere. Sie wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht – gerade rechtzeitig, um vier weißleuchtende Peitschen durch die Luft schnellen und sich in die Seite des Eldrazi graben zu sehen. Die Peitschen schlangen sich um vier der Gliedmaßen des Ungeheuers. Mit einem unnatürlichen Kreischen krampfte sich die Monstrosität zusammen, um gleich darauf zurückgezerrt und über die Kante des Felsens geschleudert zu werden.

Zwei der drei Zendikari, die unter ihm eingeklemmt gewesen waren, rappelten sich auf und rangen um Atem. Der dritte, ein Elf, lag reglos da. Seine Haut war über und über von fahlen Linien durchzogen.

„Helft mir, sie hochzuziehen!“

Beim Klang der Stimme fuhr Nissa herum und zog ihr Schwert.

Dort, am Rand des Felsens, kauerte ein Mann. Ein stämmiger Mann. Ein Mensch, dessen Haut die Farbe von Jurworrelbaumrinde hatte und der eine glänzende Rüstung trug, die Muster und Formen aufwies, wie Nissa sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sie wusste sofort, dass er nicht von Zendikar stammte. Ein Planeswalker.

Mit einem Seil in jeder Hand hievte der Planeswalker sowohl die Meerfrau als auch die vier anderen Zendikari auf den Felsen hinauf. Obwohl er darum gebeten hatte, wirkte es nicht so, als würde er wirklich Hilfe von Nissa oder den anderen, die staunend neben ihr standen, benötigen. Nissa lief dennoch hinüber. Sie griff nach dem Seil, an dem die Gefährten des Kors hingen, und zog.

Warum war er hier? All die Zeit hatte sie gedacht, dass alle anderen Planeswalker schon längst fort wären, besonders jene, die nicht von Zendikar stammten.

„Jori En!“, rief der Planeswalker, als er die Meerfrau erblickte, die sich gerade auf die Kante hinaufzog. „Jori En, du bist es! Du bist am Leben!“

„Gideon.“ Die Meerfrau blickte ebenso bestürzt drein wie der Planeswalker. „Ich dachte, du wärst tot. Als du mit dem Eldrazi über die Kante gestürzt bist ...“

„Es war nicht so schlimm, wie es aussah.“ Gideon, der Planeswalker, lächelte. Sein Lächeln war schief, wie Nissa bemerkte. „Ich hatte gedacht, du wärst tot.“

„Ich habe durchgehalten“, sagte Jori.

„Und das ist gut“, sagte Gideon. „Ich habe ihn zurückgebracht. Den Mann, der helfen kann. Sein Name ist Jace. Er hat ein Händchen für Rätsel, und wie sich herausgestellt hat, weiß er schon das eine oder andere über Polyeder.“

„Wo ist er?“ Jori blickte sich um.

„Im Lager.“ Der Planeswalker nickte über seine Schulter. Dann blickte er die anderen Zendikari auf dem Felsen an. Sein Blick wanderte ebenso rasch über Nissa hinweg wie über die anderen. „Seid unbesorgt. Ich bin gekommen, um euch hier rauszuholen. Sind das alle von euch?“

Der Kor nickte ernst. „Wir sind die letzte Gruppe. Wir dachten schon, ihr hättet uns aufgegeben.“

„Niemals.“ Gideon lächelte erneut. „Es gibt ein Lager weiter im Süden – zumindest wird es dort bald eines geben. Fürs Erste ist es dort sicher. Es ist nicht weit von hier. Folgt mir.“

Es war verblüffend, wie schnell er zwischen dem Austausch von Höflichkeiten und dem Erteilen von Befehlen hin und her wechselte. Doch niemand schien seine Autorität anzuzweifeln – oder irgendwelche Fragen ob seines fremden Akzents oder seiner Rüstung zu haben. Wenn dieser Mann einen Weg kannte, der an einen sicheren Ort führte, dann würden die Zendikari ihm folgen.

Er trug Jori En quer über seinen breiten Schultern. Der Rest der Gruppe war wohlauf genug, um den Weg allein zurückzulegen. Mit einem Schwung seiner Waffe mit den vier Klingen zog er eine dicke Ranke von dem schwebenden Felsen in der Nähe heran, von dem sich der Eldrazi herabgestürzt hatte. Er zog sie straff und band sie an einem Felsvorsprung zu seinen Füßen fest. „Jeweils zwei von uns überqueren diese Ranke. Wir bleiben zusammen. Wartet auf mich, wenn ihr den nächsten Felsen erreicht habt.“

Die Zendikari wappneten sich, nickten und dann begann das erste Paar, die Ranke zu überqueren.

Gideon war ein guter Anführer. Er war beständig und selbstsicher. Und er war stark. Zielsicher führte er sie von Felsen zu Felsen.

Nissa konnte den Ort nicht allzu weit in der Ferne erkennen, wohin die Plage der Eldrazi sich noch nicht ausgebreitet hatte. Es sah so aus, als könnten sie dorthin gelangen, ohne sich erneut in den Kampf stürzen zu müssen, und dieser Planeswalker schien den richtigen Weg zu kennen. Nissa war dankbar dafür. Sie hatte ihren Blick auf das reine Land voraus geheftet, und sie folgte Gideon, bis sie es in die ersten Ausläufer des unversehrten Gebiets geschafft hatten. Von dort aus führte er die Gruppe wieder auf den Boden. Hier änderte sich ihre Aufgabe. Sie mussten nicht länger über Ranken und schwebende Felsen klettern, sondern an den Gefallenen vorübermarschieren.

Während sie sich ihren Weg über das Schlachtfeld bahnten, wo sich die Eingeweide von Menschen und Monstren in der Zerstörung vermischt hatten, stießen sie nur auf drei Eldrazi. Nissa beobachtete den Planeswalker im Kampf. Seine peitschenartige Waffe leuchtete auf, wenn er den Ungeheuern Hiebe versetzte, und Licht umstrahlte seine Haut, wenn ein Tentakel oder sonstige Gliedmaße ihm zu nahe kam. Dieser Mann war mächtig.

Bild von Dan Scott

Nissa wartete, bis die Gefahr vorüber war, was sie daran erkannte, dass die Spannung aus seinen Schultern wich. Dann lief sie an die Spitze des Trosses und hielt mit Gideon Schritt. Es gab einige Dinge, nach denen sie ihn fragen musste. Wenn es irgendjemanden gab, der ebenfalls gespürt hatte, was mit Zendikar geschehen war, dann einen anderen Planeswalker, der sich im Einklang mit der Macht des Landes befand. Und sie musste es wissen.

Gideon trug seine leuchtende Waffe in der einen Hand und Jori mit der anderen – die Meerfrau hatte kurz zuvor das Bewusstsein verloren, doch der Kor in ihrem Tross war ein Heiler, der sich ihrer angenommen und den anderen versichert hatte, dass sie genesen würde, solange sie nur bald im Lager ankämen.

Als er sie an seiner Seite bemerkte, warf Gideon Nissa einen Blick zu.

„Hallo“, sagte Nissa.

„Hallo.“

„Ich bin Nissa.“

„Gideon. Freut mich, dich kennenzulernen.“ Er zeigte erneut dieses schiefe Lächeln.

Nissa fragte sich, wie er es schaffte, angesichts einer solchen Verwüstung so häufig zu lächeln.

„Das war ein guter Kampf dort hinten“, sagte er. „Du hast einen Großen erledigt.“ Er bezog sich auf einen der Eldrazi, bei dessen Beseitigung ihm Nissa auf dem Weg geholfen hatte.

„Ich bin es eigentlich nicht gewohnt, auf diese Weise zu kämpfen“, sagte Nissa. „Oder zumindest nicht in letzter Zeit. Ich schätze, bevor das alles angefangen hat, habe ich es öfter auf diese Weise getan, mit Schwert und Pfeilen, aber mittlerweile bin ich viel ... nun ja, mehr gewohnt. Dann wären alle drei auf einmal kein Hindernis für mich gewesen. Überhaupt keins. Selbst wenn ich allein gewesen wäre. Meine Macht ist größer als das, was du gesehen hast.“

Gideon lachte. „Deine Begeisterung freut mich. Und sei unbesorgt. Es wird jede Menge Zeit geben, dich in den Kämpfen, die noch kommen werden, zu beweisen.“

„Das ist nicht, was ich meine ... Ich mache mir keine Sorgen darüber, ob ich mich noch irgendwem beweisen muss.“ Nissa fühlte sich vor den Kopf gestoßen. „Ich ... Ich bin ein Planeswalker. Wie du.“

„Oh?“ Gideon neigte den Kopf und blickte sie ernst an.

„Deshalb bin ich überhaupt erst zu dir gekommen, um mit dir zu reden. Ich wollte wissen, ob du etwas Seltsames gespürt hast, da du doch ein mächtiger Magier bist. Früher am heutigen Tage. Als die Sonne noch hochstand. Es geschah ganz plötzlich. Es wurde einfach ... fortgerissen.“

Gideon runzelte die Stirn. „Was wurde fortgerissen? Was ist geschehen?“

„Wenn du nach deiner Macht greifst – und ich habe gesehen, wie du das mit deinen leuchtenden Wirbeln tust –, ist sie dann noch da? Alles fühlt sich noch an wie zuvor? Hat sich nichts verändert?“

„Ja. Nein.“ Gideon schüttelte den Kopf. „Sie ist noch da. Nichts hat sich verändert. Warum fragst du? Hat deine Kraft sich verändert ...?“

Nissa hielt seinem Blick stand. „Meine ist verschwunden. Sie wurde mir entrissen. Ich habe noch nie solchen Schmerz gespürt, solche Einsamkeit. Zendikar ist einfach ... fort.“ Als sie die Worte aussprach, fühlte sie erneut den schmerzlichen Verlust. Ashaya. Ihre Brust krampfte sich um die Leere in ihrem Inneren zusammen.

„Das tut mir leid“, sagte Gideon. „Aber ich ...“

Ein Ruf von schräg über ihnen schnitt ihm das Wort ab. „Sie sind zurück!“ Eine Leiter wurde von einem gewaltigen schwebenden Polyeder nicht weit von ihnen entfernt herabgelassen. „Er hat sie zurückgebracht!“

Drei Gestalten kletterten zügig die Leiter herab und eilten auf sie zu, an ihrer Spitze eine Kor.

Nissa machte einen Schritt zurück.

„Dest, seid Ihr das?“ Die Frau warf sich in die Arme des Korheilers. „Ich dachte...“ Ihr versagte die Stimme, als die Umarmung sie überwältigte.

„Er war es“, sagte Dest, der Kor, und deutete auf Gideon. „Er hat uns gerettet.“

„Ich danke Euch! Oh, ich danke Euch!“ Die Kor ergriff Gideons Hand.

Gideon stiegen die Tränen in die Augen, und er umfasste die kleine Hand der Frau mit seiner großen. „Freut mich, dass ich helfen konnte.“

Jubel erklang aus dem Lager über ihnen. Weitere Zendikari kletterten die Leiter herab und strömten Willkommensrufe ausstoßend auf sie zu.

Nissa zog sich aus der Masse zurück und schaute aus der Ferne zu, wie sich die anderen zusammendrängten, lachten und weinten, um dann wieder die Leiter hinaufzuklettern, dorthin, wo sich das versprochene Lager befinden sollte.

Sie wollte im Augenblick nichts von ihrer Wärme spüren. Sie gehörte nicht hierher. Sie gehörte zu Zendikar. Und das war alles, was sie wollte: sich wieder mit ihrer Welt, ihrem Freund, vereinen.

Sie kniete sich in den Schatten des riesigen Polyeders und legte die Handfläche auf den kühlen Boden.

„Ich bin‘s“, flüsterte sie. Sie sammelte sich, jedes noch so winzige Stückchen ihres Seins und ihrer Seele. Und obwohl sie wohl mehr Angst hatte als jemals zuvor – Angst vor dem, was sie finden oder ... was sie nicht finden würde –, sandte sie alles, was sie von sich aufbringen konnte, in das Land hinein, so tief wie es nur ging. Suchend, tastend ... hoffend. „Wo bist du?“

Stille.

Zendikar.

Sie griff tiefer.

Dort war nur Stille.

Ashaya.

Ihr Freund war nicht dort.

Zendikar war leer.

Und auch Nissa war leer.

Allein.

Als die Sonne sich über der leeren Hülle der Welt senkte, stand Nissa auf und ging auf die Leiter zu, die Hand fest um das Heft ihres Schwertes geschlossen.


Planeswalker Profil: Nissa Revane

Planeswalker-Profil: Gideon Jura

Weltenbeschreibung: Zendikar