Was bisher geschah: Erinnerungen an Blut

Nissa war der Macht Zendikars und der Seele der Welt näher als je zuvor. Sie hatte sie durch jenes gewaltige, baumartige Elementarwesen zu bündeln vermocht, dem sie den Namen Ashaya, die erwachte Welt, gegeben hatte. Und das Land selbst hatte auf ihre Anwesenheit geantwortet, ihre Kraft verstärkt und als Erweiterung ihres innersten Selbst gedient, um ihr beim Kampf gegen die Eldrazi beizustehen. Doch all dies wurde ihr plötzlich entrissen. Man nahm ihr die Seele Zendikars, und nun kann sie sie nicht mehr finden. Nissa blieb allein und nahezu machtlos zurück, und sie glaubt, die Eldrazi – und vielleicht gar der Titan – könnten etwas damit zu tun haben. Sie spürt die Last der kleinen Handvoll Samen, die sie bei sich trägt – Samen jener Bäume, die von den Eldrazi ausgelöscht worden waren. Sie hatte der Welt versprochen, dass sie nicht ruhen würde, bis sie man sie wieder sicher auf Zendikar einpflanzen konnte. Doch nun, während andere sich auf den Kampf vorbereiten, um die Welt zu retten, spürt Nissa all die Leere um sich herum und sorgt sich, dass es bereits zu spät ist und es gar keine Welt mehr gibt, die noch zu retten wäre.


Am häufigsten geschah es im Zwielicht: Ein langer dunkler Schemen regte sich. Ein Zweig streckte oder neigte sich ihr entgegen. Nissa nahm die Bewegung aus dem Augenwinkel wahr und war sicher – nur für diesen einen Augenblick, einen einzigen Herzschlag lang –, dass es Ashaya war, die Manifestation von Zendikars Seele, die endlich zu ihr zurückgekehrt war, wie sie es immer gewusst hatte.

Ashaya, die erwachte Welt | Bild von Raymond Swanland

Doch dann drehte sie den Kopf. Warum nur musste sie immer den Kopf drehen? Denn dann sah sie, dass es nur ein Baum war, nur der Wind, nur die langen Schatten, die die sinkende Sonne herbeizauberte. Ihr Atem beruhigte sich, ihr Herz schlug wieder im gewohnten Takt und sie war allein. Sie saß an genau jener Stelle der Lichtung auf dem Boden, auf dem sie gestanden hatte, als Zendikar ihr entrissen worden war.

Hier hielt sie Wacht. Hierher kehrte sie jeden Tag zurück, um sich zu erden, sich in das Land hineinzufühlen und nach einem Zeichen Zendikars zu suchen. Sie war davon überzeugt, dass die Eldrazi es geraubt, verjagt, verletzt hatten: Sie war schon einmal Zeugin geworden, wie viel Leid ein Titan Zendikar zufügen konnte. Doch sie glaubte, dass es – sollte es denn je zurückkehren – an jenen Ort zurückkehren würde, an dem es zuletzt gewesen war. Und sie glaubte, dass es zurückkehren würde. Sie wollte glauben, dass es zurückkehren würde, um nach ihr zu suchen. Und wenn es so weit war, würde sie da sein. So wie sie immer für ihren Freund da sein würde.

Doch alles, was Nissa fand, war Leere und die zerschmetterten Splitter einer Hülle. Kein einziges Mal erwiderte Zendikar ihren Ruf. Anstatt seiner Umarmung fand sie nur eine eisige Kälte, die ihr durch alle Glieder bis tief ins Mark hineinkroch, sobald die Nacht anbrach.

Die Dunkelheit und die Kälte waren für sie das Zeichen, sich in ihren Unterschlupf zwischen den Ästen einer dicken Weide in der Nähe zurückzuziehen. Es würde weder Zendikar noch irgendjemandem sonst helfen, wenn sie einnickte und mitten in der Nacht von einem Eldrazi verschlungen wurde.

Oft dachte sie darüber nach, jeden Abend zum Himmelsfelsen zurückzukehren. Die Sicherheit, die Gideons Himmelspatrouillen und nicht zuletzt der respekteinflößende Planeswalker selbst versprachen, hatte etwas Verlockendes. Doch die Verheißung wog die Nachteile nicht auf. Wenn die anderen sie wiedersahen, wäre sie ein weiteres Mal gezwungen, sich zu erklären. Und ihren Schmerz zu offenbaren, nur um skeptischen Blicken und immer neuen Fragen ausgesetzt zu sein, konnte sie nicht ertragen.

Sie hatte versucht, es zu erklären. Ihnen allen. Sie hatte versucht, es Gideon zu erklären und dann später seinem Freund, dem anderen Planeswalker Jace. Sie hatte ihnen davon erzählt, dass Zendikars Seele etwas Schreckliches widerfahren war. Dass man sie ihr entrissen hatte. Dass sie ihren Freund und ihren Zugang zu jener überwältigenden Macht verloren hatte, die das Land durchströmte.

Doch weder Jace noch Gideon schienen sie zu verstehen und auch niemand sonst. Immerhin hatte Jace an ihrer „Wahrnehmung der Welt“, wie er es genannt hatte, Interesse gezeigt. Doch es war nicht nur ihre Wahrnehmung. Zendikars Seele existierte wirklich, genau wie die Seelen anderer Welten. Nissa hatte sie gespürt und mit der Lorwyns hatte sie sogar Zwiesprache gehalten. Doch es war schwierig, wenn nicht gar unmöglich, dergleichen in Worte zu kleiden. Die Idee, dass Welten eine Seele hatten, war derart fremdartig, dass es leicht war, die Wahrheit als die „Wahrnehmung“ einer einzelnen Elfe abzutun.

Nissa grollte weder Jace noch Gideon noch einem der anderen. Sie sahen die Dinge nicht so, wie sie sie sah. Wenn sie Zendikar betrachteten, sahen sie Bäume, Felsen, Moos, Tiere, Flüsse und Berge. Doch sie sahen jedes dieser Dinge als einzelne Elemente ohne jeden Zusammenhang. Die ihnen zugrunde liegende Verknüpfungen sahen sie nicht. Sie waren blind für die mächtigen Ley-Linien, die sämtliches Leben auf der Welt wie ein Netz aus Adern verbanden und Kraft und Zuversicht von einem schlagenden Herzen zum nächsten trugen. Sie waren taub für die Stimme der Welt, die flüsterte und rief und lachte und manchmal gar vor Schmerz aufschrie. Sie sahen nicht, wie durch und durch lebendig Zendikar war  . . .  Früher zumindest.

Zendikars Turbulenz | Bild von Sam Burley

Denn damit war es vorbei.

Wenn Nissa nun die Welt betrachtete, sah sie nur abgeknickte Zweige, herabgefallenes Laub und dichtes Dornendickicht. Sie konnte das große Ganze, die Einheit, nicht mehr erkennen. Sie konnte die Stimme ihres Freundes nicht mehr hören.

Die Tristheit der Welt um sie herum schrie ihr die nackte Wahrheit ins Gesicht. Sie ließ ihre Erinnerungen wie einen Traum erscheinen, wie die fantasiereichen Eindrücke einer einzigen Elfe.

Wenn diese Träume überhaupt jemals wahr gewesen waren, so waren sie dies nun nicht mehr.

„Bist du wirklich fort?“ Nissa wollte es nicht glauben. Etwas in ihr sagte ihr, dass es nicht so sein konnte. Und dennoch . . .  Sie senkte die Hand mit ausgestreckten Fingern langsam in Richtung des Bodens. Sie hielt den Atem an und berührte den Staub.

Doch das war alles, was da war: Staub.

Wenn Zendikars Seele fort war, wenn der Titan der Eldrazi sie vernichtet hatte, dann würden all der Staub, all das Moos, all die Zweige und Tiere ebenfalls bald fort sein. Eine Welt ohne Seele konnte nicht lange eine Welt bleiben.

Ihre andere Hand umklammerte den seidenen Beutel voller Samen, den sie um den Hals trug. Es schien Jahre her zu sein, als der Vampir ihr ihn gegeben hatte. Wenn dies wahrlich das Ende Zendikars war, dann waren diese Samen genau das, als was der Vampir sie bezeichnet hatte: die letzte Hoffnung dieser Welt, auf einer anderen Welt fortzubestehen.

Nissa schluckte, doch der zähe Klumpen in ihrem Hals schwoll dennoch immer weiter an. Sie schloss die Augen, als ihr eine einzelne Träne die Wange hinabrann.

Sie umklammerte die Samen fester. Sie war so sicher gewesen, dass sie dem Vampir beweisen konnte, wie sehr er doch unrecht hatte – nein, sie war sicher gewesen, es ihm gemeinsam mit Zendikar beweisen zu können. Sie hatte versprochen, die Samen hier auszubringen, in die Erde ihrer eigenen Welt, sobald diese wieder sicher war, die Bedrohung durch die Eldrazi ein Ende gefunden hatte und die Samen zu hohen und starken Bäumen heranwachsen und ihr Leben mit Zendikars Seele vereinen konnten.

Doch Zendikars Seele war fort. Fort. Wie oft würde sie noch ins Leere hineintasten müssen, bis sie davon überzeugt war?

Sie ist fort. Sie zwang die Worte in ihren Geist. Zendikar ist fort!

Ein Teil von ihr weigerte sich noch immer, es zu glauben.

Sie wusste, dass all die Zeichen – alles, was sie gesehen, gehört und gespürt hatte – darauf hindeuteten, dass es wirklich so war, aber dennoch wollte sie es einfach nicht glauben.

Nissa öffnete die Augen und schaute in die Zwielichtwelt der langen Schatten hinaus. In dieser Nacht war keiner von ihnen Zendikar, doch eines Nachts würde einer von ihnen es sein. Falls die Seele je zurückkehren würde, dann würde sie hierherkommen.

Also würde sie auch genau hier bleiben.

„Lauf!“ Die schrille Stimme einer Goblinfrau hinter ihr ließ Nissa zusammenfahren.

Instinktiv sprang sie auf und griff nach ihrem Schwert.

„Lauf!“, kreischte die Grünhaut. Sie stürmte auf Nissa zu, und zwar mit überraschender Geschwindigkeit angesichts der Tatsache, dass eines ihrer Beine gebrochen oder vielleicht sogar teilweise abgetrennt war – Nissa konnte es nicht genau sagen. „Lauf! Los!“

Schluchtführerin | Bild von Johannes Voss

Nissa machte einen Schritt zur Seite, als die Goblinfrau an ihr vorbeihetzte.

Und dann sah sie in der Ferne den Ansturm. Es waren mindestens drei Dutzend Eldrazi. Klein waren sie, kaum größer als ein Baumstumpf. Sie bewegten sich so schnell, dass jedes der Ungeheuer wie ein hartes, knöchernes Insekt aussah, getragen von einer verwaschenen Staubwolke um die Beine.

Sie rasten zielstrebig durch den Wald, genau auf sie und die Lichtung zu – Zendikars Lichtung.

Sie durfte nicht zulassen, dass sie diesen Ort berührten. Sie durfte nicht zulassen, dass sie auch nur einen einzelnen Grashalm verdarben.

Fester umgriff sie das Heft ihres Schwertes – es war die einzige Waffe, die sie hatte. Es würde reichen müssen. Sie würde dafür sorgen, dass es reichte. Sie trat vor, um sich zwischen das kostbare Fleckchen Erde und die Ungeheuer zu stellen.

Nun waren sie so nahe, dass sie sie riechen konnte.

Widerlich fleischige, wild wuselnde Kreaturen. Sie waren nie Teil jener großen Einheit gewesen, die Zendikar war.

Der Anführer des Schwarms hielt genau auf Nissa zu.

All das Leid und all die Zerstörung hier war allein ihre Schuld.

Sie kamen in Reichweite.

Nissa schwang die Klinge.

Der Stahl traf auf die Knochenplatten des ersten Eldrazi. Nissa durchtrennte die Sehnen darunter und hieb das Ungeheuer entzwei.

Noch im selben Wimpernschlag fuhr sie herum und übertrug ihren Schwung auf ihre Klinge, um es einem zweiten Eldrazi in den Kopf zu bohren.

Schwert der Animistin | Bild von Daniel Ljunggren

Nissa hasste diese Kreaturen.

Sie hasste sie so sehr, dass sie jedem von ihnen am liebsten so lange den Hals zugedrückt hätte, bis ihm der Kopf abfiel.

Sie hieb und hackte auf die Horde um sich herum ein. Die Goblinfrau, der die Eldrazi nachgejagt waren, schien vergessen. Gut. Dann hatten sie auch keinen Grund, die Lichtung zu überqueren.

Nissa wirbelte mit ausgestreckter Klinge im Kreis und hieb gleich vier Monstren die zuckenden, zappelnden Beine ab.

Einem gelang es, sich an ihrem eigenen Bein festzukrallen. Es zog sich an ihren Rockschößen hinauf und grub ihr die scharfen, spitzen Füßchen ins Fleisch.

„Runter von von mir!“ Nissa packte das Ding an seinem knöchernen Nacken und riss seine Beine aus ihrem Oberschenkel. Sie warf es mit solcher Wucht gegen einen Baum, dass seine Knochenplatten beim Aufprall zerschellten und sich seine Innereien auf der Rinde verteilten.

Sie hatte nicht die Zeit, dabei zuzusehen, wie das Ungeheuer den Stamm hinabtropfte. Da waren noch Dutzende mehr.

Schwarmflut | Bild von Svetlin Velinov

Wäre Ashaya hier gewesen, hätte das Elementar sie mit einem seiner mächtigen Füße zertrampelt und den gesamten Schwarm mit einem einzigen Aufstampfen vernichtet.

Hätte Nissa auf Zendikars Macht zugreifen können, hätte sie riesige Wälle aus dem Land selbst geformt, um sie über den Eldrazi einstürzen zu lassen und sie alle binnen eines Atemzugs zu zermalmen.

Doch nun war sie allein und hatte nur ihr Schwert. Sie umklammerte das Heft und holte wieder und wieder aus.

Es schien, als risse ihr Strom nie ab.

Eine Mahnung tauchte am Rande ihres Geistes auf, dieselbe Mahnung, die sich in den letzten Tagen bei jeder ihrer Begegnungen mit den Eldrazi in ihr bewusstes Denken vorgepirscht hatte: Falls es so weit kam – wenn sie die Eldrazi nicht vernichten und nicht vor ihnen fliehen konnte –, dann würde sie fortgehen müssen. Sie würde diese Welt verlassen müssen, bevor sie mit der Verderbnis dieser Kreaturen in Berührung kam. Sie konnte nicht zulassen, dass die Samen in ihrer Tasche zu fahlem Staub wurden. Nicht, solange sie Zendikars letzte Hoffnung waren.

Ihr Innerstes spannte sich an, und ihre Haut kribbelte. Ihr Körper war bereit zum Weltenwandeln. Alles, was sie nun noch tun musste, war, ihren Halt an diese Welt und an diesen Ort zu lösen und fortzugehen.

Doch dann wäre es vorbei.

Und dazu war Nissa noch nicht bereit. Noch nicht.

Sie schwang die Klinge in Richtung der beiden nächsten Eldrazi und stieß sie dem Paar durch die Brust, während sie gleichzeitig nach einem dritten der Geschöpfe trat, das sich auf ihre Beine stürzen wollte. Doch der Schwarm wurde nur immer dichter.

Das Kribbeln wurde stärker. Nissas Instinkte sagten ihr, dass dies kein Kampf war, den sie mit Leichtigkeit gewinnen würde.

Sie schlug einen Salto, um einem vierten Eldrazi auszuweichen und schlug einem fünften gegen die Unterseite, wobei sie den Schwung des Aufpralls nutzte, um sich über weitere drei hinweg zu katapultieren, die zu dicht an sie herangekommen waren.

Die Anspannung in ihr hatte sich zu einer Hartnäckigkeit gesteigert, die ihr schier den Magen umkehrte.

Nein. Noch nicht.

Sie konnte noch immer gewinnen. Sie schlug zwei weitere nieder.

Und dann noch vier.

Danach drangen jedoch noch einmal acht auf sie ein.

Sie spürte das Gewicht der Samen in ihrer Tasche.

Bist du wirklich fort?

Keine Antwort. Natürlich nicht.

Sie warf einen Blick über die Schulter auf die Lichtung.

Dann raste mit einem Pfeifen und einem metallischen Klirren ein Haken an einer Kette an ihr vorbei und grub sich in einen der Eldrazi, der – wie sie nun erst bemerkte – gerade zum Sprung angesetzt hatte.

Die Kette wurde zurückgerissen, und Nissas Blick folgte ihr zu einem stämmigen Kor, der in jeder Hand einen solchen Haken hielt. Körperbemalungen in Form von Polyedern glühten auf seinen Armen und seiner Stirn. Sie erleuchteten seine harten Züge und das lange Bündel Barteln, das ihm wie ein Bart vom Kinn hing. „Ich übernehme diese Gruppe. Du kümmerst dich um die dort rechts.“

Nissa nickte und wandte sich der besagten Handvoll zu. Es waren nur fünf. Das war zu schaffen, selbst für eine einzelne Elfe. Dies würde nicht das Ende sein. Sie verbannte das ungeduldige Kribbeln von den Rändern ihres Wesenskerns. Sie würde diese Welt nicht verlassen. Nicht heute Nacht.


Als sowohl Nissa und der Kor sich zur Genüge davon überzeugt hatten, dass keine Eldrazi mehr übrig waren, wandte er sich zu ihr um und wischte seine Haken sauber. „Du hast nicht zufällig einen weiblichen Goblin gesehen, der hier vorbeikam?“

„Er ist da lang.“ Nissa deutete auf die Bäume auf der anderen Seite der Lichtung. Der wunderschönen, unverderbten Lichtung.

„Und ich nehme an, er war es auch, der den Schwarm hierhergeführt hat.“

Nissa steckte ihr Schwert in die Scheide. „Das könnte man so sagen.“

„Ich habe sie gewarnt. Wie oft muss man einem Goblin eigentlich sagen, dass er langsam machen soll, bevor das endlich in seinem Dickschädel ankommt?“ Der Kor ging geradewegs über das Land, auf dem Zendikar gefallen war und auf jene Bäume zu, auf die Nissa gedeutet hatte, doch er schien die Spur, die die Flüchtende hinterlassen hatte, nicht zu sehen. Er lief bereits in die falsche Richtung.

„Ich glaube nicht, dass Goblins die Bedeutung des Wortes ‚langsam‘ verstehen“, sagte Nissa. „Und sie ist eher da lang gegangen.“ Sie überquerte nun ebenfalls die Lichtung und kostete dabei jeden Schritt über den unversehrten Waldboden aus. Sie deutete auf das dichte Unterholz, durch das die Grünhaut gelaufen war, während sie ihr verletztes Bein hinter sich hergezogen hatte. „Siehst du?“

„Ah. Richtig“, sagte der Kor und passte seinen Kurs an. „In zweierlei Hinsicht. Du musst eine von Gideons Waldläuferinnen sein.“

Eine Waldläuferin. Nissa hatte sich seit langer Zeit nicht als Waldläuferin betrachtet. Als eine Animistin, als eine Naturmagierin, als einen Teil Zendikars, aber nicht als Waldläuferin. Nun schien dies das Einzige, was zu sein sie noch behaupten konnte. „So etwas Ähnliches“, sagte sie.

„Gideon hat Glück, dass jemand wie du hier auf Patrouille ist“, sagte der Kor, während er die Spur der Grünhaut verfolgte. „Und das gilt auch für Pili. Ich glaube nicht, dass sie mit diesem Schwarm mit dem gleichen  . . .   Können fertiggeworden wäre wie du." Er lächelte. Das Leuchten seiner Körperbemalung erhellte sein Gesicht. „Ich bin Munda, einer von Gideons Truppführern. Für gewöhnlich jage ich keinen verirrten Goblins hinterher, aber heute Nacht habe ich den Kürzeren gezogen.“

Munda, Guerillaführer | Bild von Johannes Voss

„Oh“, sagte Nissa. Der Kor war schon wieder leicht vom Kurs abgekommen. Hier war es schwerer, der Spur zu folgen. Sie liefen nun über harten, felsigen Untergrund, auf dem deutlich weniger Fußabdrücke zu finden waren als auf weicher Erde oder Laub. „Nach links.“

Munda wechselte die Richtung.

Nissa war nicht sicher, wenn genau sie zugestimmt hatte, Munda beim Aufspüren von Pili zu helfen, aber hier war sie nun. Eine Waldläuferin. Wie früher.

„Sie kam heute mit den neuen Rekruten an“, sagte Munda und nickte in die Richtung, in der er die Goblinfrau vermutete. „Sie redet schon seit dem Augenblick, als es den Heilern gelang, sie aus ihrer Ohnmacht zu holen, unablässig vor sich hin. Irgendetwas über ihren Freund. Leek. Noch ein Goblin, nehme ich an. Nach dem, was ich aus ihr herausbekommen konnte, wurden sie in Seetor getrennt. Sie wurde von den Dojir-Nomaden aufgelesen, die auf dem Weg von den Kalkebenen hierher waren. Der andere Goblin – dieser Leek – hat sich höchstwahrscheinlich verirrt. Doch diese Pili hat es sich in den Kopf gesetzt, dass er irgendwo dort draußen ist. Ich habe ihr gesagt, dass nichts mehr von Seetor übrig ist.“

Nissa wusste, wie es war, etwas zu fühlen, was niemand sonst verstehen konnte.

„Hast du gesehen, wie viele zu uns gekommen sind?“, fuhr Munda fort. „Ich wusste gar nicht, dass es so viele Ausgestoßene in den Kalkebenen gibt. Ah, aber Gideon – ich meine, Generalhauptmann Jura – meint, das wären gar keine Ausgestoßenen. Wir gehören alle zusammen. Und so waren sie auch, sobald sie erst einmal einen Fuß auf den Himmelsfelsen gesetzt hatten, nicht mehr die Dojir-Nomaden, sondern Teil unserer Streitmacht. So einfach ist das. Dieser Mann ist schon eigenartig.“ Munda strich sich über die Barteln am Kinn. „Es überrascht dich vielleicht, aber ich kannte ihn schon, bevor all das hier losging.“

Sein Gesichtsausdruck deutete an, dass er irgendeine Reaktion von Nissa zu erwarten schien. „Oh“, sagte sie. Ein Großteil ihrer Aufmerksamkeit galt der Spur der Grünhaut. Sie führte in Richtung von Seetor, ganz wie Munda es geahnt hatte. Nissa wünschte sich zwar, dass Pili recht hatte, doch sie wusste nicht, wie das je hätte sein können. Nichts war mehr von Seetor übrig. Sie hatte es mit eigenen Augen gesehen.

„Wir haben zusammen gekämpft, Gideon und ich“, sagte Munda. „Ziemlich häufig sogar. Unsere Wege kreuzten sich immer wieder, denn keiner von uns schreckte davor zurück, sich die größten Ungeheuer vorzunehmen.“

„Oh“, sagte Nissa erneut.

„Das war natürlich vor dem Fall von Seetor. Inzwischen ist es nichts als Dummheit, einen der Großen angreifen zu wollen. Rette dich selbst, denn wir brauchen dich für den kommenden Kampf, weißt du?“

Nissa nickte pflichtschuldig.

„Gideon hat recht“, sagte Munda. „Wir brauchen jeden Mann, jede Frau und jedes Kind auf dieser Welt, wenn wir eine Chance haben wollen. Das ist einer der Gründe, weshalb ich diesem Goblin nachgehe. Pili ist eine Kämpferin. Zumindest hat sie den Kopf von einer. Und Kämpfer brauchen wir ganz besonders. Wir müssen uns alle verbünden. Jetzt oder nie. Gemeinsam erobern wir Seetor zurück. Und von dort aus ganz Zendikar.“

Nissa stockte der Atem. Beinahe wäre sie zu dem Kor herumgewirbelt und hätte ihn angeherrscht, um ihm zu erklären, dass Zendikar nichts war, was man „zurückerobern“ konnte. Zendikar gehörte niemandem. Nicht den Menschen, nicht den Eldrazi und auch nicht dem großen Generalhauptmann Jura.

Zendikar, das wahre Zendikar, war um so vieles größer und gleichzeitig so viel vertrauter, als sie es sich je hätten erträumen können.

Beinahe hätte sie ihm gesagt, sie wüssten ja gar nicht, wovon sie da redeten, wenn sie „Für Zendikar!“ riefen. Beinahe. Und dann hörte sie das Schluchzen eines Goblins.

Vor dem, was offenkundig der kürzlich freigelegte Eingang einer unterirdischen Höhle war, hockte die kleine Gestalt der verwundeten Goblinfrau.

„Ich sagte dir doch, dass du langsam machen sollst!“, donnerte Mundas Stimme. „Du wärest verschlungen worden, wäre nicht ...“ Er unterbrach sich, als er ihre Tränen sah.

Nissa kniete sich neben die Grünhaut und legte die Hand auf Pilis bebende Schulter.

„Leek“, stieß sie schluchzend hervor.

Nissa blickte in das Loch im Boden.

„Hallo?“ Eine Stimme drang von unten herauf, schwach und leise. „Hilfe. Bitte.“

Pili schluchzte erneut auf. „Leek.“ Sie schüttelte den Kopf.

Nissa blickte zu Munda. „Pass auf sie auf. Ich bin gleich zurück.“

Munda nickte, rückte jedoch nicht näher. Die Nähe zu dem kleinen wimmernden Geschöpf schien ihm Unbehagen zu bereiten.

Nissa kletterte durch einen schmalen Tunnel in die Tiefe, bis der Gang fast vollständig verschüttet war. Nur eine winzige Öffnung führte weiter. Sie griff nach einem Feuerstein an ihrem Gürtel und schlug ihn gegen die Wand. Als sie den brennenden Zunder in die Öffnung hielt, konnte sie etwas erkennen, was ihr zunächst wie Hunderte von kleinen, leuchtenden Lichtern vorkam. Doch als sich ihr Blick an die Dunkelheit gewöhnt hatte, sah sie, dass es Augen waren, die zu einer ganzen Horde von Goblins gehörten.

„Hilfe“, sagte einer von ihnen kläglich.

„Munda!“, rief Nissa hinauf. „Wir werden ein Seil brauchen. Und diese Haken.“ Sie blickte wieder zu den Goblins. „Ist einer von euch Leek?“

Sie senkten allesamt den Kopf. Einer von ihnen deutete zur Rückseite der Höhle. Dort waren drei Leichen an der Wand aufgereiht. „Oh“, sagte Nissa. Ihr Herz brach beim Gedanken an Pili. Sie war so kurz davor gewesen.

Vorsichtig und geduldig räumten sie den eingestürzten Tunnel frei – hätte sie Zugriff auf ihre Macht gehabt, hätte Nissa dies im Handumdrehen erledigen können –, und die Goblins kletterten nach draußen.

Munda war angesichts der Größe der Goblinstreitmacht, die sie entdeckt hatten, zufrieden. Während er dafür sorgte, dass die Verwundeten von den anderen zurück zum Himmelsfelsen getragen werden konnten, erzählte er ihnen von Generalhauptmann Jura und seinem Plan, Seetor zurückzuerobern. Die meisten von ihnen lauschten ihm aufmerksam. Doch Pili saß allein abseits.

Nissa näherte sich ihr langsam und kniete sich neben sie.

Eine lange Weile saßen sie nur schweigend in der Dunkelheit. Dann holte die Goblinfrau tief Luft. „Sie sagten, er wäre tot.“ Sie schüttelte den Kopf. „Doch ich wusste, dass er an den sicheren Ort gegangen ist. Ich wusste es.“ Sie schlug mit der Faust auf den Boden. „Ich hätte schneller sein sollen.“

„Es ist nicht deine Schuld“, sagte Nissa.

Pili deutete auf ihr verletztes Bein, das nun grob verbunden und geschient war. „Ich hätte schneller laufen sollen.“ Sie schlug erneut auf den Boden, und dann noch einmal, und dann kamen die Tränen.

Nissa hatte noch nie zuvor einen Goblin in den Arm genommen. Es war lange her, dass sie überhaupt jemanden in den Arm genommen hatte. Doch es schien das Richtige zu sein. Sie verstand Pilis Schmerz. Sie verstand, wie es sich anfühlte, im Innern wund zu sein. An einem Ort, den niemand sehen oder erreichen konnte, und auf eine Weise, die durch nichts zu lindern war. Es war jene Art von Schmerz, wie sie in tiefen Brunnen schlummerte und doch in einer alles überwältigenden Flut über einen kam. Wogen, die sich auf einer endlosen See auftürmten. Wogen, die nie zu brechen aufhörten. Manchmal rau, manchmal stumm, doch unablässig brandeten sie ans Ufer.

Nissa fasste Pili um die Schultern, drückte sie an sich und wartete, bis diese Welle abgeflaut war.

„Sie sagten, er wäre tot“, sagte Pili und wischte sich die Tränen weg. „Aber ich wusste es.“ Sie schlug sich mit der Faust auf die Brust. „Ich wusste es hier drinnen.“ Sie schlug sich erneut auf die Brust. „Hier drinnen!“ Sie stand auf. „Ich wusste es!“ Sie wirbelte herum, um Nissa anzusehen. Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, als ihr Schmerz Rachedurst wich. „Diese Ungeheuer werden dafür büßen, dass sie ihn zur Flucht getrieben haben. Sie werden bezahlen!“ Sie stürmte davon zu den anderen, um sich Mundas Botschaft anzuhören.

Nissas Herzschlag hämmerte ihr in den Ohren, ein Echo von Pilis Faust, die auf ihr Herz einschlug.

Es war genau, wie Pili sagte. Nissa fasste sich an die Brust. Sie wusste es. So wie die Goblinfrau es wusste. Deshalb konnte sie nicht fortgehen, selbst wenn ihr Leben in Gefahr war. Deshalb konnte sie nicht einfach in eine andere Welt wandeln, selbst wenn Eldrazi sie umzingelten. Deshalb hielt sie Wacht. Deshalb weigerte sie sich, zuzuhören, wenn ihr Verstand ihr sagte, dass es fort war.

Zendikar war da. Wie ein Wort, das ihr auf der Zunge lag.

Aber wo?

Es gab keinen bestimmten Ort, an den sich die Seele des Landes zurückzog, wenn sie Angst hatte oder sich neu sammeln musste. Oder wenn sie verletzt war.

Keine geheime Zuflucht, keinen Tunnel, keine Höhle oder ...

Nissa sprang auf und die Ränder ihres Seins schillerten, bereit zum Weltenwandeln, noch ehe ihr Verstand überhaupt begriffen hatte, was ihr Herz schon wusste.

Es gab einen Ort. Einen sicheren, einen mächtigen Ort. Einen Ort, an den sich Zendikar zurückgezogen haben konnte.

Das Khalni-Herz.

Expedition zum Khalni-Herzen | Bild von Jason Chan

Der Ausdruck des Manas Zendikars. Der Ort, an dem alle Ley-Linien zusammenliefen. Wenn tatsächlich etwas geschehen war – wenn der Titan die Seele der Welt wahrhaftig in ihrer Existenz bedroht hatte –, dann wäre sie dorthin geflohen. Dort würde sie sich verstecken.

Das Khalni-Herz.

Zendikars Seele war noch immer hier, genau wie Nissa es die ganze Zeit über gewusst hatte. Sie war nur nicht hier. Natürlich war sie nicht hier. Warum sollte sie auch ausgerechnet in jenen Wald zurückkehren, wo ihr so etwas Grauenhaftes angetan worden war? Die ganze Zeit hatte Nissa am falschen Ort gesucht.

Sie lachte laut auf, und das Herz wurde ihr leicht. Sie hatte vergessen, wie es sich anfühlte, wenn ihr Herz befreit und leicht genug war, um einen Sprung zu machen. Das Kribbeln kam zurück und zupfte und zog von innen an ihr. Doch diesmal strebte es nicht zu einer anderen Welt hin. Dieses Mal strebte es nach ...

„Verrückte Elfe.“

Die murmelnde Stimme eines Goblins, der sie anstarrte, holte sie in die Wirklichkeit zurück, in diesen Wald, in dem ihre Füße den Boden berührten – wenngleich es auch keine vollkommene Rückkehr war. Sie hatte die Goblins und Pili und Munda und Gideon und Jace und selbst die Eldrazi vergessen. Sie hatte alles vergessen außer Zendikar.

„Ich muss gehen“, sagte sie zu niemandem und doch zu allen zugleich. Das war alles, was sie tun konnte, ehe Nissa in den Wald hineinrannte und im Unterholz verschwand.

Von den Bäumen des Waldes aus machte sich Nissa für die Reise nach Bala Ged bereit.

Was für ein passendes Ziel das doch war: jener Ort, an dem sie der Seele der Welt zum ersten Mal begegnet war. All die Erinnerungen strömten auf sie ein. Es war, als wäre sie wieder dort. Es war, als wäre sie wieder diese junge Elfe. Diese Joraga-Waldläuferin. Diese Nacht glich jener Nacht, in der sie vor so langer Zeit ihre Heimat verlassen hatte. Sie hatte sich im Schutz der Dunkelheit davongeschlichen, sich allein einen Weg durch den Wald gebahnt.

Der Unterschied war, dass sie damals aus Furcht vor Zendikar davongelaufen war, da sie geglaubt hatte, das Land wollte ihr etwas antun. Diesmal rannte sie geradewegs darauf zu. Sie konnte das Wiedersehen kaum erwarten. Zendikar war ihr engster Freund.

Zitternd löste sich Nissa vom Wald. Sie kämpfte nicht länger gegen das Zupfen an, und das Kribbeln an den Rändern ihres Seins pflanzte sich in ihr Innerstes fort. Als es ihren Kern erreicht hatte, wandelte sie fort – zurück nach Hause, zurück nach Bala Ged, wo sie Zendikar finden würde.

Nissas Expedition | Bild von Dan Scott


Kampf um Zendikar-Storyarchiv

Planeswalker-Profil: Nissa Revane

Weltprofil: Zendikar